»Es ist das alte Kulturproblem, daß der Mensch höher baut als er selber steigen kann. Wehe aber, wenn erst der ganze technische Meinungsapparat, wenn Radio, Kino, Zeitung dem Nutz- und Machtwillen einer herrschsüchtigen und selbstgerechten Gruppe ausgeliefert ist, dann muß eine Massenverblödung einsetzen, deren Kennzeichen gerade der technische, industrielle und kommerzielle Fortschritt ist: eine Art Verameisung«. (Theodor Lessing: Die Verblödung der Jugend. In: Illustrierte Reichsbanner-Zeitung, 2. Jg., Nr. 46 (11.11.1925), 722f.)
Eine Lehrerin in Baden-Württemberg hat sich geweigert, den Roman ›Tauben im Gras‹ (1951) in den Abiturklassen eines beruflichen Gymnasiums lesen zu lassen, weil darin das Wort ›Neger‹ auf 230 Seiten »etwa hundertmal« vorkommt. Die zuständige Ministerin entschied, daß eine zusätzliche Pflichtlektüre ausgewählt werden soll. Um ein Lehramt im Fach Deutsch ausüben zu dürfen, ist ein geisteswissenschaftliches Studium vorgesehen, in dem gelernt werden soll, Texte in ihrem historischen Kontext zu lesen. Dieser Mühsal hat sich die junge Lehrerin nicht unterzogen, sie sucht wie ein Inquisitor nach Wörtern, die in der Sprache der Heuchler in den Augen der Gesellschaft als ›anstößig‹ gelten. So wie zu Zeiten Flauberts oder zu Zeiten von James Joyce ihre Romane durch Gerichte geprüft wurden, ob darin ›unmoralische‹ Wörter oder Situationen vorkommen, also zum Beispiel das Wort ›fuck‹, so sucht man nun nach ›nicht korrekten‹ Wörtern, so als ob es Aufgabe der Gesellschaft und der Schule sein soll, der Literatur vorschreiben zu dürfen, welche Sprache zulässig ist, so als prüfe man die Schädlichkeit eines noch nicht zugelassenen Lebensmittels. Welche Funktion ein Wort hat, entscheiden der Kontext und die Rolle, die das Wort in einer Erzählung, in einem Roman oder in einer Rede spielt. Während der Zeit zwischen 1933 und 1945 diente das Wort ›Jude‹ dazu, eine ganze Bevölkerungsgruppe zunächst zu diskriminieren, als Vorbereitung für den Massenmord durch das NS-Regime. Wenn ein unter dem NS-Regime leidender Schriftsteller wie Wolfgang Koeppen nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes in einem Roman die politischen Verhältnisse im Nachkriegsdeutschland beschreibt und dabei das Wort ›Neger‹ verwendet, so hat er dies ganz gewiß nicht getan, um mit der häufigen Verwendung des Wortes zuerst die Diskriminierung und dann die Vernichtung der betreffenden ethnischen Gruppe zu bewirken. Er hat es getan, weil es Teil der gesellschaftlichen Realität war, weil die amerikanischen Besatzungstruppen heterogen zusammengesetzt waren und neben weißen auch schwarze US-Amerikaner darin vorkamen. Das Wort ›Neger‹ war damals ein gebräuchlicher Ausdruck für diese Bevölkerungsgruppe. Durch Léopold Sédar Senghor, Aimé Césaire und Léon-Gontran Damas in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde das kulturelle Befreiungskonzept der ›Négritude‹ begründet. In den USA wurde und wird das Wort ›Nigger‹ sowohl diffamierend wie auch selbstbewußt-stolz verwendet, das kommt auf den Gebrauch im Kontext einer Sprechhandlung an. So wie es Wortverwender gibt, die gezielt jemanden damit verletzen wollen, wie das mit Schimpfwörtern üblich ist, so gibt es auch Wortverwender, die damit nur dokumentieren wollen, daß ein bestimmtes Wort existiert und daß es legitim, ja sogar unerläßlich ist, daß es dann auch gebraucht wird. Zu dieser Erkenntnis ist in manchen Teilen dieses Landes weder eine Lehrerin noch eine Ministerin fähig. Setzen! Ungenügend!