You talkin’ to me? Then who the hell else are you talkin’ to? You talkin’ to me? (Robert de Niro in ›Taxi Driver‹, 1976)

Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, daß es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen! (Kaiser Wilhelm II., Rede vor den deutschen Truppen am 27. Juli 1900 in Bremerhaven, die zur blutigen Niederschlagung des sogenannten ›Boxeraufstandes‹ nach China gesandt wurden)

Es ist daher nur der Widerschein deines Auges, der dir die Natur als das Werk eines Auges erscheinen läßt […]. Die Natur ist nur ein Schauspiel, ein Augenfest; du glaubst daher, was dein Auge entzückt, bewege und regiere auch die Natur […]. Die Natur von einem weisen Schöpfer ableiten heißt mit dem Blicke Kinder zeugen. (Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 1841)

A: Haben Sie schon gehört? Die niedersächsische Justizministerin will eine »Strafbarkeitslücke« schließen.

B: Ach, wie interessant. Und welche Lücke soll das sein?

A: »Verbalentgleisungen«.

B: Na so was, eine Politikerin will die Reden ihrer eigenen Zunft unter Strafe stellen. Das nenne ich aber mutig und entschlossen. Mir gingen Reden der Politiker generell schon immer sehr auf die Nerven, besser wäre es wirklich, man würde ihnen den Mund verbieten.

A: Nein, nein, sie meint nicht die Reden ihrer Kollegen, sie meint »sexuelle Grenzverletzungen«.

B: Uiih, dann soll also gegen sexuelle Seitensprünge der Politiker vorgegangen werden. Sehr vernünftig, für das viele Geld, das sie vom Staat bekommen, verlangt der Wahlbürger auch angemessene Leistung in ihren Ämtern und nicht sexuelle Eskapaden.

A: Schon wieder falsch gedacht. Die »Strafbarkeitslücke«, die geschlossen werden soll, betrifft »Anzügliches Rufen, Reden, Pfeifen oder Gestikulieren in der Öffentlichkeit«.

B: Also, ich finde, wenn man sich als Politiker zur Wahl stellt, muß man wie in der Küche, wo gekocht wird, auch die Hitze aushalten können. Wenn auf einer Wahlversammlung es zu Zwischenrufen kommt und der oben hinter den Mikrofonen stehende Politiker mit unfreundlichen Worten bedacht wird, so gehört das doch zum politischen Alltagsgeschäft dazu. Die Reden der Politiker selbst sind doch auch mit Verunglimpfungen des politischen Gegners gespickt, das ist doch geradezu das Salz in der Suppe. Ohne solche Verbalinjurien wären die öffentlichen Reden der Politiker doch langweilige und niemand interessierende Salbadereien. Da kann man dann auch gleich einen Gottesdienst in der Kirche besuchen, wenn man nur himmlische Rhetorik hören will.

A: Sie haben es immer noch nicht verstanden, aber es ist meine Schuld, weil ich Sie von Anfang an in die Irre geführt habe. Das Stichwort heißt »Catcalling«.

B: Kat…was? Noch nie davon gehört.

A: Catcalling, mit einem Doppel-C! In Frankreich, Belgien, Portugal und den Niederlanden ist es bereits unter Strafe gestellt. Es gab sogar schon ein kriminologisches Forschungsprojekt, das sich mit diesem Phänomen beschäftigt hat. So hat man eine Online-Befragung mit insgesamt 3.908 Personen durchgeführt, die durchschnittlich 30 Jahre alt waren, zu 90% Frauen. Sie berichteten, daß »ihr Aussehen bewertet und daß sie angestarrt« worden seien. Mehr als die Hälfte sei »sexistischen Sprüchen und anzüglichen Bemerkungen ausgesetzt gewesen«. Knapp zwei Drittel erhielten »sexuell aufgeladene Nachrichten«. Meist fänden diese Belästigungen »abends auf öffentlichen Plätzen, bei der Fahrt im Bus oder in der U-Bahn und in Clubs, Bars und Kneipen« statt. Verübt werden die Belästigungen »fast ausschließlich von Männern zwischen zwanzig und Ende dreißig.« Auch der ›Deutsche Juristinnenbund‹ forderte bereits »eine rechtliche Normierung berührungsloser sexueller Belästigung«.

B: Ach so, jetzt verstehe ich, was Sie meinen: Der sprichwörtliche Bauarbeiter auf der Baustelle, der einem vorbeigehenden Mädchen, das gut aussieht und vielleicht auch einen kurzen Rock trägt und zudem schlanke Beine vorzuweisen hat — hinterherpfeift. Und das soll jetzt unter Strafe gestellt werden!?

A: Sie haben ganz richtig verstanden. »Anzügliches Rufen, Reden, Pfeifen, Gestikulieren oder aufdringliche Blicke in der Öffentlichkeit« sollen einen Straftatbestand erfüllen.

B: Wären nicht Empfehlungen, wie man sich gegenüber solchen Belästigungen verhalten sollte, praktischer? Ich meine, ich weiß auch, daß nicht jede Frau eine Mae West (1893–1980) ist, die sich selbst verbal durchaus zu helfen wußte und auf das Beispringen der Justiz verzichten konnte. »Es ist besser, angesehen als übersehen zu werden.« Oder: »Ist das eine Waffe in Ihrer Hosentasche oder sind Sie nur froh, mich zu sehen?« Das sitzt, oder? Oder auch ganz schlicht: »Why don’t you go fuck yourself?« Warum fördert die Landesregierung nicht Kurse, wo junge Mädchen und Frauen solche verbalen Gegen-Attacken lernen? Das fördert den weiblichen Zusammenhalt und macht zudem viel Spaß, und ist in dem so viel propagierten Programm des ›weiblichen Selbstbewußtseins‹ gerade das nicht mitenthalten? Schließlich gibt es ja auch seit vielen Jahren Selbstverteidigungskurse für Frauen. Wird durch das staatliche Schließen solcher »Strafbarkeitslücken« nicht die Unmündigkeit der Frauen befördert? Vater Staat kümmert sich um dich, wir nehmen dich bei der Hand und schenken dir einen neuen Paragraphen der Strafrechtsordnung, der dir die Möglichkeit gibt, aufdringliche Mitmenschen anzuzeigen. Im übrigen wundert mich eine Einzelheit der Online-Befragung dieses kriminologischen Instituts:  Knapp zwei Drittel erhielten sexuell aufgeladene Nachrichten. Das heißt doch, daß die beiden Personen miteinander bekannt waren und den Namen und die email-Adresse gewußt haben. In solchen Fällen kann man doch zur Selbsthilfe greifen. Es wird doch wohl noch junge Männer geben, die der bedrängten jungen Dame gern beistehen würden und dem Verschicker von anzüglichen Sprüchen auf die Pelle rücken könnten. Doch wie stellt man sich überhaupt den strafrechtlichen Vorgang im einzelnen vor? Und wie will man beweisen, daß eine anonyme Person der Frau auf öffentlichen Plätzen etwas Strafwürdiges hinterhergerufen hat? Sollen die Frauen alle mit ›Body-Cams‹ ausgestattet werden, damit sie jederzeit juristisch verwertbare Videoaufzeichnungen vor Gericht vorlegen können? Und wer soll dann entscheiden, was »aufdringliche Blicke« sind? Das erinnert mich an den Usus unter wilhelminischen Korpsstudenten, die willkürlich an ihnen völlig fremde Personen herantraten und ›Genugtuung‹ verlangten, also ein Duell anfangen wollten, nachdem Sie gesagt hatten: »Sie haben uns fixiert! Geben Sie Satisfaktion oder wollen Sie etwa kneifen?« Das wäre doch das Pendant zum »aufdringlichen Blick«, den man polizeilich-strafrechtlich fixieren will. Der Wunsch, »aufdringliche Blicke« als Straftatbestand aufnehmen zu wollen, ist nichts anderes als die verfassungswidrige Einführung eines »Gedankenverbrechens«. 1936 hat es in Japan ein solches »Gesetz über die Bewährung bei Gedankenverbrechen« gegeben und in den vierziger Jahren wurden Japaner willkürlich verhaftet, die man solcher »Gedankenverbrechen« beschuldigte. Damals ging es um den ›Marxismus‹, der als verfolgungswürdig deklariert wurde, da wurde immerhin noch auf greifbare Tatbestände wie Schriften Bezug genommen, doch heute sollen in Niedersachsen Personen, die in der Öffentlichkeit »aufdringliche Blicke« auf andere Personen werfen, bestraft werden. Wie stellt man fest, was ein »aufdringlicher Blick« ist? Die Antwort lautet: das läßt sich nicht feststellen, weil es ein absolut willkürliches Gebot enthält. Die »Strafbarkeitslücke« erweist sich als Aufforderung des Staates an seine Mitglieder, nach Belieben Mitmenschen zu denunzieren.

A: Dazu fällt mir eine Beobachtung von Paul Valéry ein: Wie viele Kinder gäbe es, wenn der Blick befruchten könnte! Wie viele Tote, wenn er töten könnte! Die Straßen wären voll von Leichen und schwangeren Frauen! Ach ja, die Menschen sind zur Freiheit geboren, aber benehmen sich so unfrei und meinen, nur ein von oben verordneter Orientierungspunkt, das Füllen einer vermeintlichen »Strafbarkeitslücke« könnte ihnen durch das Leben helfen. Wissen Sie was, das Ganze stößt mich so ab, daß ich eigentlich gar keine Lust mehr habe, darüber zu reden. Es spricht doch für sich selbst. Kennen Sie die amerikanische Serie ›It’s Like, You Know …‹ von Peter Mehlman? Darin wird das Leben in Los Angeles satirisch beschrieben. Eine Episode gibt es, die für unser heutiges Thema paßt. Ein britischer Journalist besucht seinen Freund in L. A. und erhält ein Angebot der ›Los Angeles Times‹, für viel Geld eine Kolumne über die Stadt der Engel zu schreiben. Da in den USA um 1999 das Thema der ›sexuellen Belästigung‹ gerade virulent war, haben die Autoren der Serie sich folgende Szene ausgedacht. Eine Versicherungsvertreterin, dargestellt von Mimi Rogers, die in einem sehr kurzen Minirock und mit einem hauteng anliegenden Pulli, unter dem sich ein deutlich sichtbarer großer Busen verbirgt, auftritt, besucht den Journalisten, um mit ihm über eine Versicherung gegen sexuelle Belästigung zu sprechen.

(Los Angeles. Knocking on front door, Arthur Garment [Chris Eigeman] opens). »Hello, I’m Deirde Swayze [Mimi Rogers] with ›Stepford Insurance‹« – »Uh, come on in!« – »So, thank you for choosing us for your sexual harassment needs!« – »Actually, I didn’t even know that there was such a thing as sexual harassment insurance.« – »Sexual harassment  occurs in 81.6 percent of all corporate offices with 32 or more employees regardless of gender.. Now, I’m sure you have many questions what constitutes harassment. – »Um, I guess. What if I said: ›That’s a very nice sweater you’re wearing.‹ Is that harassment?« – »No, that would be a compliment. But if you were to say, um, ›boy you sure fill that sweater out nicely, then we’d have a problem.« – »I see. What if I said: ›Would your skirt be considered a mini skirt?‹ – »No, that’s a reasonable inquiry, but if you were to say: ›If that skirt were any shorter I’d have a glimpse of heaven‹, that would be a cause.« – […] »Huh! Would you like some water?« – »No, thank you. Well, do you have any other questions?« – »Um, what if I were alone with someone and at a slight loss for conversation but had the distinct feeling that there was a mutual attraction between me and this person sitting so close to me that finally I just blithely mentioned that more than anything I have ever wanted in my life I would love to take you like a cheetah takes a porterhouse steak. Would that be harassment?«

(It’s Like, You Know…, Episode ›Hollywood Shuffle‹, Story by: Etan Cohen, Teleplay by: Carol Leifer & Peter Mehlman, December 8, 1999)
(8:32–11:26): https://www.youtube.com/watch?v=C80FIiZya8Q&list=PLVSvuryXmoliG2IIgEgGfo8_XUQQxeZ3w&index=18