Ich habe das beste Gedächtnis der Welt, ich fühle mich übermenschlich — das sagt ein an den ›Memory World Championships‹ und der ›Memory League‹ teilnehmender US-Amerikaner, der bei beiden Wettbewerben mehrmals den ersten Platz belegt hat. Die Technik, mit der er eine unglaubliche Zahl von Fakten im Gedächtnis hat behalten können, heißt ›Memory Palace‹. Man baut sich ein mentales Gebäude, in dem man das zu Merkende mit repräsentativen visuellen Zügen versieht, und so spaziert man beim Memorieren dann einfach durch das Haus und kann alles das ablesen und aufsagen, was im Wettbewerb als Merkobjekt vorgelegen hat. Spätestens seit es Suchmaschinen gibt, erscheint dieses Unterfangen recht hilflos, so als wollte der Mensch mit seinem auf Kohlenstoff basierenden Gehirn mit einer Intelligenz auf Siliziumbasis konkurrieren. Das ist ein von vornherein hoffnungsloses Unterfangen. Die Gedächtniskünstler müssen keine besonderen Voraussetzungen mitbringen, etwa zwei Nobelpreisträger als Eltern oder dergleichen, es reicht die seit der griechischen Antike bekannte Mnemotechnik, mit der man Merkhilfen als Eselsbrücken benutzt, um so der jeweils gestellen Aufgabe spielend gerecht zu werden.

In Alfred Hitchcocks ›The 39 steps‹ (1935) tritt zu Anfang und am Ende des Spielfilms ein Mr. Memory auf, der auf Jahrmärkten und Vaudeville-Bühnen das eintrittzahlende Publikum damit verblüfft und unterhält, indem er aus dem Zuschauerraum jede ihm zugerufene Frage mit einem vollständigem Bericht beantwortet, so als läse er aus einem Lexikon den entsprechenden Eintrag vor. Eine ausländische Spionageorganisation macht sich diese Fähigkeit zunutze. Sie hat Mr. Memory dazu gebracht, geheime gestohlene Papiere für sie zu memorieren, und als die Handlung ihrem Höhepunkt zutreibt, wird der Gedächtniskünstler vom Hauptdarsteller des Films mit der Frage konfrontiert: »What are The 39 Steps?« Und da Mr. Memory unterschiedslos und unvoreingenommen alles beantwortet, was man ihn fragt, auch Dinge, die man besser nicht in Gegenwart eines neugierigen Theaterpublikums offenbaren sollte, nämlich Staatsgeheimnisse, fängt er an, aufzusagen, was sich hinter den neununddreißig Stufen verbirgt: »The 39 Steps is an organisation of spies, collecting information on behalf of the foreign office of …« Da fällt ein Schuß, und tödlich getroffen sinkt der Gedächtniskünstler auf den Bühnenboden. Ein Mitglied der Spionageorganisation hat ihn aus dem Dunkel des Zuschauerraums heraus erschossen. Im Sterben rezitiert Mr. Memory dann das Geheimnis, die technische Formel für einen lautlosen Flugzeugmotor.

Wir verfügen heute über ein vollautomatisiertes Denken auf Algorithmen-Basis. Das Internet entstammt der militärischen Sphäre und der Spionage. Es gibt autonome Waffensysteme, Killer-Roboter und Killer-Drohnen, deren Entscheidungsgrundlage für die Kriegsführung ein Algorithmus ist. Den Kontext einer Handlung können sie nicht verstehen. Dennoch versucht man, Maschinen herzustellen, die das menschliche Gehirn nachahmen und schließlich übertreffen sollen, ein Gehirn, das ohne die subcortikalen Schichten auskommt und damit nicht gestört wird von Trieben und Willensimpulsen.

Im Gedächtnissport spiegelt sich der menschliche Wunsch wider, allen überlegen sein zu wollen, auch den Maschinen, die dem Menschen bisher gute und schlechte Dienste geleistet haben. Aber das Auswendiglernen war schon während des Schulunterrichts eine sinnlose und vor allem die Kinder quälende Denksportaufgabe, ja, es war überhaupt kein Denken damit verbunden, es war mechanisches Reproduzieren, das dann mit technischen Tricks wiederholt werden konnte, für kurze Zeit, denn schon nach wenigen Tagen war das Gedicht, das man vor versammelter Mannschaft aufzusagen hatte, wieder aus dem Gedächtnis verschwunden, weil es ohne emotionale Beteiligung und Freude an der Sprache eingetrichtert worden war. Der Gewinner des ›Memory World Championship‹ erhält als Preisgeld $ 30.000. Dafür lohnt es sich dann doch, sich selbst in einen mechanischen Reproduktionsapparat zu verwandeln, oder?