›Nient’altro che la verità‹ — Nichts als die Wahrheit (2023) — so nennt sich ein Buch der Erinnerung von Erzbischof Georg Gänswein. ›Der Wahrheit eine Gasse‹ (1952), so nannte Franz von Papen (1879–1969) seine Autobiographie. Man hat ihm von Historikerseite aus bescheinigt, daß sein Buch weder einen Quellenwert besitzt noch die Wahrheitsliebe enthält, die im Titel so plakativ erscheint. Das haben natürlich alle Autobiographien an sich, daß sie zwar von der Hingebung zur reinen Wahrheit motiviert sein können, am Ende aber doch diesen Anspruch nicht einzulösen vermögen, weil die Kategorie der Wahrheit überhaupt keinen Platz in einer Autobiographie finden kann. Nun aber gar noch die Wahrheit als allein dominierendes und das Buch prägendes Erkenntnisziel im Titel (Nient’altro) auszugeben, grenzt an einen autobiographischen Wahnglauben. Gemeint ist allenfalls, daß man sich ehrlich bemüht hat, die Wahrheit über bestimmte Vorgänge auszusprechen, aber damit ist nicht ausgeschlossen, daß sich nicht nur flüchtige Irrtümer in die Darstellung einschleichen, sondern auch, daß man gar nicht vor sich selber so aufrichtig und rein und wahr sein kann, wie man das dem zahlenden Publikum weismachen will. Seit den ›Konfessionen‹ von Rousseau hat das Genre der Autobiographie immer wieder versucht, sich auf diesen Pfad der Wahrheit zu begeben, meist mit dem Resultat, daß daraus ein Elaborat der Selbstlegitimation geworden ist.

Als Joseph Ratzinger zum Papst gewählt war, erlebte Gänswein diesen Vorgang nach seiner Erinnerung folgendermaßen: »In einer Mischung aus Ergriffenheit und Angst wurde mir plötzlich ganz schwarz vor den Augen.« In all den Jahren hatte Gänswein als sein zweiter Schatten Ratzinger auf seinem Weg nach oben innerhalb der weltkatholischen Hierarchie begleitet. Nun war der Gipfel des Möglichen erreicht. Gänswein attestiert Ratzinger einen »heroischen Tugendgrad«.

Der neue Papst selbst beschrieb sich in seiner ersten Ansprache als »einen einfachen und bescheidenen Arbeiter im Weinberg des Herrn«. Und dazu wolle er »auf Wort und Wille des Herrn lauschen«. Das ist das Fabelhafte an der katholischen Kirche, daß man mit dem Verweis auf eine höchste, unsichtbare Instanz sich Legitimation gegenüber den Gläubigen verschafft und anschließend nach Gutdünken seine eigenen Pläne verfolgt, stets abgesichert durch die imaginäre überirdische Instanz.

Ohne Frage müssen, es geht schließlich um die reine Wahrheit, die letzten Tage des sterbenden Papstes ausführlich beschrieben werden, denn, wie Theodor Lessing einmal sagte: »Von jeher knüpft die Religion an die gebrechlichen Momente des Daseins. Die Kirche feiert ihre Triumphe im Tode«. Und so werden wir, wenn wir denn weiterlesen wollen, Zeuge des Todeskampfes des alten Mannes, der bis in die letzte Sekunde dem ›Herrn‹ sich verpflichtet fühlt. Lange vorher schon galt die Treue zu diesem imaginären Herrn alle Aufmerksamkeit. »Bleiben Sie als Bischof immer dem Herrn treu.« flüsterte Ratzinger nach dessen Bischofsweihe Gänswein zu. Für einen Außenstehenden ist das mehr als verwunderlich, es könnte als Beleg dafür dienen, daß solche Glaubensdiener tief gestörte Individuen sind, die einem erdachten Herrn ihr Leben weihen, unter Zuhilfenahme vieler alter Schriften, die alle vom selben ›Glauben‹ beherrscht sind. Glaube ist Aberglaube, die Unterscheidung, die die Kirchen gegenüber ihren Konkurrenten machen, dient nur der Hervorhebung ihrer eigenen Glaubwürdigkeit, die wiederum bloße Fabrikation ist. Es ist eine geschlossene Wahnwelt. Man soll einem Herrn treu bleiben, den es gar nicht gibt. Die katholische Kirche ist eine Irrenanstalt, wo die Irren frei herumlaufen dürfen und für ihre sinnlosen Tätigkeiten gut bezahlt werden. Wenn kleine Mädchen mit Puppengeschirr ihre Freundinnen zu Tee und Gebäck einladen und so tun, als seien noch viele andere Gäste eingeladen, mit denen sie sich auch eifrig unterhalten während sie unausgesetzt Tee nachschenken, der in der bereitstehenden Teekanne nicht enthalten ist und sich am Gebäck gütlich tun, das nur in ihrer Imagination vorhanden ist, so ist das ›süß‹ und ein Zeichen dafür, daß diese kleinen Mädchen in der Lage sind, für eine Weile ohne Teile der Wirklichkeit auszukommen und am Spiel unendliche Freude haben, wohlwissend, daß alles nur ein Spiel der Einbildung ist, so verfahren die Angehörigen des Vatikans zwar nach einem oberflächlich betrachtet ähnlichen Muster, doch sind die Dinge, die sie täglich erledigen, eingewurzelt in einer Organisation, die diesem Betrieb den Anschein der Realität verleiht, dabei aber doch nur das müßige Treiben großgewordener Kinder darstellt, die um Plätze innerhalb der Kirchenhierarchie kämpfen und nebenbei ein heimliches Doppelleben führen, vor deren Öffentlichwerden sie sich mit Recht fürchten.

Gänswein berichtet auch über mit Gefängnisstrafe belegte Mitglieder der »Päpstlichen Familie«, und es liest sich, als wenn ein Mitglied einer italienischen Mafia-Familie darüber schreibt, wie die vor dem baldigen Ableben stehenden, straffällig gewordenen Mitglieder der Familie doch eben immer noch Mitglieder der Familie geblieben sind, und Gänswein und sein Papst dabei von Vergebung und Verzeihung erfüllt sind.

In seiner religionskritischen Schrift ›Die Zukunft einer Illusion‹ (1927) beschreibt Freud die infantile Hilflosigkeit der Menschheit, die sich einen schützenden Vater sucht. Religion ist eine kollektive Zwangsneurose, sagt er. Der italienische Kardinal Giacomo Biffi (1928–2015) hat diese religöse Obsession in einem Buchtitel zusammengefaßt: ›Die Frage, die wirklich zählt: Was kommt nach dem Tod?‹ (1993). Und so widmen sich die das Leben der Menschen verhindernden religiösen Fanatiker weiterhin der bewußtlosen Phase des Lebens, wenn alles Leben vorbei ist. Sie sind auf die Welt gekommen, um ihre Zeit damit zu verschwenden, die ewige Zeit zu besprechen, die mit dem Tod anfängt. Natürlich können sie nicht fündig werden, aber die Macht, die sie mit der Todesvorstellung auf ihre ›Herde‹ ausüben, ist beträchtlich.

In der Popularvorstellung wird Joseph Ratzinger wohl immer mit dieser im nationalistischen Darstellungwahn fußenden Schlagzeile in Erinnerung bleiben: ›Wir sind Papst‹; und kürzlich hat der Erfinder dieses Satzes in einer Autobiographie sich selbst in diese semantische Linie gestellt mit dem Buchtitel: ›Ich war BILD‹. Das auf solchen ›Büchern‹ abgebildete obligatorische Foto des Autors zeigt eine schmierig grinsende Visage, wie man es aus den klischeehaften Vorstellungen über einen typischen Zuhälter kennt.

Die katholische Kirche hat im Verlaufe ihrer schrecklich langen Geschichte Millionen Menschen das Leben genommen, entweder durch physische Vernichtung oder durch die alles Leben behindernde Glaubensideologie, aber im Gegensatz zu dem Staat Preußen, der 1945 durch Beschluß der Allierten aufgelöst wurde, bleibt sie bis heute bestehen. Dabei erfüllt sie alle Voraussetzungen einer zu verbietenden politischen Partei wie der NSDAP, die nach 1945 verboten wurde. Gänswein und Ratzinger beklagen den innerhalb der katholischen Kirche durch ihre Angehörigen begangenen sexuellen Mißbrauch, aber sie schweigen, wenn es darum geht, die Ursachen dieses Mißbrauchs zu erforschen. Der sexuelle Trieb ist ein machtvoller Trieb, der nicht durch Gebete abgewiesen werden kann. Indem man den Priestern und Funktionären der katholischen Kirche ihre naturgegebene Triebstruktur abspricht, stellt man die besten Bedingungen für sexuellen Mißbrauch her. Das Verbot des Gebrauchs der Genitalien bedingt den Mißbrauch dieser tabuisierten Genitalien. Der Vatikanstaat ist die Heimat der ›Invertierten‹, wie sie Marcel Proust unnachahmlich genau beschrieben hat, in der alle Beteiligten »nach allen Richtungen Blicke werfen, in denen sich Furcht und Begierde mit Stumpfsinn mischt«.