Gewinne! Gewinne! Gewinne!

Großes Gewinnspiel! Auslosung vor großem Publikum. Jeder Gewinner erhält eine Bundeswehruniform als Einstiegsgeschenk!
Austragungsort: Großer Sendesaal des Funkhauses Hannover

Dr. Anneliese Sendler (die in ein eng geschnittenes Kostüm, einer Bundeswehruniform nachempfunden, eingekleidet ist): Ja, einen ganz herzlichen guten Abend, liebes Publikum hier in Hannover. Dies ist ja der Ort, wo so oft die beliebte Fernsehsendung ›Einer wird gewinnen‹ aufgezeichnet wurde. Manche Ihrer Großeltern werden sich noch daran erinnern, gell? Und wenn nicht, an den Moderator dieser erfolgreichen Sendung werden sich die Großeltern ganz sicher erinnern (Breitet beide Arme aus, streckt sie in die Höhe und ruft entzückt): Kuli! (Totenstille im Publikum) Sein bürgerlicher Name: Hans-Joachim Kulenkampff. Mein großes Vorbild. Was für ein Charmeur! Solche Leute fehlen halt im heutigen Mediengeschäft. (Fängt sich wieder, legt den Enthusiasmus ab und fährt normal fort.) Willkommen zu unserer Sendung ›Wer kommt heute zum Bund?‹, bei der junge Wehrpflichtige die Chance erhalten, zum Wehrdienst eingezogen zu werden. Ja, meine Damen und Herren, das muß ich Ihnen hier im schönen großen Sendesaal des Funkhauses Hannover nicht weiter erklären, aber denken Sie doch bitte an die vielen Millionen Fernsehzuschauer, die jetzt an ihren Apparaten sitzen und gern wissen wollen, worum es hier heute eigentlich geht. Also, wir haben in Deutschland nicht genügend Soldaten, die unser schönes Land gegen Angriffe von außerhalb verteidigen. Deshalb hat man sich seitens der Regierung entschlossen, ein Losverfahren einzuführen, das gewährleistet, daß wir über ausreichend Soldaten für den Fall verfügen, sollte einmal der Ernstfall eintreten, also, wenn der äußere Feind den Boden unseres Landes betreten sollte. Und damit das Ganze den Beteiligten auch ein gutes Gefühl gibt, wird es heute Abend und an den folgenden Abenden ein tolles Gewinnspiel geben, bei dem die in die engere Auswahl gekommenen jungen Wehrpflichtigen hier vor Ihren Augen und unter Teilnahme eines Millionenpublikums da draußen die Chance haben, schon morgen bei der Bundeswehr anfangen zu dürfen. Es wird heute Abend also nicht nur wie bei ›Einer wird gewinnen‹ einen Gewinner geben, sondern ganz, ganz viele! Und es gereicht diesem Land zur Ehre, solche mutigen Freiwilligen hier begrüßen zu dürfen, die diesem Land mit der Waffe in der Hand dienen wollen. (Die Moderatorin hält einen Moment inne und spricht dann im Normalton weiter.) Ich darf dann mal die Kandidaten bitten, nach vorne zu kommen. (Eine riesige gläserne Wand öffnet sich lautlos hinter der Moderatorin, und nach und nach betreten hundert junge Männer in Zivilkleidung den Sendesaal und stellen sich in Zehner-Reihen hintereinander auf.) Ja, herzlich willkommen, liebe Wehrsoldaten! Auch wenn heute nicht alle von Ihnen vom Los mit einem Gewinn bedacht werden können, so sind Sie doch alle für mich unsere Helden der Nation. Wir sind dankbar und glücklich, Sie unter uns zu haben. Auf Ihren Schultern ruhen die Sicherheit und der Frieden dieses Landes! (Dr. Sendler wirft den rechten Arm in die Höhe, während sie weiter mit der linken Hand das Mikrophon hält und darin hineinspricht.) Ja, und da ist auch schon die elektronisch betriebene Lostrommel, die jetzt gleich die ersten Glücklichen auslosen wird. Dem Publikum darf ich versichern, daß die Lostrommel zuvor von einem unabhängigen, staatlich geprüften Mechaniker und Notar auf Herz und Nieren geprüft worden ist, damit auch alles mit rechten Dingen zugeht und alles seine Ordnung hat. Jeder der jungen Bundeswehr-Aspiranten trägt eine Nummer auf dem Rücken seines Hemdes. Die Glückskugeln in der Lostrommel tragen ebenfalls alle diese Nummern. Sie sehen, alles ganz einfach, aber ungeheuer spannend, ich habe schon eine Gänsehaut vor lauter Aufregung. Dann darf ich mal die Regie bitten, die Lostrommel per Fernsteuerung in Gang zu setzen! (Sie hebt wieder ihren rechten Arm und winkt zu einem von den Zuschauern nicht einsehbaren Punkt weit oben unter der Saaldecke.) Und los geht’s! (Die gläserne Lostrommel beginnt sich zu drehen, um den Mischvorgang auszulösen, nach einigen Runden hält sie an und dreht sich dann in die andere Richtung, wobei eine kleine Schaufel mit einem Hohlraum in den Loskugel-Haufen hineingreift und eine Kugel aufnimmt und dann mit einer leichten Hebung die Kugel durch eine kleine Öffnung in einen schmalen Auffangbehälter fallen läßt. Eine Saalkamera zoomt auf die Kugel und zeigt in Großaufnahme die darauf erkennbare Zahl.) Nun wird’s aber spannend. (Die Moderatorin nimmt die Kugel aus der Halterung und zeigt sie der heranfahrenden Kamera.) Wir haben einen Gewinner! Die Ziffer 13 gewinnt! Bitte, Nummer 13, bitte kommen Sie doch nach vorne, damit ich Sie beglückwünschen kann! (Niemand unter den hundert eingeladenen Wehrdienstanwärtern rührt sich. Dr. Sendler wird ein wenig unruhig.) Nur keine falsche Scheu! Kommen Sie! Sie haben gewonnen! (Schaut mit zwinkernden Augen in die Kamera und ruft:) Gewinne! Gewinne! Gewinne! (Niemand rührt sich.) Die Glücksgöttin Fortuna will ihr reiches Füllhorn über Sie ergießen. Kommen Sie doch mal aus Ihrer Reserve. Wir wollen doch den ersten Gewinner bei der Wehrdienst-Gewinn-Lotterie begrüßen! (Keiner bewegt sich vom Fleck.) Ja, wenn das alles nichts hilft, dann muß ich Sie bitten, sich einmal herumzudrehen, damit man sehen kann, wer denn die erste Glückszahl auf dem Rücken trägt. (Keiner der jungen Leute dreht sich um. Durch den Sendesaal geht ein Raunen.) Ja, Herrschaften, Ihr könnt doch hier nicht den Betrieb aufhalten! Es war doch vor Beginn der Sendung verabredet, daß Sie nach der Ziehung einer Zahl Ihren Teil des Deals zu erledigen haben, indem Sie sich als der Gewinner präsentieren, wenn die Zahl der Loskugel mit der Zahl auf Ihrem Rücken übereinstimmt! (Die jungen Männer starren unbewegt vor sich hin und stehen ebenso starr auf ihren Plätzen.) Tja, nun bleibt mir aber wirklich keine andere Wahl mehr, liebes Publikum, wenn diese Herrschaften sich so anstellen. Saalordner, bitte zu mir! (Mehrere recht große stämmige Männer erscheinen von den Seiten des Raumes und schauen grimmig entschlossen drein.) Also bitte, nun drehen Sie bitteschön die jungen Herrschaften einmal um, damit man die Ziffern auf ihren Rücken sehen kann. Wir wollen heute Abend ja nicht nur einen Wehrdienst-Gewinner begrüßen, sondern viele weitere. Neue Soldaten braucht das Land, wenn ich mir einmal den Titel eines berühmten deutschen Schlagers ausleihen darf. (Kichert in sich hinein, fängt sich aber schnell wieder.) Es wartet auf die frisch gekürten Soldaten im hinteren Teil des Saales dann auch noch eine besondere Überraschung. Eine nagelneue Bundeswehruniform! Die dürfen die durch Los ermittelten Gewinner dann gleich in den Umkleidekabinen anprobieren und sich vor der Kamera als neue Mitglieder unserer Wehrgemeinschaft präsentieren. Einige der heute ausgewählten Soldaten werden bald näher an Rußland heranrücken, hat man mir gesagt, denn es ist die Stationierung einer Brigade in Litauen geplant. Also, einige unter Ihnen können sich schon bald den Wind der Fremde um die Nase wehen lassen. Wer noch keinen Jahresurlaub gebucht hat, hier wartet ein kostenloser Trip auf Sie. Draußen stehen schon mehrere Geländewagen der Bundeswehr, die die heutigen Gewinner der Wehrdienst-Auslosung in ihre Unterkünfte abtransportieren, ähh, transportieren werden. (Während die Moderatorin weiterredet, spielen sich hinter ihr rauhe Szenen ab. Da die eingeladenen Wehrdienstanwärter in der Überzahl sind, ist es für die Handvoll Muskelmänner nicht so einfach, diese zum Umdrehen ihres Körpers zu bewegen. Selbstverständlich geschieht dies nicht durch eine persönliche Ansprache, sondern mit Gewalt, aber sobald einer der Gorillas versucht, einen der avisierten jungen Männer umzuwenden, stürzen sich die anderen zur Wehrpflicht-Show Eingeladenen auf diese und werfen sie zu Boden. Da die Regie davon ebenso überrascht ist wie die Moderatorin und das Saalpublikum, bleiben die Kameras ›dran‹ und senden die sich zu einer gewaltigen Rauferei steigernden Szenen weiter.) Ja, um Gottes Willen, meine Herren, so benehmen Sie sich doch! Das ist ja furchtbar, was Sie hier tun. Sie sollen doch der Stolz unseres Landes sein. Wir müssen uns doch immer auf unsere zivilen Umgangsformen besinnen, es herrscht hier doch kein Krieg! (Die Regie hat nun begriffen, daß es keinen Sinn mehr hat, mit der Sendung fortzufahren. Plötzlich wird der Bildschirm schwarz, dann erscheint eine Informationstafel mit der Aufschrift: Technische Störung.)