Wie bei einer Pflanze, an der die Blüten zu verschiedener Zeit zu Früchten reifen, sah ich am Strande von Balbec bereits die alten Damen, die harten Fruchtschoten, die schwammigen Wurzelknollen vor Augen, zu denen meine Freundinnen eines Tages zwangsläufig werden mußten. Aber was tat das? Noch war Blütezeit. (Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit / Im Schatten junger Mädchenblüte 2, Bd. 3, Frankfurt/M. 1977 [1958], 612)

Seit es Wikipedia gibt, kann man im Nu wissen, ob die Person, die man sucht, noch am Leben ist oder vielleicht schon vor Jahren gestorben ist. Biographische Informationen gibt es in Hülle und Fülle. Doch die Art der biographischen Darstellung ist großen Schwankungen unterworfen. Das beginnt schon damit, daß man sich vorab entscheiden muß, über welche Art von Personen man etwas mehr wissen will. Gilt das Interesse einer Person der Zeitgeschichte, einer Person der lange zurückliegenden Vergangenheit oder will man mehr über eine Person der Gegenwart erfahren. Außerdem gilt es, sich zu entscheiden, welchen Beruf diese Person ausgeübt hat oder noch ausübt. Die Wikipedianer stellen in vielen Sprachen der Welt, wir beschränken uns hier auf die englische und deutsche Sprache, dazu durchaus verläßliche Informationen bereit. Will man eine Phänomenologie des biographischen Wikipedia-Eintrags schreiben, sollte man auch ein Gespür dafür haben, ob vielleicht im Hintergrund die zu biographierende Person selbst Hand an den Text gelegt hat oder ob es ihr völlig gleichgültig ist, was man über sie geschrieben hat. So bemerkt man bei Wissenschaftlern der geisteswissenschaftlichen Richtungen immer wieder, wie die manchmal etwas zu ausführlich geratene Darstellung der eigenen ›Philosophie‹ aus deren Feder stammt und das Ganze wie ein Referat der von ihnen publizierten Bücher aussieht. Entsprechend wächst die Hochachtung vor der Person und ihrem Werk, jedenfalls bei unbedarften Lesern, die alles glauben, was man ihnen weitschweifig darlegt. Im Gegensatz dazu gibt es aber auch Wissenschaftler, zumeist in fortschrittenem Alter, die weder auf die Erweiterung der Bibliographie Wert legen noch bereit sind, etwas mehr zu ihrer persönlichen Biographie beizutragen. Und es gibt dann auch in solchen Fällen meist kein Foto der betreffenden Person. Hier sind wir an einer entscheidenden Stelle des Wikipedia-Eintrags angekommen. Das Foto oder sogar die über den Eintrag verstreuten Fotos aus unterschiedlichen Lebensabschnitten markiert einen wesentlichen Differenzpunkt, der nicht unbedingt unter Eitelkeitsverdacht zu stellen ist. Man darf mit Recht vermuten, daß ›Fans‹, vornehmlich von Schauspielerinnen, sehr genau darauf achten, daß ihre Heldin ausschließlich mit sehr vorteilhaften Fotos abgebildet wird und man bei der Auswahl auch bedenkt, daß, sollte die Schauspielerin noch am Leben, aber doch schon die Siebzig oder Achtzig erreicht haben, man geschmackvolle Schnappschüsse von ihr der Öffentlichkeit präsentiert. Das geht in manchen Fällen durchaus bis hin zu der Entscheidung, nur ein Foto auszuwählen und das ist dann aus der frühen Phase der Schauspielkarriere entnommen worden. In Fällen, wo die mehr oder weniger berühmte Darstellerin verstorben ist, wird gern ein Foto aus der Zeit genommen, als sie in den Zwanziger oder Dreißigern war, und das bleibt dann für immer die Ikone, unter der man sich die Person vorzustellen hat. Doch gibt es auch Fälle, wo die Schauspielerinnen sich nicht scheuen, eine falsche Entscheidung in ihrem Leben zu dokumentieren, zum Beispiel eine mißglückte Schönheitsoperation, wobei dann neben anklagenden Fotos (nach der Operation) die Belege (vor der Operation) angeführt werden, begleitet von Worten, die den Operateur angreifen, und, wenn man das Ergebnis betrachtet, mit Recht. Doch auch in den Fällen, wo die Schauspielerinnen sich einer kosmetischen Operation unterzogen haben, kann es vorkommen, daß ganz und gar nicht diese Tatsache als Skandal (wegen eines mißlungenen Eingriffs nämlich) empfunden wird, sondern recht selbstbewußt das allerneueste Foto nach der Gesichts-Straffung auf der Wikipedia-Seite präsentieren, obwohl das Ergebnis zu großen Zweifeln an dem erzielten Erfolg berechtigt. Unterschwellig könnte man vermuten, daß diese Darstellerinnen insgeheim mit ihrem neuen Gesicht auch nicht zufrieden sind und vielleicht den Gang zum kosmetischen Chirurgen zutiefst bereuen, aber nach dem Motto: Was geschehen ist, ist geschehen, nun so tun, als seien sie glücklich mit dem Ausgang und deshalb auch keine Scham empfinden, das verunstaltete Gesicht vorzuzeigen. Wir alle wissen, daß ein Entschluß zu einer Gesichtsoperation in Hollywood nicht auf einer freien Entscheidung der um ihre Karriere fürchtenden Darstellerinnen beruht. Aber die manchmal grotesk verschnittenen Gesichtszüge, die falsche Glattheit der Wangen, zeigen ganz offensichtlich, daß man besser bei dem alten Gesicht geblieben wäre, als sich auf diese grauenerregenden und schmerzhaftes Mitgefühl hervorrufenden Operationen eingelassen zu haben. Dagegen ist der Satz vom Altern mit Würde ebenso mit Vorsicht zu genießen. Ja, wir alle sind dem Zahn der Zeit unterworfen und würden auf unserem Wikipedia-Eintrag lieber ein Foto aus unserer Jugendzeit sehen als ein Bild, das uns als einen gebeugten Alten zeigt, mit schütterem Haar und eingefallenen Zügen. Nur wer jung stirbt, bleibt von diesem Unbehagen freigestellt. Die anderen müssen entweder auf Fotos ganz verzichten oder, wenn sie berühmt und weiblich sind, das beste Foto aus der Jugend auswählen und so zu tun, als würden sie immer noch so aussehen. Doch gibt es auch Schauspielerinnen, die sich keiner Schönheitsoperationen unterziehen und einfach so bleiben wie sie gerade sind, und der Anblick ist nicht in allen Fällen der gleiche. Manche sind kaum wiederzuerkennen, so sehr hat das Alter an ihnen sich vergangen, sie strahlen zwar unverändert in die Kamera, aber unser inneres Auge rekonstruiert das Gesicht aus fernen Tagen, als man die Darstellerin aus der Ferne verehrte, bewunderte, liebte, und wird nun mit einer ganz anderen Person konfrontiert, die man besser nicht mehr sehen möchte, so sehr hat sie sich zum Schlechteren verändert. Das alles wußte nur eine, die sich rechtzeitig aus dem Leben der Öffentlichkeit zurückzog und keine aktuellen Fotos von ihrer Erscheinung mehr erlaubte: Greta Garbo. Nicht jeder weiß eben, wann es Zeit ist, abzutreten und der ewigen Schönheit zu opfern, indem man sich von der grausamen Gegenwart verabschiedet.