Sie! Jetzt entfernen Sie sich aber ganz schleunigst von dem Gemälde! Sind sie blind? Oder warum drücken Sie ihre Nase so nah an das Bild? Museumswärter Erwin Wächler ist ein ganz Genauer. Seit vielen Jahren wacht er im hiesigen Museum über die ihm anvertraute Gemäldeabteilung. Er hat schon viele, tausende von Besuchern gesehen und überwacht, und in all den Jahren ist ihm schon manch Kurioses untergekommen. Sie, wenn diese Schulklassen klassenweise angerückt kommen, dann ist bei uns Alarmstufe Rot! Sie glauben nicht, was diese Kinder sich erlauben. Die stehen nicht vor den Bildern und schauen sie sich an, sie greifen nach ihnen, betatschen sie. Und dann diese jungen Lehrerinnen, wenn man dann zur Ordnung ruft, kriegt man von denen zu hören, man solle doch den Kindern einen Freiraum einräumen. Ja, freilich! Um mit ihren dreckigen Patschhänden die Kunstgegenstände zu verunreinigen. Wir sind doch nicht im Zoo, wo man auf der Wiese die armen Viecher anlangen darf, die sind auch nicht gefragt worden, ob das ihnen recht ist. Ein Museum ist doch kein Streichelzoo! Da hört sich doch alles auf.  Aber wissen Sie, das geht ja immer weiter, die Kinder sind nur die Spitze des Eisbergs. Das geht weiter hinauf, bis in die obersten Etagen. Nun soll dieses Jahr ein internationaler Museumstag gefeiert werden, nicht nur hier, überall, wo es Museen gibt. Und ein Gremium hat beschlossen, warten Sie, ich habe den Zettel in meiner Aktentasche stecken (kramt eine Weile, und zieht dann ein etwas zerknittertes Stück Papier hervor), da ist es ja. Also, da habe ich letzte Woche diesen Schrieb bekommen, der uns Mitarbeitern Weisungen erteilt, wie man diesen Museumstag begehen soll. (Liest langsam und bedächtig vor.) »Museen leisten einen wichtigen Beitrag zum Wohlbefinden und zur nachhaltigen Entwicklung von Comm, Commu, Communitys. Als vertrauenswürdige Institutionen und wichtige Bestandteile eines gemeinsamen sozialen Gefüges sind sie in der einzigartigen Lage, einen Domino-Effekt zu schaffen, der einen positiven Wandel fördert. Museen tragen zur Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung bei, indem sie den Klimaschutz unterstützen, die Integration fördern, die soziale Isolation bekämpfen und die psychische Gesundheit verbessern.« Na, was sagen Sie? Ist das was? Ha? Domino! Ja, sind die da oben ganz verrückt geworden? Ha? Das kennt man doch noch aus der Zeit, wo der Amerikaner meinte, alle Länder, die wo aneinander angrenzen und eins davon kommunistisch war, es nicht mehr lange braucht bis die andern es auch sind. Fällt der erste Stein, kippen die, die danebenstehen automatisch auch um. Und das soll nun auf unser schönes Museum übertragen werden. Aber warten Sie, das wird ja noch ganz konkret. Ich habe es Ihnen doch vorgelesen. Nach dem Domino kommt, (er schaut kurz auf das Papier) »nachhaltige Entwicklung«. So! Und für was sollen wir uns nachhaltig entwickeln? Für den »Klimaschutz«! Ja, wo sind wir denn? Bin ich als Klimaschützer ausgebildet worden? Nein, und das aus gutem Grund, weil der hier bei uns im Museum auch nichts zu suchen hat. Das einzige, wo es ein gewisses stabiles Klima braucht, das wird durch unsere Klimaanlage erzeugt, damit es die Bilder und Gemälde immer schön warm, aber nicht zu warm haben. Eine Klimaanlage läuft doch aber von ganz allein, da kommt der Techniker von der beauftragten Firma und sieht nach dem Rechten, was sollen wir Museumsangestellten denn mit dem Klima anfangen, und dann auch noch schützen sollen wir‘s. Ja, entschuldigen Sie, aber wer denkt sich denn sowas aus? Oder sollen wir außerhalb des Museums in eine Klimaschutzpartei eintreten? Nein, danke, das kommt ja gar nicht in Frage. Es geht dann aber noch weiter. Haben Sie’s sich gemerkt, was ich grad vorgelesen habe. (Schaut erneut auf das Papier.) Jetzt kommt‘s: »Die Integration fördern, die soziale Isolation bekämpfen«. Fördern und kämpfen? Fördern kann doch nur ein reicher Industrieller, und kämpfen, ja, wer kämpft denn und das auch noch auf Befehl? Bin ich ein Sozialarbeiter? Nein, bin ich nicht. Wer isoliert ist in unserer Gesellschaft, der kann sich selbst helfen, es gibt genug Vereine, die einen einsamen Menschen aufnehmen und ihm Halt geben. Im Museum, das beobachte ich täglich immer wieder, will der einzelne Museumsbesucher doch allein mit seinem Gemälde sein, er will ins stille Zwiegespräch mit ihm eintreten. Diese Möglichkeit geben wir  ihm, er soll leise sein und sich ordentlich benehmen, aber wir können ihm doch nicht aus der Isolation heraushelfen, der will doch darin verbleiben und sich seine Gedanken machen über die Schönheit und Bedeutung des Bildes, vor dem er ergriffen steht. Der ins Kunstwerk versunkene Mensch, das habe ich einmal bei einem Vortrag in der Volkshochschule gehört, will in einer ästhetischen Beziehung zum Objekt verbleiben, und wozu sollen wir dann daherkommen und uns um des Besuchers »soziale Integration« kümmern. Da sind wir doch völlig überfordert und der Besucher wird mit Recht uns scheuchen, wenn wir so etwas versuchen sollten. Sehen Sie, das Museum ist für viele Menschen ein Ort, wohin sie sich vor den Menschen flüchten, wo sie froh sind, mit keinem reden zu müssen und sich seine Probleme anhören zu müssen. Das ist doch das Schöne am Museum, daß hier zwar Menschen anwesend sind, aber in gebührendem Abstand voneinander, und daß jeder für sich seinen Gedanken nachgehen kann. Es gibt Besucher, die sitzen stundenlang auf unseren schönen Lederbänken und verweilen glücklich und zufrieden vor einem einzigen Gemälde. Das gibt es eben doch noch, wahre Kunstkennerschaft. Und die will in Ruhe gelassen und eben nicht integriert werden. (Schaut nochmals auf das Papier.) Jetzt aber wird es schon ein bißchen unheimlich. (Liest:) »Und die psychische Gesundheit verbessern.« (Fängt an zu husten und braucht einen Moment, um sich wieder zu fangen.) Es sollen ja wundervolle Dinge in diesen Mentalanstalten vollbracht werden, aber das Museum als Psychiater! Es sollten diejenigen, die das von uns abverlangen, sich in die Obhut dieser Spezialisten begeben, da hätten diese sicher wertvolle Studienobjekte. Aber, schauen Sie, das greift ja schon seit langem um sich. Gehe ich zu meiner Sparkasse, nein, zu meiner Bank, dann hängen im Schaufenster Plakate mit einer Parkbank drauf und drunter steht: »Ihre Wohlfühl-Bank«. Ich möchte nicht wissen, was diese Banker einer Reklameagentur gezahlt haben, um auf solch einen saublöden Spruch zu kommen. Aber alle mit Abitur, diese Banker. Und die Organisatoren des internationalen Museumstags haben wohl auch irgendeine Schulbildung genossen. Das müssen sie ja, sonst würde man sie gar nicht einstellen. Na, dann noch einen schönen Tag, mein Herr.