Jede Wahl beginnt mit einem Durcheinander. (Honoré de Balzac: Die Volksvertreter, 1854)
Dr. Anneliese Sendler: Ja, einen schönen guten Abend, meine lieben Zuschauer. Wir haben heute einen ganz besonderen Leckerbissen für Sie vorbereitet. Die Vertreter von drei philosophischen Vereinigungen werden sich zum Ausgang der eben stattgefundenen Bundestagswahl äußern. Der Titel der Sendung heißt: ›Wozu brauchen wir Politiker?‹ Mein Redakteur hat sich diesen Titel ausgedacht, in Anlehnung an den Song ›War, what is it good for?‹ aus dem Jahre 1969 von Norman Whitfield und Barrett Strong. Die Antwort auf diese Frage lautet: Absolutely nothing. Ja, wozu sind unsere Politiker eigentlich gut, brauchen wir sie überhaupt? Schließlich gab und gibt es Stimmen, die sagen: Die Politik wird doch ohnehin von den mächtigen Konzernen gemacht, die allein bestimmen, was entschieden wird, und die Politiker sind nur korruptionsanfällige Handlanger der Industrie. Da nun zwar nicht das Thema, aber doch die Vertreter der heutigen Diskussionsrunde eher etwas für die intellektuelle Minorität in unserem Lande sind, hat sich der Sender entschlossen, unser politisch-philosophisches Vierer-Runden-Gespräch erst nach Mitternacht zu senden, damit die arbeitende Bevölkerung nicht von ihren beliebten Unterhaltungssendungen am frühen Abend getrennt wird. Ich darf dann mal schnell die drei Gesprächsteilnehmer vorstellen. Da haben wir zunächst Herrn Dr. Christoph Stadler vom ›Luhmann-Lesen!-Freundeskreis‹. Herzlich willkommen! (Der Begrüßte nickt kurz mit dem Kopf, sagt aber nichts.) Dann gleich neben ihm haben wir, direkt aus Wien kommend: Dr. Katharina Gruber vom ›Fackel-Forschungszentrum‹. (Die Eingeladene neigt sacht den Kopf, sagt aber nichts.) Für diejenigen unter unseren Zuschauern, die mit dem Namen ›Fackel‹ nichts anfangen können: Das ist der Name der berühmten Zeitschrift, die der Wiener Schriftsteller Karl Kraus fast ganz allein geschrieben hat und die zwischen 1899 und 1936 erschienen ist. So! Und last but not least: Dr. Jürgen Wollseif, der Erster Vorsitzender der ›Nietzsche-Studiengruppe‹ ist. Nun aber zum heutigen Thema. Herr Stadler, bitte geben Sie doch ihr erstes Statement ab.
Dr. Christoph Stadler (Luhmann-Lesen!-Freundeskreis): Im klassischen Verständnis politischer Demokratie steht die politische Wahl im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie soll die Herrschaft des Volkes über sich selbst gewährleisten. Zwar nicht unmittelbar als Selbstbeherrschung, als potestas in seipsum, wohl aber indirekt in der Form der Wahl von Repräsentanten, die, so nimmt man an, den Willen des Volkes erahnen und durchzusetzen versuchen, weil sie anderenfalls nicht wiedergewählt werden würden.
Dr. Jürgen Wollseif (Nietzsche-Studiengruppe): Erahnen! Welcher sich zur Wahl stellende Politiker erahnt denn schon den ›Volkswillen‹? Mal ganz abgesehen davon, was soll dieses sprachliche Ungetüm eigentlich bedeuten? ›Volkswille‹! Die politischen Parteien bezahlen Meinungsforscher, die uns einzureden versuchen, was gerade als Thema besonders vorteilhaft für die Wiederwahl in der öffentlichen Meinung erscheint.
Dr. Christoph Stadler (Luhmann-Lesen!-Freundeskreis): Im übrigen muß man fragen, ob es einen solchen Volkswillen überhaupt gibt, oder ob es sich nur um ein semantisches Korrelat der Inszenierung politischer Wahlen handelt. Das würde die politische Wahl in die Nähe von funktionalen Äquivalenten wie Fahnen, Paraden, architektonisch ausgezeichneten Gebäuden bringen.
Dr. Jürgen Wollseif (Nietzsche-Studiengruppe): Das klingt schon besser. Da stimme ich Ihnen zu.
Dr. Christoph Stadler (Luhmann-Lesen!-Freundeskreis): Auch ist schwer zu sehen, wie die zur Wahl gestellten Parteien und Parteiprogramme eine zugrundeliegende Interessenlage repräsentieren könnten. Es ist die Funktion der regelmäßig zu wiederholenden politischen Wahl, die Politik mit einer für sie unbekannten Zukunft zu konfrontieren. Aber es gibt, schon wegen der Vielfalt der Themen und Interessen, keinen sicheren Schluß von Machtausübung auf Machterhaltung oder von Machtkritik auf Machtgewinn. Die Institutionalisierung politischer Wahl garantiert dem System eine im System selbst erzeugte Ungewißheit. Was wir ›Demokratie‹ nennen und auf die Einrichtung politischer Wahlen zurückführen, ist demnach nichts anderes als die Vollendung der Ausdifferenzierung eines politischen Systems. Durch die Einrichtung regelmäßiger Wahlen erzeugt das System eine relativ kurzfristige Unsicherheit.
Dr. Anneliese Sendler: Ja, vielen Dank, Herr Doktor Stadler, damit haben Sie sehr schön die Grundlinien unserer Diskussion festgelegt. Was sagt denn nun die Karl Kraus-Expertin zu diesen Befunden?
Dr. Katharina Gruber (Fackel-Forschungszentrum): Nun ja, da darf ich meinen Beitrag vielleicht mit einem Zitat aus einem Text von Karl Kraus aus dem Jahre 1908 einleiten: »Mein Verhältnis zur Politik drückt sich etwa in dem Dialog aus, den ich neulich führte: ›Wer wird Handelsminister?‹ ›Der jetzige bleibt‹. ›Aha‹, rief ich überrascht und setzte nach einer Pause hinzu: ›Wer ist denn der jetzige‹?« (Großes Gelächter in der Runde.) Halt, warten Sie, es geht ja noch weiter: »Was mich in der Politik immer wieder anzieht und beschäftigt, ist die Tatsache, daß es Politik gibt. Der Berufspolitiker ist eine durchaus plausible Erscheinung, um so mehr als er immer nur auf Kosten jener gewinnt, die nicht mitspielen. Politik ist Bühnenwirkung.«
Dr. Jürgen Wollseif (Nietzsche-Studiengruppe): Jedes Mal, wenn der Mensch anfängt zu entdecken, inwiefern er eine Rolle spielt und inwieweit er Schauspieler sein kann, wird er Schauspieler, sagt Nietzsche. Die Demokratie bringt Schauspieler hervor, die bestimmte Werte und Ideale vertreten, aber nicht unbedingt auch verkörpern können. Der Demokrat ist der »Gott der großen Zahl«. Und: »Überall geht das Mittelmäßige zusammen, um sich zum Herrn zu machen.«
Dr. Christoph Stadler (Luhmann-Lesen!-Freundeskreis): Wenn ich hier anschließen darf? Luhmann hat in einem Beitrag von 1993 mit dem Titel ›Die Ehrlichkeit der Politiker und die höhere Amoralität der Politik‹ sich zu diesem Thema geäußert. Müssen, sollen oder können Politiker ehrlich sein? Entscheidend dabei ist die Frage, ob sie es können. Seit dem 17. Jahrhundert ist es geläufig, daß man eigene Ehrlichkeit oder Aufrichtigkeit nicht kommunizieren kann. Wer sagen würde: Ich bin ehrlich, würde zugleich mitteilen, daß Zweifel bestehen. Wenn Nixon sagt: I am not a crook, Ich bin kein Betrüger, so schwingt eben doch das Gefühl dabei mit, daß diese Art von Beteuerung ihm nichts nutzt und er sich erst recht unter Verdacht stellt. In Wahlkampfzeiten beobachtet man das Phänomen, daß es zu einer »Kultur der wechselseitigen Beleidigungen« kommt, und Luhmann erwähnt einen Vergleich aus E.T.A. Hoffmanns ›Prinzessin Brambilla‹: Zwei Löwen gehen mit solchem Grimm aufeinander los, daß am Ende nichts von ihnen übrigbleibt als die beiden Schweife. Aber, fragt Luhmann, »wer hätte ein Interesse daran, zwischen zwei Schweifen zu wählen?« (Großes Gelächter in der Runde.) Es sind letztlich politische Konstellationen, die den Ausschlag geben in der Frage, ob und mit welchen Spezialfunktionen die Politik auf Moral zurückgreift. Und insofern sind dann Politiker in der Tat auch in ihrer moralischen Selbstdarstellung Opfer der Macht.
Dr. Anneliese Sendler: Vielen Dank für diese interessanten Ausführungen, Herr Dr. Stadler. Was sagt die Fackel-Spezialistin denn dazu?
Dr. Katharina Gruber (Fackel-Forschungszentrum): Dann lese ich Ihnen einmal einen Aphorismus von Kraus über die Politiker seiner Zeit vor: »Die Verworrenheit unserer politische Zustände hat einen großen Vorteil; sie erleichtert die Beurteilung der führenden Männer. Unter minder schwierigen Umständen konnte sich ein Minister jahrelang der Feststellung seines Wertes entziehen. Selbst der Geschichte fehlen die Anhaltspunkte zur Beurteilung einzelner Staatsmänner. Aber dieses historische Dämmerlicht ist vorüber. Heute ist die Beleuchtung so grell, daß man die Umrisse politischer Unfähigkeit weithin erkennt. Unsere Zeit richtet jeden Minister binnen ein paar Tagen – standrechtlich. Auch auf die Abstufungen der Mittelmäßigkeit läßt sie sich nicht mehr ein.«
Dr. Anneliese Sendler: Mmh…, das ist wieder so hübsch paradox, wie man das von Kraus gewohnt ist.
Dr. Katharina Gruber (Fackel-Forschungszentrum): Wenn ich das noch weiter ausführen dürfte? Kraus konstatiert, sollte es keine Politik und damit keine Politiker mehr geben, »so hätte der Bürger bloß sein Innenleben, also nichts, was ihn erfüllen könnte. Spannungen kann ihm nur der Rohstoff des Lebens bieten. Wer außer den Politikern beklagt denn die Dummheiten in der Politik? Daß es Politik gibt, ist erheblich. Daß sich die Menschheit keinen besseren Zeitvertreib weiß, als auf der Lauer ihrer Spannungen zu liegen.« Mit solchem »Völkerspielzeug, wie es die Politik ist«, gebe er sich nicht ab. Politik ist das, was man macht, um nicht zu zeigen, was man ist, und was man selbst nicht weiß. Politik ist Tonfall, losgelöst von Sinn und Gefühl. Das Verhängnis aller Politik ist der Ausfall an Phantasie. Und damit hier auch ein Beitrag zur Frage, ob man Politiker braucht, gegeben wird, diesen Aphorismus hier: »Der Parlamentarismus ist die Kasernierung der politischen Prostitution.« Warum Prostitution? Nun, für Kraus waren die Wiener Huren bedeutende Geschöpfe, bedeutender und lebenswichtiger als die Wiener Journalisten, denn im Gegensatz zur Presse konnten die Huren einen lebensnotwendigen Dienst anbieten und es gab auch einen reellen Gegenwert für das Geld, während die Journalisten mit ihren Artikeln meist kein verwendbares Gut lieferten, sondern nur Phrasen und Mißinformation. Deshalb schätzte Kraus die Prostitution als höherwertiger ein als die Leistungen der Presse, und das galt dann auch für das politische Pendant zur Figur des Journalisten, des Politikers, der mit seinen Wahlreden nur Versprechungen ausgab, von denen man von vornherein wußte, daß er sie nicht zu erfüllen verstand. Prostitution leitet sich von dem lateinischen Wort prostituere ab, das heißt: zur Schau stellen, preisgeben. Genau das macht der Politiker und deshalb ist eine gewählte Versammlung von Politikern im Parlament die Kasernierung der politischen Prostitution.
Dr. Christoph Stadler (Luhmann-Lesen!-Freundeskreis): Lassen Sie mich das Ganze doch ein bißchen versachlichen und uns damit wieder auf das Thema des Abends zurückbringen. Als ›Politik‹ kann man jede Kommunikation bezeichnen, die dazu dient, kollektiv bindende Entscheidungen durch Testen und Verdichten ihrer Konsenschancen vorzubereiten. Für Politik ist also Organisation erforderlich, weil man Kommunikationen sozialen Systemen zurechnen muß. In der politischen Wahl versuchen Politiker, das Volk zu überreden, sie zu wählen. Viel Sorgfalt wird auf eine günstige Präsentation der politischen Programme gelegt, und starke moralische Akzente dienen dazu, zu insinuieren, daß nur bei bestimmten Politiken Einverständnis und Motivation im Sinne des Guten-und-Richtigen zu erreichen sei. Natürlich durchschauen viele, wenn nicht alle, das Spiel, aber das System ist gegen das Durchschautwerden immun, weil es auf dieser Ebene keine Alternativen anbietet. Dem Volk bleibt als viel genutzte Alternative zu den angebotenen Alternativen die Resignation. Und eben deshalb kommt es für die ›Zukunft der Demokratie‹ vor allem darauf an, wie und worin sich die Alternativen unterscheiden, die angeboten werden.
Dr. Jürgen Wollseif (Nietzsche-Studiengruppe): Aber das ist doch gerade das Problem, daß es keine Alternativen mehr gibt und daß wir sogar politische Zustände haben, wo eine Partei sich mit dem Wort ›Alternative‹ schmückt, wo doch offenkundig es sich bei deren politischem Programm um keine Alternative handelt, sondern um eine Kopie eines Programms aus den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhundert und dieses ›Programm‹ die Handlungsanweisung für den Zweiten Weltkrieg gewesen ist.
Dr. Christoph Stadler (Luhmann-Lesen!-Freundeskreis): Sie berühren hier das Problem der öffentlichen Meinung, denn Parteien, die auf sich aufmerksam machen wollen, und das müssen alle Parteien gleich welcher Richtung, suchen sich öffentlichkeitswirksame Themen aus, die sie aber zusätzlich noch mit einem Drall ausstatten, der unweigerlich dazu führt, daß die Massenmedien diesen aufgreifen, ja aufgreifen müssen, weil Massenmedien darauf angewiesen sind, ständig neu zu aktualisieren und alles, was vom normativen öffentlichen Konsens abweicht, geradezu zwanghaft verarbeiten müssen. Luhmann sagt: »Die öffentliche Meinung ist ein Medium der Meinungsbildung. Sie ist der Heilige Geist des Systems. Sie ist das, was als öffentliche Meinung beobachtet und beschrieben wird. Man kann sie als einen durch die öffentliche Kommunikation selbsterzeugten Schein ansehen, als eine Art Spiegel, in dem die Kommunikation sich selber spiegelt. Die öffentliche Meinung ist daher nicht etwas, was irgendwo anders auch noch vorkommt. Sie ist die autistische Welt der Politik selbst.«
Dr. Anneliese Sendler: Was für ein schönes und zugleich düsteres Schlußwort! Vielen Dank, meine Dame, meine Herren, für ihre tiefschürfenden Beiträge. Ein Resümee? Schwierig. Ist Autismus heilbar? Ich fürchte nicht.