In Europa glauben viele Leute, ohne es zu sagen, oder sie sagen es, ohne es zu glauben, daß einer der großen Vorzüge des allgemeinen Wahlrechts darin bestehe, zur Führung der Geschäfte Männer zu berufen, die des öffentlichen Vertrauens würdig sind. […] Was mich angeht, muß ich sagen, daß nichts von dem in Amerika Gesehenen mich berechtigt, dies für wahr zu halten. Nach meiner Ankunft in den Vereinigten Staaten entdeckte ich zu meiner Überraschung, wie sehr bei den Regierten das Verdienst verbreitet und wie wenig es bei den Regierenden vorhanden war. Es ist in den Vereinigten Staaten eine feststehende Tatsache, daß die bedeutendsten Männer selten zu öffentlichen Ämtern berufen werden, und dies trifft, wie man zugeben muß, in dem Maße zu, wie die Demokratie alle ihre früheren Grenzen überschritt. Ganz offenkundig hat sich der Bestand der amerikanischen Staatsmänner seit einem halben Jahrhundert außerordentlich verschlechtert. Für diese Erscheinung lassen sich mehrere Gründe anführen. Was man auch immer tue, es ist unmöglich, die Bildung des Volkes über eine gewisse Stufe emporzuheben. […] Eine Gesellschaft, in der alle Menschen hochgebildet wären, läßt sich daher ebensowenig ausdenken, wie ein Staat von lauter reichen Bürgern. […] Welch langes  Studium, welch verschiedenartige Kenntnisse sind notwendig, um das Wesen eines einzigen Menschen zu erfassen! Die größten Geister irren sich darin, und wie sollte es der Menge gelingen! Das Volk hat nie die Zeit und die Mittel, sich dieser Aufgabe zu widmen. Es muß immer in Hast urteilen und sich an das Hervorstechendste halten. Daher kommt es, daß die Schwindler aller Art sich so trefflich darauf verstehen, ihm zu gefallen, während seine wahren Freunde darin sehr häufig scheitern. Übrigens fehlt der Demokratie nicht so sehr die Gabe, verdienstvolle Männer auszulesen, als der Wunsch und die Neigung hierzu.

Alexis de Toqueville: Über die Demokratie in Amerika, (Hg.) J. P. Mayer, Th. Eschenburg, H. Zbinden, [1835; 1976], 226f.