Wenn diese Politiker der Gewalt noch davon sprechen, daß dem Gegner »das Messer an die Kehle zu setzen«, »der Mund zu stopfen« sei, oder »die Faust zu zeigen«; wenn sie überall »mit harter Faust durchgreifen« wollen oder mit »Aktionen auf eigene Faust« drohen: so bleibt nur erstaunlich, daß sie noch Redensarten gebrauchen, die sie nicht mehr machen. Die Regierung, die »mit aller Brutalität jeden niederschlagen will, der sich ihr entgegenstellt« — tut es. […] »Salz in offene Wunden streuen«. Einmal muß es geschehen sein, aber man hatte es vergessen bis zum Verzicht auf jede Vorstellung eines Tätlichen, bis zur völligen Unmöglichkeit des Bewußtwerdens. […] ›Als sich der alte Genosse beim Kartoffelschälen einen tiefen Schnitt in die Hand zufügte, zwang ihn eine hohnlachende Gesellschaft von Nazis, die stark blutende Hand in einen Sack mit Salz hineinzuhalten. Das Jammergeschrei des alten Mannes machte ihnen großen Spaß.‹ Es bleibt unvorstellbar; doch da es geschah, ist das Wort nicht mehr brauchbar. Oder: »mit einem blauen Auge davonkommen«. Nicht allen ist es jetzt im uneigentlichen Sinne gelungen; manchen im eigentlichen. Es war eine Metapher gewesen. Es ist nur noch dann eine, wenn das andere Auge verloren ging; oder auch dann nicht mehr. […] Die Floskel belebt sich und stirbt ab. In allen Gebieten sozialer und kultureller Erneuerung gewahren wir diesen Aufbruch der Phrase zur Tat. (Karl Kraus: Warum die Fackel nicht erscheint. In: Die Fackel, 36. Jg., H. 890–905 (Ende Juli 1923), 95f.)
Der israelische Verteidigungsminister hat jetzt damit gedroht, das Nachbarland Libanon »in die Steinzeit« zurückzuversetzen, sollte es abermals zu einem Krieg mit der dort tätigen Hisbollah-Miliz kommen. Der US-amerikanische General Curtis E. LeMay soll während des Vietnam-Krieges gesagt haben, man solle Vietnam »in die Steinzeit zurückbomben«. Im Jahre 1982 beschloß das israelische Kabinett die militärische Operation ›Schalom Hagalil‹ (Frieden für Galiläa), mit dem Ziel der physischen Zerstörung der ›Palästinensischen Befreiungsorganisation‹ (PLO). ›Krieg ist Frieden‹ heißt es in George Orwells Roman ›1984‹. Ein norwegischer Offizier der ›United Nations Interim Force in Lebanon‹ sagte dazu, dies sei der Versuch, »die PLO ins Steinzeitalter zurückzubomben«. Der Satz von Karl Kraus über den »Aufbruch der Phrase zur Tat« ist von nicht veraltender Aktualität. Verwandt mit der Phrase von der Steinzeit ist die Redewendung »dem Erdboden gleichmachen«. Hier bleibt man in der Kategorie des Raums, während es sich bei der Steinzeit um eine Kategorie der Zeit handelt. Das Resultat bleibt das gleiche. Und tatsächlich werden auch heute noch, wie jetzt mit der ukrainischen Stadt Marjinka (9.400 Einwohner) geschehen, Städte dem Erdboden gleichgemacht, also vollkommen zerstört. 1942 brannten NS-Truppen Lidice und Ležáky nieder, als Vergeltungsmaßnahme für das Attentat auf den SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich. In dem Film ›Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb‹ von Stanley Kubrik (1964) malen die US-Soldaten auf die Bomben, die sie über Rußland abwerfen sollen, Sprüche wie ›Hi There!‹ oder ›Dear John‹; vor wenigen Tagen signierte der ukrainische Präsident Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj den französischen Marschflugkörper ›Scalp‹ mit der Zeile: »Ruhm der Ukraine«, eine gängige Grußform in diesem Staat und der offizielle Gruß des ukrainischen Militärs. Und so setzen die Menschen auf der ganzen Welt und in allen Zeiten und Räumen fleißig die Sinngebung des Sinnlosen fort, jedesmal fest davon überzeugt, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen und deshalb auch bereit, jeden nur erdenklichen Unsinn zu sagen und zu schreiben, und wenn das nicht hilft, mit der ungeheuren Macht der militärischen Destruktionskräfte alles dem Erdboden gleichzumachen.