Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog
Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.
Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«
Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.
Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.
Polygynie in Venedig
Zum 99. Geburtstag am 28. Juni 2025, für einen der größten Komiker und Parodisten der Gegenwart: Melvin Kaminsky, besser bekannt als Mel Brooks
Der Hinrainer Rudi, der hat einen Stil. International Flair! Er kann zwar kein Englisch, aber er frisst einen Sushi. Er sauft einen Bardolino. Fährt einen Mitsubishi. Außerdem ist er sowieso international, weil, er ist ja mit einer Thailänderin verheiratet. Seine Frau ist eine Thaifrau! Und zwar schon die dritte. Warum? Das ist nämlich auch interessant. Das ist jetzt zwar ein anderes Kapitel, aber der Rudi sagt, die Thaifrauen sind zum Anschauen wirklich anmutig – aber, sagt er, haltbar sind sie nicht. Er sagt, er hätte jederzeit aus seiner Sicht auch eine europäische Frau geehelicht. Das wäre ihm wurscht gewesen. Polin, Ungarin – scheißegal, sagt er. Aber jetzt kommt es – er sagt: Die europäische Frau hat sich seiner Meinung nach mit ihrem enormen Selbstbewusstsein im Grunde selber sehr geschadet. Gell. Das sag nicht ich, das sagt der Hinrainer Rudi.
Gerhard Polt: Der Europäer. In: ders.: Drecksbagage. Anwürfe, Unterstellungen, aber auch Ehrabschneidungen, Zürich 2008, 31–39 (38).
A: Was für ein Sommer dieses Jahr, und dabei haben wir die Monate Juli und August noch vor uns!
B: Jaja, es ist ganz schön heiß und soll kommende Woche noch heißer werden. Bis zu 36 Grad! In New York sind schon 39 Grad erreicht worden. Global Warming!
A: Ach, hören Sie doch auf mit diesen klimakritischen Phrasen, ich kann es einfach nicht mehr hören.
B: Sie haben mit dem Thema angefangen, nicht ich.
A: Da haben Sie recht, Entschuldigung, aber diese Hitze steigt mir in den Kopf und nachts schwitze ich wie ein Schwein, muß immer wieder aufstehen und das Nachtzeug wechseln und wenn dann der Morgen naht, fühle ich mich wie zerschlagen. Das Schlimmste aber ist: seit einigen Tagen friere ich tagsüber, es ist so, als wäre unter meiner Haut eine Eisschicht eingewandert. Dazu kommt ein Gefühl der Übelkeit und des Schwindels.
B: Wie bedauerlich. Dafür haben Sie draußen eine blühende Natur, wie man es im Sommer gewohnt ist. Wenn alles kalt und grau ist, können Sie zwar besser die Nacht überstehen, aber das ist dann auch schon alles. Die Aussicht darauf, daß bald schon wieder Weihnachten ist und in den Fußgängerzonen der Glühwein die Menschheit bedroht, ist ja auch keine schöne Aussicht.
A: Jetzt aber mal was Anderes. Haben Sie die sündhaft teure Hochzeit dieses Jeff Bozo mit dieser Schlauchbootlippenbraut in Venedig verfolgt? Das ist ja Kabarett live.
B: Es war schwer, diesem Pseudoereignis auszuweichen, die Medien haben sich darauf gestürzt wie eine Wespe auf das letzte Stück Zwetschgenkuchen in der Konditorei.
A: Allerdings! Es ging aber auch um viel Geld. Unglaublich, was diese Superreichen sich alles leisten können und wie sie das Geld aus dem Fenster schmeißen, als wären es Karamellen im Karneval.
B: Deshalb fand das Spektakel ja wohl auch in Venedig statt, wo in früheren Zeit wochenlang Karneval gefeiert wurde. Was müssen das für Zeiten gewesen sein! Wie schade, daß man das nicht miterleben konnte.
A: Venedig ist nicht mehr das, was es einmal war. Ein Doge hätte niemals diesem Bozo erlaubt, vier Tage die Serenissima zu okkupieren, auch nicht mit einer großen Geldspende an die Stadt, wie sie dieser Bozo getätigt hat.
B: Sie sprechen vom vielen Geld, das dieser Bozo, der übrigens richtig Bezos heißt und der Begründer des Versandwarenhauses ›amazon‹ ist, hat springen lassen. Eins verstehe ich dabei nicht: Wie kann ein Mann, der Milliarden Dollar flüssig zur Verfügung hat, am Ende eine Frau heiraten, die so aussieht? Eine Vogelscheuche allerersten Grades! Für so ein unansehnliches Wesen, das ja vielleicht innere Werte haben mag, gebe ich doch nicht das ganze schöne Geld aus. Und was noch schlimmer ist: Die hat der jetzt jahrelang am Hals. In diesen Kreisen halten solche Ehen möglicherweise nicht lange, aber ganz egal, wie lange er diese Person nun sein eigen nennen darf, es bleibt doch zu fragen: wieso ein so angejahrtes und aufgespritztes Modell, wo man für viel weniger Geld doch etwas weitaus Besseres bekommen kann?
A: Das sehe ich ganz genau so. Ich würde aber noch einen Schritt weiter gehen als Sie. Bei dem ergaunerten Reichtum dieses Herrn Bozo fragt man sich doch, wieso er sich auf eine Frau beschränkt hat. Wieso nicht zwei Frauen, drei Frauen, was sage ich?, einen ganzen Harem. Das Geld ist doch vorhanden und ich bin mir sicher, daß man auf der ganzen Welt ausreichend Frauenmaterial zusammenbringen kann, um einen netten Harem damit zusammenzustellen. Und vor allem junge, hübsche Frauen aus aller Herren Länder! Latinas, Muslimas, schwarze, weiße, gelbe Frauen, da bin ich ganz vorurteilslos. Alles zusammenkarren und dann vor die Weltmedien treten und sie mit ganzem Besitzerstolz den Kameras präsentieren. Das hätte Klasse und Stil. Aber das traut sich dieser kleine glatzköpfige Mann nicht. Er hat zwar viel Geld, ist aber völlig gefangen in einer kleinbürgerlichen Welt der Ein-Ehe. Pah!
B: So betrachtet, hat das viel für sich. Personen aus diesen Kreisen haben ohnehin keinen Ruf zu verlieren, können aber enorm hinzugewinnen, wenn es darum geht, etwas wirklich Aufregendes und Neues der Welt vorzuführen.
A: Da sind wir uns einig. Und im übrigen müßte dieser Bozo ja gar nicht die Ehe mit jeder der Frauen aus seinem Harem ›konsumieren‹, wie man das im US-amerikanischen Sprachgebrauch so nennt. Doch der ungeheure Neid, den alle Männer der Welt, ob nun Christen oder Moslems, empfinden würden, wenn sie wüßten, daß diesem Milliardär erlaubt ist, das zu tun, wovon diese auf eine Frau festgelegten Kleinbürger nur träumen können, das allein wäre ein maßloses Gefühl der Macht. Denn das ist doch wohl klar: es geht bei einem Harem nicht um Sex, sondern um die Darstellung von männlicher Macht.
B: Wenn es aber ganz stilgerecht sein soll, müßte dieser Herr Bozo vielleicht doch erwägen, wenn er sich so einen Harem einrichten läßt, daß er dann auch einen Haremswächter einstellt. Einen Eunuchen.
A: Uii! Guter Gedanke, aber sicher schwierig in der Ausführung, denn wo immer diese Vielweiberei stattfinden soll, ob in den USA oder Europa, wird man auf ethische Vorbehalte stoßen. Denn Sie wollen doch nicht bloß einen Haremswächter engagieren, der nicht vollkommen echt daherkommt, oder?
B: Sie meinen: Kastriert?
A: In der Tat, das muß dann schon sein, wenn man den Anspruch erhebt, einen authentischen Harem zu präsentieren. Ich denke aber doch, es sollte sich eine Lösung dafür finden. Wissen Sie, ich bin ja gelegentlich bei diesen am Starnberger See stattfindenden Symposien eingeladen. Letztes Jahr waren Marquis de Sade-Tage angesetzt worden, und da war ein hochinteressanter Vortrag eines Professors der Münchner Universität über jüdische Beschneidungsrituale und orientalische Kastrationstechniken angesetzt, also der war schon sehr eindrucksvoll, muß ich sagen. Nachher hat man sich dann beim Champagner über den Vortrag unterhalten und da sagte mir ein Teilnehmer, er kenne Ärzte, die würden gegen Aufpreis solche Kastrationen fachgerecht an entsprechenden Subjekten vornehmen. Die Operation an sich ist eigentlich keine große Sache, das geht alles ganz klinisch vor sich, so wie die Ärzte in Saudi-Arabien ja auch versierte Techniker sind und es noch nie zu ärztlichen Kunstfehlern gekommen ist, wenn dort den verurteilten Verbrechern eine Hand abgetrennt wurde. Genauso geht es dann auch bei der Gonadektomie zu; einmal zack, und ab ist der Balkon. Sicher, es ist ein heikles Thema, aber man nimmt für solche Prozeduren ja auch keine Westeuropäer, ja nicht einmal Osteuropäer, obwohl der Markt dafür langsam heranwächst. Nein, Personen mit der Ambition, sich einen privaten Harem einzurichten, stützen sich voll und ganz auf den südostasiatischen Raum. So ein Bangladeshi ist schon für 1000 Dollar zu haben, natürlich ohne die Kosten der Operation, das kommt extra. Aber dann hat man einen wirklich authentischen Haremswächter, der zudem von ausgewiesenen medizinischen Fachärzten behandelt wird. Auch für die Nachsorge ist alles vorbereitet. Andererseits sollte man auch den gigantischen US-Markt nicht ganz außen vor lassen. Die Gefängnisse dort sind ja ohnehin seit Jahren überfüllt. Wieso sollte man da einzelnen Subjekten nicht die Chance bieten, sich gegen Hergabe der Hoden vom Strafvollzug freizukaufen? Natürlich müßte man eine strikte Vorauswahl treffen. Ordinäre Vergewaltiger kämen von vornherein schon einmal nicht in Frage. So ein Milliardärs-Harem muß schon auf einem gewissen zivilisatorischen Niveau gehalten werden. Also, ich würde sagen: wenn unter diesen Verurteilten in den amerikanischen Gefängnissen einmal ein Bilanzfälscher ist (die haben sie ja öfter da drüben), da würde ich sagen: Ja, weshalb denn nicht? Der bringt eine gewisse Bildung mit, denn ohne eine solche wäre man ja nicht Bilanzfälscher geworden, nicht wahr? Und so würde sich so eine Person auch ganz unauffällig in den Harems-Haushalt einfügen lassen, meinen Sie nicht?
B: Tja, für diesen Herrn Bozo ist der Zug in dieser Hinsicht abgefahren, aber es gibt ja noch andere reiche Leute auf dieser Welt. Man darf gespannt sein. Das werden sich die internationalen Medien nicht entgehen lassen.
A: Darauf können Sie wetten. Ach, es ist doch immer wieder nett, mit Ihnen so ganz zwanglos über interessante Themen der Welt zu plaudern.
B: Das denke ich auch, dann bis zum nächsten Mal, Frau A.
Fading Civilization. Part Five. Eine apokalyptische Serie
Die Apokalypse hat eine lange Geschichte. Nimmt man sich irgendein Ereignis der Gegenwart vor, so kann man meist ohne Mühe daran ablesen, daß, wie es in gängiger Alltagsrede heißt, »alles den Bach runtergeht«. In dieser Rubrik sollen solche Alltagserscheinungen beleuchtet und interpretiert werden, dabei prüfend, ob nicht doch ein Ende erreicht werden wird und welche Vorteile dies für die Erde dann doch hätte: »Eines ist auf jeden Fall gewiß: der Mensch ist nicht das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen Wissen gestellt hat. Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis diese Dispositionen ins Wanken gerieten, dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« (Michel Foucault: Les mots et les choses, 1966)
Ein Kakerlak sitzt in meinem Salat!
In der Verwechslungskomödie ›Victor and Victoria‹ (Regie: Blake Edwards, USA 1982) sind zwei arbeitslose Künstler sehr hungrig, haben aber nicht genug Geld, um in einem erstklassigen Pariser Restaurant ihren Hunger zu stillen. Victoria Grant, gespielt von Julie Andrews, hat eine Idee. Sie betritt mit dem Chansonnier Toddy, gespielt von Robert Preston, das Lokal und verrät ihm, wie man auch ohne Geld sich satt essen kann. Sie bestellt einen gemischten Salat und, nachdem der hochnäsige Kellner verschwunden ist, öffnet sie ihre Handtasche, und schüttelt den Inhalt über der Salatschüssel aus. Aber es geschieht nicht das, was sie eigentlich damit bezweckt hatte, denn in der Handtasche hatte sie eine riesige Kakerlake (Cockroach) versteckt. Verstört sucht sie in dem Salat nach dem Insekt, doch sie findet es nicht. Der Kellner steht plötzlich neben Victoria und beugt sich über den Tisch. Toddy sagt mit bestimmtem Ton, daß sie noch eine weitere Flasche Wein haben möchten. Während der Kellner die leere Flasche ergreift, läuft ein Kakerlak über seine Hand. Victoria erschrickt sich, springt auf und fängt an zu schreien. Sie fällt gegen den Kellner, der wiederum kopfüber auf einen Nebentisch stürzt. Toddy verlangt den Manager des Restaurants zu sprechen, doch der hat bereits den entsetzlichen Vorfall aus dem Hintergrund beobachtet. Mit scheinheiliger Höflichkeit entschuldigt er sich bei ›Madame‹ und erklärt, in den fünf Jahren, seitdem er das Restaurant leite, sei es nur zweimal vorgekommen, daß ein Kakerlak in den servierten Speisen gefunden wurde, dann nämlich, wenn die Gäste das Insekt selbst in ihr Essen placiert hatten, um die Restaurantleitung zu erpressen und damit um das Bezahlen der Rechnung herumzukommen. Während das Geplänkel seinen Fortgang nimmt, wird die Kamera in einer Großaufnahme auf eine übergewichtige Dame mit Hut und großer Perlenkette gerichtet, die skeptisch das Geschehen um sie herum verfolgt hat. Dann schwenkt die Kamera auf den Fußboden des Restaurants und man sieht einen der Schuhe der Dame. Dort, auf der Spitze des Schuhs hat der Kakerlak Platz genommen. Unternehmungslustig krabbelt er das Bein hoch, Richtung Norden, zu wärmeren Gefilden. Als der Kakerlak ungefähr in Höhe der Kniekehle angekommen ist, erfolgt ein scharfer Kameraschnitt auf Gesicht und Oberkörper der Dame, die unter einem entsetzten Aufschrei von ihrem Sitz auffährt. Und dann sieht man das Restaurant von außen, eine abendliche Szene mit vier matt erleuchteten, zu einem Drittel mit weißen Gardinen abgedeckten Fenstern. Es ist vollkommen still. Dann aber sieht man, ohne Ton, wie alle Gäste hochspringen, wild gestikulieren, auf die Tische springen und mit Gegenständen auf die Tische einschlagen. Und ein Paar, Victor und Toddy, verläßt, sich an den Händen haltend, mit schnellen Schritten das Restaurant.
Oddio, che schifo! (Oh Gott, wie ekelig!) hörte man in den letzten Tagen in sämtlichen Restaurants der Stadt Rom die Gäste rufen. Doch nicht etwa ein Zechpreller hat einen Kakerlak in sein Essen getan, sondern die Kakerlaken selbst haben sich in Massen dazu entschlossen, die römischen Restaurants aufzusuchen. Periplaneta americana (Amerikanische Großschabe) nennt sie sich, oder wird fälschlicherweise so genannt, denn das Insekt ist asiatischen Ursprungs und hat sich per Schiff über den gesamten Mittelmeerraum ausgebreitet. Der XXL-Kakerlak hält sich tagsüber in der Kanalisation auf und ernährt sich, wenn er nicht gerade auf Restauranttischen sich bedient, von den auf Roms Straßen herumliegenden Speiseresten. Die Ewige Stadt hat es bis heute nicht erreicht, sich auch nur eine einzige Müllverbrennungsanlage anzuschaffen, weswegen denn auch anderes Getier wie die allezeit und überall präsente Ratte in Rom ihr Auskommen findet. Aber auch Möwen und Tausende von Wildschweinen halten sich an offenen Mülltonnen gütlich. Die Riesen-Kakerlake profitiert von der Klimaerwärmung und wandert aus den Mittelmeergebieten immer weiter nach Norden, denn dort findet sie Temperaturen vor, die ihr ein Überleben auch im Winter ermöglichen. Igitt! wird man denn wohl auch bald in den Restaurants Hannovers zu hören bekommen. Auf deutsch: Wie ekelig!
Der Maskenball des Ministers
Gibt es Geschäfte, in denen es eine Ausnahme von der Maskenpflicht gibt? Ja. Banken und Sparkassen. Hier gilt keine Maskenpflicht. Das Land möchte so offenbar gewährleisten, daß normale Kunden in den Filialen von Bankräubern zu unterscheiden sind. (Pressemitteilung aus dem Frühjahr 2020)
Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? (Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper, 1931)
Zwei CDU-Parteimitglieder unterhalten sich.
A: Wenn ich an manchen Tagen die Zeitung aufschlage, natürlich die ›Große Frankfurter‹, was sonst?, dann frage ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, sie nicht aufzuschlagen.
B: Ach, was ist denn passiert? Schon wieder ein Raubüberfall auf einen Juwelierladen? Wie gehen denn übrigens die Geschäfte in Ihrem Juwelierladen?
A: Lassen Sie uns gar nicht erst damit anfangen, über die Geschäftslage zu reden. Aber in gewisser Weise haben Sie ins Schwarze getroffen mit Ihrer Frage. Viel schlimmer kann es schon gar nicht mehr kommen. Hier (reicht Herrn B die Zeitung herüber). Da, ich habe die betreffende Seite schon aufgeschlagen. Wirtschaftsteil, Seite 17.
B: (liest laut vor): »Nach Bekanntwerden interner Ermittlungsergebnisse aus dem Bundesgesundheitsministerium zur überteuerten Maskenbeschaffung in der frühen Corona-Zeit wächst der Druck auf das Haus von Nina Warken und auf ihren Vorvorgänger Jens Spahn (beide CDU). Hintergrund sind die Ergebnisse der Aufklärungsbeauftragten im Ministerium. Diese hatte Warkens Vorgänger Karl Lauterbach (SPD) eingesetzt, weil der Bundesrechnungshof Kritik an Spahns Maskeneinkauf geübt hatte und weil das Ministerium viele Klagen gegen Lieferanten verloren hatte, die sich geprellt sahen. Das Prozeßrisiko für die Steuerzahler beträgt bis heute 2,3 Milliarden Euro.« Donnerlüttchen, da liegt der Hund begraben.
A: (nimmt Herrn B das Blatt aus der Hand und liest weiter): »Der Zeitung liegen exklusiv Teile der Arbeitsergebnisse der Aufklärungsbeauftragten vor. Demnach könnte der Schaden für die Steuerzahler noch viel höher sein als angenommen. Vermutlich hat das Gesundheitsministerium in der Anfangsphase der Pandemie im Frühjahr 2020 bis zu 623 Millionen Euro zu viel gezahlt, obgleich die Fachabteilung des Hauses zu wesentlich niedrigeren Preisen geraten hatte. Das wären noch einmal 156 Millionen Euro mehr als bisher bekannt. Wichtige Teile des öffentlichen Preisrechts hat das Ministerium entweder nicht gekannt oder ignoriert. Die Milliardengeschäfte könnten daher nichtig sein.«
B: Das ist ja furchtbar, ganz furchtbar. Der arme Jens Spahn, den habe ich immer für einen ordentlichen Politiker gehalten, der hat doch schon während der schrecklichen Pandemie in einer Rede im Bundestag gesagt: »Wir werden einander viel verzeihen müssen.« Und dann hat er nach dem Ende der Pandemie daraus ein ganzes Buch gemacht. Ob er es selbst geschrieben hat? Das weiß man bei Politikern aller Couleur nie so genau. Egal, das Buch hat auch einen Untertitel: ›Wie die Pandemie uns verändert hat – und was sie uns für die Zukunft lehrt. Innenansichten einer Krise‹.
A: (mit grimmiger Miene) Sätze wie diese sind wie ein Bumerang, sie kommen zurück und treffen den Sprecher. Denn jetzt kommt’s. Hören Sie zu (liest weiter aus dem Artikel vor): »Spahn hat gegen mehrfache, sehr ausdrückliche Hinweise seiner Mitarbeiter in der Abteilung 1 des Ministeriums einen sehr viel höheren Preis mit Gewalt durchgesetzt.« Mit Gewalt! Gegen die ausdrücklichen Hinweise der Mitarbeiter!
B: Ogottogott, ogottogott! Das hätte ich dann doch nicht gedacht, daß dieser sympathische junge Mann zu sowas fähig ist. Was hat er sich dabei bloß gedacht. Wer gibt schon gern freiwillig mehr Geld aus als nötig ist? Ich sage doch auch im Kaufmannsladen um die Ecke nicht: Ach, berechnen Sie ruhig mehr als mein Einkauf eigentlich kosten würde, ich hab’s ja. Und warum sollte ich Ihnen nicht eine Freude machen und völlig überteuerte Waren kaufen.
A: Hier kommt die Pointe der Geschichte! Sind Sie bereit?
B: Nun spannen Sie mich doch nicht so auf die Folter!
A: (liest): »Man könnte vermuten, daß Spahn das für seine CDU-Freunde unter den Maskenhändlern gemacht hat.«
B: (völlig entgeistert, schluckt und spricht dann nur stockend weiter): Aber…das…ist…doch…nicht…möglich. Das macht man doch nicht, und wenn man auch ein noch so loyales Parteimitglied ist. Als Minister ist er doch dem Staatswohl, dem Allgemeinwohl verpflichtet. Artikel 56 des Grundgesetzes! »Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.«
A: Ja, die Papierfassung einer Eidesformel klingt immer sehr schön und erhaben, doch die Wirklichkeit sieht anders aus. (Macht eine Handbewegung nach unten, wie als schließe er den Deckel eines Sarges): Der Mann ist erledigt. Toast, wie man in den Vereinigten Staaten sagt. Und man muß ihn ganz, ganz schnell loswerden. Der ist das reinste Leichengift. Raus damit aus der Partei. Ein Parteiausschlußverfahren muß sofort ingang gesetzt werden. Der zieht uns alle in den Abgrund. Wie stehen wir als Partei denn jetzt da? Wir sind doch Christenmenschen und nicht Betrüger und Parasiten, die auf dem Rücken des Steuerzahlers sich zugunsten von Parteifreunden bereichern und wie die Made im Speck des Staatskörpers verhalten. Das sind doch die Gründe, weshalb so viele Leute diese AfD-er-Partei wählen. Ich kann förmlich die Wut riechen, die die Wähler ergreift, wenn Sie solche Meldungen hören.
B: Ich bin fassungslos. Wer hätte das gedacht, daß so etwas möglich ist, und das zu einer Zeit, wo Millionen Menschen vom Tod durch das Virus bedroht waren. Und da kommt dieser Kerl daher und schustert seinen Parteikumpanen die völlig überteuerten Preise zu. Dieser Zynismus! Und dann stellt der sich auch noch im Bundestag hin und sagt: »Wir werden einander viel verzeihen müssen.« Ja, das schlägt doch dem Faß den Boden aus! So ein Schweinehund, so ein elendiger! Tut so, als sei er vom Allmächtigen dazu bevollmächtigt, sich selbst vorab zu entschuldigen und zu entschulden, wo er gerade krumme Dinger als Minister gedreht hat. In China würde man ihn nicht nur aus der kommunistischen Partei ausschließen, der würde im Schnellverfahren liquidiert werden, als chinesischer Volksschädling.
A: Nun beruhigen Sie sich doch. Es wird ja sicher wohl weitere Konsequenzen geben. Das heißt: noch ein Untersuchungsausschuß mit weiteren Einzelheiten. Aber im Endergebnis, da können Sie Gift darauf nehmen, wird garantiert nichts dabei herauskommen. Man kennt das doch schon von den mit schöner Regelmäßigkeit publizierten Berichten des Bundesrechnungshofs. Jedesmal liest man darin die haarsträubendsten Dinge über sinnlose Steuergeldverschwendung. Aber haben Sie jemals gelesen, daß einer der Schuldigen dafür ins Gefängnis gewandert ist? Natürlich nicht, wir sind ja in Deutschland. Und erst recht Politiker sind absolut gefeit gegen diese Angelegenheiten.
B: Diese Type ist seit kurzem Fraktionsvorsitzender der CDU-CSU-Bundestagsfraktion. Und ich sage: heraus mit ihm! Wie auch aus allen anderen Ämtern und Mitgliedschaften. Der ist auch Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung. Man denke! Was hat der Altbundeskanzler Ludwig Erhard alles für das deutsche Wirtschaftswunder getan, alles im Dienste des Allgemeinwohls. Friedlich hat er seine tägliche Zigarre geraucht, und nun haben Schakale Platz genommen am reichlich gedeckten Tisch der deutschen Nation. Selbst wenn man diesem Spahn sein Wohnhaus wegnehmen und sein Privatvermögen beschlagnahmen würde, die Summe aller Werte ergäbe auch nicht annähernd die Summe, die er durch sein betrügerisches Verhalten den deutschen Staat gekostet hat. Wir sollten eine Unterschriftenaktion starten und alle CDU-Mitglieder zum Austritt aus der Partei auffordern, wenn nicht unverzüglich dieser Spahn aus der CDU hinausgeworfen wird!
A: Nun, manchmal reicht die Maske eines Biedermanns eben aus, um einen Banküberfall durchzuführen.
Neue Gespräche im Elysium XXV
Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.
Shere Hite meets Stendhal
So ist für »Kristallisation« der Liebe bei Stendhal Kommunikation kaum noch nötig, und, wenn sie kommt, kann sie das Gebilde zerstören, weil sie das »nein« ermöglicht.
Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/M. 1982, 168
…dann zerriß er leise die Schnürbänder des Gewandes, das Mieder sprang auf, und die zwei weißen Köstlichkeiten zeigten sich in allen Prächten. Auf Silberschimmer dieses Busens blühte ein paradiesisch Rosenpaar. Er berührte sie leise mit den Lippen, ließ diese dann liebkosend dem Umriß der Brüste entlang gleiten. Rosalinde lächelte Gewährung in unerschöpflicher Güte und mühte sich, seine Zärtlichkeiten gleichwertig zu erwidern.
Théophile Gautier: Mademoiselle de Maupin – Doppelliebe [1834]. In: ders.: Romane und Erzählungen (Hg.) D. Oehler, Wiesbaden 2003, 29–220 (216)
Shere Hite: Der Wald war meine erste Liebe. Er schien mit mir zu sprechen, und ich hatte das Gefühl, daß auch die Bäume mich liebten und mir helfen wollten. Ich verspürte stets den Impuls, die Baumstämme mit den Armen zu umschlingen. Ich wollte ihre Kraft, ihre Festigkeit an meiner Brust fühlen.
Stendhal: Wenn ich während des Pariser Frühlings aus dem Fenster schaute und die knospenden Lindenbäume sah, überkam mich das Gefühl, in diesen Bäumen meine ersten Freunde in der großen Stadt gefunden zu haben.
Shere Hite: An einem jener Abende verspürte ich ein seltsames Begehren, ein tiefes Sehnen, das aus dem unerreichbaren Innern meines Körpers zu kommen schien. Bald entdeckte ich, daß ich das Gefühl verstärken konnte, indem ich den Körper gegen das Bett drückte und die Beine hin und her bewegte. Ich preßte den Körper gegen das Bett, bis das Gefühl, anstatt zu enden, immer heftiger und immer fordernder wurde. Eines Tages nahm ich dabei eine wunderbare Explosion tief in meinem Körper wahr. Der Genuß war wie ein elektrischer Schlag zwischen meinen heißen, sich krümmenden Beinen. Ich wollte es immer wieder tun, und ich tat es immer wieder. Dann tat ich es jeden Tag.
Stendhal: Ja, liebe Madame Hite, das war eine schöne Beschreibung Ihres sexuellen Erwachens, die Sie mir da eben gegeben haben. Meine erste sexuelle Erfahrung machte ich mit einer Mailänder Hure. In meinem Roman ›Lamiel‹, der erst 1889 veröffentlicht wurde, beschreibe ich dieses angeblich so einschneidende Erlebnis und lasse eine meiner Figuren fragen: Comment, ce fameux amour ce n’est que ça! Ist die Liebe weiter nichts? Auch ich habe mich im Laufe meines Lebens mit dem Phänomen der Liebe immer wieder beschäftigt, allerdings durfte ich angesichts der damaligen Zeitverhältnisse nicht so offen schreiben und sprechen, wie Sie das soeben demonstriert haben. Die Liebe war mein Hauptthema, beim Schreiben und in meinem eigenen Leben. Sie kennen vielleicht den von mir entdeckten Vorgang der »Kristallisation«? Nein? Dann will ich Ihnen das einmal beschreiben. Die Kristallbildung hört in der Liebe fast nie auf. Ich verstehe unter Kristallbildung eine Art Fieber der Einbildungskraft, durch das ein meist ganz gewöhnlicher Gegenstand bis zur Unkenntlichkeit verändert und zu etwas Besonderem wird. Bildschöne Frauen machen schon am zweiten Tage nicht mehr den gleichen Eindruck. Das ist ein großes Unglück, denn es stört die Kristallbildung, es läßt ihr nicht genügend Raum. Da ihre Reize allgemein sichtbar und gleichsam ein Aushängeschild sind, müssen auf der Liste ihrer Liebhaber mehr Dummköpfe, Prinzen, Millionäre und so weiter stehen. Sie, verehrte Madame Hite, sind übrigens wirklich bildschön.
Shere Hite: Ja, ja, ich weiß, jetzt sind aber genug Süßholz geraspelt und versteckte Beleidigungen ausgesprochen worden. Ich warte immer noch auf die Beschreibung Ihrer Beobachtung, auf die Definition der Kristallbildung.
Stendhal: Oh, entschuldigen Sie. Eine sachlich-poetische Beschreibung des Vorgangs können Sie in einem Nachlaßtext von mir finden, betitelt ›Der Salzburger Zweig‹. Ich schrieb diese Reflexion, nachdem ich am 5. und 6. Januar 1810 im österreichischen Hallein das Salzbergwerk besucht hatte. Man verkaufte dort Zweiglein, die im Salzbad Kristalle angesetzt hatten. Hier, ich habe den Text bei mir. (Liest vor): Im Salzbergwerk von Hallein bei Salzburg werfen die Bergleute einen entlaubten Baumzweig in die Tiefe der verlassenen Schächte. Zwei bis drei Monate später finden sie ihn durch die Wirkung des salzhaltigen Wassers, das den Zweig benetzt und beim Ablaufen Niederschläge hinterläßt, ganz mit glitzernden Kristallen bedeckt. Die kleinsten Äste, nicht größer als die Füße einer Meise, sind mit einer Unzahl kleiner, lockerer, glitzernder Kristalle überzogen. Der eigentliche Zweig kommt nur noch hier und da zum Vorschein, die Salzkristalle haben ihn fast völlig verdeckt. Das ist die Metapher der Kristallbildung, und genau so verlieben sich die Menschen ineinander. Es gibt sieben Phasen der Liebe. 1. Bewunderung. 2. Verlangen. 3. Hoffnung. 4. Entstehung der Liebe. 5. Erste Kristallbildung. 6. Entstehung des Zweifels. 7. Zweite Kristallbildung. Zwischen 1 und 2 kann ein Jahr vergehen, zwischen 2 und 3 ein Monat. Zwischen 3 und 4 liegt ein Augenblick, 4 und 5 folgen unmittelbar. Zwischen 5 und 6 können ein paar Tage liegen, 6 und 7 folgen unmittelbar aufeinander. Sie sehen, es ist kein durchgehend linearer Prozeß, es gibt Verzögerungen, es braucht Zeit, um die Kristallisation zum Abschluß zu bringen. Mit all den Verhängnissen, die die dann beginnende Liebe mit sich bringt. Die Liebe gleicht dem Fieber. Sie entsteht und vergeht ohne den geringsten Einfluß des Willens. Damit unterscheidet sich meine Kristallisationstheorie der Liebe von Goethes Wahlverwandtschaft in seinem gleichnamigen Roman. Darin wird die leidenschaftliche Liebe als unausweichliche gegenseitige Anziehung zweier chemischer Elemente beschrieben, die beiden Paare finden zueinander in alles andere ausschließender Schicksalhaftigkeit.
Shere Hite: Sehr interessant. Mein Forschungsansatz bestand darin, daß ich vier Jahre lang Tausende von Fragebögen an Frauen in den Vereinigten Staaten von Amerika verschickte und sie bat, auf meine Liste an Fragen zu ihrer sexuellen Erfahrung offen zu antworten. Daraus entstand dann 1976 der ›The Hite-Report. A Nationwide Study of Female Sexuality‹. Das waren keine Multiple-choice-Fragebögen, die Frauen mußten handschriftliche Antworten auf meine Fragen geben, und das haben sie in großer Zahl dann auch getan. Das war ein quantitativer Ansatz, da ich der Meinung war, ich müßte herausfinden, was Frauen wirklich empfinden, wenn sie sexuelle Empfindungen haben, nicht das, was die Alltagsfolklore über die Frauen im allgemeinen bisher als bekannte Tatsachen vorausgesetzt hat. Es waren insgesamt dreiundsechzig Fragen, und wenn ich es mir recht überlege, wurden die Frauen im Grunde aufgefordert, ihre sexuelle Autobiographie zu schreiben, so detailliert waren die Fragen, und deshalb war es aber auch so schwierig, die Antworten zu quantifizieren. Aber immerhin haben fünfzehntausend Frauen bei meinen Untersuchungen mitgewirkt, während Freud nur drei Frauen der Wiener Oberschicht befragt hat, weshalb meine Theorien über das sexuelle Verhalten der Frauen in den USA viel fundierter sind als seine.
Stendhal: Ich habe meine Frauengestalten in meinen Romanen von den Stereotypen der Zeit freigehalten. Bei mir gibt es keine geduldig Leidende, kein sanftes Musterbeispiel der Tugend; meine Frauengestalten besitzen die gleichen Eigenschaften wie die meiner Männergestalten: Tatkraft, Eigenwille, Wagemut, Intelligenz. Sie sind äußerst energisch und entschlossen, vergleichen Sie das mal mit den Frauengestalten meines Kollegen Balzac! Auch Ratschläge habe ich gegeben, so, als mein Kollege Prosper Mérimée mich brieflich fragte, wie meine Romanfigur Armance denn in den kurzen Tagen ihrer Ehe mit Octave ein so ekstatisches Glück habe empfinden können. Ich habe ihm ausführlich geschildert, welche Mittel ein impotenter Mann anwenden könne, um einer noch unerfahrenen jungen Frau physische Befriedigung zu verschaffen.
Shere Hite: Sehr schön, sehr, sehr schön. Mein Buch ›Frauen & Liebe. Eine kulturelle Revolution‹ (1987) war mein bis dahin aufwendigstes Projekt. Schließlich beabsichtigte ich, Emotionen zu quantifizieren. Im Grunde versuche ich immer noch herauszufinden, was Sex ist. Ich glaube, daß sich in ihm vielerlei Gefühle vermischen.
Stendhal: Ich hatte als junger Mann eine Vorliebe für die Mathematik, ihre nüchterne Sprache bestach mich durch ihre kalte, klare Schönheit. Die Mathematik heuchelt nicht wie die Bourgeoisie, sie ist in ihrer Logik unbestechlich, ehrlich, klar. Der Erzählstil kann gar nicht klar, nicht schlicht genug sein. Als ich die ›Kartause von Parma‹ (1839) schrieb, las ich zur Einstimmung jeden Morgen zwei bis drei Seiten im Bürgerlichen Gesetzbuch. In meiner Prosa erfand ich einen Erzählstil, der kompromißlose Wahrhaftigkeit einschloß. Dazu gehört als Vorbereitung das Verliebtsein, bei dem alles andere Interesse erlischt. Aber die Momente höchster Leidenschaft sind nicht die besten fürs Schreiben. Als Romanschriftsteller muß man sich ganz auf die Beobachtungsgabe und die Beschreibungskunst verlassen. So habe ich Gefühle im Fluß ihres Erlebens dargestellt und innere Einstellungen zergliedert; das haben Henry James und Marcel Proust dann auf vorbildliche Weise fortgeführt.
Shere Hite: ›Frauen & Liebe‹ ist ein sehr komplexes Werk und stellt Fragen wie: Ist die Liebe etwas Reales, oder nur ein Instrument zur Manipulation der Frau? Sofern es sie gibt, welches sind die realen Aspekte der Liebe? Welche Art Liebe ist Frauen wichtig, oder an welchen Aspekten der Liebe haben sie Freude? Wie kommt es dazu, daß Liebe manchmal emotional oder physisch gewalttätig wird? Möchte die Frau von heute die Liebe, oder will sie lieber ohne Liebe leben? Meines Erachtens befähigt die Liebe die Frauen zu heroischen Leistungen. Die Frauen ›klammern‹ sich keineswegs an den Mann und sind auch nicht masochistisch, wie es oft heißt. Jedoch stellt sich die Frage, ob das Hegen und Pflegen, das Sorgen und Lieben für die Frauen selbst von Vorteil ist. Wußten Sie, daß 50% der Frauen ihre Ehe beenden und 50% erhalten sie aufrecht, obwohl sie emotional unbefriedigt sind? Die Ansprüche der Frauen an eine Partnerschaft sind drastisch gestiegen. Heute besitzen die Frauen durch ihre materielle und sexuelle Unabhängigkeit eine neue, beispiellose Macht.
Stendhal: Jeder, der meinen Namen kennt, ist mit meiner Romanfigur Julien Sorel vertraut, dem Protagonisten von ›Le Rouge et le Noir. Chronique du XIXe Siècle (1831), aber wer kennt ›L’Amiel‹ (1889)? Da finden Sie die Vollendung meiner Frauengestalten, Frauen, die sich nicht um die gesellschaftlichen Normen scheren und gegen die männliche Dominanz aufbegehren. Amiel ist das weibliche Gegenstück zu Julien Sorel. Sie erreicht die Gleichberechtigung nicht durch Bitten, sondern durch selbstbewußten Kampf. Erst hier, im Elysium, habe ich die Zeit gehabt, weit über mein kurzes Leben hinweg, alle die Erfahrungen nachzuholen, die ich zu Lebzeiten niemals hätte sammeln können. Auch wenn mein Wahlspruch lautete: Immer für das 20. Jahrhundert arbeiten! Aber wenn Sie sich vorstellen: Ich bin 1783 geboren und starb 1842, Sie sind 1942 geboren und 2020 gestorben. Sie sind 100 Jahre nach meinem Tod geboren worden. Ich wäre heute, im Jahre 2025, 242 Jahre alt. Was ist nicht alles innerhalb dieser Zeitspanne auf der Welt geschehen! Wieviele Bücher sind geschrieben worden, wieviele Erkenntnisse sind zusammengetragen worden. Aber ist die Menschheit vorangeschritten? Wenn ich nur Ihre Forschungsergebnisse mir vor Augen führe, dann muß ich die Frage absolut bejahen. Wenn ich mir das tatsächliche Verhalten der Menschen ansehe, und wir werden hier im Elysium ja sehr gut mit Informationen über die andere Welt versorgt, so muß ich sagen: Nein, die Erkenntnisse laufen den Ereignissen und der unveränderlichen menschlichen Natur hinterher.
Shere Hite: Das ist leider nur zu wahr. Das Buch ›Frauen & Liebe‹ wurde von reaktionären Kräften attackiert, die amerikanischen Medien hetzten unaufhörlich gegen meine Bücher, so daß ich irgendwann beschloß, das Land für immer zu verlassen. Ich lebte noch drei Jahre nach Verlassen der USA mit einem Restgefühl des Terrors. Ich habe dann auch meine amerikanische Staatsbürgerschaft aufgegeben und die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen.
Stendhal: Sie müssen meinen Roman ›Lucien Leuwen‹ lesen, darin schildere ich die französische Bourgeoisie und ihre Verfallenheit ans Geld, wie allein das Geld über alles entscheidet. Amerika war für mich immer die Diktatur des Mittelmaßes und ich bedauere sehr, daß Sie dort unter den Nachstellungen und Verleumdungen der amerikanischen Öffentlichkeit so zu leiden hatten.
Shere Hite: Das ist sehr freundlich von Ihnen, vielen Dank. ›Frauen & Liebe‹ wurde trotz der Hetzkampagne der amerikanischen Medien auf der ganzen Welt gut verkauft, allein in Deutschland wurden fast eine Million Exemplare abgesetzt. Man denke aber nicht, daß mir das Geld massenweise zufloß, denn die Kosten für die Forschung beliefen sich auf viele hunderttausend Dollar. Häufig saß ich vierzehn Stunden pro Tag am Schreibtisch. Von den ersten drei der vier Hite-Reports wurden in sechsunddreißig Ländern mehr als zwanzig Millionen Bücher verkauft.
Stendhal: Für mein erstes selbständiges Buch ›De l’Amour‹ (1822) haben sich in den ersten zehn Jahren seines Erscheinens siebzehn Käufer gefunden. To the happy few! Die Stendhal-Forschung, die es heute tatsächlich gibt, hat errechnet, daß ich mit meiner Literatur 75 Centimes pro Tag, und 270 Francs pro Jahr eingenommen habe. Ist es aufs Ganze gesehen wirklich die Mühe wert zu leben?
Fading Civilization. Part Four. Eine apokalyptische Serie
Die Apokalypse hat eine lange Geschichte. Nimmt man sich irgendein Ereignis der Gegenwart vor, so kann man meist ohne Mühe daran ablesen, daß, wie es in gängiger Alltagsrede heißt, »alles den Bach runtergeht«. In dieser Rubrik sollen solche Alltagserscheinungen beleuchtet und interpretiert werden, dabei prüfend, ob nicht doch ein Ende erreicht werden wird und welche Vorteile dies für die Erde dann doch hätte: »Eines ist auf jeden Fall gewiß: der Mensch ist nicht das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen Wissen gestellt hat. Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis diese Dispositionen ins Wanken gerieten, dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« (Michel Foucault: Les mots et les choses, 1966)
Bergrutsch begräbt Dorf
In geistig bankerotten Zeiten wird statt der Anschauungsmünze das Papiergeld der Phrase verausgabt. Wenn statt der Dinge Bilder von anderen Dingen bezogen werden, steht es schlimm genug. Aber wenn diese Bilder auch dort noch gebrauchsfähig sind, wo die Dinge schon bei den Dingen sind, wenn Ufer eine Umschreibung für Ufer und Klippe eine Phrase für Klippe ist — dann ist ein Krieg unvermeidlich!
Karl Kraus: Die Phrase im Krieg. In: Die Fackel, 15. Jg. Nr. 374–375, (8. Mai 1913), 3
Der Zusammenstoß zwischen einer Wirklichkeit und einer Metapher ist immer eine Katastrophe.
Karl Kraus: Der Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt. In: Die Fackel, 30. Jg., Nr. 781–786 (Anfang Juni 1928), 1–9 (5)
In der Schweiz ist durch einen Erdrutsch ein ganzes Dorf vernichtet worden. Dank eines Vorwarndienstes konnten sich die Einwohner vor dem Unglück in Sicherheit bringen. Solche als ›Naturkatastrophen‹ bezeichneten Ereignisse sind in den Teilen der Erde, die mit Bergen ausgestattet sind, keine Seltenheit. Der ›Bergsturz von Goldau‹ im Jahre 1806 gehört zu den schlimmsten Naturkatastrophen. Und wenn es auch eine Vorwarnzeit von dreißig Jahren gab, mit den charakteristischen Anzeichen einer Rißbildung am Berg, offenen Spalten und dem knallenden Reißen gesprengter Wurzeln, so zogen doch damals nur fünf Einwohner aus dem Ort weg. 457 Menschen wurden unter den Geröllmassen begraben, 323 »Stück Vieh« verloren gleichfalls das Leben. Gerade an diesem Fall, der ein tatsächlicher Fall ist, ein Abfall und ein Herabstürzen von Erdmassen inmitten einer unbezähmbaren Naturlandschaft, kann die Phrase, wonach »alles den Bach runtergeht«, anschaulich zeigen, wie vorsichtig man mit solchen Bemerkungen sein sollte. Natürlich kann man diesen Satz ohne weiteres auch auf einen Bergsturz anwenden und dabei glauben, damit sei sogar der Idealfall einer Beschreibung gegeben, denn tatsächlich hat sich ja genau das abgespielt, was der Satz in seiner sowohl sachlichen wie metaphysisch-prophetischen Art zu sagen versucht. Die beiden Zitate aus der ›Fackel‹ versuchen aber den Fall einer Wirklichkeit zu beschreiben, bei der die Metapher zwar vordergründig zu treffen scheint, was der Fall ist (Ludwig Wittgenstein): Genauer: Die Welt ist all das, was der Fall ist, also die Gesamtheit der Tatsachen. Doch wenn versucht wird, einen Bergrutsch in die Kategorie eines Den-Bach-Runtergehen-Falles zu subsumieren, so gerät man in die von Karl Kraus beschriebene Metaphern-Falle. Es sei denn, man will damit beweisen, es könne Verhältnisse im Hochgebirge geben, wo man gezwungen wird einzugestehen, daß nicht alles unternommen wurde, um das Leben des Dorfes und seiner Bewohner zu sichern, es sich also um eine gesellschaftliche Unterlassung handelt und daher dann doch alles den Bach runtergeht, weil die politischen Mächte und Kräfte in diesen entlegenen Gegenden der Welt es vermieden oder unterlassen haben, alles zu tun, damit ein solches Ereignis erst gar nicht stattfinden kann. Der Weisheit letzter Schluß wäre dann allerdings wohl nur ein Ziel: die Evakuierung sämtlicher Einwohner aus Berggebieten und ihre Umsiedlung in bergrutschfreie Lebenszonen. Der Zufall hat es so eingerichtet, daß zugleich mit dieser Schreckensmeldung eine andere Schreckensmeldung zu lesen war, auch sie aus den Bergen kommend: ›Der Vandalismus in den Berghütten nimmt zu‹. Zu Beginn der Hüttensaison hat der ›Deutsche Alpenverein‹ die Öffentlichkeit jetzt darüber unterrichtet, daß erneut ein schwerer Fall von Bergvandalismus vorgekommen ist. Eine der Hütten, die Bergwanderern einen sicheren Ort zur Übernachtung bieten sollen, wurde mit einer in dieser Form noch nicht vorgekommenen Brutalität verwüstet. Der Ofen der Hütte wurde aus seiner Befestigung herausgerissen und vor die Tür geworfen, leere Schnapsflaschen lagen rund um die Hütte verstreut, Fenster wurden zerschlagen. Die Kasse, in die man die Übernachtungsgebühr einwerfen muß, wurde aufgebrochen und geplündert, und, wie es sich für richtige Barbaren gehört, hatten diese überall ihre Körperausscheidungen hinterlassen, vor und in der Hütte. Damit andere Bergwanderer garantiert die Orientierung verlieren, waren die Wegweiser mit Aufklebern unlesbar gemacht worden.
Der Chor in Friedrich Schillers ›Die Braut von Messina. Trauerspiel mit Chören‹ (1803) singt:
Auf den Bergen ist Freiheit! Der Hauch der Grüfte
Steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte;
Die Welt ist vollkommen überall,
Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.
Neue Gespräche im Elysium XXIV
Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.
Für Oskar Ansull, den Freund aus Celler Tagen, zum 75. Geburtstag am 29. Mai 2025
Emile Zola meets Edmund Rehwinkel
Zolas Protagonist ist jedermann, es sind die Menschen, die in labyrinthischen Städten, dumpfen Mietskasernen, überfüllten Stuben, zivilisationslosen Landkaten, verschüchterten Industriedörfern geboren werden, leiden, kämpfen, sich lieben, andere Elende zeugen, zugrundegehen, sterben. Man warf Zola vor, in Schmutz und Abschaum zu wühlen. Zola gebrauchte Worte, die man nie zuvor in der Literatur gekannt hatte, beschrieb Natürlichkeiten, Dinge und Handlungen, die noch nie beschrieben worden waren. Die Entrüstung über ihn war nichts anderes als die Wut des entlarvten Spießers. (Wolfgang Koeppen: Zola und die Moderne, 1974)
Edmund Rehwinkel: Ja, Herr Zola, ich grüße Sie. Da sind wir nun also hier versammelt im Schattenreich, und niemals wäre ich Ihnen im Leben begegnet, denn unsere Lebensläufe sind ja doch zeitlich weit auseinander. Um gleich zur Sache zu kommen: Ich habe Ihren Bauern-Roman ›Die Erde‹, 1888 zuerst erschienen, gelesen und als ehemaliger Bauern-Präsident der deutschen Bauernschaft hat mich das Thema natürlich sehr interessiert.
Emile Zola: Sie erwarten sicher nicht von mir, daß ich schon einmal von Ihnen gehört habe; jedoch habe ich mich immer für Menschen aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen interessiert. Daher sage ich nur: Sehr erfreut, Sie kennenzulernen! Und vielen Dank für Ihr Interesse an meinen Romanen. Welche von denen haben Sie außer der ›Erde‹ denn noch gelesen?
Edmund Rehwinkel: Nur diesen und noch einen anderen, auf den ich gleich kommen werden, entschuldigen Sie, aber ich bin doch durch das Thema der Bauerngeschichte überhaupt auf Sie gekommen.
Emile Zola: Das macht überhaupt nichts. Nun erzählen Sie mir aber, was Ihnen an dem Roman gefallen hat!
Edmund Rehwinkel: Dann will ich gleich einmal mit der Tür ins Haus fallen. Schon die Szene mit César und Coliche hat mich beeindruckt. César ist ein Bulle, und Coliche ist eine Kuh. Beide sollen dazu gebracht werden, wie soll ich das jetzt sagen…mhh, zu kopulieren. Aber der Bulle hat Schwierigkeiten, auf die Coliche aufzusetzen, ihr Rücken ist zu hoch für ihn, er schafft es nicht. Und da tritt nun Françoise auf, sie packt den Bullen und es gelingt ihr, die beiden zusammenzubringen. Wie Sie das geschildert haben, das hat mich sehr beeindruckt, weil Sie die Tatsachen des Lebens ungeniert beim Namen nennen: Sie mußte weit ausholen mit dem Arm, sie ergriff mit der ganzen Hand das Glied des Bullen, das sie wieder hochrichtete. Und als er fühlte, daß er am Rande war, raffte er all seine Kraft zusammen und drang mit einem einzigen Lendenstoß tief ein. Dann zog er wieder heraus. Es war getan; der Stoß mit dem Pflanzholz, das ein Samenkorn tief in die Erde drückt. Standfest und mit der empfindungslosen Fruchtbarkeit der Erde, die besät wird, hatte die Kuh ohne eine Bewegung diesen befruchtenden Strahl des Mannestieres empfangen. Meine Hochachtung, Herr Zola, für dieser Schilderung. Ohne falsche Scham haben Sie benannt, was sich im Leben täglich abspielt.
Emile Zola: Es wird Ihnen im Verlauf des Lesens sicher aufgefallen sein, daß ich die Erde und ihre Fruchtbarkeit vielfach wiederaufnehme und natürlich auch die Menschenschicksale damit verbunden habe.
Edmund Rehwinkel: Oh ja, meisterhaft. Es zieht sich durch den ganzen Roman mit allen zum Teil schauerhaften Einzelheiten. Ihre Darstellung, wie die junge Françoise das Glied des die Kuh vergebens bespringenden Bullen ergreift und ihn in die Spalte schiebt, also das erinnert mich an mein Gedicht ›Blattzeit‹: Vor mir treibt der Bock die Ricke, / denn sie will nicht, wie er will, / läßt sich immer wieder jagen, / aber schließlich hält sie still. // Mußte an die Mädchen denken, / die sich auch erst lange zieren, / bis sie dann die ersten Küsse / widerstrebend doch probieren. // Kommen später ganz allein, / wenn sie erst Geschmack gefunden, / und dem ersten Stelldichein / folgen frohe Schäferstunden.
Emile Zola: Ja, so kann man das auch sagen.
Edmund Rehwinkel: Ich bin ja 1899 in Westercelle zur Welt gekommen, das ist ein Stadtteil der niedersächsischen Stadt Celle, und in Westercelle bin ich auch in die dortige Dorfschule gegangen. Mit einundzwanzig Jahren habe ich dann mit dem Dichten angefangen. Wollen Sie sich noch eins meiner Gedichte anhören? Sie sind nicht so bedeutend wie die eines gleichfalls aus Westercelle stammenden Poeten, der übrigens auch eine voluminöse Stadtgeschichte von Celle verfaßt hat: ›Heimat, schöne Fremde. CELLE Stadt & Land. Eine literarische Sichtung‹; das Buch ist 2019 erschienen und begleitet mich seitdem täglich als schöne Erinnerung an meine alte Heimat. Nun hören Sie sich das an, es heißt ›Im Frühlingswind‹: Heute radelte ein hübsches Kind / an mir vorbei recht munter, / sein Röckchen flatterte im Wind, / doch sittsam, wie die Mädchen sind, / zog es ihn schämig runter. // Der Wind indessen gutgelaunt, / der blies recht neckisch weiter, / ich hab’ sein keckes Spiel bestaunt, / und was ich dabei sonst noch sah, / das stimmte mich recht heiter.
Emile Zola: Sehr nett. An Ihnen ist kein Dichter verloren gegangen, Sie sind einer.
Edmund Rehwinkel: Ich bin wie Sie ein Aufrührer gewesen. Hören Sie mal dieses Gedicht, es heißt ›Einzelgänger‹: Ich trotte nicht im Haufen mit, / ich gehe lieber ganz allein; und geht es auch durch dick und dünn / und über Stock und Stein. // Wer aufrecht durch das Leben will, der hat es immer schwer, / die kleinen Kläffer kuschen sich / und rennen hin und her. // Wer immer Ja und Amen sagt, / ist ein bequemer Untertan, / wer’s Kind beim rechten Namen nennt, / eckt allenthalben an. // Ich trotte nicht im Haufen mit, / ich gehe lieber ganz allein, / und wenn es auch beschwerlich ist. – Ich kann nicht anders sein.
Emile Zola: Es reicht fast schon an meine Anklage ›J’accuse‹ heran, den offenen Brief vom 13. Januar 1898 an den französischen Staatspräsidenten, in dem ich den zu Unrecht des Verrats von Staatsgeheimnissen angeklagten Generalstabsoffizier Alfred Dreyfus verteidigt habe.
Edmund Rehwinkel: Zu gütig, mein Herr, zu viel der Ehre. Doch nicht ganz weit daher geholt. Wissen Sie, ich habe einen Ihrer Landsleute, den General De Gaulle, persönlich kennengelernt, wie ich war er sehr national eingestellt und hat mich sehr dafür gelobt, wie viel ich für meine deutschen Bauern geleistet hätte. Er redete mich in perfektem Deutsch an! Nun aber noch zu einem anderen Gedicht. Da habe ich mich gegen den Krieg ausgesprochen. Es heißt ›Die alte Melodie‹: Die Völker haben nicht gelernt aus diesem Kriege, / wie immer wiederholt sich die Vergangenheit, / der Unverstand der feiert neue Siege, / und jede Dummheit macht sich wieder breit. // Es wechseln nur die Ideologien, / und neue Volksbeglücker treten auf den Plan / mit neuen Phrasen – neuen Utopien, / Friede auf Erden aber bleibt ein Wahn. // Von Völkerfrieden wird solange nur gesprochen, / bis man sich andren überlegen glaubt, / dann wird ein neuer Krieg vom Zaun gebrochen, / und immer wieder wird gemordet und geraubt.
Emile Zola: Sehr nobel. Man kann es nicht oft genug sagen und wiederholen, wie schön, daß es immer wieder Menschen gibt, die diese alten Wahrheiten mit ihren sprachlichen Mitteln wiederholen. Wie Voltaire schon sagte: Ich werde mich solange wiederholen, bis ich verstanden werde. Lassen Sie uns aber doch wieder auf meinen Roman ›La Terre‹ zurückkommen. Er hat von allen meinen Romanen am meisten ›Anstoß‹ erregt. Mein englischer Verleger Henry Vizetelly wurde 1889 zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, weil er eine gereinigte, aber nach Ansicht des Gerichts nicht genügend gereinigte Übersetzung von ›La Terre‹ herausgebracht hatte. Insofern bin ich Ihnen dankbar, daß Sie ausgerechnet diesen Roman zur Lektüre gewählt haben. Die Erde ist die Heldin meines Buches. Die nährende Erde, die Leben schenkt und es zurücknimmt, leidenschaftslos. Eine gewaltige Person, immer gegenwärtig, nimmt sie das ganze Buch ein. Der Mensch, der Bauer, ist nur ein Insekt, das sich auf ihr tummelt, fronend, um ihr seinen Lebensunterhalt zu entreißen. Er geht gebückt, er sieht nur den Gewinn, den er aus ihr zu ziehen gedenkt, er sieht weder Land noch Landschaft. Alle meine Romanpersonen müssen von der Leidenschaft zur Erde erfüllt sein. Alsbald enthüllt sich der Bauer als raffsüchtig; der Mensch mit seinen engen Leidenschaften auf dem weiten Land, der Bauer, das reißende wilde Tier inmitten der wohltätigen ruhigen Erde. Ihn nicht edel darstellen, seine spezifische Größe suchen und zeigen. Was der Bauer politisch war und sein wird. Seine Rolle in der Gesellschaft durch das Eigentum. Er ist die Mehrheit, die stumme ruhende Kraft, die eines Tages große Dinge entscheiden wird.
Edmund Rehwinkel: Ich habe nun ja nicht nur Ihren Bauernroman ›Die Erde‹ gelesen, sondern auch eines Ihrer Werke aus der Spätzeit, aus der Reihe ›Die vier Evangelien‹, und zwar das Werk mit dem Titel ›Fécondité‹, auf deutsch: ›Fruchtbarkeit‹. Das ist ja auch ein beherrschendes Thema in der ›Erde‹ gewesen, die Fruchtbarkeit der Erde wie auch die Fruchtbarkeit der Menschen, die versuchen, von den Früchten der von ihnen bearbeiteten Erde leben zu können. Aber als ich nun Ihren Roman über die Fruchtbarkeit der französischen Frauen gelesen habe, bin ich doch schockiert gewesen über die Art Ihrer Darstellung. Warten Sie, ich habe den Roman hier in meiner Aktentasche (beugt sich und holt das Buch heraus, blättert kurz und schlägt dann eine Seite auf und liest, wobei er einige Sätze ausläßt): Mathieu betrachtete Marianne voll Zärtlichkeit. […] Die Gattin, die Geliebte war wieder erwacht, sie war wieder Weib geworden, in dem frohen Bewußtsein der Kindesentwöhnung, ein neuer Frühling erstand, eine neue, von der Ruhe erquickte Erde erschloß sich wieder, bebend vor Fruchtbarkeit. Nie noch hatte er sie so liebreizend, von einer so kraftvollen, ruhigen Schönheit gefunden, wie in diesem Triumphe ihrer glücklichen Mutterschaft, gleichsam vergöttlicht durch den Milchstrom, der aus ihr entsprungen war, um durch die Welt zu fließen. Sie war von einer Glorie umflossen, die Lebensspenderin, die wahre Mutter, die, die nährte, nachdem sie geboren hatte […]. Und wie er sie so in ihrer Glorie sah, inmitten seiner kraftvollen Kinder, einer guten Göttin gleich, in fortwährender Fruchtbarkeit, wieder bereit zu empfangen, da fühlte er sich durchzuckt von Anbetung, von Verlangen, von heißer Begierde, von der unauslöschlichen Flamme der ewigen Sonne. Also verehrter Herr Zola, bei allem was recht ist, welcher Teufel ist da in Sie gefahren? 1938 hat das NS-Regime in Deutschland das ›Mutterkreuz‹ eingeführt, für kinderreiche Mütter; im Volksmund nannte man es das Karnickelkreuz. Es tut mir leid, es sagen zu müssen, aber dieses Kreuz fiel mir ein, als ich diese Szene mit Ihrer Romanmutter, vergöttlicht durch den Milchstrom, las. Was für eine Gesellschaft haben Sie sich da ausgedacht, wo ein Kind nach dem anderen aus den Gebärmaschinen herausgestoßen wird? Und doch steht es da, so wie ich es eben vorgelesen habe. Die Frauen befinden sich dann in besonderer Gefahr, / wenn sie sich männlichem Schutz anvertrauen. Das ist aus einer meiner Aphorismen-Sammlungen.
Emile Zola: In einem Artikel von 1896, ›Dépopulation‹ genannt, habe ich geschrieben: Jede Liebe, die nicht ein Kind will, ist im Grunde nur Ausschweifung.
Edmund Rehwinkel: Ja, aber lieber Herr Zola, sind Sie denn noch bei Trost? Zwar habe auch ich einmal geschrieben: Eine Frau ohne Kind ist wie ein Baum ohne Früchte. Aber in Ihrem Roman ›Fécondité‹ lassen Sie das Ehepaar insgesamt zwölf Kinder in die Welt setzen! Zwölf! Und auch wenn man in Rechnung stellt, daß Sie nicht alle zwölf Kinder in Ihrem Roman ein gesundes Erwachsenenalter erreichen lassen, Sie also doch realistisch genug sind angesichts der im 19. Jahrhundert noch weithin verheerenden Säuglingssterblichkeit, so muß ich doch sagen: Das ist doch keine soziale Utopie, daß zwei sich Liebende, ein Ehepaar, meinen, es müsse zwölf Kinder hervorbringen! Haben Sie denn noch nie etwas von der Überbevölkerung gehört, die unsere Erde belastet?
Emile Zola: Ich wollte immer einen strahlenden Optimismus. Er ist die natürliche Folgerung meines ganzen Werkes. In diesen späten Romanen stelle ich meine Liebe zu Kraft und Gesundheit, zu Fruchtbarkeit und Arbeit dar. Als ›Fécondité‹ 1899 erschien, wurden schon nach kurzer Zeit bereits 94.000 Exemplare davon verkauft.
Edmund Rehwinkel: Ich glaube Ihnen schon, daß Sie mit Ihren Romanen einen kommerziellen Erfolg hatten, nur das Bild, das Sie von der ›Cité future‹ darin zeichnen, ist grauenerregend. Es kommt mir fast so vor, als meinten Sie, nachdem Sie in ›Nana‹ das ausschweifende Leben einer Kurtisane erzählt hatten, Sie müßten zum Ausgleich nun eine Geschichte schreiben, die reinster Kitsch ist. (Fängt an, erneut aus dem Roman zu zitieren) In fortwährender Fruchtbarkeit, wieder bereit zu empfangen, da fühlte er sich durchzuckt von Anbetung, von Verlangen, von heißer Begierde… Das hätten Sie doch wirklich nicht nötig gehabt, so einen Schwulst zu produzieren. Das hat Ihrem Ansehen als naturalistischem Revolutionär sehr geschadet, in meinen Augen jedenfalls.
Emile Zola: Vierzig Jahre lang habe ich andauernd seziert, analysiert. Ich wollte mir auf meine alten Tagen gestatten, ein wenig zu träumen.
Edmund Rehwinkel: Ich habe den Verdacht, daß Sie durch Ihre außereheliche Verbindung mit Jeanne Rozerot, der zwei Kinder entsprungen sind, ganz aus der Fassung gekommen sind und Ihr privates Glück allen anderen Menschen durch diese Milchstrom-Fabel aufdrängen wollten. Aber nur weil Sie in fortgeschrittenem Alter noch zweimal Vaterfreuden erlebt haben, können Sie doch daraus nicht für sich ableiten, Gleiches allen anderen Menschen anzuempfehlen und es sogar als politisches Ziel ausgeben. Es hätte doch gereicht, wenn Sie sich still des Glücks mit ihrer Mätresse … nein, entschuldigen Sie, mit ihrer Zweitfrau …mmhh … also sagen wir: Geliebten, erfreut hätten. Genügend Geld hatten Sie mit Ihren vielen und so erfolgreich verkauften Romanen doch zusammengebracht.
Emile Zola: Sie haben nicht zu meiner Zeit gelebt und verstehen das deshalb nicht. Das 19. Jahrhundert stand ganz und gar im Zeichen des allgemeinen Fortschritts. Wir konnten nicht wissen, daß das 20. Jahrhundert zwei Weltkriege hervorbringen würde. Das konnte, das wollte sich niemand vorstellen. Aber wir glaubten zu wissen, daß mit Naturwissenschaft und Technik ein neues, glücklicheres Zeitalter seinen Anfang nehmen würde, auch wenn einige von uns kritischen Beobachtern schon registrieren konnten, daß es den Fortschritt nicht ohne Kosten geben würde. In diesem Zusammenhang gehören dann eben meine ›Evangelien‹, wovon ›Fécondité‹ ein Teil ist.
Edmund Rehwinkel: (greift erneut in seine Aktentasche und zieht einen schmalen Gedichtband heraus) Hier habe ich noch ein Gedicht. Es heißt: ›Stoßseufzer eines Forstwirts‹: Draußen in Gottes Natur / läßt es sich herrlich leben. / Ich liebe jegliche Kreatur. / Nur Menschen müßte es weniger geben. // Die breiten sich jetzt überall aus / und verbreiten sich immer weiter, / und wenn das noch lange so weiter geht, / dann wissen wir bald nicht weiter. // Die Menschen schätz’ ich natürlich auch, / das ist gar keine Frage; / doch treten sie in Massen auf, / dann werden sie leicht zur Plage.
Ist Sex noch zeitgemäß?
Daß die wichtigsten Dinge durch Röhren getan werden. Beweise erstlich die Zeugungsglieder, die Schreibfeder und unser Schießgewehr, ja was ist der Mensch anders als ein verworrnes Bündel Röhren? (Georg Christoph Lichtenberg)
Every sperm is sacred / Every sperm is great / If a sperm is wasted / God gets quite irate (Monty Python’s Flying Circus)
Die hannoversche Stadtverwaltung hat den Betreiber eines Kondomautomaten in der Herren-Toilette der Empfangshalle des Neuen Rathauses aufgefordert, diesen zum nächstmöglichen Zeitpunkt zu entfernen, sollte dies nicht erfolgen, werden wir dies veranlassen. Der Automatenaufsteller brachte die Stadtverwaltung nicht in Verlegenheit, er montierte den Automaten fristgerecht ab und gab gegenüber einem lokalen Zeitungsreporter an, der Automat sei nie vollgeschmiert oder beschädigt worden, auch sei der Automat einer gewesen, aus dem ich regelmäßig eine große Handvoll Geld herausgeholt habe. Anscheinend gehören die Mitglieder des Rathauses zu den Angehörigen des Menschengeschlechts, die in gewissen zeitlichen Abständen dem Geschlechtsverkehr nachgehen. Die Stadtverwaltung hat in einer schriftlichen Stellungnahme der Öffentlichkeit mitgeteilt, es habe wiederholt mündliche Beschwerden beziehungsweise auch belustigte oder irritierte Nachfragen gegeben. Diesen Nachfragen hat die Stadtverwaltung Rechnung getragen, zumal es, wie die Stadtverwaltung in ihrer Stellungnahme betonte, aus Kreisen der Bevölkerung Hinweise gegeben habe, daß dieser Automat in einem denkmalgeschützten, altehrwürdigen Gebäude wie dem Neuen Rathaus an einer Toilettenwand festgeschraubt worden seien. Der Automatenaufsteller erklärte ferner, er sei von der hannoverschen Stadtverwaltung im Dezember letzten Jahres angerufen worden und man habe ihn gefragt, ob so ein Kondomautomat denn noch zeitgemäß sei. Es ist nicht bekannt, wie der Automatenaufsteller auf diese Anfrage geantwortet hat. Das ›Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit‹ hat eine Antwort auf die Frage, ob solche Automaten noch zeitgemäß sind. Oben ohne. Unten mit. So heißt einer der launigen Sprüche, mit denen das Institut für das zeitgemäße Tragen von Kondomen während des Geschlechtsverkehrs wirbt. Erst im Jahre 2011 war der Automat in der Herren-Toilette des Neuen Rathauses zu Hannover eingeführt worden. Vierzehn Jahre lang war er zeitgemäß, und es hat seit der Aids-Epidemie ein Vierteljahrhundert gedauert, bis man im altehrwürdigen Rathaus ein Einsehen hatte und einen Kondomautomat tolerierte. Nun ist er es nach dem Verwaltungsakt der hannoverschen Stadtverwaltung nicht mehr. Für das Titelbild eines sogenannten ›Nachrichtenmagazins‹ (›Meldepflicht für Aids?‹, Nr. 7/1987) hatte sich die damalige CDU-Gesundheitsministerin Rita Süssmuth in einem Ganzkörperkondom fotografieren lassen. Damals erklärte sie: Weil Aids-Aufklärung so wichtig ist, daß man auch ungewöhnliche Wege gehen muß. Seit dem Verwaltungsakt der hannoverschen Stadtverwaltung weiß die Öffentlichkeit aber nun, daß es Ablaufzeiten für Zeitgemäßheit gibt, schon deswegen, weil das Wort zeitgemäß unzweifelhaft darüber belehrt, daß alles seine Zeit hat, irgendwann alles der Zeit verfällt und den Weg alles Zeitlichen gehen muß. So bleibt den Mitgliedern des Neuen Rathauses nur die Wahl zwischen der Enthaltsamkeit, um dadurch mehr Zeit für die Sorge um das Allgemeinwohl der Bürger der Stadt Hannover zu bekommen, oder an einem anderen, womöglich schummerigen Ort, Geldstücke in den in vielen Fällen vollgeschmierten oder beschädigten Automaten zu werfen.
Das ›Reichsaffenhaus‹ und seine ›Würde‹
Den Reichstag müsse man schußgerecht kommen lassen, meinte Reichskanzler, Großgrundbesitzer und Jägersmann Bismarck, Jahrgang 1815. Er mochte das Parlament, das er gleichwohl gern für seine Reden benutzte, ganz und gar nicht, weil es nun ja doch ein Instrument der Demokratie war, wenn auch zu Zeiten des kaiserlichen Deutschlands kein ausgesprochen mächtiges Instrument. Für Kaiser Wilhelm II. war es einfach das Reichsaffenhaus. Heutige Bundestagspräsidentinnen legen großen Wert auf die Würde des Parlaments. Wenn ein Abgeordneter eine Baskenmütze trägt, wird er aufgefordert, diese entweder abzunehmen oder den Saal unverzüglich zu verlassen. Die jetzige Bundestagspräsidentin (CDU) bezieht sich auf eine Gepflogenheit, die es den Bundestagsabgeordneten verbietet, Kopfbedeckungen an ihren Sitzplätzen im Parlament zu tragen. Die Hausordnung des Deutschen Bundestages enthält allerdings keinerlei Bestimmungen darüber, ob Abgeordnete mit Kopfbedeckung oder ohne Kopfbedeckung ihre Volkssouveränität auszuüben haben. Man sollte Ruhe und Ordnung wahren und die Würde des Hauses zu achten. Worin die Würde des Parlament besteht, wird nicht ausgeführt, es ist ein ungeschriebenes Gesetz, eben eine Gepflogenheit, die vermutlich mit einem ebenfalls unausgesprochenen zivilen Verhalten zusammenhängt, das man den Abgeordneten abverlangt. Der SPD-Abgeordnete Carlo Schmidt, Jahrgang 1896, rügte seine Parteigenossin Lenelotte von Bothmer, Jahrgang 1915, als diese im Deutschen Bundestag am 14. April 1970 in einem Hosenanzug erschien, sie hätte damit die Würde des Parlaments verletzt. Als sie am 14. Oktober 1970 dann in einem Hosenanzug ans Rednerpult trat und zu den versammelten Abgeordneten sprach, gab es Zwischenrufe wie Die erste Hose am Pult, obwohl das ja nicht der Wahrheit entsprach, denn alle männlichen Abgeordneten waren bis dato immer mit langen Hosen vor ihre Kollegen getreten. Der damalige Bundestagspräsident (CSU) guckte grimmig, forderte die Rednerin aber nicht auf, entweder den Hosenanzug unverzüglich auszuziehen oder den Saal zu verlassen. Zuvor hatte er angekündigt, niemals eine Dame im Hosenanzug ans Rednerpult treten zu lassen. Dies würde die Würde der Dame verletzen. Die damalige Bundestagsvizepräsidentin Liselotte Funcke (FDP) beschloß daraufhin, nun müsse erst recht eine Frau in Hosen erscheinen. Sie hätte es gern selbst getan, meinte aber, nicht die Figur dafür zu haben. Und so wurde die gertenschlanke Lenelotte von Bothmer (SPD) gebeten, dies stellvertretend für sie zu tun. Heute gibt es fast keine Rockträgerinnen mehr im Deutschen Bundestag, die gewählten weiblichen Abgeordneten tragen fast einheitlich einen Hosenanzug und sehen darin alle gleich langweilig aus. Der Abgeordnete mit der Baskenmütze (Die Linke) verließ kurz den Saal und kam mit der Baskenmütze auf dem Kopf wieder herein, woraufhin die Bundestagsvizepräsidentin (CSU) ihn von der Sitzung ausschloß. (Beifall für diese Handlungsweise der Bundestagsvizepräsidentin kam dafür von den Abgeordneten der CDU, AFD, SPD und den Grünen).
Fading Civilisation. Part Three. Eine apokalyptische Serie
Die Apokalypse hat eine lange Geschichte. Nimmt man sich irgendein Ereignis der Gegenwart vor, so kann man meist ohne Mühe daran ablesen, daß, wie es in gängiger Alltagsrede heißt, »alles den Bach runtergeht«. In dieser Rubrik sollen solche Alltagserscheinungen beleuchtet und interpretiert werden, dabei prüfend, ob nicht doch ein Ende erreicht werden wird und welche Vorteile dies für die Erde dann doch hätte: »Eines ist auf jeden Fall gewiß: der Mensch ist nicht das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen Wissen gestellt hat. Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis diese Dispositionen ins Wanken gerieten, dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« (Michel Foucault: Les mots et les choses, 1966)
Houston, we have a problem
Die sich unterhaltende Menschheit verfügt über gewisse Redensarten, die Ihr dabei helfen, sich ohne Umschweife und Zeitverlust zu verständigen. Wenn eine Nachbarin zur anderen Nachbarin sagt: »Wissen sie, der Junge von meinem Schwager hat solche Last mit den Zähnen.« — dann weiß die Nachbarin gleich Bescheid und nickt verständnisvoll. Wenn es in einem Presseartikel heißt: »Versinken nordamerikanische Großstädte allmählich unter ihrer eigenen Last?« kann man sich dessen nicht so sicher sein und ist gezwungen, den ganzen Artikel bis zum Ende zu lesen. Dabei lernt man Neues über bislang unbekannte fliegende Gerätschaften. So weiß wohl nicht jeder, was der ›Sentinel-Satellit‹ genau macht, der Artikel erklärt es ihm. US-amerikanische Geowissenschaftler haben diesen über der Erde fliegenden Satelliten dazu benutzt, Meßdaten zu sammeln, die nachweisen, daß US-amerikanische Großstädte um bis zu fünf Zentimeter abgesunken sind. Diese Information übersteigt zunächst einmal jede Vorstellungskraft. Wenn man vom Untergang des römischen Weltreiches spricht, stehen manchem die Ruinen der einstigen Herrlichkeit vor Augen, die das gewaltige Imperium hinterlassen hat. Vielleicht auch, daß mit dem Untergang das sich in der Zeit abspielende Ende der Weltherrschaft Roms gemeint sein könnte. Aber daß die Hauptstadt Rom um fünf Zentimeter in den Boden abgesackt sein könnte, erscheint erst einmal als sehr unwahrscheinlich, weil man mit dem Niedergang einer Zivilisation immer noch zuallererst das zeitliche Ende in Verbindung bringt. Die Meßdaten des geodätischen Satelliten aber lügen nicht. Im Großraum um Houston, der größten Stadt im Bundesstaat Texas, sinkt das Land um bis zu fünf Zentimeter pro Jahr. »Houston, wir haben ein Problem.« So lautete der Funkspruch der Raumkapsel Apollo 13 im Jahre 1970 an die ›Missionskontrollstelle‹ in Houston, um damit eine schwierige Situation zu beschreiben, in der ein unerwartetes Problem aufgetreten war. Auch Las Vegas und Phoenix gehören zu den betroffenen Regionen; und dort beträgt die jährliche Sinkrate sogar neun Zentimeter. Die die Erdkruste kontinuierlich abtastenden Radarstrahlen des Sentinel-Satelliten haben Höhenunterschiede ermittelt. Das Verfahren ist von schwindelerregender Genauigkeit: Die sogenannte Interferometrie kann Höhenveränderungen von wenigen Millimetern pro Jahr zuverlässig messen. Wie steht es nun mit den Ursachen? Ganz neu ist das Phänomen nicht, denn schon in der Zeit, als im Ruhrgebiet in Deutschland noch Steinkohle in großem Umfang abgebaut wurde, kam es zur Bildung von Hohlräumen, die irgendwann kollabierten und zu Erdsenkungen führten. Kaum eine Stadt im Ruhrgebiet war von diesem Vorgang verschont geblieben. In Texas ist es vornehmlich die Förderung von Erdöl und Erdgas, die zu einer Absenkung führt. Hingegen wird in Arizona, Nevada und Kalifornien durch das Abpumpen von Grundwasser das Erdreich unter der Erdoberfläche regelrecht zusammengepreßt und damit kommt es zu teilweise schweren Erdsenkungen. Küstenstädte wie Miami und New York sinken ab, weil der Meeresspiegel aufgrund der weltweiten Erderwärmung ansteigt. In einem aber sind sich die Geodäten alle einig: Mit dem Absinken der Erdschichten wird es in zunehmenden Maße nach schweren Regenfällen zu immer größeren Überflutungen der Städte und Landschaften kommen. Man geht zu Grunde, indem man versinkt. Man geht der Sache auf den Grund, indem man sich in sie versenkt. […] Das menschliche Gebäude verlangt […] für seine Fundamente die felsennahe Dichte und Unlösbarkeit dessen, worauf sie beruhen. […] Fundamente, kaum daß sie gelegt sind, verschwinden unter der Verborgenheit ihrer Funktion; man legt sie erst frei, wenn das Bauwerk Risse zeigt. […] Der Stein liegt auf dem Boden; er genügt damit, solange andere Kräfte nicht auf ihn wirken, dem Trägheitsprinzip und der auf ihn stetig einwirkenden Schwerkraft. […] Insistenz auf Prüfung von Grund und Boden, von Gründbarkeit und Tragfähigkeit ist prägend für die theoretische ›Gründlichkeit‹ der Neuzeit.
(Hans Blumenberg: Grund und Boden: Zugrundegehen, auf den Grund gehen, auf einem Boden stehen; Stand und Bestand; Der Baugrund. In: ders.: Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt/M. 1987, 97f., 101, 103)
Neue Gespräche im Elysium XXIII
Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.
Hans Kelsen meets Henry Kissinger
Yeah, come on all of you, big strong men,
Uncle Sam needs your help again.
He’s got himself in a terrible jam
Way down yonder in Vietnam.
So put down your books and pick up a gun,
We’re gonna have a whole lotta fun.
[…]
Well, come on Wall Street, don’t move slow,
Why man, this is war.
There’s plenty good money to be made
By supplying the Army with the tools of the trade,
Just hope and pray that if they drop the bomb,
They drop it on the Viet Cong.
(Country Joe and the Fish: I-Feel-Like-I’m-Fixin‘-to-Die Rag, 1967)
Hans Kelsen: What took you so long? Jetzt erst, nach dem hundertsten Geburtstag bemühen Sie sich hierher, ins Elysium?! Der Autor der ›Gespräche im Elysium‹, Bernard de Fontenelle ist einen Monat vor seinem Hundertsten gestorben, angeblich, weil er die Anstrengungen einer Feier zum 100. Geburtstag gescheut hat. Sie aber haben sogar noch ein halbes Jahr drangehängt. In Amerika nennt man solche Personen »a tough cookie«, und das haben Sie im Verlaufe Ihres langen Lebens dann ja auch unter Beweis gestellt.
Henry Kissinger: Well, thank you very much. Do I know you? Have we met?
Hans Kelsen: Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Mein Name ist Hans Kelsen, ich bin Rechtswissenschaftler, ich bin 1881 in Prag geboren worden und 1973 in Kalifornien gestorben. Mein bekanntestes Werk ist die ›Reine Rechtslehre‹. Aber mein umfänglichstes Werk sind die Schriften über das Völkerrecht. Das begann schon 1920 mit meinem Buch ›Problem der Souveränität‹, in dem zwei Drittel sich damit beschäftigen. 1944 habe ich die programmatische Schrift ›Peace through Law‹ vorgelegt, und 1952 ist eine über 900 Seiten lange Schrift zur UN-Charta erschienen. Ob es sich beim Völkerrecht um eine tatsächliche Rechtsordnung handelt, habe ich in meiner sicher bekanntesten Schrift, in der ›Reinen Rechtslehre‹, noch ausdrücklich bejaht: »Das Völkerrecht weist den nämlichen Charakter auf wie das einzelstaatliche Recht. Es ist wie dieses eine Zwangsordnung.« Aber schon in der 2. Auflage habe ich einschränkend dazu hervorgehoben, daß das Völkerrecht »noch eine primitive Rechtsordnung« sei, da es bisher keine institutionelle Absicherung in Gestalt von Rechtsnormen vollziehenden Organen gibt. So beherrscht das Gewohnheitsrecht den rechtlich-politischen Raum, was den einzelnen Staaten die Möglichkeit gibt, Kriege als Sanktionen des Völkerrechts einzusetzen. Nun ja, ich schweife ab. Nun aber zu Ihnen. Dann lassen Sie uns mal sehen, was Ihre Todesanzeigen uns zu berichten haben: »Ein großer Außenpolitiker, der mit seinem diplomatischen Geschick dazu beigetragen hat, die Globalisierung der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert voranzutreiben.« Deutsche Bank. Ja, natürlich, die denken immer zuerst ans Geld. »Ein Jahrhundert-Diplomat. Ein großer Transatlantiker, herausragender Staatsmann und geopolitischer Denker.« Atlantik-Brücke e. V., ein 1952 gegründeter Verein, der eine wirtschafts-, finanz-, bildungs- und militärpolitische Brücke zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland schlagen soll. »Dr. Kissinger gab seine Unterstützung, seine Intelligenz, seine Weisheit und seinen unfehlbaren Humor großzügig an unsere junge Einrichtung weiter.« American Academy, Berlin. Keine schlechte Presse, was?
Henry Kissinger: Well, wir beide haben es geschafft.
Hans Kelsen: Sie meinen wohl, Sie haben es erreicht, daß man Sie nicht vor einem internationalen Tribunal als Kriegsverbrecher angeklagt und verurteilt hat?
Henry Kissinger: Oh, please, don’t get me started.
Hans Kelsen: Was mir bei der anstrengenden Lektüre Ihrer Lebenserinnerungen, immerhin auf dreitausendfünfhundert Seiten ausgebreitet, in drei Bänden — ›The White House Years‹ (1979), den Years of Upheaval‹ (1982) und den ›Years of Renewal‹ (1999) — aufgefallen ist, das ist Ihr fast unglaubliches Gedächtnis für die tausend spezifischen Einzelheiten, die Sie dem Leser präsentieren. Sie müssen nach jedem Meeting mit den verschiedenen Staatsmännern Tagebuch geführt haben, anders kann ich mir diese Fülle an Details nicht erklären, die Sie dem Leser bieten. Es sind fast Regieanweisungen für einen Film mit atmosphärischen Hinweisen und wiedergegebenen Dialogen. Man könnte einen mehrstündigen Film daraus machen mit dem immer gleichen Szenario: Flug über den Wolken, Gespräche mit den Sie begleitenden Journalisten, Ankunft auf dem Airport, Empfang durch das einladende Land, Zusammentreffen mit den jeweiligen Staatsoberhäuptern, Resümee der Unterhandlungen, Bemerkungen zu den Personen, die Sie begleitet haben. Es hat mich an die Memoiren von Bernhard von Bülow erinnert, der ein fotografisches Gedächtnis gehabt hat und seine aufgetischten Geschichten, zudem in einer gut lesbaren Form, untermischt mit vielen aufschlußreichen amüsanten und boshaften Anekdoten, dargestellt hat. Und Sie haben ja bis zu Ihrem 99. Geburtstag immer weitergeschrieben, zuletzt ist 2022 ›Leadership. Six Studies in World Strategy‹ erschienen. Es kommt mir fast so vor, als wollten Sie mit dieser exzessiven Form der Dokumentation aller ihrer Einzelschritte vor sich selbst beweisen, daß Sie alles richtig gemacht haben und man spürt den legitimatorischen Zwang, vor ›der Geschichte‹ gut dazustehen. Irgendwann überfällt einen sogar der Gedanke, daß Sie ihre Leser totreden wollen, indem Sie jede Kleinigkeit auswalzen. Es sind weniger persönliche Erinnerungen an Ihre Zeit als Berater und Außenminister, sondern es ist weit eher eine ausladende Rechtfertigungsschrift.
Henry Kissinger: Lassen Sie mich ein Beispiel geben. Nehmen Sie Chile. Hier geschah es zum ersten und bis dahin einzigen Mal in der modernen Geschichte, daß ein demokratisches Verfahren fast zur Machtübernahme von Kommunisten geführt hätte. Allende wollte innerhalb eines bestimmten Zeitraums eine Art von kommunistischer Regierung etablieren. Uns besorgte der Umstand, daß Allende die Vereinigten Staaten aus ideologischen Gründen unversöhnlich haßte und entschlossen war, sein revolutionäres Evangelium in ganz Lateinamerika zu verbreiten. Der Umstand, daß Allende später zum Märtyrer geworden ist, hat seine politischen Ziele verschleiert. Allendes Wahl zum Präsidenten sollte die letzte nach demokratischen Regeln abgehaltene Wahl sein. Allende war ein erklärter Feind der Demokratie, wie wir sie kennen. Allende war eine geopolitische Herausforderung. Dieser Putsch war eine innerchilenische Angelegenheit. Allende wurde von den Kräften in Chile gestürzt, die er selbst entfesselt hatte, weil er sie nicht im Zaum halten konnte.
Hans Kelsen: Noch vor der Wahl Allendes in Chile haben Sie in einem Telegramm an den Leiter des CIA-Büros in Santiago diesen angewiesen: »Schaffen Sie zumindest ein für einen Putsch günstiges Klima, leisten Sie einer militärischen Aktion Vorschub.« Nach dem Staatsstreich am 11. September 1973 bestätigte der Direktor der CIA, William Colby: »U.S. policy has been to maintain maximum covert pressure to prevent the Allende regime’s consolidation.« CIA activities included »financial support totaling $6,476,166 for Chilean political parties, media, and private sector organizations opposed to the Allende regime.« Colby bestritt, daß die CIA eine direkte Rolle dabei gespielt hätte, die zur Etablierung eines neuen militärischen Regimes führte, aber die US-Regierung war daran beteiligt, den Oppositionsparteien und den Medien das Überleben zu sichern. Colby vermied die Diskussion, in welcher Weise es eine US-amerikanische Kooperation mit dem chilenischen Militär gegeben hatte. Mit autoritären Regimen sind Sie immer gut zurechtgekommen: Mit Portugals Marcelo Caetano, Spaniens Francisco Franco, Chiles Augusto Pinochet, mit den Mitgliedern der Junta Griechenlands und Argentiniens. Demokratisch gewählte politische Führer haben Sie dagegen mißtrauisch beäugt, wie im Fall von Portugals Mario Soares, den Sie einen »portugiesischen Kerensky« genannt haben, womit impliziert war, daß Sie den russischen Ministerpräsidenten für die Machtergreifung der Bolschewiki unmittelbar verantwortlich machten. Oder Salvador Allende, der für Sie eigentlich keine Person, sondern ein Symbol war und ein propagandistisches Schreckbild des Kommunismus. Hingegen haben Sie von Anwar as-Sadat ein von großer Sympathie getragenes Porträt gezeichnet.
Henry Kissinger: Ich hatte die Ehre, die ersten Schritte auf seinem Weg zum Frieden an der Seite von Anwar as-Sadat zu tun. Die Eigenschaften, die den bedeutenden politischen Führer vom mittelmäßigen unterscheiden, sind nicht die Fähigkeiten seines Intellekts, sondern sein Weitblick und sein Mut. Sadat hatte die Geduld und Heiterkeit der ägyptischen Massen, aus denen er stammte. Ich habe ihn einmal in dem schlichten Haus im Dorf Mit Abul-Kom im Nil-Delta besucht, wo er geboren wurde. Sadats Leidenschaft für den Frieden wurde im Lauf der Zeit immer intensiver und profunder. Er war kein Pazifist. Er glaubte nicht an den Frieden um jeden Preis. Richard Nixons größter Wunsch ist es gewesen, als Friedensstifter in die Geschichte einzugehen.
Hans Kelsen: Da bringen Sie uns gleich zu meinem Lebensthema. Denn auch für mich war Frieden der Kern aller meiner rechtswissenschaftlichen Schriften. Die Freiheit ist die Ideologie der Demokratie, aber der Friede ist ihre Realität. Ich habe immer wieder für die Einrichtung einer internationalen Gerichtsbarkeit gekämpft. ›Peace through Law‹, in dieser Schrift wird mein Gedanke zusammengefaßt. Nun, Sie als politischer Berater haben den anderen Weg gewählt und mit der vorsätzlich in Kauf genommenen Tötung von Hunderttausenden von Zivilpersonen in Indochina, durch das Bombardement der neutralen Staaten Kambodscha und Laos, sich schuldig gemacht. Manche nennen das »Kollateralschäden«, andere »Kriegsverbrechen«. Wie auch immer: Sie haben durch diese Maßnahmen Opfer von Menschenleben in einer Größenordnung hingenommen, die durch kein Völkerrecht gedeckt ist. In einem mitgeschnittenen Telefonat mit dem Präsidenten, sagte dieser, man sollte eine Möglichkeit finden, das Völkerrecht zu brechen. »Die Vereinigten Staaten sind eine große Nation geworden, indem sie das Völkerrecht gebrochen haben.« Sie haben Nixon geraten, den Feind so massiv zu bombardieren, daß er um Frieden bitten würde. Bereits vier Wochen nach der Amtseinführung Nixons, am 24. Februar 1969, haben Sie mit der Planung der geheimen ›Operation Menu‹ begonnen. Sie haben massive, anhaltende und beispiellose Angriffe durch B-52-Bomber auf nordvietnamesische Stellungen in Kambodscha vorgeschlagen. Der Codename für die Bombardierung Kambodschas lautete ›Menu‹, die einzelnen Bestandteile hießen ›Breakfast‹ und ›Lunch‹. Hinter dieser Operation verbarg sich die Bombardierung Kambodschas mit B-52-Bombern. Später haben Sie eingeräumt, daß diese Auswahl der Namen »geschmacklos« war. Drei Jahrzehnte blieb das ganze Ausmaß der Zerstörungen, die die USA in Kambodscha anrichteten, im Verborgenen, da die Militärakten bewußt gefälscht worden waren. Die Bombardierung war ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Zwischen März 1969 und August 1973 warf die USA 2.756.727 Tonnen Bomben über Kambodscha ab. Das überstieg die Tonnage sämtlicher Bomben, die die Alliierten während des Zweiten Weltkriegs abwarfen. Der US-amerikanische Historiker Greg Grandin nennt Sie einen machtbewußten und machtbesessenen, zu Wutausbrüchen, Eifersuchtsanfällen und Depressionen neigenden Mann. Tim Weiner charakterisiert Sie nach Gesprächen, die er mit Ihren ehemaligen Mitarbeitern geführt hat, als »hochfahrend und unbeherrscht«.
Henry Kissinger: Ich habe festgestellt, wenn die persönliche Beleidigung ein gewisses Maß erreicht hat, wird man unverwundbar.
Hans Kelsen: Der Historiker Grandin geht so weit, zu behaupten, daß bis zum Ende Ihrer Amtszeit es keine Verschwörung, keinen Putsch, keinen Bürgerkrieg, kein Attentat, keinen Folterbefehl und keinen politischen Mord gegeben hat, bei dem Sie nicht wenigstens indirekt die Verantwortung getragen haben.
Henry Kissinger: In weniger als einem Jahrzehnt ist ein nie da gewesenes Konzept entstanden, das darin besteht, die internationale Politik juristischen Verfahrensweisen zu unterziehen. Die Gefahr besteht darin, daß dieses Konzept zu weit getrieben wird und daß an die Stelle der Tyrannei von Regierungen die von Richtern tritt. In der Geschichte hat die Diktatur der Rechtschaffenen oft zu Inquisition und Hexenjagden geführt. Der Präzedenzfall wurde geschaffen, als vom Oktober 1998 an der ehemalige chilenische Präsident Augusto Pinochet aufgrund des Auslieferungsbegehrens eines spanischen Richters sechzehneinhalb Monate lang in Großbritannien inhaftiert war. Für die Fürsprecher einer universalen Rechtsprechung ist diese Haft ein Markstein, der ein universales Prinzip etablierte. Doch sollte jedes universale System eine Prozeßordnung beinhalten, die nicht nur dazu dient, die Ruchlosen zu bestrafen, sondern auch die Rechtschaffenen in Schranken halten. Diese darf nicht zulassen, daß rechtliche Grundsätze als Waffen benutzt werden, um politische Rechnungen zu begleichen.
Hans Kelsen: Sie haben Herrn Pinochet damals geschrieben: »We are sympathetic with what you are trying to do here. I think that the previous government was headed toward Communism. We wish your government well.« Sie sprechen also pro domo, wenn Sie Anmerkungen wie die eben geäußerte über die Geltung und Gültigkeit des Völkerrechts machen. Nicht sehr überzeugend auch, wenn Sie die Vertreter völkerrechtlicher Bestimmungen in die Nähe von Inquisition und Hexenjagd rücken. Doch nun noch zu einem anderen Punkt: Bevor der aufgrund des Watergate-Skandals zurückgetretene Präsident Richard Nixon das Weiße Haus verließ, nahm er sämtliche Tonbänder und Akten mit. Man zahlte ihm 1974 2 Millionen Dollar für die Veröffentlichung seiner Memoiren. Es wurden 1094 Seiten. Ihre Memoiren umfassen allein für die Jahre 1973-1974 insgesamt 1503 Seiten. 987 Seiten umfassen die ›Jahre der Erinnerung‹. Weshalb schreiben Politiker stets so lange Memoiren. Die Hälfte hätte doch vielleicht auch ausgereicht? Stehen Rechtfertigungszwang und Redseligkeit in einem kausalen Verhältnis zueinander? Wilhelm II. hat mit seinen Memoiren ›Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878–1918‹ (1922) es bei 308 Seiten belassen, und er war ja nun bekanntermaßen ein Vielredner. Karl Kraus schrieb damals in seiner Zeitschrift ›Die Fackel‹: »Amerika hat also, wie man jetzt weiß, das bessere Geschäft zu machen geglaubt, indem es, anstatt Wilhelm II. auf Jahrmärkten dressiert vorzuführen, ihm seine Memoiren abkaufte. Er hat sich an den Amerikanern nicht nur dadurch für seine Niederlage gerächt, daß er ihnen ein Dollarvermögen abknöpfte, sondern auch durch eine Leistungsprobe von Humbug, die geradezu das amerikanische Nationalbewußtsein beschämt. Seine Getreuen haben ihn gegen die Vorwürfe, die ihm der pure Literatenneid aus der Höhe dieses Honorars gemacht hat, in Schutz genommen, indem sie erklärten, daß das Honorar ›dem Rang und der Stellung des Autors durchaus angemessen‹ sei. Doch mit weit besserem Recht könnte einer Fürstin, die sich heute im Bordell prostituieren würde, zu der Bewertung ihrer persönlichen Vorzüge ein Preiszuschlag aus dem früheren Beruf resultieren als dem vazierenden Monarchen, der zur Presse geht.« Und was hat man Ihnen für Ihre Memoiren gezahlt?
Henry Kissinger: Das kann ich Ihnen nicht verraten, aber da ich eine internationale Berühmtheit bin, ist am Ende doch ein ganz hübsches Sümmchen zusammengekommen.
Hans Kelsen: Wie erfreulich für Sie. Wenn man die Mitschnitte Ihrer Konversation mit dem Präsidenten liest, fällt auf, wie devot Sie sich ihm gegenüber verhalten haben. Man gewinnt doch den Eindruck, daß Sie sich gegenüber dem Präsidenten wie ein Höfling benommen haben. Der Sachbuchautor Tim Weiner hat über Sie geschrieben: »Kissinger verstand es meisterhaft, Nixon stets das zu sagen, was dieser hören wollte.« Sie seien beschlagen gewesen in den Praktiken eines Doktor Faustus. Ihre Mitarbeiter hätten gewitzelt, daß Nixon bei weltbewegenden Entscheidungen drei Optionen hatte: 1. bedingungslose Kapitulation, 2. Atomkrieg, 3. Kissingers Empfehlung. Nixon entschied sich stets für die dritte Variante. Der Präsident war der Stratege, Sie der Taktiker. Beide seien Sie Geheimniskrämer und begabte Lügner gewesen. Ihre Servilität dokumentiert sich in protokollierten Dialogen mit dem Präsidenten. »Ich möchte, daß dieses Land (Nordvietnam) in Schutt und Asche gelegt wird. Wir werden diese Schweinehunde über den Haufen bomben.« (Nixon) »Keine Frage« antworten Sie darauf. »Jetzt, da wir die Grenze überschritten haben, gehen wir brutal gegen sie vor.« (Kissinger). »Ich würde sie gerne austricksen.« (Nixon). »Das können wir auch machen.« (Kissinger) »Wir müssen jetzt den maximalen Schockeffekt erzielen!« (Kissinger). Dazu der Tagebucheintrag eines Admirals: »Das ist eine irrsinnige Art, Krieg zu führen.«
Henry Kissinger: Aber in jedem Weißen Haus herrscht die bei Hofe übliche Atmosphäre, die von der in der heutigen Präsidentschaft konzentrierten schieren Macht nicht zu trennen ist. Im nachhinein kann das als Unterwürfigkeit ausgelegt werden, und manchmal war es das vielleicht auch.
Hans Kelsen: Was aber nicht ausschloß, daß Sie sich in freien Momenten gegenüber Ihren Mitarbeitern, oder sollte ich sagen: Untergebenen, herausgenommen haben, die Sprechweise des Präsidenten nachzuahmen: »Wir müssen diese Leute zermalmen! Wir müssen sie vernichten!«
Henry Kissinger: Ja, man muß die eigenen Leute bei Laune halten, und da ist eine Humoreinlage doch das beste Mittel, meinen Sie nicht auch?
Hans Kelsen: Ganz gewiß, ich habe das auch nicht als Vorwurf formuliert. Außerdem habe ich diese Sätze nicht erfunden, sie sind dokumentiert, so wie Ihre Administration ja so gut wie alles dokumentiert hat, eingeschlossen die geheimen Abhöranlagen, die auf Anordnung des Präsidenten installiert wurden. Sie hatten ja beide, Mr Nixon und Sie, gewisse Gemeinsamkeiten, nicht wahr? Sie waren beide »unverbesserliche Geheimniskrämer, aber Kissinger war es auf charmante Art.« Das hat der Leiter des Nachrichtendienstes des Außenministeriums, Thomas Hughes, über Sie beide gesagt. »Beide manipulierten, was das Zeug hielt, aber bei Nixon war das leichter zu durchschauen«. Sie haben die verdeckten Operationen nicht nur beaufsichtigt, Sie haben sie geleitet. Von Anfang an übten Sie eine Kontrolle über die CIA-Operationen aus, die immer strikter wurde. Und Sie haben, was heutigen Historikern bisher entgangen ist, die CIA dazu benutzt, um amerikanische Bürger auszuspionieren. Dabei gingen Sie mit dem Präsidenten konform, wonach jegliches präsidiale Handeln im Bereich der nationalen Sicherheit rechtskonform sein müßte. Was der Präsident macht, ist nicht unrechtmäßig, das war ja die Devise von Nixon, und dem haben Sie nichts entgegengesetzt.
Henry Kissinger: Mpf.
Hans Kelsen: Den ganzen Kalten Krieg über hat die CIA heimlich Politiker in Westeuropa mit Geld gefördert. Was man in der Nachkriegszeit in Italien anstellte, hat im nachhinein McGeorge Bundy 1965 als »die alljährliche Schande« bezeichnet. Als Nixon Präsident wurde, hat er zusammen mit Ihnen diese Politik des Geldes wiederaufleben lassen. Das Büro in Rom wurde damals von dem amerikanischen Sonderbotschafter Graham Martin geleitet. Sie haben ihn »den Typ mit den kalten Augen« genannt, und Sie meinten das als Kompliment. Der leitende politische Beamte in Rom, Robert Barbour, äußerte dazu: »Offenbar bewunderte Dr Kissinger jemanden, der in der Machtausübung ebenso rücksichtslos sein konnte wie er selbst.«
Henry Kissinger: Nehmen Sie das Beispiel Italien. Andreottis Energie verbrauchte sich beim Manövrieren in einem turbulenten politischen System, wo es für ihn nur einen extrem engen Handlungsspielraum gab. Seit zehn Jahren war die Politik in Italien durch die ›Öffnung nach links‹ beherrscht, eine Entwicklung, die Anfang der sechziger Jahre zum Teil von den Vereinigten Staaten in diese Richtung getrieben worden war, um die Linkssozialisten als vermeintliche Barriere gegen die Kommunisten in die Regierung zu bringen.
Hans Kelsen: Graham Martin sorgte ab 1970 dafür, daß 25 Millionen Dollar an die italienischen Christdemokraten und die Neofaschisten gingen. Einer der unverwüstlichsten italienischen Politiker, Giulio Andreotti, der auch des Mordes an politischen Oppositionellen beschuldigt, aber nie verurteilt wurde, hat mit diesen CIA-Geldern Wahlen gewonnen. Ich darf aus einer politische Studie zitieren: »The successful US effort to overthrow the elected president of Chile, Salvador Allende, in 1973 fitted into the long US history of intervening in Latin America against leftwing governments that nationalised US corporations (in this case, the big copper companies). But Kissinger also disliked Allende’s closeness to Moscow’s ally, Cuba.« Sie haben das folgendermaßen kommentiert: »I don’t see why we need to stand by and watch a country go communist due to the irresponsibility of its people«. Ihr Kommentar ist bezeichnend für Ihre Einstellung zu demokratischen Wahlverfahren: Wenn es Stimmen für die kommunistische Partei gibt, die legal an den Wahlen teilgenommen hat, dann hat eine ausländische Macht wie die Vereinigten Staaten von Amerika das Recht, dies zu verhindern.
Henry Kissinger: Allende stürzte über seine eigene Unfähigkeit und Starrheit. Er war entschlossen, sein revolutionäres Evangelium in ganz Lateinamerika zu verbreiten. Eine immer größere Zahl von Menschen hatte den Eindruck, daß entweder Allende gehen müßte oder die Demokratie zusammenbrechen werde.
Hans Kelsen: Ich glaube, wir sollten die Unterhaltung hier beenden, wir sind an einem toten Punkt angekommen. Aber zum Schluß unseres Gesprächs möchte ich doch daran erinnern, daß wir beide aus deutschsprachigen jüdischen Familien stammen.
Henry Kissinger: Ja, das trifft zu, aber ich habe dem niemals eine große Bedeutung beigemessen. Wir leben seit langem in säkularen Zeiten, die Religion hat nur noch private Bedeutung.
Hans Kelsen: Ich bin 1905 zuerst zum katholischen Glauben konvertiert, 1912 dann zum evangelischen. Dabei spielte aber der Glaube keine große Rolle, ich war praktisch zur Konvertierung gezwungen worden, denn sonst hätte ich niemals eine Professur in Österreich erhalten.
Henry Kissinger: Das haben Sie richtig gemacht, ich verurteile Sie dafür nicht. Wenn die Religion ohnehin ihr Fundament verloren hat, wieso sollten dann die Individuen sie noch stützen, zumal dann, wenn damit alle guten Lebenschancen verhindert werden.
Hans Kelsen: Der Rabbiner Norman Lamm hat sich sehr vehement von Ihnen distanziert. »Wir sollten uns offen von ihm distanzieren. Er will nicht Teil unseres Volkes, seiner Geschichte und seines Schicksals, seiner Leiden und seiner Freuden sein. So soll es sein. Laßt uns nie wieder, weder in unseren Gesprächen noch in unseren Veröffentlichungen, auf das Jüdischsein dieses Mannes hinweisen. Er ist ein Beispiel dafür, wie hoch ein assimilierter Jude in den Vereinigten Staaten aufsteigen und wie tief er in der Wertschätzung seiner jüdischen Mitbürger fallen kann.«
Henry Kissinger: Solche Äußerungen habe ich stets an mir abprallen lassen. Übrigens, wußten Sie, daß ich 1973 den Friedensnobelpreis erhalten habe? (lacht vergnügt)
Hans Kelsen: Ja, die Ironie der Weltgeschichte. You are a lucky bastard.