Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog
Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.
Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«
Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.
Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.
Eine große Koalition der Unzufriedenen
Keetenheuve spurte schlecht, er war nicht zu lenken, er war unbequem, er eckte an, er war in seiner Fraktion das Enfant terrible, so was bekam einem im allgemeinen schlecht. Alle wollten sie so schnell wie nur möglich in Regierungsnähe unter Dach kommen; es war, als fürchteten sie, die Regierung könne ihnen davonlaufen, würde eines Tages nicht mehr da sein. Als Politiker war er ein Heiratsschwindler, der impotent wurde, wenn er mit Frau Germania ins Bett gehen sollte. Aber in seiner Vorstellung und auch oft tatsächlich und mit ehrlichem Bemühen vertrat gerade er immer das Recht des Volkes! Keetenheuve dachte: Nicht mehr mitspielen, nicht mitmachen, den Pakt nicht unterschreiben, kein Käufer, kein Untertan sein. Am Bahnhof grölten Besoffene: »Wir wollen unsern Kaiser Wilhelm wiederhaben.« Bald würde man tun, wozu man hergekommen war, man würde seine Stimme abgeben und sein Geld verdient haben. Vielleicht würde eines Tages eine große Koalition der Unzufriedenen regieren. Die Mehrheit regierte. Die Mehrheit diktierte. Die Mehrheit siegte in einem zu. (Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus, 1953)
»Männe«, sagte Charlotte zu ihrem Friedrich, »heute gehst du mir nicht in diesem nachtblauen Anzug zur Kanzlerwahl, du mußt dich unterscheiden von den anderen Politikern, die ja auch immer nachtblaue Anzüge tragen mit diesem gewissen Schimmer, als wollte er Blüten bestäubende Insekten anziehen! Außerdem erinnern die vielen blauen Anzüge mich doch immer sehr an die rotchinesische Einheitskleidung, an den Mao-Look, oder gar an den Blaumann eines Handwerkers, Gott, wie gewöhnlich!« Friedrich stand vor dem großen Standspiegel und schlüpfte in den bereitgelegten schwarzen Anzug und musterte sich darin. »Sehe ich nicht ein bißchen so aus, als ginge ich zu einer Beerdigung, Liebes? fragte er mit ernstem Blick in den Spiegel. »Ach was«, flötete Charlotte, »du siehst fabelhaft aus, staatsmännisch elegant. Hier, dazu trägst du jetzt noch diese schöne blaue Krawatte mit dem feinen Muster, das gibt dem Ganzen einen gewissen Pfiff. Außerdem ist dieser Trump zur Beerdigung des Papstes mit so einem blauen Anzug anmarschiert, so was macht man doch nicht, so gegen die Kleidervorschriften zu verstoßen.« Die Zeit verrann. Plötzlich bemerkte Charlotte, daß es schon reichlich spät geworden war. Sie drängte zur Eile, aber dennoch traf man zur Vereidigung des neuen deutschen Bundeskanzlers etwas verspätet ein. Friedrich war das peinlich, galt er doch als der Pünktlichsten einer. Er setzte sich in die erste Reihe. Die Wahl konnte beginnen. Als alle Parlamentarier ihre Stimme abgegeben hatten, stellte sich heraus, daß Friedrich einige Stimmen fehlten. Er hatte keine Mehrheit bekommen. Er war, in der Sprache der Journalisten, »durchgefallen«. Nach hektischen Beratungen in den Fraktionen ließ man einen zweiten Wahlgang folgen. Diesmal reichte es für ihn, er war nun gewählter Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Mit betretenem Gesicht präsentierte er sich den Fotografen der Weltpresse. Damit war die Angelegenheit aber noch nicht erledigt, denn nun mußte der mediale Teil der Wahl absolviert werden. Es meldeten sich Stimmen aus den Parteien. Eine grüne Politikerin sprach von »einer ernsten Situation für das ganze Land.« Dann holte sie weit aus, als schaue sie aus dem Weltall auf die Erde nieder. »In einer Zeit globaler Krisen können wir uns politische Unsicherheiten nicht leisten.« Es schien so, als wüßte sie, wie man sich ordentlich verhält als parlamentarischer Abgeordneter und als habe der einzelne Abgeordnete eine unsichtbare Macht, die sich auf den ganzen Erdball erstreckt. Dann hob sie den Zeigefinger und sprach: »Häme ist jetzt völlig fehl am Platz, denn das Chaos in Berlin schadet dem Ansehen Deutschlands.« Die ganze Welt schaute ihrer Meinung nach auf Deutschland, und die Welt wunderte sich, daß einige der Abgeordneten nicht so funktionierten wie sich das die Parteifunktionäre vorgestellt hatten. Das ›Ansehen‹ war so wichtig, daß es vor allem um das ›Ansehen‹ ging, wie man sich vor der Welt präsentierte. Sie wußte aber zugleich, daß »die Menschen in unserem Land« – das formulierte sie wirklich so – daß »die Menschen in unserem Land zu Recht eine funktionierende handlungsfähige Regierung erwarten.« Damit hatte sie aber nur festgestellt, was die Parteifunktionäre von den Menschen in unserem Land erwarteten: eine ständige Bereitschaft zur Wahrnehmung der höchst wichtigen Vorgänge der Politik, den diese Parteivertreter verfolgten. Selbstreferenz nennt man das in der Soziologie, oder, auf deutsch: Wir sind so wichtig, daß alles, was sich um uns dreht, die Menschen in unserem Land zu interessieren hat. Ein FDP-Politiker flankierte der grünen Dame, indem er Scheindifferenzierungen in seine Rede brachte. Diese Wahl sei »keine Schwächung für Friedrich Merz, das schwächt die Institution Bundestag, das schwächt die Demokratie.« Welche Motive die nicht für Merz stimmenden Abgeordneten immer auch gehabt hatten, es galt dennoch Art. 38 des Grundgesetzes, wonach die Abgeordneten des Deutschen Bundestages eine besondere Gewissensfreiheit genießen und damit ihre Entscheidungen im Rahmen des freien Mandats nur anhand ihres Gewissens ohne Bindung an Weisungen und Aufträge fällen sollen. Das interessierte die Politiker, die nun über die unsichtbaren Abweichler herfielen, überhaupt nicht. Wer nicht den Vorgaben der zwischen den Parteien der künftigen Regierungskoalition ausgehandelten Vereinbarungen zu folgen bereit war, schwächte in ihren Augen automatisch das Parlament, ja sogar die Demokratie insgesamt. Es war dieser totalisierende Zug, der an den Stellungnahmen so bemerkenswert war und verriet, daß es den Parteien nicht um Parlament und Demokratie ging, sondern um ihre Machtstellung. Und wer die angriff, griff gleichzeitig die Demokratie an. Sie besaßen ja praktisch die Demokratie, waren die Demokratie, auch wenn sie von den Stimmen des Demos abhängig waren. Ein regierungstreuer SPD-Abgeordneter schrieb einen offenen Brief an die Mitglieder seines Wahlkreises und drückte seine Stimmung mit den Worten aus, er sei »überrascht/geschockt/empört« über diesen unglaublichen Vorgang. Doch er sprach nicht bloß von seinem Gefühlszustand, sondern gemeindete gleich alle Parteimitglieder mit ein, indem er sagte, er melde sich aus dem Plenum »bei Euch, weil Ihr sicherlich ähnlich überrascht/geschockt/empört seid darüber, was derzeit im Bundestag abläuft.« Konformismus war Bürgerpflicht, Abweichung von der Mehrheit war undemokratisch. »Es ist eine Niederlage der demokratischen Kräfte im Deutschen Bundestag.« Und er fügte beschwörerisch hinzu: »Profitieren wird lediglich die AfD.« Der Fabrikant Gundermann in Theodor Fontanes Roman ›Der Stechlin‹ sprach nicht anders, als er vor der SPD warnte: »Wer nicht stramm ist, ist schwach. Und Schwäche (die destruktiven Elemente haben dafür eine feine Fühlung), Schwäche ist immer Wasser auf die Mühlen der Sozialdemokratie.« Nun gehörte der real existierende SPD-Abgeordnete zu der Gruppe von Politikern, die mit dem Verbot dieser AfD-Partei durch das Bundesverfassungsgericht die Lösung des Problems sah. Ob vielleicht die große Zahl an Abgeordneten dieser unwillkommenen Partei im Bundestag daran lag, daß die übrigen Parteien, die sich ›demokratische Mitte‹ nannten, bei vielen Wähler nicht mehr so gut ankamen, weil die Probleme, mit denen sie im Alltag konfrontiert waren, nicht befriedigend gelöst wurden, diese Frage stellte er sich nicht. Die Existenz dieser Partei ist ja ein Krankheitssymptom und man kann eine Krankheit nicht durch ein Verbot zum Verschwinden bringen, stattdessen sollte man an die sozialen Ursachen herangehen und die dort vorhandenen Krankheiten heilen. Ein sozialdemokratischer Ministerpräsident ließ verlauten, die fehlenden Stimmen seien »eine Belastung für unsere Demokratie«. Nur weil ein Kandidat nicht gleich beim ersten Wahlgang die erforderliche Zahl der Stimmen auf sich vereinigen konnte, war für diesen Politiker die Demokratie bedroht. Man könnte das eine Überreaktion nennen, oder auch eine Form der selbstgefälligen Überhebung. Es ist in der Geschichte des Parlamentarismus schon vorgekommen, daß Parlamentarier der politischen Führung die Gefolgschaft aufgekündigt haben, nur eben noch nie bei einer deutschen Kanzlerwahl, weswegen es als »eine historische Stunde« dargestellt wurde. Ein wahres »historisches Chaos«, ja sogar über eine »Staatskrise« wurde gemunkelt. Folgerichtig müsste man sich dann zu einem Führerstaat bekennen, in dem es von vornherein keine Schwierigkeiten bei der Akklamation gibt, denn das Verhältnis von Führer und Masse ist einseitig geregelt.
Anstatt also den sich weigernden Abgeordneten Anerkennung dafür zu spenden, daß sie von ihrem grundgesetzlich verbrieften Recht Gebrauch gemacht hatten, verurteilten die um ihre Macht fürchtenden autokratischen Politiker dieses Verhalten als Gefährdung der Demokratie. Ein sozialdemokratischer Ministerpräsident meinte, »unser Land braucht eine handlungsfähige Regierung – und zwar schnell.« Das Motiv für diese Eile: »Es stehen wichtige Aufgaben an, die keinen Aufschub dulden, die Maßnahmen für die Belebung unserer Wirtschaft vorneweg.« Da Zeit Geld ist, darf es bei der Wahl eines Kanzlers keine zeitliche Verzögerung geben, jede Sekunde ist kostbar, jede Sekunde bedeutet Verlust für ›die Wirtschaft‹. Schnelligkeit bei der Regierungsbildung ist nach dieser hysterischen Einschätzung der politischen Lage der beste Garant für die kontinuierliche Akkumulation des Kapitals. »Systemtheoretisch gesehen ist also das Verhältnis von Wirtschaft und Politik durch funktionsbedingte Unterschiede und durch Parallelitäten im Systemaufbau, insbesondere durch entsprechende Instabilitäten in beiden Systemen charakterisiert. […] (Man kann im politischen System zum Beispiel nicht einfach entscheiden: es soll uns wirtschaftlich gutgehen!). […] Das heißt, die Strukturen eines Systems können nur mit systemeigenen Operationen variiert werden, die ihrerseits von den Strukturen des Systems abhängen. […] Von politischer ›Steuerung‹ der Wirtschaft kann man deshalb allenfalls in dem Sinne sprechen, daß die Politik die Wirtschaft mit Hilfe politikeigener Unterscheidungen […] beobachtet […] und diese Differenzen zu vermindern sucht. […] ›Steuern‹ kann jedes System also nur sich selber, weil alle Unterscheidungen systemeigene Konstruktionen sind. […] Demnach haben es sowohl die Wirtschaft als auch die Politik mit strukturellen Instabilitäten zu tun. Anders wäre ja auch eine Variation von Strukturen nicht zu denken.«(Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1988, 26f.)
»Das Kinderspielzeug Christentum«
Glaube, subst. masc. – Dinge für wahr halten, für die es keine Parallele und keinen Beweis gibt und die jemand verkündet, der über kein Wissen verfügt. (Ambrose Bierce: The Devil’s Dictionary, 1911)
A: Ach, na so was! Wir haben uns ja lange nicht gesehen. Wie geht’s denn so?
B: Hach! Ich bin noch ganz aufgewühlt, diese letzten Tage haben mich ganz schön mitgenommen.
A: Geburtstag? Hochzeit? Kindstaufe?
B: Viel besser! Kirchentag! In Hannover. Eigentlich Kirchentage, denn es ging ja über fünf Tage. 1500 Veranstaltungsangebote! Kaum zu schaffen, selbst wenn man alles vorher genau durchgerechnet hätte. Aber es war doch schön, dieses Gemeinschaftsgefühl, von dem auch die Menschen auf den Straßen und die Lokalzeitung täglich berichtet haben. Das Blatt brachte ein E-Paper-Spezial zur Eröffnung heraus mit der in Großbuchstaben gesetzten Schlagzeile: ›JA, WIR GLAUBEN DRAN!‹
A: Ja, die Journalisten, sie glauben dran, und müssen nie daran glauben, wenn sie etwas publiziert haben. Ich sehe, Sie haben da auch so einen blutroten Schal um den Hals hängen. Was steht denn da drauf? Ich kann es nicht lesen.
B: Zunächst einmal ist das nicht blutrot, denn wir gehören nicht zu den Kommunisten, für die ist die blutrote Fahne Pflicht. Das ist der Kirchentagsschal in rubinrot. Ist der nicht schick? Und die drei Wörter auf dem Schal, der übrigens zu hundert Prozent aus nachhaltiger, ökologisch angebauter Baumwolle besteht, lauten: »Mutig, stark, beherzt.« Das ist dem ersten Korintherbrief entnommen, Kapitel 16, Verse 13 und 14: »Wachet, steht im Glauben, seid mutig und seid stark! Alle eure Dinge laßt in der Liebe geschehen!« Aus Liebe wurde dann Herz, das paßt doch sehr gut, und das ist dann als »beherzt« noch hinzugefügt worden, weil drei Worte hintereinander immer besser klingen als zwei.
A: Sie meinen, wie in: »Glauben, gehorchen, kämpfen«, die Parole der italienischen Faschisten? Oder: »Ein Volk, ein Staat, ein Führer«, der Parole des deutschen Nationalsozialismus? Also ein Aktionsangebot an jeden Christenmenschen, selbst tätig zu werden und nicht darauf zu warten, daß Gott alles für ihn erledigt. Vorausgesetzt, daß es Gott wirklich gibt.
B: Von Ihnen lasse ich mir meine gute Kirchentagslaune nicht verderben! Ihnen fehlt das Gottvertrauen, das man gerade in unserer heutigen, unruhigen Zeit haben muß.
A: Mit aller Bescheidenheit gefragt: Wann gab es jemals ruhige Zeiten und wann gab es nicht zu allen Zeiten seit Bestehen des Christentums Redner, die sich auf das Gottvertrauen berufen haben. Wie ich höre, hat die ehemalige Bundeskanzlerin auf einer Veranstaltung gesagt: »Gottvertrauen, Vertrauen in Jesus, in den Glauben, hat mir oft geholfen.« Das ist doch ein ganz alter Hut, mit dem man immer kommt, wenn man nichts anderes mehr zu sagen weiß. Die Berufung auf das Höhere! Du liebe Zeit. Diese ehemalige Kanzlerin hat doch, als sie im Amt war und die vielen Flüchtlinge vor der Tür standen, nicht aus christlicher Nächstenliebe die Grenzen öffnen lassen, sondern weil sie wußte, daß es ihr politisch sehr schaden würde, wenn sie als ehemalige DDR-Bürgerin sich geweigert hätte, die Flüchtlinge hereinzulassen, wo sie selbst ja einmal um Asyl gebeten hat. Das hätte man ihr immer vorgehalten, und deshalb hat sie einfach behauptet: »Wir schaffen das.«. Was heißt hier wir? Das ist unglaublich, wenn man bedenkt, daß sie als Privatperson mit all den Problemen, die diese große Zahl an Flüchtlingen im ganzen Land geschaffen haben, überhaupt nichts zu schaffen hatte. Sie sitzt in ihrer Berliner Privatwohnung und berauscht sich am Neuen Testament, aber wie es in den Stadtbezirken zugeht, wo dicht an dicht die Flüchtlinge einquartiert worden sind, das interessiert diese Person nicht die Bohne. Und dann trumpft sie auf dem Kirchentag noch auf und sagt: »Darauf können wir stolz sein. Lassen wir uns das nicht nehmen.« Ebenso stolz auf das von ihm Erreichte ist der bald aus dem Amt scheidende Bundeskanzler, der auf dem Kirchentag sagte, »ich denke schon, daß ich überwiegend das Richtige getan habe.« Man könnte beinahe sprachlos werden gegenüber so viel unbefangener Selbstgerechtigkeit. Aber nur von sich so ungeheuer eingenommene Personen können es wohl bis an die Spitze eines Amtes schaffen.
B: Ja, das sind politische Fragen, die wurden auf dem Kirchentag natürlich auch erörtert, aber mich und die meisten der Besucherinnen und Besucher waren an den vielen Veranstaltungen interessiert. Das Angebot war überwältigend. Da war für jeden was dabei. Da Sie gerade die Kanzlerin erwähnt haben: Die hat an einer ›Bibelarbeit‹ teilgenommen, da wurde ein Stück aus dem 7. Kapitel des Markusevangeliums, nämlich die Austreibung eines Dämons durch Jesus, behandelt. Großartig, wie sie das hinbekommen hat. Aber zu den Angeboten: da gab es jede Menge Musik. In der Christuskirche wurde zweiundsiebzig Stunden lang in einem fort gesungen! Eine beachtliche Leistung! Geradezu sportliches Format hatte das. Und für die jüngeren Leute gab es ›Techno-beats‹ und dazu konnten sie sich segnen lassen. ›DJ-Segen‹ nannte sich das.
A: Was für eine Profanierung!
B: Nun haben Sie sich nicht so, die Kirche darf sich der Gegenwart und der Mode nicht verschließen und wir brauchen die Jugend doch, damit sie den christlichen Glauben in die nächste Generation weiterträgt. Deshalb wurde auch ein ›Taylor-Swift-Gottesdienst› eingerichtet, unter dem Motto »Take me to church, Taylor«. Dieses Event war sofort ausverkauft. Da sehen Sie, wie solche Modernisierungsvorstöße doch ihre Wirkung zeigen.
A: Hoffentlich haben die Fans von Taylor Swift nicht geglaubt, daß sie tatsächlich selbst zu diesem Konzert erscheinen wird. Das wäre doch eine herbe Enttäuschung für sie geworden. Sie wären sicher fast vom Glauben abgefallen.
B: Machen Sie nur ihre dummen Witze, das ficht mich nicht an. Es war eine bombenmäßige Stimmung in der Stadt, eine Polizistin hat Hannovers Superintendenten gefragt – das habe ich in meiner Heimatzeitung gelesen – ob nicht jeden Tag Kirchentag sein könnte.
A: Diese Polizistin mußte nicht – wie wir – Behinderungen im Straßenverkehr auf sich nehmen, langes Warten auf den Bus und zahlreiche Absperrungen. Würde das das ganze Jahr in Hannover so sein, dann müßten sich die Einwohner eine andere Stadt suchen und Hannover diesen Christenmenschen als Spielplatz überlassen. Was mich höchstens interessiert hätte, das wären diese Straßenredner gewesen, die sich bei solchen Veranstaltungen immer einfinden, verlorene Seelen, die im religiösen Überschwang aus vollem Herzen sprechen von Sünde und Teufel und den Zuhörern ins Gewissen reden. Da wird nichts gesegnet, da verausgabt sich vielmehr ein einzelner im tiefen Glauben an seine wirren Worte, wie man das seit 1872 auch in London an der ›Speaker’s Corner‹ erleben kann. Aber als ich um elf Uhr am Samstagabend im Bett lag und zu schlafen versuchte, drangen plötzlich helle Stimmen an mein Ohr. Die Fenster meines Schlafzimmers waren geschlossen, aber es klang so laut, als ob sie geöffnet wären. Ich stand auf, öffnete eines der Fenster, und da war er: ein vielstimmiger Chor, der irgendein den christlichen Glauben hochpeitschendes Lied intonierte. Noch völlig berauscht vom zurückliegenden Kirchentagserlebnis grölten diese Jugendlichen in die Stille der Nacht hinein, gänzlich uninteressiert an der Nachtruhe ihrer Mitmenschen.
B: (fängt an zu singen): »Laß doch der Jugend ihren Lauf, laß doch der Jugend ihren Lauf!« (räuspert sich). Entschuldigen Sie, ich habe mich hinreißen lassen. »Singen, beten und Haltung zeigen«, das war doch eine der Devisen auf dem Kirchentag. Seien Sie nicht nachtragend, Sie sind doch auch einmal jung gewesen und haben vielleicht damals ›I can’t get no satisfaction‹ auf ihrem Plattenspieler laufen lassen, so daß die Nachbarn vor Schreck aus ihren Betten gefallen sind. Aber jetzt etwas ganz Tolles vom Kirchentag: Die Spendendosen mußten während des Tages mehrmals geleert werden, so bereitwillig haben die hier versammelten Menschen Geld gegeben.
A: Da sind uns die Amerikaner weit voraus. Das beherrschen sie aus dem Eff-Eff. Diese Geldkirchen, die mit ihren rund um die Uhr laufenden Fernsehpredigten den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen. Das läuft da wie am Schnürchen.
B: Unterlassen Sie doch diese schiefen Vergleiche! Die Spenden sind doch nicht für geldgierige Fernsehprediger bestimmt gewesen, sondern waren freiwillige Beiträge zur Finanzierung eines Tellers Curry mit Reis, der im Kirchen-Vesper-Zelt ausgegeben wurde. Und diese Hilfsbereitschaft überall! Als ein alter Mann mit Rollator in eine überfüllte Straßenbahn eingestiegen ist, sind sofort fünf Pfadfinder aufgestanden und haben ihm einen Platz angeboten. Oder zwei alte Damen, die Arm in Arm gingen, die eine war blind, die andere führte sie durch die Messehalle, als wären es zwei alte Bekannte. Doch dann habe ich gehört, wie die blinde Dame zur anderen Dame sagte: »Ich komme aus Hessen, und Sie?« Sie waren sich eben erst begegnet! Das sind doch regelrechte Bibelszenen, denen man beiwohnen durfte!
A: Mir kommen die Tränen. Verschonen Sie mich mit diesen kitschigen Geschichten.
B: Die Landessuperintendentin des Kirchenkreises Burgdorf hat vor dem niedersächsischen Landtag die dort versammelten Gläubigen gesegnet und erzählte mir später: »Ich hatte hier vorhin eine Dame, die sehr unsicher wirkte. Nach dem Segen sagte sie, daß es sehr schön war. Erst später erfuhr ich, daß sie Autistin ist. Solche Momente, diese direkte Begegnung, das ist wirklich berührend.«
A: Hören Sie sich eigentlich selber zu, wenn Sie reden? Es mag ja sein, daß sich diese Geschichte so abgespielt hat, aber dann würde es doch ausreichen, wenn die Landessuperintendentin das für sich behält, aber nein, sie muß es ausposaunen, denn für die Kirche verwandelt sich alles in eine Botschaft. Wenn in diesem Fall eine Autistin sich entgegen der gewöhnlichen Erwartung verhält, wird daraus sofort eine Art Wunder. Denn davon schmarotzen alle Religionen und Kirchen der Welt, vom Wunder.
B: Es gab für die Kinder auch eine Hüpfburgkirche! Ist das schön? Man muß den Menschen doch entgegenkommen. Sie dort abholen, wo sie sind und leben.
A: »Das Kinderspielzeug Christentum«, wie John Updike es beschrieben hat! Hören Sie sich mal diese Zahlen an: Das Land Niedersachsen hat 7 Millionen Euro und die Stadt Hannover hat 4 Millionen Euro für die Finanzierung dieses Kirchentags gegeben. Die ›Giordano-Bruno-Stiftung‹ hat mit einem Stand auf dem Kirchentag diese Verschwendung von Steuergeldern angeprangert. Völlig zu recht. Vermutlich hat der Kirchentag darum auch dem niedersächsischen Ministerpräsidenten die Möglichkeit gegeben, sich vor Publikum befragen zu lassen, um dann mit solchen Einsichten die Zuhörerschaft zu fesseln: »Gerade in christlichen Gemeinden gibt es wahnsinnig viel Gemeinsinn.« Dafür sind die 7 Millionen Euro dann doch gut angelegt worden, um dem Volk solche Weisheiten zu vermitteln. Ich hätte es im übrigen besser gefunden, wenn wirklich harte Diskurse stattgefunden hätten, so in der Art: Religion gegen Philosophie. Und zwar der Philosophie, die mit Lukrez beginnt und über David Hume und Ludwig Feuerbach bei Friedrich Nietzsche enden, oder da erst richtig beginnen. Da wäre die christliche Religion ein bißchen ins Schwitzen geraten, aber nein, man läßt eine Politikerin im Ruhestand eine Bibelstelle zu ihren Gunsten auslegen und das versammelte Schafsvolk blökt Beifall. Oder wenn man, anstatt in der Christuskirche zweiundsiebzig Stunden Dauergesang erschallen zu lassen, einige zentrale Werke von John Updike im Ganzen vorgelesen hätte. Der hat in allen seinen Romanen Glauben und Gott behandelt, aber zaftig, um es mal auf jiddisch zu sagen. Ich will hier nicht irgendeine der vielen einschlägigen Passagen zitieren, um Sie nicht in Verlegenheit zu bringen, wo Sie doch gerade so erfüllt sind vom überirdischen Gemeinschaftserlebnis. Doch halt, eine Passage möchte ich doch zum besten geben, aus dem schmalen Roman ›Der Sonntagsmonat‹ (1975), in dessen Mittelpunkt ein amerikanischer Pfarrer steht, der von den verheirateten Frauen seiner Gemeinde immer wieder um Rat gefragt wird und dann, es läßt sich therapeutisch nicht vermeiden, Sex mit ihnen hat. »Und ich schlief mit einigen, wenigen, um mich nützlich zu machen. Die weinende Teenagerbraut, die nie einen Orgasmus hatte, und die hagere geschiedene Frau, bei der die Ergüsse nicht aufhörten, und die halbe Nonne, die auf das Abendmahl und die Gegenwart Jesu Christi und alles, was mit Frömmigkeit erfüllt, versessen war, alle flehten mich um Berührung an.« Schon im ersten großen Roman von Updike, ›Couples‹ (1968), geht es unentwegt um Gemeinschaftserlebnisse, indem die beiden befreundeten Ehepaare wechselweise sehr, sehr lieb zueinander sind, um noch mehr Gemeinschaftsgefühle zu erzeugen. Also gut: Nach ihrem biblischen Verständnis wird das sechste Gebot gebrochen, aber im gegenseitigen Einvernehmen, im Inneren einer Erwachsenenhüpfburg, gewissermaßen. Aber das kann ich Ihnen sagen, die Figuren in diesen Romanen von Updike sind ganz sicher nicht immer mutig und stark, aber daß sie stets beherzt zur Sache gegangen sind, das kann man ihnen guten Gewissens nachsagen.
B: Sie widern mich an, Sie perverses Schwein.
A: Ich darf aus Ihrer Reaktion entnehmen, daß Sie mit dem Inhalt der Romane von John Updike durchaus vertraut sind.
B: Verschwinden Sie, ich will mit Ihnen nicht mehr reden.
A: Erinnern Sie sich denn nicht an die Begrüßungsworte des Bundespräsidenten bei der Eröffnung des Kirchentages? »Wenn hier auch gestritten wird, dann ist das kein Anlaß zur Beunruhigung.« Auf einer der ›Bibelarbeit‹-Veranstaltungen hat die mit sehr viel jugendlichem Sendungsbewußtsein ausgestattete ›Klimaaktivistin‹ Luisa Neubauer gesagt: »In einer Zeit, in der sich so viele Menschen klein und kraftlos fühlen, finde ich es gerade wichtig, aufzustehen und zu widersprechen. Wir geben den Mut weiter, und dann trauen sich mehr Menschen, auch zu widersprechen.«
B: Auf Ihren Widerspruch lege ich keinen Wert. Sie bewegen sich außerhalb jeglicher gesitteter Wertordnung. Fahren Sie zur Hölle!
A: Das ist doch meine Rede, treten Sie ein in die Hölle, der Teufel ist doch so viel interessanter als Gott, amüsanter und mental nicht so befangen wie ein vom Gemeinschaftsgefühl besoffener Christenmensch, der mit einer brennenden Kerze durch eine deutsche Innenstadt rennt. Das schönste Gedicht über den Teufel und die Hölle hat Fritz Grünbaum, der österreichisch-jüdische Kabarettist, Schauspieler und Conférencier geschrieben. Er wurde 1880 geboren und 1941 von den Nazis im KZ Dachau ermordet. Hören Sie sich nur diesen Auszug an (deklamiert):
FRITZ GRÜNBAUM
Vom Teufel
Ich hab’ einen innigen Wunsch, einen frommen:
Ich möcht‘, wenn ich sterb’, in die Hölle kommen!
Schütteln Sie nicht so Ihr weises Haupt,
Die Hölle ist reizender als man es glaubt!
Bedenken Sie, bitte, vor allem nur
Die angenehm-mollige Temperatur!
[…]
Doch das, was man nirgends so fesch sich und schnell schafft,
Wie nur in der Hölle, das ist – die Gesellschaft!
[…]
Damen gibt’s da, so entzückend gebaut,
So eine Mitte von Witwe und Braut.
[…]
Sie sind ordinär und entsetzlich galant,
Schrecklich verlumpt, aber – amüsant!
[…]
So hab‘ ich bewiesen an dieser Stelle,
Das Schönste auf Erden ist doch die Hölle:
Die Leut‘ haben Temperament dort und Charme,
Das Klima ist angenehm, milde und warm;
Die Kleidung ist praktisch, kein Schneider will Geld,
Es ist eine reizend-gemütliche Welt,
Drum seufz‘ ich im Stillen oft: »Gott befohl’n,
Möcht‘ mich nur endlich der Teufel hol’n!«
Fading Civilization. Part Two. Eine apokalyptische Serie
Die Apokalypse hat eine lange Geschichte. Nimmt man sich irgendein Ereignis der Gegenwart vor, so kann man meist ohne Mühe daran ablesen, daß, wie es in gängiger Alltagsrede heißt, »alles den Bach runtergeht«. In dieser Rubrik sollen solche Alltagserscheinungen beleuchtet und interpretiert werden, dabei prüfend, ob nicht doch ein Ende erreicht werden wird und welche Vorteile dies für die Erde dann doch hätte: »Eines ist auf jeden Fall gewiß: der Mensch ist nicht das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen Wissen gestellt hat. Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis diese Dispositionen ins Wanken gerieten, dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« (Michel Foucault: Les mots et les choses, 1966)
Zeitweise Andorra
»Ein massiver Stromausfall hat die Iberische Halbinsel am Montag über Stunden lahmgelegt. Betroffen waren das gesamte spanische und portugiesische Festland sowie zeitweise Andorra. Die Züge, U-Bahnen und Straßenbahnen standen still, der Flugverkehr konnte nicht mehr wie gewohnt abgewickelt werden, und in zahlreichen Gebäuden fielen Aufzüge aus. In Spanien standen Züge still. Der Blackout habe ›zur Unterbrechung des Eisenbahnverkehrs im gesamten Netz geführt‹. Verkehrsampeln funktionierten nicht und führten an vielen Orten zu chaotischen Verhältnissen auf den Straßen. Die Generaldirektion für Verkehr forderte dazu auf, das Autofahren ›so weit wie möglich‹ zu vermeiden. Spaniens Regierungschef rief die Bevölkerung in einer Fernsehansprache dazu auf, sich verantwortlich zu verhalten und mit den Behörden zusammenzuarbeiten.« (FAZ, 29.4.2025)
»Als ob Dunkelheit eine Art Licht sei, das uns den Abgrund sehen läßt, in den wir gleich stürzen werden.« (John Updike: Rabbit. Eine Rückkehr, Reinbek b. Hamburg 2002, 142)
Nur wer mit elektronischen Handorakeln ausgestattet war, konnte diese Nacht überstehen, vorausgesetzt, diese Taschentheater waren vorher ausreichend aufgeladen worden. Die Lichtfunktion der intelligenten Telefone geleitete die Spanier durch die finstere Nacht. Mancher der gebildeten Spanier dachte an das finstere Mittelalter, als die Inquisition auf Geheiß des römischen Papstes unter den Menschen wütete. Nobody expects the spanish inquisition. Our chief weapons are fear and surprise and ruthless efficiency and an almost fanatical devotion to the Pope. (Monty Python’s Flying Circus, Just the Words, Vol. 1, Episode Fifteen, Reading 1989, 192f.). Efficiency, ja, die gab es in dieser Nacht nicht, aber es gab noch genug Elektrizität für eine Fernsehansprache des spanischen Regierungschefs, der die Spanier dazu aufforderte, sich verantwortlich zu verhalten und mit den Behörden zusammenzuarbeiten. Weder der Sinn dieser Ansprache noch die Tatsache ihrer Existenz schien einleuchtend zu sein, denn wie sollten die ohne elektrischen Strom zuhause hockenden Spanier überhaupt ihren Fernsehapparat einschalten können? Welche Art von Zusammenarbeit mit den Behörden stellte sich der Regierungschef dabei vor? Sollte man dem ohne Licht durch die Finsternis irrenden Polizisten ein Streichholz leihen, damit er sich bei seiner sinnlosen Tätigkeit wenigstens eine Zigarette schmecken lassen konnte? Diejenigen mit den intelligenten Telefonen hatten anderes zu tun, sie mußten versuchen, sich zu orientieren, um unbeschadet den Weg nach Hause zu finden und dazu konnte ihnen nur das kleine Lämpchen am Ende des elektronischen Handorakels helfen. Das Wort Noctivagator galt vor fünfhundert Jahren dem Nachtwanderer, der nur darauf aus war, seine Mitmenschen zu überfallen und zu berauben, doch nun war das leuchtende Handtelefon zum Noctivagator geworden, zum Leuchtstab inmitten der gänzlich unbeleuchteten spanischen Straßen. Im 18. Jahrhundert gab es Laternenträger, die des Nachts gegen Bezahlung den Fußgängern den Weg leuchteten. Bei Überfällen war der Befehl: Macht eure Lichter aus, oder wir schießen euch das Hirn aus dem Kopf! ein oft gehörter Befehl. Für Jahrhunderte war die Nacht für die Menschen mit Dunkelheit verbunden, außer dem Mond und den Sternen sowie Laternen an den Wohnhäusern, Kerzen in Metallzylindern, gab es keine künstliche Beleuchtung in den Straßen. Die Hauptwaffe der katholischen Kirche war das Licht, denn das sollte die Allgegenwart Christi bezeugen. Dazu veranstaltete man in Spanien während der ›heiligen Wochen‹ Prozessionen auf den Straßen, bei denen im Kerzenschein öffentlich Büßer gegeißelt wurden. Ganz Spanien war von Kapellen überzogen, die nur von einer einzigen Kerze beleuchtet waren. Alles wäre schrecklich ohne Kerzen war eine gängige Redensart, entnommen einem religiösen Meditationstext aus dem 16. Jahrhundert. Unterwegs, vom spanischen Blackout des 21. Jahrhunderts überraschten Menschen, nutzte diese Spruchweisheit wenig. Manchem Hochgebildeten fiel vielleicht ein, daß im England des 19. Jahrhunderts das Streichholz tatsächlich Lucifer (Lichtbringer) geheißen hatte. Auch der abgefallene Engel Gottes wollte also den Menschen das Licht bringen, vielleicht sogar das Licht der Aufklärung, in dem man sich vor keinem unsichtbaren Gott zu fürchten brauchte. Andere assoziierten die ungewohnte Dunkelheit mit der Zeit des Franco-Regimes, als Spanien, nicht zum ersten Mal, sich von der westeuropäischen Zivilisation verabschiedet hatte. Aber die allermeisten verschwendeten ihre Gedanken nicht an solche abseitigen Gedankenflüge, sie tappten und tasteten sich vorsichtig voran, denn Vorsicht ist die beste Kerze, wie es in einem walisischen Sprichwort heißt, denn auch heute kann man sich nie sicher sein, wenn plötzlich alles in Dunkelheit gehüllt ist und der neben einem gehende Mitmensch auf einmal sich als gemeiner Dieb herausstellt. Doch nicht jeder weiß, daß die Menschen in der Nacht mehr als die meisten Tiere sehen können und sich innerhalb von weniger als einer Stunde die Sehfähigkeit verbessert, die Iris sich weitet und dadurch mehr Licht hereinläßt. Im Dunklen ist gut munkeln. Nun ja, man muß den Januar 2026 abwarten und dann den spanischen Geburtenstatistikern den Nachweis überlassen, ob aus dem Stromausfall Ende April 2025 sich irgendwelche bevölkerungsrelevanten Konsequenzen ergeben haben. Im New York der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts war das geschehen, als die ganze Stadt einmal im Dunkel der Nacht lag und manche New Yorker zu zweit die Zeit bis zur vollständigen Erleuchtung zu überbrücken versucht hatten. Schon kam die todesstille Zeit der Nacht … Nur blut’ger Mord und Wollust geh’n jetzt um. (Shakespeare: Lucretia, 1594). Die Paarung unter den Menschen sollte aber doch bei vollem Tageslicht geschehen, zumindest die Wahl der Partner, denn bei Kerzenlicht betrachtet, kann es nach dem Aufhellen des Himmels zu bestürzenden Resultaten führen: Such dir bei Kerzenlicht weder eine Frau noch ein Leintuch aus. Denn: Bei Kerzenlicht sieht eine Ziege wie eine Dame aus. Die Menschen früherer Jahrhunderte hatten Humor. Dagegen verbot Papst Gregor XVI. (1765–1846) Straßenlaternen, weil die katholische Kirche meinte, diese würden mit ihrem eindringlichen Licht der Bevölkerung helfen, Aufstände zu schüren. Als zu Ostern 2025 der Papst starb und öffentlich aufgebahrt wurde, strömten Hunderttausende zum Petersplatz, bei hellem Tageslicht. Die Mächte der Finsternis müssen auch nach so vielen Jahren nicht um ihre Herrschaft bangen, mit oder ohne Straßenlaternen. Ex oriente lux.
Mit Dank an:
A. Roger Ekirch: At Day’s Close. Night in Times Past, New York 2005; dt. In der Stunde der Nacht. Eine Geschichte der Dunkelheit, Bergisch-Gladbach 2006
Wir brennen für Ostern
So ist zweifellos das Buntfärben der Ostereier, welche die Kinder im Garten suchen müssen, ein Symbol für die Farben der Blumen, die in der Erde schlafen und das Ei, darin alles Leben verwahrt liegt, ist das tiefe Gleichnis des Grabes und der Sehnsucht nach Auferstehung.
Theodor Lessing: Die Farben der Blumen, in: ders.: Blumen, Berlin 1928, 92–108 (107f.)
Am Gartenzaun
Frau Pannemeyer und Prof. Friedrich Lensing unterhalten sich.
Frau Pannemeyer: Guten Morgen, Herr Professor! Na, wagen Sie sich auch aus dem Haus nach den gestrigen Osterfeuern?
Prof. Friedrich Lensing: Ach ja, liebe Frau Nachbarin, das war wieder eine schwere Nacht für mich. Sie wissen, daß ich seit nun schon vielen Jahren an Ostern keine Freude mehr habe. Seit die Osterfeuer epidemisch geworden sind, angefacht durch die hiesige SPD Mitte der achtziger Jahre, bekomme ich nachts keine Luft mehr. Dieser beißende Rauch setzt sich unerbittlich in allen Räumen des Hauses fest. Nun bin ich seit einigen Jahren dazu übergegangen, kurz bevor die heimischen Barbaren die Feuer entzünden, mein Schlafzimmer lange durchzulüften, so daß ich dann wenigstens den Brandgeruch nicht mehr drinnen habe, aber dafür fehlt mir beim Einschlafen dann doch das bißchen Sauerstoff, das man braucht, um in einen gesunden Schlaf hineinzufinden. So stellen sich dann Kopfschmerzen ein, weil die Frischluft, die ich am späten Nachmittag hereingelassen habe, dann doch im Laufe des Tages sich verflüchtigt hat.
Frau Pannemeyer: Wie kann ich Ihnen das nachfühlen! Es geht mir ja genauso. Unsere Biggi, die in Celle im Krankenhaus als Ärztin arbeitet, erzählt mir jedes Jahr davon, wie das auf der Krankenstation für manche Patienten eine jährliche Qual ist und einige der schwerkranken Lungenpatienten sogar unters Sauerstoffzelt gepackt werden müssen. Diese Menschen! Alle wissen vom schädlichen Feinstaub, und unsere Biggi hat gesagt, letzte Ostern wurden sehr hohe bodennahe Feinstaubkonzentrationen gemessen, die durch den Staub hervorgerufen wurden, der aus der Sahara zu uns herübergekommen ist. Die Luftqualität, sagt die Biggi, ist in vielen Teilen Deutschland mäßig bis schlecht Die Emissionen aus den Autos bilden dabei den Hauptanteil. Die Osterfeuer fügen dieser schlimmen Gesamtbilanz noch einiges hinzu. Die Partikel des Feinstaubs dringen tief in die Lungen vor, sagt die Biggi, und lagern sich in den Lungenbläschen ab. Das beeinträchtigt nicht nur die Atemwege, sondern auch das Herz-Kreislauf-System, den Stoffwechsel und das Nervensystem.
Prof. Friedrich Lensing: Es ist ein Irrsinn, der dem menschlichen Geschlecht als Vernunft vorkommt und man tut so, als würde man mit den Osterfeuern etwas für den Erhalt der menschlichen Gemeinschaft tun. Aber haben Sie vor kurzem in der Heimatzeitung diesen Artikel gelesen, der die Überschrift ›USA bitten Deutschland um Eier‹ trug? Es ging um ein neues Vogelgrippevirus, das in Amerika wütet. Der zuständige Redakteur wollte wohl ein Spaßvogel sein mit dieser Überschrift, aber wenn man den Artikel dann las, stand da folgender Satz, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ: »Um die Seuche einzudämmen, wurden in den USA mehr als 166 Millionen Nutzvögel wie Hühner oder Enten gekeult.« Stellen Sie sich das einmal vor: Mehr als 166 Millionen Tiere! Davon waren es 50 Millionen Hühner, das ist der gesamte Legehennenbestand Deutschlands! 50 Millionen Hühner sind gleich 40 Millionen Eier, und das täglich! Ja, da bitten die USA Deutschland um Eier, der Zeitungsredakteur macht eine witzig klingende Schlagzeile und übersieht völlig, welches Grauen sich dahinter verbirgt. Da werden Millionen ›Nutzvögel‹ gezüchtet, um Eier für die Menschen zu legen, und manche von diese Lege-Wesen werden dann später auch noch geschlachtet, um den unersättlichen menschlichen Appetit auf Tierfleisch zu befriedigen, aber das eigentliche Thema ist für diese Zeitung, daß nun in den USA kein anständiges Osterfest gefeiert werden kann, nicht etwa weil es nur wenige Eier auf dem Markt gibt, sondern auch weil eine »Eggflation« die Preise hochtreibt. So muß man in einigen Großstädten der USA zwölf Dollar für ein Dutzend Eier hinlegen.
Frau Pannemeyer: Ach. lieber Herr Professor, das ist ja furchtbar, was Sie da erzählen. Unsere Biggi, die gern Statistiken liest, hat mir erzählt, daß dieses Jahr in Deutschland im Durchschnitt jeder Bundesbürger 249 Eier verdrückt hat. Mich hat man nicht gefragt, aber ich bin auch nicht so ein Eier-Konsument. Man will doch den armen Hühnern auch etwas zum Bebrüten lassen, denn dafür sind die Eier doch eigentlich da. Ich habe gehört, daß Leute, die es sich leisten können, sich hart gekochte Eier als Unterlage für echten Kaviar gönnen, na ja, wer’s zahlen kann! Biggi sagt, laut Statistik der ›Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung‹ ist der bundesweite Verbrauch dieses Jahr um vier Prozent gewachsen, auf rund 20,8 Milliarden Eier. Nicht Millionen, Milliarden! Unglaublich, wie gefräßig die Menschheit ist.
Prof. Friedrich Lensing: Stellen Sie sich vor, man hätte die am Corona-Virus erkrankten Menschen einfach ›gekeult‹. Was gäbe das für einen humanitären Aufstand in der Öffentlichkeit. Die Menschheit würde sich über Jahrzehnte nicht mehr beruhigen über dieses gewaltige Verbrechen an unschuldigen Menschenleben. Aber ›Nutzvögel‹ sind eben keine ebenbürtigen Lebewesen, das sagt ja schon der Begriff ›Nutzvögel‹. Und alles vernutzen die Menschen ja, sie sind die Herren der Welt. Der liebenswerte Dodo, ein großer Vogel, der nicht fliegen konnte und ausschließlich auf der Insel Mauritius im Indischen Ozean gelebt hat, ist im Jahre 1690 ausgestorben. Und wieso ist er ausgestorben? Nicht etwa, weil die Insel ihm kein Futter, hauptsächlich Früchte, mehr bot. Nein, weil menschliche Invasoren Jagd auf die schönen Vögel machten. Das Fleisch des Dodo verspeisten diese Seefahrer nicht, weil es Ihnen nicht schmeckte, aber man fraß in großen Massen die Eier. Da jedes Schiff Ratten mit sich führte, hat die bisher auf Mauritius nicht heimische Pest dafür gesorgt, daß der Dodo innerhalb kürzester Zeit vom Erdboden verschwand. Eingeführte Schweine und Affen haben dann den Rest besorgt, indem sie die Gelege auffraßen. Lesen Sie das großartige Buch ›Der Gesang des Dodo. Eine Reise durch die Evolution der Inselwelten‹ von David Quammen, im Jahre 2001 auf deutsch erschienen. Ich leihe es Ihnen gern einmal, es hat allerdings 974 Seiten, aber es ist ganz leicht zu lesen, weil es packend geschrieben ist.
Frau Pannemeyer: Vielen Dank, Herr Professor Lensing, da will ich gern einmal hineinschauen, falls nicht meine Biggi, wenn sie mich wieder einmal besucht, es mir nicht stiehlt, denn sie ist von Kindheit an eine richtige Bücherratte gewesen. Und diese Art von Ratten lasse ich mir schon gefallen.
Fading Civilization. Part One. Eine apokalyptische Serie
Die Apokalypse hat eine lange Geschichte. Nimmt man sich irgendein Ereignis der Gegenwart vor, so kann man meist ohne Mühe daran ablesen, daß, wie es in gängiger Alltagsrede heißt, »alles den Bach runtergeht«. In dieser Rubrik sollen solche Alltagserscheinungen beleuchtet und interpretiert werden, dabei prüfend, ob nicht doch ein Ende erreicht werden wird und welche Vorteile dies für die Erde dann doch hätte: »Eines ist auf jeden Fall gewiß: der Mensch ist nicht das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen Wissen gestellt hat. Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis diese Dispositionen ins Wanken gerieten, dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« (Michel Foucault: Les mots et les choses, 1966)
Ratten übernehmen das Ruder
In Großbritanniens zweitgrößter Stadt, Birmingham, ist für Ratten das Paradies ausgebrochen. Ein Streik der Müllwerker hat ihnen ein reichliches Futterangebot beschert. Die Müllbeutel mit dem Inhalt von 20.000 Tonnen Müll, von 1,1 Millionen Menschen produziert, liegen seit Wochen vor den Häusern der Menschen. Bereits vor zwei Jahren hat der von der Labour Party beherrschte Stadtrat den Bankrott der Stadt erklären müssen. Eine Stadt, die nicht mehr genug Geld für den Abtransport des täglich anfallenden Mülls hat, findet sich damit ab, daß die Rattenpopulation reichlich Nahrung hat und damit die besten Voraussetzungen für eine immer schnellere Reproduktion dieser Spezies bietet. Selbst der Rattenfänger von Hameln würde angesichts dieser Mengen an Ratten die Achseln zucken und den Ort des Geschehens unverrichteter Dinge verlassen. Ein literarisches Denkmal hat Günter Grass 1986 der Ratte mit seinem dystopischen Roman ›Die Rättin‹ gesetzt. Im Plauderton berichtet ein fiktiver Erzähler von seinen Unterhaltungen mit einer weiblichen Ratte, die ihm aus der Geschichte der menschlichen Zivilisation Episoden vorführt, bei denen es zu denkwürdigen Begegnungen zwischen Mensch und Ratte gekommen ist. Wie der Roman ausgeht? Wer gewinnt? Lesen Sie das Buch, es ist nur 459 Seiten lang.
Wir schrecken ab! Wir sind abschreckend!
Marktschreierei füllte die ganze Welt. Für Diplomatie war keine Zeit. (H. G. Wells: Der Luftkrieg, 1908)
Der Schweizer Waffenhändler Kuno Raeber liegt in einem eleganten Deck-Chair auf seiner Yacht in der Marina von Monaco. Aus den Tiefen der Yacht dröhnt laute Musik: Come you masters of war / You that build all the guns / You that build the death planes / You that build the big bombs / You that hide behind walls / You that hide behind desks / I just want you to know / I can see through your masks… (Raeber schreit durch die geöffnete Luke nach unten): Ja, Herrschaftszeiten, Jean-Claude, jetzt ist aber mal gut! Ich weiß ja, daß du, seit wir mit dir ins Cinema zu dem Bob Dylan-Bio-Film gegangen sind, du seine Lieder abspielen willst, aber es hat alles seine Grenzen und seine Zeit. Ich brauche hier oben amal ein wenig Ruhe nach der geschäftigen Woche, wo der Papa ja doch wieder ein bißchen Geld hat einfahren können. Davon profitierst du ja auch mit, gell? (Musik verstummt augenblicklich. Der Waffenhändler wendet sich einem imaginären Publikum zu und fängt an zu monologisieren):
Ja, also, das war eine Woche! Wahnsinn! Eine Konferenz jagte die nächste. Ich bin aus dem Flieger gar nicht rausgekommen. Das heißt, ausgestiegen bin ich ja schon, denn ich mußte ja auf den verschiedenen Konferenzen und Messen voll präsent sein, damit wir hier in Europa einen langfristigen Frieden beschert bekommen, nicht wahr? Haben Sie das gesehen, wie seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine die Aktie des Rüstungsherstellers Rheinmetall eine beispiellose Rallye hinlegt? Als Rheinmetall 2023 in den DAX aufgenommen wurde, hat eine Aktie etwa 250 Euro gekostet. Jetzt springt sie von Allzeithoch zu Allzeithoch. Das hat den Rheinmetall-Vorstandsvorsitzenden denn auch dazu gebracht, von einer »neuen sicherheitspolitischen Dekade« zu sprechen. Und Deutschlands größter Rüstungskonzern Rheinmetall legt jetzt Jahr um Jahr mehr zu. Das liegt auch daran, daß man im Land umzudenken begonnen hat. Bis zum Überfall der Russen war der Bedarf an Munition immer weiter geschrumpft, keiner hat die Läger gefüllt, weil man geglaubt hat, daß man mit Artilleriemunition nicht sonderlich effektiv arbeiten kann, weil es ja Nuklearwaffen gibt. Doch nun ist Munitionsmangel die größte Sorge der ukrainischen Armee. Da kommt Rheinmetall ins Spiel. Denn die sind der größte Hersteller von Artilleriemunition in der westlichen Welt. Mehrere Hunderttausend Schuß gehen nun in die Ukraine, wie mir der Rheinmetall-Vorstandsvorsitzende schon vor einem Jahr bestätigte. Der Konzern ist 2024 um 40 % gewachsen und der wichtigste Treiber ist die Artillerie. Die Finanzmärkte messen Rheinmetall eine erhebliche Bedeutung für die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands und Europas zu. Intern spricht man von einer »Zeitenwende 2.0« Ich sprach eben von der Verteidigungsfähigkeit Deutschlands und Europas und dazu muß man wissen, daß die deutsche Bundeswehr nach Angaben des Statistischen Bundesamtes die siebtteuerste Armee der Welt ist. Also billig ist die Bundeswehr nicht und dennoch notorisch unterversorgt. Der milliardenschwere Schuldenplan der kommenden schwarz-roten Bundesregierung soll da einiges beheben. Aber das bedarf der Planungssicherheit. Der Bau von Panzern, Flugzeugen und Munition ist kapitalintensiv und es braucht viel Zeit, bis man die Produkte an die Front schicken kann. Erst kürzlich habe ich mich mit dem Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) unterhalten, und der sagte mir, daß Kunden in Europa jetzt »ihre Bedarfe bestmöglich harmonisieren und poolen« sollten. An so einem Satz hätte ich als Sprachliebhaber einiges auszusetzen, aber man kann von einem Hauptgeschäftsführer des BDSV auch keine Satzqualitäten wie die eines Goethe erwarten, oder? Er sagte weiter, »die Industrie braucht jetzt klare Ansagen, von welchen Produkten man wie viel in welcher Zeit als Output erwartet. Wenn dies klar ist, wird sie auch liefern.« Jetzt kommt’s. Der BDSV-Präsident ist im Hauptberuf Vorstandsvorsitzender von Rheinmetall. Sehen Sie, ist das nicht ein schönes Beispiel von Synergie? So muß das laufen, und wenn es so läuft, dann läuft es wie geschmiert. Nur so kann die Waffenproduktion schnell und zuverlässig hochgefahren werden. Ein französischer Verantwortlicher des Luft- und Raumfahrtkonzerns Safran sagte mir, man sei »bereit, sich an der Kriegswirtschaft zu beteiligen, aber wir brauchen Klarheit, um investieren zu können.« Schon jetzt aber könne man sich vor Aufträgen kaum retten, vor allem Aufträge aus den USA und den Arabischen Emiraten seien in großer Zahl eingetroffen. Auf diesen Rüstungskonferenzen hört man aber auch viel Unsinn. Da soll nun ganz viel Geld für die Modernisierung der Infrastruktur ausgegeben werden, zum Beispiel sollen die vielen maroden Brücken in Deutschland saniert werden. Ja, langt’s noch? Haben Sie es noch nicht kapiert? Wenn der Russe tatsächlich, wie in den Prognosen der Militärs behauptet, spätestens ab 2029 dem Zug nach dem Westen folgen wird, mit massiven Panzereinheiten, ja, was ist dann? Dann offeriert man den russischen Panzern ein komfortables Aufmarschplateau, mit stabilen, stahlbewehrten Brücken, auf denen sie zügig in unser Land einfallen können. Hingegen, wenn man die vielen maroden Brücken weiterhin in ihrem bisherigen Zustand beläßt und auf den Zahn der Zeit setzt, rollen die russischen Panzer auf diese Brücken und dann…zack, fallen sie in die Tiefe. Bessere Panzerfallen als unsere maroden Brücken kann es doch gar nicht geben. Rechnen Sie mit! Was kostet es allein an Sprengstoff, um die gerade erst renovierten Brücken in die Luft zu jagen, um dem Iwan den Überfall zu erschweren? Das wird teuer, sehr teuer, und die vielen Milliarden, die in die Behebung der Brückenmängel gesteckt wurden, kann man auch abschreiben. Also manchmal fehlt es diesen Militärpolitikern einfach an der strategischen Weitsicht und der Erkenntnis, daß eine gewisse Vulnerabilität von Vorteil sein kann. Ach, ja, da könnte man lange lamentieren, aber wir wollen dennoch freudig nach vorn schauen und dem russischen Präsidenten auf den Knien danken, daß er die Ukraine überfallen hat. Ein Gottesgeschenk aus rüstungswirtschaftlicher Perspektive. Dann aber auch, weil der Krieg sich so hinzieht, das ist rüstungswirtschaftlich immer von größerem Vorteil als wenn die ganze Angelegenheit in ein paar Wochen erledigt wird. Man hat zwar früher gern vom »Blitzkrieg« geredet, aber aus waffenwirtschaftlicher Sicht ist das nicht zu begrüßen, und deshalb gefällt mir die Strategie der Russen auch besser, so ganz gemächlich die Ukraine mit nicht nachlassenden Nadelstichen zu bekriegen. Da springt kriegswirtschaftlich gesehen einfach mehr heraus. Man probiert verschiedene Waffensysteme, praktisch unter Laborbedingungen aus, und dennoch handelt es sich nicht um Laborbedingungen, es ist wirklich Krieg und bedauerlicherweise sterben dabei auch Menschen. Wenn ich auf diesen Konferenzen mit den Vertretern der Staaten plaudere, löcke ich manchmal aus Daffke wider den Stachel. Dann sage ich zu denen: Also wissen Sie, Kant hat einmal gesagt: »Für nichts als den Krieg hat der Staat Geld.« Da müssen Sie mal deren Gesichter sehen! Großartig! Wie sich die Hautfarbe verfärbt, ins Grünlich-Bläuliche changiert. Diese Sekunden des Schocks und des Entsetzens koste ich immer voll aus. Ach, ehe ich es vergesse, ich hatte dann auch noch eine interessante Unterredung mit dem Generalinspekteur der Bundeswehr, also einem ganz hohen Tier. Aufgrund meiner Stellung als Waffendealer bin ich es aber gewöhnt, daß von mir ausgehende Einladungen zu einem Gespräch kaum verweigert werden. Das können die sich auch gar nicht leisten. Tja, er antwortete mir also auf meine Frage, ob wir in einem Krieg gegen russische Drohnen überhaupt verteidigungsfähig seien: »Wenn Sie allerdings fragen, ob wir uns in einem großmaßstäblichen Krieg auch gegen Drohnen ausreichend verteidigen könnten, würde ich Ihnen sagen, daß wir das derzeit nicht können.« Für den Generalinspekteur ist der Abschreckungsgedanke die leitende Idee. »Wir müssen damit rechnen, daß Rußland ab 2029 in der Lage ist, einen großmaßstäblichen Angriff gegen NATO-Territorium zu wagen. Um das zu verhindern, müssen wir abschrecken. Wir müssen genau so stark sein, daß es einem Gegner gar nicht erst in den Sinn kommt, uns anzugreifen. Wir wollen abschrecken und damit einen Krieg verhindern.« Ja, die Abschreckung, es ist doch ein zu schöner Gedanke, den man immer wieder aufgreift und darauf hofft, daß er seine Wirkung zeigt. Glauben Sie daran? Im Vertrauen gesagt, ich nicht. Aber das muß ich auch gar nicht. Die Hauptsache ist doch, daß unsere Abnehmer daran glauben oder zumindest der Öffentlichkeit einzureden versuchen, daß Abschreckung die beste Verteidigung ist. Und die läßt man sich denn auch schon etwas kosten. Mir kommt’s entgegen, ich habe keine Einwände. So, ich habe mir nun doch einen Appetit angeredet. Ich glaube, ich habe im Frigidaire noch eine Flasche Krug stehen, und dazu werde ich mir eine Scheibe Bauernbrot mit Bauernleberwurst machen. Wissen Sie, auf diesen Rüstungskonferenzen wird man jetzt ständig mit diesem Beluga-Kaviar abgefüttert. Das ist doch inzwischen ein Arme-Leute-Essen geworden. Gehen Sie mir los! Ich brauch’ das nicht. Aber eine Scheibe Bauernbrot mit einem feinen Leberwurstaufstrich und dazu dann ein Glas Krug-Champagner, also da kommt eine Stimmung auf. (Steht auf und geht auf die Treppe zu, die in den unteren Schiffsraum führt. Man hört die letzte Strophe des Protestsongs von Bob Dylan, ›Masters of War‹, aus dem Jahre 1963): And I hope that you die / And your death’ll come soon / I will follow your casket / In the pale afternoon / And I’ll watch while you’re lowered / Down to your deathbed / And I’ll stand o’er your grave / ’Til I’m sure that you’re dead.
Neue Gespräche im Elysium XXII
Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.
Ernst-Dieter Lueg meets Kurt Schwitters
Herbert Wehner: Ich weiß nichts, und Sie wissen nichts, Herr Lüg.
Ernst-Dieter Lueg: Vielen Dank für diese Zwischenkommentierung, Herr Woehner. (3. Oktober 1976)
Ernst-Dieter Lueg: (spricht sotto voce bei ausgeschaltetem Mikrophon, während im Hintergrund auf einem riesigen Bildschirm ein Wahlspot der CDU läuft, in der der CDU-Politiker Friedrich Merz sagt: »Es lohnt sich wieder, fleißig zu sein und anzupacken. Lass uns das machen, Deutschland … Damit wir wieder stolz sein können auf unser Land.« Danach folgt die Zeile: »Friedrich Merz. Kannzler für Deutschland« [Ja, bei der CDU heißt der Kanzler der Kannzler, weil es vom Können kommt]): Hören Sie, Herr Schwitters, wir hatten das doch schon in der Vorbesprechung vereinbart, daß Sie sich das Buch des Herrn Merz, ›Mehr Kapitalismus wagen‹, vornehmen und in der laufenden Sendung ›vermerzen‹, also in das von Ihnen erfundene Format MERZ bringen. Wir hatten einen Deal. Wenn Sie sich jetzt plötzlich weigern, das zu tun, weil Sie meinen, der Künstler dürfe sich nicht ins Politische einmischen, dann müssen wir auf die andere Variante zurückkommen und Sie verpflichten sich, den Intendanten zu porträtieren, so wie Sie das ja während Ihrer Zeit als Emigrant in England praktiziert haben, als Sie fotogetreue Gemälde von britischen Offizieren und Sergeanten gemalt haben, um sich damit über Wasser zu halten. Und im Falle unseres Intendanten müssen Sie dann ja auch nicht wie bei den Offizieren die Rangzeichen am Uniformkragen abmalen, weil unser Intendant über solche als normaler Zivilist nicht verfügt. Das ist jetzt ganz und gar Ihre Entscheidung.
Kurt Schwitters: Die Verantwortung des Künstlers gilt nur der Kunst. Der Abfall der Welt ist meine Kunst. Ich nannte meine neue Gestaltung mit prinzipiell jedem Material MERZ. Das ist die 2te Silbe von Kommerz. Es entstand beim Merz-Bild, einem Bilde, auf dem unter abstrakten Formen das Wort MERZ stand, aufgeklebt und ausgeschnitten aus einer Anzeige einer Bank, in der das Wort COMMERZ vorkam. So nannte ich ein Bild mit dem Worte MERZ das MERZ-Bild. Mir war damals auch das Kompositum ›Merzvieh‹ bekannt, also ausgesondertes Vieh, das man als abgängig oder überzählig aus den Herden aussondert und verkauft, aus Altersgründen oder weil es keinen Zweck mehr erfüllt. Damit zusammenhängend dann auch das Wort ›Ausmerze‹, das während der NS-Zeit eine fürchterliche Bedeutung angenommen hat. Das Wort MERZ hatte keine Bedeutung, als ich es formte. Jetzt hat es die Bedeutung, die ich ihm beigelegt habe. MERZ heißt Auswählen, Kombinieren, Montieren von Materialien, sowohl ganz gegenständliche wie immaterielle, also Worte. Ich habe daher Banalitäten vermerzt, ein Kunstwerk aus Gegenüberstellung und Wertung an sich banaler Sätze gemacht. Die Bedeutung des Begriffs MERZ ändert sich mit der Änderung der Erkenntnis derjenigen, die im Sinne des Begriffs weiterarbeiten. MERZ ist Konsequenz. MERZ bedeutet Beziehungen schaffen, am liebsten zwischen allen Dingen der Welt. Für mich ist MERZ Weltanschauung geworden, ich kann meinen Standpunkt nicht mehr wechseln, mein Standpunkt ist MERZ. Jetzt nenne ich mich selbst MERZ.
Ernst-Dieter Lueg: Wußten Sie, daß bereits seit 1908 das von einem Friedrich Merz gegründete pharmazeutische Unternehmen ›Merz‹ existierte? Die Firma brachte 1911 das Verhütungsmittel ›Patentex‹ auf den Markt. Es ist doch fabelhaft, wenn Sie bedenken, daß wir bald einen Bundeskanzler haben werden, der Merz heißt. Was ergeben sich da für künstlerische Möglichkeiten für Sie!
Kurt Schwitters: Ich habe ausgemerzt. Wir beide haben ausgemerzt, wir sind Schattengestalten, also was wollen Sie eigentlich von mir?
Ernst-Dieter Lueg: Sie haben 1919 die M.P.D gegründet, die MERZ-Partei Deutschland. Mit Aufrufen in Tageszeitungen haben Sie die Wähler aufgefordert: ›WÄHLT ANNA BLUME/M.P.D.‹
Kurt Schwitters: Ich war das einzige Mitglied dieser Partei. Das war eine künstlerische Aktion, mit der ich jede Partei negiert habe. Ich arbeite mit Abfall. Auch eine Partei oder ein Politiker sind Abfall der Zivilisation. Auch hier gilt das Prinzip Produzieren, Kaufen, Benutzen, Wegwerfen. Die Bilder Merzmalerei sind abstrakte Kunstwerke. Das Wort MERZ bedeutet wesentlich die Zusammenfassung aller erdenklichen Materialien für künstlerische Zwecke und technisch die prinzipiell gleiche Wertung der einzelnen Materialien. Die MERZmalerei bedient sich also nicht nur der Farbe und der Leinwand, des Pinsels und der Palette, sondern aller vom Auge wahrnehmbaren Materialien und aller erforderlichen Werkzeuge. Dabei ist es unwesentlich, ob die verwendeten Materialien schon für irgend welchen Zweck geformt waren oder nicht. Das Kinderwagenrad, das Drahtnetz, der Bindfaden und die Watte sind der Farbe gleichberechtigte Faktoren. Das Material ist so unwesentlich, wie ich selbst. Wesentlich ist das Formen. Weil das Material unwesentlich ist, nehme ich jedes beliebige Material, wenn es das Bild verlangt. Das Kunstwerk gestaltet sich nur aus seinen Mitteln. Alles stimmt, aber auch das Gegenteil.
Ernst-Dieter Lueg: Alles schön und gut, aber wir sind gleich auf Sendung. Also, Herr Schwitters, wie steht es, machen wir das nun?
Kurt Schwitters: Ehe ich den Indentendanten in Öl abmale, steige ich dann doch lieber in den Ring. Also gut, legen wir los.
Ernst-Dieter Lueg: Wunderbar. (Schaltet das die ganze Zeit in seiner Hand liegende Mikrophon an und wechselt in einen offiziellen Medienübertragungston): Guten Abend, meine Damen und Herren, herzlich willkommen zu ›ELY-TV‹, dem Sender aus der Unterwelt, wo die Zuschauer alles Wissenswerte aus der Oberwelt erfahren können. Mit MERZ bezeichnete Kurt Schwitters eine künstlerische Collage-Technik, mit der er Zeitungsausschnitte, Reklameanzeigen und Abfall von der Straße zusammenband. Merz ist der Nachname des kommenden Bundeskanzlers Friedrich Merz. Neben mir steht der berühmte deutsche Künstler Kurt Schwitters, der gleich aus dem Buch ›Mehr Kapitalismus wagen‹, das unser neuer Bundeskanzler Friedrich Merz vor siebzehn Jahren geschrieben hat, vortragen wird. Doch das wird keine gewöhnliche Rezitation werden, keine bloße Buchlesung, nein, meine Damen und Herren, der auch unter dem Künstlernamen MERZ bekannte Artist Kurt Schwitters wird das Werk auf neuartige Weise wiedergeben, in einer Lesart, wie es bisher keiner der Leser dieses Buches gelesen hat. Darf ich bitten, Herr Schwitters!
Kurt Schwitters: Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Meine MERZ-Kunst verarbeitet grundsätzlich alles und wertet das dann gegeneinander, Sinn gegen Unsinn. Ich werte Sinn gegen Unsinn. Den Unsinn bevorzuge ich, aber das ist eine rein persönliche Angelegenheit. Mir tut der Unsinn leid, daß er bislang so selten künstlerisch geformt wurde, deshalb liebe ich Unsinn. Ich habe hier einen Gegenstand, das Buch ›Mehr Kapitalismus wagen‹ des Politikers Friedrich Merz von der ›Christlich-demokratischen Union‹. Verwechseln Sie das, was nun folgt, nicht mit dem Dadaismus. Während Dadaismus Gegensätze nur zeigt, gleicht MERZ Gegensätze durch Wertung innerhalb eines Kunstwerks aus. Die Gestaltung erfolgt aus jedem Material. Dada war gegen Kunst, aber MERZ ist absolut und uneingeschränkt und vierundzwanzig Stunden am Tag FÜR Kunst. MERZ wertet den Abfall der Welt auf. Moholy, Mondrian und Malewitsch. Wir leben im Zeitalter des M, siehe MERZ. MERZ ist – Merz. Aber: Armes Deutschland! – Wenns nur Merz hat! Banalität ist jeden Bürgers Zier. Das Bürgertum ist aller Bürger Anfang. MERZ steht allen offen, den Idioten wie den Genies. Auch ich bin ein Idiot, und ich kann es beweisen. (Wird von Ernst-Dieter Lueg unterbrochen, der ihm zuraunt): Bitte, Herr Schwitters, kommen Sie doch zum Thema des Abends! (Schwitters läßt sich nicht beirren und fährt fort zu deklamieren): Haben Sie die interessanten Aufschriften auf Eisenbahnstellwerken gesehen, die immer so interessant wirken, weil man ihren Sinn nicht versteht? Kennen Sie meine Sciencefiction-Parabel ›Der grüne Globus‹? Mit großer Geschwindigkeit rast ein Himmelskörper auf die Erde zu. In immer kürzer werdenden Abständen erscheinen Sonderausgaben der Zeitungen zum bevorstehenden Weltuntergang. Die drohende Katastrophe führt zur Einigung aller politischen Parteien. Schließlich gleitet der Komet an der Erde vorbei. Ein Zusammenstoß, bei dem es nicht zum Zusammenstoß kommt! Ich habe hier die Porträts von Hitler und Goebbels (hebt beide Hände und tut so, als halte er zwei Gemälde in die Luft) Gut, hier sind sie, Leute, wollen wir sie aufhängen oder an die Wand stellen? Haben Sie meinen Text ›Aus dem Lande des Irrsinns‹ gelesen? Nein? Ist es eigentlich nötig, von einen Land des Irrsinns zu sprechen? wird der aufmerksame Leser sicherlich fragen, denn jeder weiß, daß wir in einer Welt des Irrsinns leben. Oder sollte es wirklich noch Leute geben, denen dieser Grundsatz nicht klar ist? (Ernst-Dieter Lueg schaut mit verzweifeltem Gesichtsausdruck auf Schwitters, sagt aber nichts; Schwitters ergreift das Merz-Buch und beginnt tatsächlich mit der vermerzten Lesung):
MERZ: Wenn aber schon eine große Koalition in Deutschland zur Lösung der Probleme nicht in der Lage ist? Diese Party ist jetzt vorbei. Die Deutschen sollten den Kapitalismus verstehen, damit er gerettet werden kann. Und retten müssen wir den Kapitalismus, denn ohne Kapitalismus gibt es keinen Sozialstaat. Die globale Lage wird politisch und ökonomisch instabiler. Die Party ist jetzt vorbei. Wenn die großen Weichen falsch gestellt sind, läßt sich zwar im Kleinen manches verbessern. Jeder Bürger soll seine Zukunft in die eigenen Hände nehmen. Wie kann man von unserer Wirtschaftsordnung als ›Kapitalismus‹ reden? Wir sprechen seit jeher — politisch korrekter – von ›Sozialer Marktwirtschaft‹. Mit großem »S«. Ursprünglich war das Adjektiv »sozial« für das Konzept der Marktwirtschaft nicht vorgesehen. Ihr Kern ist und bleibt der Wettbewerb im Markt. Die Akzeptanz der Marktwirtschaft in der Bevölkerung ist in den letzten Jahren erkennbar gesunken. Den Befürwortern von Freiheit und Eigenverantwortung fehlt das Selbstbewußtsein und die visionäre Kraft, sie einzufordern. Die Marktwirtschaft im Alltag erklärt sich nicht von selbst. Unternehmer kommen in deutschen Schulbüchern schlecht weg. Das ist ein Skandal. Politik und Wirtschaft müssen mit den richtigen Argumenten für die Marktwirtschaft werben. Die Globalisierung hat Vorteile für uns alle. Es kommt heute nicht mehr darauf an, welche Krawatte ein Politiker trägt. Die Welt um uns herum wird noch kapitalistischer werden! Die Welt wartet nicht auf Deutschland. Wir müssen uns alle wieder ein wenig mehr anstrengen und werden wieder mehr arbeiten müssen. Den Sozialpolitikern aller Parteien fällt es schwer, ihren Fürsorgedrang zu bändigen. Wenn der freie Mensch in den Tag hinein lebt. Niemals bindungs- und beziehungslos. Warum die Marktwirtschaft aus sich selbst heraus sozial ist. Gut, daß wir nun auch in Deutschland ›Heuschrecken‹ haben! Macht und Gewinnstreben sind Teil der menschlichen Natur. Was in der Demokratie die Wähler, das sind in der Wirtschaft die Kunden. Auf den deutschen Mittelstand können wir wirklich stolz sein. Seit jeher sind viele Deutschen anfällig für die Thesen ihres großen Sohns aus Trier. Auf fruchtbaren Boden fallen. Diese Party ist jetzt vorbei.
Wozu brauchen wir Politiker? Eine Nachlese zur Bundestagswahl
Jede Wahl beginnt mit einem Durcheinander. (Honoré de Balzac: Die Volksvertreter, 1854)
Dr. Anneliese Sendler: Ja, einen schönen guten Abend, meine lieben Zuschauer. Wir haben heute einen ganz besonderen Leckerbissen für Sie vorbereitet. Die Vertreter von drei philosophischen Vereinigungen werden sich zum Ausgang der eben stattgefundenen Bundestagswahl äußern. Der Titel der Sendung heißt: ›Wozu brauchen wir Politiker?‹ Mein Redakteur hat sich diesen Titel ausgedacht, in Anlehnung an den Song ›War, what is it good for?‹ aus dem Jahre 1969 von Norman Whitfield und Barrett Strong. Die Antwort auf diese Frage lautet: Absolutely nothing. Ja, wozu sind unsere Politiker eigentlich gut, brauchen wir sie überhaupt? Schließlich gab und gibt es Stimmen, die sagen: Die Politik wird doch ohnehin von den mächtigen Konzernen gemacht, die allein bestimmen, was entschieden wird, und die Politiker sind nur korruptionsanfällige Handlanger der Industrie. Da nun zwar nicht das Thema, aber doch die Vertreter der heutigen Diskussionsrunde eher etwas für die intellektuelle Minorität in unserem Lande sind, hat sich der Sender entschlossen, unser politisch-philosophisches Vierer-Runden-Gespräch erst nach Mitternacht zu senden, damit die arbeitende Bevölkerung nicht von ihren beliebten Unterhaltungssendungen am frühen Abend getrennt wird. Ich darf dann mal schnell die drei Gesprächsteilnehmer vorstellen. Da haben wir zunächst Herrn Dr. Christoph Stadler vom ›Luhmann-Lesen!-Freundeskreis‹. Herzlich willkommen! (Der Begrüßte nickt kurz mit dem Kopf, sagt aber nichts.) Dann gleich neben ihm haben wir, direkt aus Wien kommend: Dr. Katharina Gruber vom ›Fackel-Forschungszentrum‹. (Die Eingeladene neigt sacht den Kopf, sagt aber nichts.) Für diejenigen unter unseren Zuschauern, die mit dem Namen ›Fackel‹ nichts anfangen können: Das ist der Name der berühmten Zeitschrift, die der Wiener Schriftsteller Karl Kraus fast ganz allein geschrieben hat und die zwischen 1899 und 1936 erschienen ist. So! Und last but not least: Dr. Jürgen Wollseif, der Erster Vorsitzender der ›Nietzsche-Studiengruppe‹ ist. Nun aber zum heutigen Thema. Herr Stadler, bitte geben Sie doch ihr erstes Statement ab.
Dr. Christoph Stadler (Luhmann-Lesen!-Freundeskreis): Im klassischen Verständnis politischer Demokratie steht die politische Wahl im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie soll die Herrschaft des Volkes über sich selbst gewährleisten. Zwar nicht unmittelbar als Selbstbeherrschung, als potestas in seipsum, wohl aber indirekt in der Form der Wahl von Repräsentanten, die, so nimmt man an, den Willen des Volkes erahnen und durchzusetzen versuchen, weil sie anderenfalls nicht wiedergewählt werden würden.
Dr. Jürgen Wollseif (Nietzsche-Studiengruppe): Erahnen! Welcher sich zur Wahl stellende Politiker erahnt denn schon den ›Volkswillen‹? Mal ganz abgesehen davon, was soll dieses sprachliche Ungetüm eigentlich bedeuten? ›Volkswille‹! Die politischen Parteien bezahlen Meinungsforscher, die uns einzureden versuchen, was gerade als Thema besonders vorteilhaft für die Wiederwahl in der öffentlichen Meinung erscheint.
Dr. Christoph Stadler (Luhmann-Lesen!-Freundeskreis): Im übrigen muß man fragen, ob es einen solchen Volkswillen überhaupt gibt, oder ob es sich nur um ein semantisches Korrelat der Inszenierung politischer Wahlen handelt. Das würde die politische Wahl in die Nähe von funktionalen Äquivalenten wie Fahnen, Paraden, architektonisch ausgezeichneten Gebäuden bringen.
Dr. Jürgen Wollseif (Nietzsche-Studiengruppe): Das klingt schon besser. Da stimme ich Ihnen zu.
Dr. Christoph Stadler (Luhmann-Lesen!-Freundeskreis): Auch ist schwer zu sehen, wie die zur Wahl gestellten Parteien und Parteiprogramme eine zugrundeliegende Interessenlage repräsentieren könnten. Es ist die Funktion der regelmäßig zu wiederholenden politischen Wahl, die Politik mit einer für sie unbekannten Zukunft zu konfrontieren. Aber es gibt, schon wegen der Vielfalt der Themen und Interessen, keinen sicheren Schluß von Machtausübung auf Machterhaltung oder von Machtkritik auf Machtgewinn. Die Institutionalisierung politischer Wahl garantiert dem System eine im System selbst erzeugte Ungewißheit. Was wir ›Demokratie‹ nennen und auf die Einrichtung politischer Wahlen zurückführen, ist demnach nichts anderes als die Vollendung der Ausdifferenzierung eines politischen Systems. Durch die Einrichtung regelmäßiger Wahlen erzeugt das System eine relativ kurzfristige Unsicherheit.
Dr. Anneliese Sendler: Ja, vielen Dank, Herr Doktor Stadler, damit haben Sie sehr schön die Grundlinien unserer Diskussion festgelegt. Was sagt denn nun die Karl Kraus-Expertin zu diesen Befunden?
Dr. Katharina Gruber (Fackel-Forschungszentrum): Nun ja, da darf ich meinen Beitrag vielleicht mit einem Zitat aus einem Text von Karl Kraus aus dem Jahre 1908 einleiten: »Mein Verhältnis zur Politik drückt sich etwa in dem Dialog aus, den ich neulich führte: ›Wer wird Handelsminister?‹ ›Der jetzige bleibt‹. ›Aha‹, rief ich überrascht und setzte nach einer Pause hinzu: ›Wer ist denn der jetzige‹?« (Großes Gelächter in der Runde.) Halt, warten Sie, es geht ja noch weiter: »Was mich in der Politik immer wieder anzieht und beschäftigt, ist die Tatsache, daß es Politik gibt. Der Berufspolitiker ist eine durchaus plausible Erscheinung, um so mehr als er immer nur auf Kosten jener gewinnt, die nicht mitspielen. Politik ist Bühnenwirkung.«
Dr. Jürgen Wollseif (Nietzsche-Studiengruppe): Jedes Mal, wenn der Mensch anfängt zu entdecken, inwiefern er eine Rolle spielt und inwieweit er Schauspieler sein kann, wird er Schauspieler, sagt Nietzsche. Die Demokratie bringt Schauspieler hervor, die bestimmte Werte und Ideale vertreten, aber nicht unbedingt auch verkörpern können. Der Demokrat ist der »Gott der großen Zahl«. Und: »Überall geht das Mittelmäßige zusammen, um sich zum Herrn zu machen.«
Dr. Christoph Stadler (Luhmann-Lesen!-Freundeskreis): Wenn ich hier anschließen darf? Luhmann hat in einem Beitrag von 1993 mit dem Titel ›Die Ehrlichkeit der Politiker und die höhere Amoralität der Politik‹ sich zu diesem Thema geäußert. Müssen, sollen oder können Politiker ehrlich sein? Entscheidend dabei ist die Frage, ob sie es können. Seit dem 17. Jahrhundert ist es geläufig, daß man eigene Ehrlichkeit oder Aufrichtigkeit nicht kommunizieren kann. Wer sagen würde: Ich bin ehrlich, würde zugleich mitteilen, daß Zweifel bestehen. Wenn Nixon sagt: I am not a crook, Ich bin kein Betrüger, so schwingt eben doch das Gefühl dabei mit, daß diese Art von Beteuerung ihm nichts nutzt und er sich erst recht unter Verdacht stellt. In Wahlkampfzeiten beobachtet man das Phänomen, daß es zu einer »Kultur der wechselseitigen Beleidigungen« kommt, und Luhmann erwähnt einen Vergleich aus E.T.A. Hoffmanns ›Prinzessin Brambilla‹: Zwei Löwen gehen mit solchem Grimm aufeinander los, daß am Ende nichts von ihnen übrigbleibt als die beiden Schweife. Aber, fragt Luhmann, »wer hätte ein Interesse daran, zwischen zwei Schweifen zu wählen?« (Großes Gelächter in der Runde.) Es sind letztlich politische Konstellationen, die den Ausschlag geben in der Frage, ob und mit welchen Spezialfunktionen die Politik auf Moral zurückgreift. Und insofern sind dann Politiker in der Tat auch in ihrer moralischen Selbstdarstellung Opfer der Macht.
Dr. Anneliese Sendler: Vielen Dank für diese interessanten Ausführungen, Herr Dr. Stadler. Was sagt die Fackel-Spezialistin denn dazu?
Dr. Katharina Gruber (Fackel-Forschungszentrum): Dann lese ich Ihnen einmal einen Aphorismus von Kraus über die Politiker seiner Zeit vor: »Die Verworrenheit unserer politische Zustände hat einen großen Vorteil; sie erleichtert die Beurteilung der führenden Männer. Unter minder schwierigen Umständen konnte sich ein Minister jahrelang der Feststellung seines Wertes entziehen. Selbst der Geschichte fehlen die Anhaltspunkte zur Beurteilung einzelner Staatsmänner. Aber dieses historische Dämmerlicht ist vorüber. Heute ist die Beleuchtung so grell, daß man die Umrisse politischer Unfähigkeit weithin erkennt. Unsere Zeit richtet jeden Minister binnen ein paar Tagen – standrechtlich. Auch auf die Abstufungen der Mittelmäßigkeit läßt sie sich nicht mehr ein.«
Dr. Anneliese Sendler: Mmh…, das ist wieder so hübsch paradox, wie man das von Kraus gewohnt ist.
Dr. Katharina Gruber (Fackel-Forschungszentrum): Wenn ich das noch weiter ausführen dürfte? Kraus konstatiert, sollte es keine Politik und damit keine Politiker mehr geben, »so hätte der Bürger bloß sein Innenleben, also nichts, was ihn erfüllen könnte. Spannungen kann ihm nur der Rohstoff des Lebens bieten. Wer außer den Politikern beklagt denn die Dummheiten in der Politik? Daß es Politik gibt, ist erheblich. Daß sich die Menschheit keinen besseren Zeitvertreib weiß, als auf der Lauer ihrer Spannungen zu liegen.« Mit solchem »Völkerspielzeug, wie es die Politik ist«, gebe er sich nicht ab. Politik ist das, was man macht, um nicht zu zeigen, was man ist, und was man selbst nicht weiß. Politik ist Tonfall, losgelöst von Sinn und Gefühl. Das Verhängnis aller Politik ist der Ausfall an Phantasie. Und damit hier auch ein Beitrag zur Frage, ob man Politiker braucht, gegeben wird, diesen Aphorismus hier: »Der Parlamentarismus ist die Kasernierung der politischen Prostitution.« Warum Prostitution? Nun, für Kraus waren die Wiener Huren bedeutende Geschöpfe, bedeutender und lebenswichtiger als die Wiener Journalisten, denn im Gegensatz zur Presse konnten die Huren einen lebensnotwendigen Dienst anbieten und es gab auch einen reellen Gegenwert für das Geld, während die Journalisten mit ihren Artikeln meist kein verwendbares Gut lieferten, sondern nur Phrasen und Mißinformation. Deshalb schätzte Kraus die Prostitution als höherwertiger ein als die Leistungen der Presse, und das galt dann auch für das politische Pendant zur Figur des Journalisten, des Politikers, der mit seinen Wahlreden nur Versprechungen ausgab, von denen man von vornherein wußte, daß er sie nicht zu erfüllen verstand. Prostitution leitet sich von dem lateinischen Wort prostituere ab, das heißt: zur Schau stellen, preisgeben. Genau das macht der Politiker und deshalb ist eine gewählte Versammlung von Politikern im Parlament die Kasernierung der politischen Prostitution.
Dr. Christoph Stadler (Luhmann-Lesen!-Freundeskreis): Lassen Sie mich das Ganze doch ein bißchen versachlichen und uns damit wieder auf das Thema des Abends zurückbringen. Als ›Politik‹ kann man jede Kommunikation bezeichnen, die dazu dient, kollektiv bindende Entscheidungen durch Testen und Verdichten ihrer Konsenschancen vorzubereiten. Für Politik ist also Organisation erforderlich, weil man Kommunikationen sozialen Systemen zurechnen muß. In der politischen Wahl versuchen Politiker, das Volk zu überreden, sie zu wählen. Viel Sorgfalt wird auf eine günstige Präsentation der politischen Programme gelegt, und starke moralische Akzente dienen dazu, zu insinuieren, daß nur bei bestimmten Politiken Einverständnis und Motivation im Sinne des Guten-und-Richtigen zu erreichen sei. Natürlich durchschauen viele, wenn nicht alle, das Spiel, aber das System ist gegen das Durchschautwerden immun, weil es auf dieser Ebene keine Alternativen anbietet. Dem Volk bleibt als viel genutzte Alternative zu den angebotenen Alternativen die Resignation. Und eben deshalb kommt es für die ›Zukunft der Demokratie‹ vor allem darauf an, wie und worin sich die Alternativen unterscheiden, die angeboten werden.
Dr. Jürgen Wollseif (Nietzsche-Studiengruppe): Aber das ist doch gerade das Problem, daß es keine Alternativen mehr gibt und daß wir sogar politische Zustände haben, wo eine Partei sich mit dem Wort ›Alternative‹ schmückt, wo doch offenkundig es sich bei deren politischem Programm um keine Alternative handelt, sondern um eine Kopie eines Programms aus den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhundert und dieses ›Programm‹ die Handlungsanweisung für den Zweiten Weltkrieg gewesen ist.
Dr. Christoph Stadler (Luhmann-Lesen!-Freundeskreis): Sie berühren hier das Problem der öffentlichen Meinung, denn Parteien, die auf sich aufmerksam machen wollen, und das müssen alle Parteien gleich welcher Richtung, suchen sich öffentlichkeitswirksame Themen aus, die sie aber zusätzlich noch mit einem Drall ausstatten, der unweigerlich dazu führt, daß die Massenmedien diesen aufgreifen, ja aufgreifen müssen, weil Massenmedien darauf angewiesen sind, ständig neu zu aktualisieren und alles, was vom normativen öffentlichen Konsens abweicht, geradezu zwanghaft verarbeiten müssen. Luhmann sagt: »Die öffentliche Meinung ist ein Medium der Meinungsbildung. Sie ist der Heilige Geist des Systems. Sie ist das, was als öffentliche Meinung beobachtet und beschrieben wird. Man kann sie als einen durch die öffentliche Kommunikation selbsterzeugten Schein ansehen, als eine Art Spiegel, in dem die Kommunikation sich selber spiegelt. Die öffentliche Meinung ist daher nicht etwas, was irgendwo anders auch noch vorkommt. Sie ist die autistische Welt der Politik selbst.«
Dr. Anneliese Sendler: Was für ein schönes und zugleich düsteres Schlußwort! Vielen Dank, meine Dame, meine Herren, für ihre tiefschürfenden Beiträge. Ein Resümee? Schwierig. Ist Autismus heilbar? Ich fürchte nicht.
Zum Ausgang der Bundestagswahl am 23. Februar 2025
Beim Regierungswechsel gehen die einen satt von dannen, und die anderen drängen hungrig an die Krippe. (Edmund Rehwinkel, 1977)
Der geheime Sinn aller Weltveränderungen lautet: »Steh Du auf und laß mich an die Schüssel.« (Theodor Lessing, 1924)
Zur Amtseinführung des 47. amerikanischen Präsidenten am 20. Januar 2025
Nirgends bilden die ›Politiker‹ eine abgesondertere und mächtigere Abteilung der Nation als grade in Nordamerika. Hier wird jede der beiden großen Parteien, denen die Herrschaft abwechselnd zufällt, selbst wieder regiert von Leuten, die aus der Politik ein Geschäft machen, die auf Sitze in den gesetzgebenden Versammlungen des Bundes wie der Einzelstaaten spekulieren oder die von der Agitation für ihre Partei leben und nach deren Sieg durch Stellen belohnt werden. Es ist bekannt, wie die Amerikaner seit 30 Jahren [seit 1861] versuchen, dies unerträgliche Joch abzuschütteln, und wie sie trotz alledem immer tiefer in diesen Sumpf der Korruption hineinsinken. Gerade in Amerika können wir am besten sehn, wie diese Verselbständigung der Staatsmacht gegenüber der Gesellschaft, zu deren bloßem Werkzeug sie ursprünglich bestimmt war, vor sich geht. Hier existiert keine Dynastie, kein Adel, kein stehendes Heer, außer den paar Mann zur Bewachung der Indianer, keine Bürokratie mit fester Anstellung oder Pensionsberechtigung. Und dennoch haben wir hier zwei große Banden von politischen Spekulanten, die abwechselnd die Staatsmacht in Besitz nehmen und mit den korruptesten Mitteln und zu den korruptesten Zwecken ausbeuten – und die Nation ist ohnmächtig gegen diese angeblich in ihrem Dienst stehenden, in Wirklichkeit aber sie beherrschenden und plündernden zwei großen Kartelle von Politikern.
Friedrich Engels: Einleitung zu Marx’ ›Bürgerkrieg in Frankreich‹ [1891]. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, (Hg.) H. Merbach, D. Krause, H. Wettengel, R. Merkel, A. Wolf, W. Schulz, R. Sperl, Bd. 22, Berlin 1977, 188–199, (197f.)