Die Überschrift eines Artikels in der ›Süddeutschen Zeitung‹ hat zum Vorbild die BILD-Zeitung:
»Gar nicht wahr. Die Lüge ist zurück. Mit Macht. Als Macht.«
So formulieren Schlagzeilen-Redakteure, die ihrem geistig minderbemittelten Publikum etwas näherbringen wollen.
Wenn der Tennisspieler Becker in ein Londoner Gefängnis muß, weil er zu einem längeren Aufenthalt von einem englischen Gericht dazu verurteilt wurde, würde die BILD-Zeitung diese Pseudonachricht ungefähr so aufmachen:
»Schock! Boris Becker im Knast. Ein Mörder ist sein Zellennachbar.«
Wir erfahren dann in dem Artikel der beiden Reporter: »Die Lüge ist zurück. Mit Macht. Als Macht.« Womit im Text die Schlagzeilen wieder aufgenommen werden, was als rhetorisches Stilmittel wirken soll. Dann geht es weiter: »Eben noch belächelt, verspottet, kopfschüttelnd bestaunt.« Womit die Lüge, genauer: »Die Lüge« gemeint ist. Dann folgt als Zwischenüberschrift in mehrfacher Vergrößerung:
»Im Weltrisikobericht 2025 steht die Desinformation auf Platz eins der größten globalen Risiken. Vor Klimakatastrophen, vor Kriegen.«
Das ist natürlich ein Schock für den Leser, das hätte er nicht gedacht, daß es so schlimm um die Welt steht. Unwidersprochen wird den Autoren des ›Weltrisikoberichts‹ zugestanden, daß Kriege und ökologische Verwüstung der Erde weniger wichtig sind als »Desinformation«. Das mag daran liegen, daß die Leute, die solche Berichte schreiben, ganz im Feld der Information aufgehen und Kommunikation und Information als das Ein und Alles der Welt ansehen.
Einige Absätze weiter liest man dann: »Der Abschied von den Fakten ist der Abschied von der Demokratie.« Damit wird den Fakten ein Status zugeschrieben, den sie auch zu Zeiten der Dominanz der bürgerlichen Presse niemals hatten. Es war sicherlich der Anspruch des heute gern so genannten ›Qualitätsjournalismus‹, nur die Fakten zu bringen und nichts als die Fakten, doch die Produktion einer Zeitung läuft so nicht ab. Obwohl der gewissenhafte Reporter gewiß sich bemühen wird, das Geschehen vor Ort, sagen wir: einen Dachstuhlbrand, genauestens zu beschreiben, auch Augenzeugen zu befragen, so gerinnt ihm sein Artikel doch immer wieder auch zu einer Meinungsäußerung. Das hat Karl Kraus am Beispiel eines Wiener Dachstuhlbrandes anschaulich geschildert. Es gibt keine reinen Fakten, wie hier suggeriert wird. Selbstverständlich gibt es Lügen, die gezielt eingesetzt werden, um zu desorientieren. Aber diese absolute Entgegensetzung von Lüge und Fakten (die unterschwellig mit der Wahrheit, oder gar ›Der Wahrheit‹ gleichgesetzt wird) ist manichäisch.
Richtiggehend apokalyptisch wird es aber, wenn gefragt wird: »Wieviel Zeit bleibt uns?« Man hört da förmlich die Uhr ticken und schaudert vor der dann wohl bald explodierenden Zeitbombe. Im Einjagen von Angst halten die beiden SZ-Reporter mit den Lügen-Verbreitern durchaus mit.
Es geht munter apokalyptisch weiter, wenn ein »Aufdecker« mit dem Spruch zitiert wird, »Womöglich schaufeln wird gerade unser eigenes Grab«. Der »Aufdecker« weiß auch, weshalb das so ist: »Weil wir blind und bequem sind«. Das soll sich aber ändern, denn eine ganze Reihe von Zeugen wird nun aufgerufen, die diese Blindheit und Bequemlichkeit des allgemeinen Publikums fortwischen werden, aber nur, wenn man auf sie hört. Was haben sie uns zu sagen?
Vorerst gar nichts, denn es wird erneut bekräftigt, daß nicht ein tatsächlicher Krieg die Gefahr darstellt, sondern der »Informationsbereich« als der Ort entdeckt wird, »wo der dritte Weltkrieg ist«.
Es werden dann die bekannten Tatsachen über den jetzigen US-Präsidenten wiedergegeben, der nicht auf die Wahrheit schwört, sondern auf die ihm zugute kommende Lüge. Daß er damit an die Macht gekommen ist und dort bleiben will, ist aus seiner Sicht verständlich. Niemand bestreitet das. Es ist ein offenes Geheimnis. Leider lassen die Wahlgesetze der USA und anderer westlicher Demokratien es nicht zu, ihn aus dem Amt zu entfernen, zumal er trotz der erheblichen kriminellen Energie es bisher immer noch erreicht hat, daß alle Strafverfahren gegen ihn entweder eingestellt oder nicht weiter verfolgt wurden. Der junge Mann, der vor der Wahl ihn am Ohr getroffen hat statt, wie wohl ursprünglich beabsichtigt, in den Kopf, hat dies nicht verhindern können.
Es werden dann einige nützliche Abwehrmaßnahmen erwähnt, die den weltweiten Unfug entweder einschränken oder löschen. Das ist erfreulich. Das aus der Natur bekannte Prinzip, womit man das, was schädlich ist, mit ebendiesem Schädlichen auch bekämpfen kann (ein Programm, »das mit KI erkennt, wenn Texte durch KI verändert wurden«). Das kennt man am Beispiel des so genannten ›Wettrüstens‹ schon lange, so wie Polizei und Verbrecher in einem ständigen, nie zu beendenden Wettkampf sich befinden.
Dann folgt eine starke Behauptung: »Europas Bürger stecken alle fest in drei, vier fünf großen Plattformen – X, Facebook, Instagram, Youtube, Tiktok –, auf die wir unsere Debatten, unsere Geschäfte und Teile unseres Privatlebens ausgelagert haben.« Dazu müßte man ermitteln, wieviel Prozent dieser europäischen Bürger das tun, was hier ohne weiteres behauptet wird.
Der alarmistische Ton der beiden Reporter wird beibehalten: »Vielleicht noch bedrohlicher: Mit der Entwicklung generativer KI-Systeme wird eine neue Form der Einflussnahme möglich, die nur schwer zu erkennen ist, da sie auf die Nutzer – deren psychologische Profile mithilfe ihrer Social-Media-Aktivitäten längst gesammelt werden – individuell zugeschneidert ist.«
Ja, schön ist das nicht, nur gehen die Reporter von einem Nutzertypus aus, der sich durch ausgesprochene Beschränktheit auszeichnet. Diesen Typus gibt es ganz gewiß, vielleicht sogar in überwiegender Zahl, aber so zu tun, als seien die Benutzer dieser Technologien von vornherein der Propaganda hilflos ausgeliefert, unterschätzt die Fähigkeit zur Differenzierung doch sehr.
Die Kritiker dieser Entwicklungen sind ›Star Wars‹-Fans. Sie streuen gern Zitate aus diesen Filmen in ihre Bewertungen ein. Das kann manchmal sehr aufhellend wirken, in diesem Fall aber wird damit lediglich das manichäische Weltbild gestützt: »Is the dark side getting stronger?« Die beiden Reporter sind sich zusammen mit den von ihnen Interviewten sicher: »Aber die Mächte des Guten müssen sich niemals verloren geben«. Etwas Heroismus muß es schon sein, und zugleich wird damit doch auch bewiesen, daß der Kampf gegen das Böse auch einen sportlichen Reiz haben kann.
Für einen Moment nüchtern geworden, erwähnen die beiden Reporter Jonathan Swift und seinen 1710 erschienen Essay ›Die Kunst der politischen Lüge‹. Es ist alles schon einmal dagewesen, nichts Neues unter der Sonne, aber dann wird diese Sicht gleich wieder aktualisiert, mit einem nicht ganz gelungenen Vergleich: »Nur hat man heute das Gefühl, die Lüge habe Raketentreibstoff getankt.« Und schon sind wir wieder in einer Episode von ›Star Wars‹, der Art von Unterhaltung, die sowohl Reporter wie die Kämpfer gegen die Desinformation als private Entspannungsübung bevorzugen.
ACHTUNG! Der Fließtext wird aufgelockert durch eine aufgeblähte Zwischenüberschrift:
»Der ›Volksverpetzer‹, mit der auffälligste Faktenchecker und Anti-AfD-Blogger in Deutschland, hat heute 700 000 Follower auf Instagram.«
Dieser dem allgemeinen Informationswohl verpflichtete junge Mann, der so typisiert wird: »Cargopants, Sneaker, Typ fröhlicher Student« — Was will er? »›Werbung für die Wahrheit‹ will er machen, so heißt das Buch, mit dem er es vergangenes Jahr auf die Bestsellerlisten schaffte.« Mit dieser erfrischend direkten wahren Information wenden sich die beiden Reporter an die Leser der ›Süddeutschen Zeitung‹, damit sie im Bilde sind und sich das Buch kaufen, das ihnen bei der Bewältigung der bedrohlichen Lage helfen wird. Wie bereits oben ausgeführt, ist ›Die Wahrheit‹ der natürliche Antagonist von ›Die Lüge‹, so daß man mithilfe der Lektüre dieses Bestsellers gleichermaßen der Wahrheit wie der Lüge auf die Schliche kommen kann. »700 000 Follower auf Instagram.« Ja, Wahnsinn. »La vérité est en marche et rien ne l’arrêtera.« (Die Wahrheit ist auf dem Vormarsch und nichts kann sie aufhalten) schrieb Emile Zola in seinem berühmten Aufruf ›J’accuse‹ (1898). Damit nicht genug, der »Typ fröhlicher Student« schaut mal schnell auf das stets bereitliegende Smartphone und ruft begeistert aus: »21 Millionen Aufrufe in den letzten 30 Tagen.« Es kann also doch nicht ganz so schlimm um unsere Welt bestellt sein.
Quelle:
Roman Deininger und Kai Strittmatter: Gar nicht wahr. Die Lüge ist zurück. Mit Macht. Als Macht. Wie sie die Demokratie zerstört – und wer sich dagegenstemmt. Eine Reise an die Front. In Süddeutsche Zeitung, 03.10.2025