Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog
Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.
Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«
Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.
Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.
Fading Civilization. Part Four. Eine apokalyptische Serie
Die Apokalypse hat eine lange Geschichte. Nimmt man sich irgendein Ereignis der Gegenwart vor, so kann man meist ohne Mühe daran ablesen, daß, wie es in gängiger Alltagsrede heißt, »alles den Bach runtergeht«. In dieser Rubrik sollen solche Alltagserscheinungen beleuchtet und interpretiert werden, dabei prüfend, ob nicht doch ein Ende erreicht werden wird und welche Vorteile dies für die Erde dann doch hätte: »Eines ist auf jeden Fall gewiß: der Mensch ist nicht das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen Wissen gestellt hat. Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis diese Dispositionen ins Wanken gerieten, dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« (Michel Foucault: Les mots et les choses, 1966)
Bergrutsch begräbt Dorf
In geistig bankerotten Zeiten wird statt der Anschauungsmünze das Papiergeld der Phrase verausgabt. Wenn statt der Dinge Bilder von anderen Dingen bezogen werden, steht es schlimm genug. Aber wenn diese Bilder auch dort noch gebrauchsfähig sind, wo die Dinge schon bei den Dingen sind, wenn Ufer eine Umschreibung für Ufer und Klippe eine Phrase für Klippe ist — dann ist ein Krieg unvermeidlich!
Karl Kraus: Die Phrase im Krieg. In: Die Fackel, 15. Jg. Nr. 374–375, (8. Mai 1913), 3
Der Zusammenstoß zwischen einer Wirklichkeit und einer Metapher ist immer eine Katastrophe.
Karl Kraus: Der Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt. In: Die Fackel, 30. Jg., Nr. 781–786 (Anfang Juni 1928), 1–9 (5)
In der Schweiz ist durch einen Erdrutsch ein ganzes Dorf vernichtet worden. Dank eines Vorwarndienstes konnten sich die Einwohner vor dem Unglück in Sicherheit bringen. Solche als ›Naturkatastrophen‹ bezeichneten Ereignisse sind in den Teilen der Erde, die mit Bergen ausgestattet sind, keine Seltenheit. Der ›Bergsturz von Goldau‹ im Jahre 1806 gehört zu den schlimmsten Naturkatastrophen. Und wenn es auch eine Vorwarnzeit von dreißig Jahren gab, mit den charakteristischen Anzeichen einer Rißbildung am Berg, offenen Spalten und dem knallenden Reißen gesprengter Wurzeln, so zogen doch damals nur fünf Einwohner aus dem Ort weg. 457 Menschen wurden unter den Geröllmassen begraben, 323 »Stück Vieh« verloren gleichfalls das Leben. Gerade an diesem Fall, der ein tatsächlicher Fall ist, ein Abfall und ein Herabstürzen von Erdmassen inmitten einer unbezähmbaren Naturlandschaft, kann die Phrase, wonach »alles den Bach runtergeht«, anschaulich zeigen, wie vorsichtig man mit solchen Bemerkungen sein sollte. Natürlich kann man diesen Satz ohne weiteres auch auf einen Bergsturz anwenden und dabei glauben, damit sei sogar der Idealfall einer Beschreibung gegeben, denn tatsächlich hat sich ja genau das abgespielt, was der Satz in seiner sowohl sachlichen wie metaphysisch-prophetischen Art zu sagen versucht. Die beiden Zitate aus der ›Fackel‹ versuchen aber den Fall einer Wirklichkeit zu beschreiben, bei der die Metapher zwar vordergründig zu treffen scheint, was der Fall ist (Ludwig Wittgenstein): Genauer: Die Welt ist all das, was der Fall ist, also die Gesamtheit der Tatsachen. Doch wenn versucht wird, einen Bergrutsch in die Kategorie eines Den-Bach-Runtergehen-Falles zu subsumieren, so gerät man in die von Karl Kraus beschriebene Metaphern-Falle. Es sei denn, man will damit beweisen, es könne Verhältnisse im Hochgebirge geben, wo man gezwungen wird einzugestehen, daß nicht alles unternommen wurde, um das Leben des Dorfes und seiner Bewohner zu sichern, es sich also um eine gesellschaftliche Unterlassung handelt und daher dann doch alles den Bach runtergeht, weil die politischen Mächte und Kräfte in diesen entlegenen Gegenden der Welt es vermieden oder unterlassen haben, alles zu tun, damit ein solches Ereignis erst gar nicht stattfinden kann. Der Weisheit letzter Schluß wäre dann allerdings wohl nur ein Ziel: die Evakuierung sämtlicher Einwohner aus Berggebieten und ihre Umsiedlung in bergrutschfreie Lebenszonen. Der Zufall hat es so eingerichtet, daß zugleich mit dieser Schreckensmeldung eine andere Schreckensmeldung zu lesen war, auch sie aus den Bergen kommend: ›Der Vandalismus in den Berghütten nimmt zu‹. Zu Beginn der Hüttensaison hat der ›Deutsche Alpenverein‹ die Öffentlichkeit jetzt darüber unterrichtet, daß erneut ein schwerer Fall von Bergvandalismus vorgekommen ist. Eine der Hütten, die Bergwanderern einen sicheren Ort zur Übernachtung bieten sollen, wurde mit einer in dieser Form noch nicht vorgekommenen Brutalität verwüstet. Der Ofen der Hütte wurde aus seiner Befestigung herausgerissen und vor die Tür geworfen, leere Schnapsflaschen lagen rund um die Hütte verstreut, Fenster wurden zerschlagen. Die Kasse, in die man die Übernachtungsgebühr einwerfen muß, wurde aufgebrochen und geplündert, und, wie es sich für richtige Barbaren gehört, hatten diese überall ihre Körperausscheidungen hinterlassen, vor und in der Hütte. Damit andere Bergwanderer garantiert die Orientierung verlieren, waren die Wegweiser mit Aufklebern unlesbar gemacht worden.
Der Chor in Friedrich Schillers ›Die Braut von Messina. Trauerspiel mit Chören‹ (1803) singt:
Auf den Bergen ist Freiheit! Der Hauch der Grüfte
Steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte;
Die Welt ist vollkommen überall,
Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.
Neue Gespräche im Elysium XXIV
Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.
Für Oskar Ansull, den Freund aus Celler Tagen, zum 75. Geburtstag am 29. Mai 2025
Emile Zola meets Edmund Rehwinkel
Zolas Protagonist ist jedermann, es sind die Menschen, die in labyrinthischen Städten, dumpfen Mietskasernen, überfüllten Stuben, zivilisationslosen Landkaten, verschüchterten Industriedörfern geboren werden, leiden, kämpfen, sich lieben, andere Elende zeugen, zugrundegehen, sterben. Man warf Zola vor, in Schmutz und Abschaum zu wühlen. Zola gebrauchte Worte, die man nie zuvor in der Literatur gekannt hatte, beschrieb Natürlichkeiten, Dinge und Handlungen, die noch nie beschrieben worden waren. Die Entrüstung über ihn war nichts anderes als die Wut des entlarvten Spießers. (Wolfgang Koeppen: Zola und die Moderne, 1974)
Edmund Rehwinkel: Ja, Herr Zola, ich grüße Sie. Da sind wir nun also hier versammelt im Schattenreich, und niemals wäre ich Ihnen im Leben begegnet, denn unsere Lebensläufe sind ja doch zeitlich weit auseinander. Um gleich zur Sache zu kommen: Ich habe Ihren Bauern-Roman ›Die Erde‹, 1888 zuerst erschienen, gelesen und als ehemaliger Bauern-Präsident der deutschen Bauernschaft hat mich das Thema natürlich sehr interessiert.
Emile Zola: Sie erwarten sicher nicht von mir, daß ich schon einmal von Ihnen gehört habe; jedoch habe ich mich immer für Menschen aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen interessiert. Daher sage ich nur: Sehr erfreut, Sie kennenzulernen! Und vielen Dank für Ihr Interesse an meinen Romanen. Welche von denen haben Sie außer der ›Erde‹ denn noch gelesen?
Edmund Rehwinkel: Nur diesen und noch einen anderen, auf den ich gleich kommen werden, entschuldigen Sie, aber ich bin doch durch das Thema der Bauerngeschichte überhaupt auf Sie gekommen.
Emile Zola: Das macht überhaupt nichts. Nun erzählen Sie mir aber, was Ihnen an dem Roman gefallen hat!
Edmund Rehwinkel: Dann will ich gleich einmal mit der Tür ins Haus fallen. Schon die Szene mit César und Coliche hat mich beeindruckt. César ist ein Bulle, und Coliche ist eine Kuh. Beide sollen dazu gebracht werden, wie soll ich das jetzt sagen…mhh, zu kopulieren. Aber der Bulle hat Schwierigkeiten, auf die Coliche aufzusetzen, ihr Rücken ist zu hoch für ihn, er schafft es nicht. Und da tritt nun Françoise auf, sie packt den Bullen und es gelingt ihr, die beiden zusammenzubringen. Wie Sie das geschildert haben, das hat mich sehr beeindruckt, weil Sie die Tatsachen des Lebens ungeniert beim Namen nennen: Sie mußte weit ausholen mit dem Arm, sie ergriff mit der ganzen Hand das Glied des Bullen, das sie wieder hochrichtete. Und als er fühlte, daß er am Rande war, raffte er all seine Kraft zusammen und drang mit einem einzigen Lendenstoß tief ein. Dann zog er wieder heraus. Es war getan; der Stoß mit dem Pflanzholz, das ein Samenkorn tief in die Erde drückt. Standfest und mit der empfindungslosen Fruchtbarkeit der Erde, die besät wird, hatte die Kuh ohne eine Bewegung diesen befruchtenden Strahl des Mannestieres empfangen. Meine Hochachtung, Herr Zola, für dieser Schilderung. Ohne falsche Scham haben Sie benannt, was sich im Leben täglich abspielt.
Emile Zola: Es wird Ihnen im Verlauf des Lesens sicher aufgefallen sein, daß ich die Erde und ihre Fruchtbarkeit vielfach wiederaufnehme und natürlich auch die Menschenschicksale damit verbunden habe.
Edmund Rehwinkel: Oh ja, meisterhaft. Es zieht sich durch den ganzen Roman mit allen zum Teil schauerhaften Einzelheiten. Ihre Darstellung, wie die junge Françoise das Glied des die Kuh vergebens bespringenden Bullen ergreift und ihn in die Spalte schiebt, also das erinnert mich an mein Gedicht ›Blattzeit‹: Vor mir treibt der Bock die Ricke, / denn sie will nicht, wie er will, / läßt sich immer wieder jagen, / aber schließlich hält sie still. // Mußte an die Mädchen denken, / die sich auch erst lange zieren, / bis sie dann die ersten Küsse / widerstrebend doch probieren. // Kommen später ganz allein, / wenn sie erst Geschmack gefunden, / und dem ersten Stelldichein / folgen frohe Schäferstunden.
Emile Zola: Ja, so kann man das auch sagen.
Edmund Rehwinkel: Ich bin ja 1899 in Westercelle zur Welt gekommen, das ist ein Stadtteil der niedersächsischen Stadt Celle, und in Westercelle bin ich auch in die dortige Dorfschule gegangen. Mit einundzwanzig Jahren habe ich dann mit dem Dichten angefangen. Wollen Sie sich noch eins meiner Gedichte anhören? Sie sind nicht so bedeutend wie die eines gleichfalls aus Westercelle stammenden Poeten, der übrigens auch eine voluminöse Stadtgeschichte von Celle verfaßt hat: ›Heimat, schöne Fremde. CELLE Stadt & Land. Eine literarische Sichtung‹; das Buch ist 2019 erschienen und begleitet mich seitdem täglich als schöne Erinnerung an meine alte Heimat. Nun hören Sie sich das an, es heißt ›Im Frühlingswind‹: Heute radelte ein hübsches Kind / an mir vorbei recht munter, / sein Röckchen flatterte im Wind, / doch sittsam, wie die Mädchen sind, / zog es ihn schämig runter. // Der Wind indessen gutgelaunt, / der blies recht neckisch weiter, / ich hab’ sein keckes Spiel bestaunt, / und was ich dabei sonst noch sah, / das stimmte mich recht heiter.
Emile Zola: Sehr nett. An Ihnen ist kein Dichter verloren gegangen, Sie sind einer.
Edmund Rehwinkel: Ich bin wie Sie ein Aufrührer gewesen. Hören Sie mal dieses Gedicht, es heißt ›Einzelgänger‹: Ich trotte nicht im Haufen mit, / ich gehe lieber ganz allein; und geht es auch durch dick und dünn / und über Stock und Stein. // Wer aufrecht durch das Leben will, der hat es immer schwer, / die kleinen Kläffer kuschen sich / und rennen hin und her. // Wer immer Ja und Amen sagt, / ist ein bequemer Untertan, / wer’s Kind beim rechten Namen nennt, / eckt allenthalben an. // Ich trotte nicht im Haufen mit, / ich gehe lieber ganz allein, / und wenn es auch beschwerlich ist. – Ich kann nicht anders sein.
Emile Zola: Es reicht fast schon an meine Anklage ›J’accuse‹ heran, den offenen Brief vom 13. Januar 1898 an den französischen Staatspräsidenten, in dem ich den zu Unrecht des Verrats von Staatsgeheimnissen angeklagten Generalstabsoffizier Alfred Dreyfus verteidigt habe.
Edmund Rehwinkel: Zu gütig, mein Herr, zu viel der Ehre. Doch nicht ganz weit daher geholt. Wissen Sie, ich habe einen Ihrer Landsleute, den General De Gaulle, persönlich kennengelernt, wie ich war er sehr national eingestellt und hat mich sehr dafür gelobt, wie viel ich für meine deutschen Bauern geleistet hätte. Er redete mich in perfektem Deutsch an! Nun aber noch zu einem anderen Gedicht. Da habe ich mich gegen den Krieg ausgesprochen. Es heißt ›Die alte Melodie‹: Die Völker haben nicht gelernt aus diesem Kriege, / wie immer wiederholt sich die Vergangenheit, / der Unverstand der feiert neue Siege, / und jede Dummheit macht sich wieder breit. // Es wechseln nur die Ideologien, / und neue Volksbeglücker treten auf den Plan / mit neuen Phrasen – neuen Utopien, / Friede auf Erden aber bleibt ein Wahn. // Von Völkerfrieden wird solange nur gesprochen, / bis man sich andren überlegen glaubt, / dann wird ein neuer Krieg vom Zaun gebrochen, / und immer wieder wird gemordet und geraubt.
Emile Zola: Sehr nobel. Man kann es nicht oft genug sagen und wiederholen, wie schön, daß es immer wieder Menschen gibt, die diese alten Wahrheiten mit ihren sprachlichen Mitteln wiederholen. Wie Voltaire schon sagte: Ich werde mich solange wiederholen, bis ich verstanden werde. Lassen Sie uns aber doch wieder auf meinen Roman ›La Terre‹ zurückkommen. Er hat von allen meinen Romanen am meisten ›Anstoß‹ erregt. Mein englischer Verleger Henry Vizetelly wurde 1889 zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, weil er eine gereinigte, aber nach Ansicht des Gerichts nicht genügend gereinigte Übersetzung von ›La Terre‹ herausgebracht hatte. Insofern bin ich Ihnen dankbar, daß Sie ausgerechnet diesen Roman zur Lektüre gewählt haben. Die Erde ist die Heldin meines Buches. Die nährende Erde, die Leben schenkt und es zurücknimmt, leidenschaftslos. Eine gewaltige Person, immer gegenwärtig, nimmt sie das ganze Buch ein. Der Mensch, der Bauer, ist nur ein Insekt, das sich auf ihr tummelt, fronend, um ihr seinen Lebensunterhalt zu entreißen. Er geht gebückt, er sieht nur den Gewinn, den er aus ihr zu ziehen gedenkt, er sieht weder Land noch Landschaft. Alle meine Romanpersonen müssen von der Leidenschaft zur Erde erfüllt sein. Alsbald enthüllt sich der Bauer als raffsüchtig; der Mensch mit seinen engen Leidenschaften auf dem weiten Land, der Bauer, das reißende wilde Tier inmitten der wohltätigen ruhigen Erde. Ihn nicht edel darstellen, seine spezifische Größe suchen und zeigen. Was der Bauer politisch war und sein wird. Seine Rolle in der Gesellschaft durch das Eigentum. Er ist die Mehrheit, die stumme ruhende Kraft, die eines Tages große Dinge entscheiden wird.
Edmund Rehwinkel: Ich habe nun ja nicht nur Ihren Bauernroman ›Die Erde‹ gelesen, sondern auch eines Ihrer Werke aus der Spätzeit, aus der Reihe ›Die vier Evangelien‹, und zwar das Werk mit dem Titel ›Fécondité‹, auf deutsch: ›Fruchtbarkeit‹. Das ist ja auch ein beherrschendes Thema in der ›Erde‹ gewesen, die Fruchtbarkeit der Erde wie auch die Fruchtbarkeit der Menschen, die versuchen, von den Früchten der von ihnen bearbeiteten Erde leben zu können. Aber als ich nun Ihren Roman über die Fruchtbarkeit der französischen Frauen gelesen habe, bin ich doch schockiert gewesen über die Art Ihrer Darstellung. Warten Sie, ich habe den Roman hier in meiner Aktentasche (beugt sich und holt das Buch heraus, blättert kurz und schlägt dann eine Seite auf und liest, wobei er einige Sätze ausläßt): Mathieu betrachtete Marianne voll Zärtlichkeit. […] Die Gattin, die Geliebte war wieder erwacht, sie war wieder Weib geworden, in dem frohen Bewußtsein der Kindesentwöhnung, ein neuer Frühling erstand, eine neue, von der Ruhe erquickte Erde erschloß sich wieder, bebend vor Fruchtbarkeit. Nie noch hatte er sie so liebreizend, von einer so kraftvollen, ruhigen Schönheit gefunden, wie in diesem Triumphe ihrer glücklichen Mutterschaft, gleichsam vergöttlicht durch den Milchstrom, der aus ihr entsprungen war, um durch die Welt zu fließen. Sie war von einer Glorie umflossen, die Lebensspenderin, die wahre Mutter, die, die nährte, nachdem sie geboren hatte […]. Und wie er sie so in ihrer Glorie sah, inmitten seiner kraftvollen Kinder, einer guten Göttin gleich, in fortwährender Fruchtbarkeit, wieder bereit zu empfangen, da fühlte er sich durchzuckt von Anbetung, von Verlangen, von heißer Begierde, von der unauslöschlichen Flamme der ewigen Sonne. Also verehrter Herr Zola, bei allem was recht ist, welcher Teufel ist da in Sie gefahren? 1938 hat das NS-Regime in Deutschland das ›Mutterkreuz‹ eingeführt, für kinderreiche Mütter; im Volksmund nannte man es das Karnickelkreuz. Es tut mir leid, es sagen zu müssen, aber dieses Kreuz fiel mir ein, als ich diese Szene mit Ihrer Romanmutter, vergöttlicht durch den Milchstrom, las. Was für eine Gesellschaft haben Sie sich da ausgedacht, wo ein Kind nach dem anderen aus den Gebärmaschinen herausgestoßen wird? Und doch steht es da, so wie ich es eben vorgelesen habe. Die Frauen befinden sich dann in besonderer Gefahr, / wenn sie sich männlichem Schutz anvertrauen. Das ist aus einer meiner Aphorismen-Sammlungen.
Emile Zola: In einem Artikel von 1896, ›Dépopulation‹ genannt, habe ich geschrieben: Jede Liebe, die nicht ein Kind will, ist im Grunde nur Ausschweifung.
Edmund Rehwinkel: Ja, aber lieber Herr Zola, sind Sie denn noch bei Trost? Zwar habe auch ich einmal geschrieben: Eine Frau ohne Kind ist wie ein Baum ohne Früchte. Aber in Ihrem Roman ›Fécondité‹ lassen Sie das Ehepaar insgesamt zwölf Kinder in die Welt setzen! Zwölf! Und auch wenn man in Rechnung stellt, daß Sie nicht alle zwölf Kinder in Ihrem Roman ein gesundes Erwachsenenalter erreichen lassen, Sie also doch realistisch genug sind angesichts der im 19. Jahrhundert noch weithin verheerenden Säuglingssterblichkeit, so muß ich doch sagen: Das ist doch keine soziale Utopie, daß zwei sich Liebende, ein Ehepaar, meinen, es müsse zwölf Kinder hervorbringen! Haben Sie denn noch nie etwas von der Überbevölkerung gehört, die unsere Erde belastet?
Emile Zola: Ich wollte immer einen strahlenden Optimismus. Er ist die natürliche Folgerung meines ganzen Werkes. In diesen späten Romanen stelle ich meine Liebe zu Kraft und Gesundheit, zu Fruchtbarkeit und Arbeit dar. Als ›Fécondité‹ 1899 erschien, wurden schon nach kurzer Zeit bereits 94.000 Exemplare davon verkauft.
Edmund Rehwinkel: Ich glaube Ihnen schon, daß Sie mit Ihren Romanen einen kommerziellen Erfolg hatten, nur das Bild, das Sie von der ›Cité future‹ darin zeichnen, ist grauenerregend. Es kommt mir fast so vor, als meinten Sie, nachdem Sie in ›Nana‹ das ausschweifende Leben einer Kurtisane erzählt hatten, Sie müßten zum Ausgleich nun eine Geschichte schreiben, die reinster Kitsch ist. (Fängt an, erneut aus dem Roman zu zitieren) In fortwährender Fruchtbarkeit, wieder bereit zu empfangen, da fühlte er sich durchzuckt von Anbetung, von Verlangen, von heißer Begierde… Das hätten Sie doch wirklich nicht nötig gehabt, so einen Schwulst zu produzieren. Das hat Ihrem Ansehen als naturalistischem Revolutionär sehr geschadet, in meinen Augen jedenfalls.
Emile Zola: Vierzig Jahre lang habe ich andauernd seziert, analysiert. Ich wollte mir auf meine alten Tagen gestatten, ein wenig zu träumen.
Edmund Rehwinkel: Ich habe den Verdacht, daß Sie durch Ihre außereheliche Verbindung mit Jeanne Rozerot, der zwei Kinder entsprungen sind, ganz aus der Fassung gekommen sind und Ihr privates Glück allen anderen Menschen durch diese Milchstrom-Fabel aufdrängen wollten. Aber nur weil Sie in fortgeschrittenem Alter noch zweimal Vaterfreuden erlebt haben, können Sie doch daraus nicht für sich ableiten, Gleiches allen anderen Menschen anzuempfehlen und es sogar als politisches Ziel ausgeben. Es hätte doch gereicht, wenn Sie sich still des Glücks mit ihrer Mätresse … nein, entschuldigen Sie, mit ihrer Zweitfrau …mmhh … also sagen wir: Geliebten, erfreut hätten. Genügend Geld hatten Sie mit Ihren vielen und so erfolgreich verkauften Romanen doch zusammengebracht.
Emile Zola: Sie haben nicht zu meiner Zeit gelebt und verstehen das deshalb nicht. Das 19. Jahrhundert stand ganz und gar im Zeichen des allgemeinen Fortschritts. Wir konnten nicht wissen, daß das 20. Jahrhundert zwei Weltkriege hervorbringen würde. Das konnte, das wollte sich niemand vorstellen. Aber wir glaubten zu wissen, daß mit Naturwissenschaft und Technik ein neues, glücklicheres Zeitalter seinen Anfang nehmen würde, auch wenn einige von uns kritischen Beobachtern schon registrieren konnten, daß es den Fortschritt nicht ohne Kosten geben würde. In diesem Zusammenhang gehören dann eben meine ›Evangelien‹, wovon ›Fécondité‹ ein Teil ist.
Edmund Rehwinkel: (greift erneut in seine Aktentasche und zieht einen schmalen Gedichtband heraus) Hier habe ich noch ein Gedicht. Es heißt: ›Stoßseufzer eines Forstwirts‹: Draußen in Gottes Natur / läßt es sich herrlich leben. / Ich liebe jegliche Kreatur. / Nur Menschen müßte es weniger geben. // Die breiten sich jetzt überall aus / und verbreiten sich immer weiter, / und wenn das noch lange so weiter geht, / dann wissen wir bald nicht weiter. // Die Menschen schätz’ ich natürlich auch, / das ist gar keine Frage; / doch treten sie in Massen auf, / dann werden sie leicht zur Plage.
Ist Sex noch zeitgemäß?
Daß die wichtigsten Dinge durch Röhren getan werden. Beweise erstlich die Zeugungsglieder, die Schreibfeder und unser Schießgewehr, ja was ist der Mensch anders als ein verworrnes Bündel Röhren? (Georg Christoph Lichtenberg)
Every sperm is sacred / Every sperm is great / If a sperm is wasted / God gets quite irate (Monty Python’s Flying Circus)
Die hannoversche Stadtverwaltung hat den Betreiber eines Kondomautomaten in der Herren-Toilette der Empfangshalle des Neuen Rathauses aufgefordert, diesen zum nächstmöglichen Zeitpunkt zu entfernen, sollte dies nicht erfolgen, werden wir dies veranlassen. Der Automatenaufsteller brachte die Stadtverwaltung nicht in Verlegenheit, er montierte den Automaten fristgerecht ab und gab gegenüber einem lokalen Zeitungsreporter an, der Automat sei nie vollgeschmiert oder beschädigt worden, auch sei der Automat einer gewesen, aus dem ich regelmäßig eine große Handvoll Geld herausgeholt habe. Anscheinend gehören die Mitglieder des Rathauses zu den Angehörigen des Menschengeschlechts, die in gewissen zeitlichen Abständen dem Geschlechtsverkehr nachgehen. Die Stadtverwaltung hat in einer schriftlichen Stellungnahme der Öffentlichkeit mitgeteilt, es habe wiederholt mündliche Beschwerden beziehungsweise auch belustigte oder irritierte Nachfragen gegeben. Diesen Nachfragen hat die Stadtverwaltung Rechnung getragen, zumal es, wie die Stadtverwaltung in ihrer Stellungnahme betonte, aus Kreisen der Bevölkerung Hinweise gegeben habe, daß dieser Automat in einem denkmalgeschützten, altehrwürdigen Gebäude wie dem Neuen Rathaus an einer Toilettenwand festgeschraubt worden seien. Der Automatenaufsteller erklärte ferner, er sei von der hannoverschen Stadtverwaltung im Dezember letzten Jahres angerufen worden und man habe ihn gefragt, ob so ein Kondomautomat denn noch zeitgemäß sei. Es ist nicht bekannt, wie der Automatenaufsteller auf diese Anfrage geantwortet hat. Das ›Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit‹ hat eine Antwort auf die Frage, ob solche Automaten noch zeitgemäß sind. Oben ohne. Unten mit. So heißt einer der launigen Sprüche, mit denen das Institut für das zeitgemäße Tragen von Kondomen während des Geschlechtsverkehrs wirbt. Erst im Jahre 2011 war der Automat in der Herren-Toilette des Neuen Rathauses zu Hannover eingeführt worden. Vierzehn Jahre lang war er zeitgemäß, und es hat seit der Aids-Epidemie ein Vierteljahrhundert gedauert, bis man im altehrwürdigen Rathaus ein Einsehen hatte und einen Kondomautomat tolerierte. Nun ist er es nach dem Verwaltungsakt der hannoverschen Stadtverwaltung nicht mehr. Für das Titelbild eines sogenannten ›Nachrichtenmagazins‹ (›Meldepflicht für Aids?‹, Nr. 7/1987) hatte sich die damalige CDU-Gesundheitsministerin Rita Süssmuth in einem Ganzkörperkondom fotografieren lassen. Damals erklärte sie: Weil Aids-Aufklärung so wichtig ist, daß man auch ungewöhnliche Wege gehen muß. Seit dem Verwaltungsakt der hannoverschen Stadtverwaltung weiß die Öffentlichkeit aber nun, daß es Ablaufzeiten für Zeitgemäßheit gibt, schon deswegen, weil das Wort zeitgemäß unzweifelhaft darüber belehrt, daß alles seine Zeit hat, irgendwann alles der Zeit verfällt und den Weg alles Zeitlichen gehen muß. So bleibt den Mitgliedern des Neuen Rathauses nur die Wahl zwischen der Enthaltsamkeit, um dadurch mehr Zeit für die Sorge um das Allgemeinwohl der Bürger der Stadt Hannover zu bekommen, oder an einem anderen, womöglich schummerigen Ort, Geldstücke in den in vielen Fällen vollgeschmierten oder beschädigten Automaten zu werfen.
Das ›Reichsaffenhaus‹ und seine ›Würde‹
Den Reichstag müsse man schußgerecht kommen lassen, meinte Reichskanzler, Großgrundbesitzer und Jägersmann Bismarck, Jahrgang 1815. Er mochte das Parlament, das er gleichwohl gern für seine Reden benutzte, ganz und gar nicht, weil es nun ja doch ein Instrument der Demokratie war, wenn auch zu Zeiten des kaiserlichen Deutschlands kein ausgesprochen mächtiges Instrument. Für Kaiser Wilhelm II. war es einfach das Reichsaffenhaus. Heutige Bundestagspräsidentinnen legen großen Wert auf die Würde des Parlaments. Wenn ein Abgeordneter eine Baskenmütze trägt, wird er aufgefordert, diese entweder abzunehmen oder den Saal unverzüglich zu verlassen. Die jetzige Bundestagspräsidentin (CDU) bezieht sich auf eine Gepflogenheit, die es den Bundestagsabgeordneten verbietet, Kopfbedeckungen an ihren Sitzplätzen im Parlament zu tragen. Die Hausordnung des Deutschen Bundestages enthält allerdings keinerlei Bestimmungen darüber, ob Abgeordnete mit Kopfbedeckung oder ohne Kopfbedeckung ihre Volkssouveränität auszuüben haben. Man sollte Ruhe und Ordnung wahren und die Würde des Hauses zu achten. Worin die Würde des Parlament besteht, wird nicht ausgeführt, es ist ein ungeschriebenes Gesetz, eben eine Gepflogenheit, die vermutlich mit einem ebenfalls unausgesprochenen zivilen Verhalten zusammenhängt, das man den Abgeordneten abverlangt. Der SPD-Abgeordnete Carlo Schmidt, Jahrgang 1896, rügte seine Parteigenossin Lenelotte von Bothmer, Jahrgang 1915, als diese im Deutschen Bundestag am 14. April 1970 in einem Hosenanzug erschien, sie hätte damit die Würde des Parlaments verletzt. Als sie am 14. Oktober 1970 dann in einem Hosenanzug ans Rednerpult trat und zu den versammelten Abgeordneten sprach, gab es Zwischenrufe wie Die erste Hose am Pult, obwohl das ja nicht der Wahrheit entsprach, denn alle männlichen Abgeordneten waren bis dato immer mit langen Hosen vor ihre Kollegen getreten. Der damalige Bundestagspräsident (CSU) guckte grimmig, forderte die Rednerin aber nicht auf, entweder den Hosenanzug unverzüglich auszuziehen oder den Saal zu verlassen. Zuvor hatte er angekündigt, niemals eine Dame im Hosenanzug ans Rednerpult treten zu lassen. Dies würde die Würde der Dame verletzen. Die damalige Bundestagsvizepräsidentin Liselotte Funcke (FDP) beschloß daraufhin, nun müsse erst recht eine Frau in Hosen erscheinen. Sie hätte es gern selbst getan, meinte aber, nicht die Figur dafür zu haben. Und so wurde die gertenschlanke Lenelotte von Bothmer (SPD) gebeten, dies stellvertretend für sie zu tun. Heute gibt es fast keine Rockträgerinnen mehr im Deutschen Bundestag, die gewählten weiblichen Abgeordneten tragen fast einheitlich einen Hosenanzug und sehen darin alle gleich langweilig aus. Der Abgeordnete mit der Baskenmütze (Die Linke) verließ kurz den Saal und kam mit der Baskenmütze auf dem Kopf wieder herein, woraufhin die Bundestagsvizepräsidentin (CSU) ihn von der Sitzung ausschloß. (Beifall für diese Handlungsweise der Bundestagsvizepräsidentin kam dafür von den Abgeordneten der CDU, AFD, SPD und den Grünen).
Fading Civilisation. Part Three. Eine apokalyptische Serie
Die Apokalypse hat eine lange Geschichte. Nimmt man sich irgendein Ereignis der Gegenwart vor, so kann man meist ohne Mühe daran ablesen, daß, wie es in gängiger Alltagsrede heißt, »alles den Bach runtergeht«. In dieser Rubrik sollen solche Alltagserscheinungen beleuchtet und interpretiert werden, dabei prüfend, ob nicht doch ein Ende erreicht werden wird und welche Vorteile dies für die Erde dann doch hätte: »Eines ist auf jeden Fall gewiß: der Mensch ist nicht das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen Wissen gestellt hat. Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis diese Dispositionen ins Wanken gerieten, dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« (Michel Foucault: Les mots et les choses, 1966)
Houston, we have a problem
Die sich unterhaltende Menschheit verfügt über gewisse Redensarten, die Ihr dabei helfen, sich ohne Umschweife und Zeitverlust zu verständigen. Wenn eine Nachbarin zur anderen Nachbarin sagt: »Wissen sie, der Junge von meinem Schwager hat solche Last mit den Zähnen.« — dann weiß die Nachbarin gleich Bescheid und nickt verständnisvoll. Wenn es in einem Presseartikel heißt: »Versinken nordamerikanische Großstädte allmählich unter ihrer eigenen Last?« kann man sich dessen nicht so sicher sein und ist gezwungen, den ganzen Artikel bis zum Ende zu lesen. Dabei lernt man Neues über bislang unbekannte fliegende Gerätschaften. So weiß wohl nicht jeder, was der ›Sentinel-Satellit‹ genau macht, der Artikel erklärt es ihm. US-amerikanische Geowissenschaftler haben diesen über der Erde fliegenden Satelliten dazu benutzt, Meßdaten zu sammeln, die nachweisen, daß US-amerikanische Großstädte um bis zu fünf Zentimeter abgesunken sind. Diese Information übersteigt zunächst einmal jede Vorstellungskraft. Wenn man vom Untergang des römischen Weltreiches spricht, stehen manchem die Ruinen der einstigen Herrlichkeit vor Augen, die das gewaltige Imperium hinterlassen hat. Vielleicht auch, daß mit dem Untergang das sich in der Zeit abspielende Ende der Weltherrschaft Roms gemeint sein könnte. Aber daß die Hauptstadt Rom um fünf Zentimeter in den Boden abgesackt sein könnte, erscheint erst einmal als sehr unwahrscheinlich, weil man mit dem Niedergang einer Zivilisation immer noch zuallererst das zeitliche Ende in Verbindung bringt. Die Meßdaten des geodätischen Satelliten aber lügen nicht. Im Großraum um Houston, der größten Stadt im Bundesstaat Texas, sinkt das Land um bis zu fünf Zentimeter pro Jahr. »Houston, wir haben ein Problem.« So lautete der Funkspruch der Raumkapsel Apollo 13 im Jahre 1970 an die ›Missionskontrollstelle‹ in Houston, um damit eine schwierige Situation zu beschreiben, in der ein unerwartetes Problem aufgetreten war. Auch Las Vegas und Phoenix gehören zu den betroffenen Regionen; und dort beträgt die jährliche Sinkrate sogar neun Zentimeter. Die die Erdkruste kontinuierlich abtastenden Radarstrahlen des Sentinel-Satelliten haben Höhenunterschiede ermittelt. Das Verfahren ist von schwindelerregender Genauigkeit: Die sogenannte Interferometrie kann Höhenveränderungen von wenigen Millimetern pro Jahr zuverlässig messen. Wie steht es nun mit den Ursachen? Ganz neu ist das Phänomen nicht, denn schon in der Zeit, als im Ruhrgebiet in Deutschland noch Steinkohle in großem Umfang abgebaut wurde, kam es zur Bildung von Hohlräumen, die irgendwann kollabierten und zu Erdsenkungen führten. Kaum eine Stadt im Ruhrgebiet war von diesem Vorgang verschont geblieben. In Texas ist es vornehmlich die Förderung von Erdöl und Erdgas, die zu einer Absenkung führt. Hingegen wird in Arizona, Nevada und Kalifornien durch das Abpumpen von Grundwasser das Erdreich unter der Erdoberfläche regelrecht zusammengepreßt und damit kommt es zu teilweise schweren Erdsenkungen. Küstenstädte wie Miami und New York sinken ab, weil der Meeresspiegel aufgrund der weltweiten Erderwärmung ansteigt. In einem aber sind sich die Geodäten alle einig: Mit dem Absinken der Erdschichten wird es in zunehmenden Maße nach schweren Regenfällen zu immer größeren Überflutungen der Städte und Landschaften kommen. Man geht zu Grunde, indem man versinkt. Man geht der Sache auf den Grund, indem man sich in sie versenkt. […] Das menschliche Gebäude verlangt […] für seine Fundamente die felsennahe Dichte und Unlösbarkeit dessen, worauf sie beruhen. […] Fundamente, kaum daß sie gelegt sind, verschwinden unter der Verborgenheit ihrer Funktion; man legt sie erst frei, wenn das Bauwerk Risse zeigt. […] Der Stein liegt auf dem Boden; er genügt damit, solange andere Kräfte nicht auf ihn wirken, dem Trägheitsprinzip und der auf ihn stetig einwirkenden Schwerkraft. […] Insistenz auf Prüfung von Grund und Boden, von Gründbarkeit und Tragfähigkeit ist prägend für die theoretische ›Gründlichkeit‹ der Neuzeit.
(Hans Blumenberg: Grund und Boden: Zugrundegehen, auf den Grund gehen, auf einem Boden stehen; Stand und Bestand; Der Baugrund. In: ders.: Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt/M. 1987, 97f., 101, 103)
Neue Gespräche im Elysium XXIII
Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.
Hans Kelsen meets Henry Kissinger
Yeah, come on all of you, big strong men,
Uncle Sam needs your help again.
He’s got himself in a terrible jam
Way down yonder in Vietnam.
So put down your books and pick up a gun,
We’re gonna have a whole lotta fun.
[…]
Well, come on Wall Street, don’t move slow,
Why man, this is war.
There’s plenty good money to be made
By supplying the Army with the tools of the trade,
Just hope and pray that if they drop the bomb,
They drop it on the Viet Cong.
(Country Joe and the Fish: I-Feel-Like-I’m-Fixin‘-to-Die Rag, 1967)
Hans Kelsen: What took you so long? Jetzt erst, nach dem hundertsten Geburtstag bemühen Sie sich hierher, ins Elysium?! Der Autor der ›Gespräche im Elysium‹, Bernard de Fontenelle ist einen Monat vor seinem Hundertsten gestorben, angeblich, weil er die Anstrengungen einer Feier zum 100. Geburtstag gescheut hat. Sie aber haben sogar noch ein halbes Jahr drangehängt. In Amerika nennt man solche Personen »a tough cookie«, und das haben Sie im Verlaufe Ihres langen Lebens dann ja auch unter Beweis gestellt.
Henry Kissinger: Well, thank you very much. Do I know you? Have we met?
Hans Kelsen: Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Mein Name ist Hans Kelsen, ich bin Rechtswissenschaftler, ich bin 1881 in Prag geboren worden und 1973 in Kalifornien gestorben. Mein bekanntestes Werk ist die ›Reine Rechtslehre‹. Aber mein umfänglichstes Werk sind die Schriften über das Völkerrecht. Das begann schon 1920 mit meinem Buch ›Problem der Souveränität‹, in dem zwei Drittel sich damit beschäftigen. 1944 habe ich die programmatische Schrift ›Peace through Law‹ vorgelegt, und 1952 ist eine über 900 Seiten lange Schrift zur UN-Charta erschienen. Ob es sich beim Völkerrecht um eine tatsächliche Rechtsordnung handelt, habe ich in meiner sicher bekanntesten Schrift, in der ›Reinen Rechtslehre‹, noch ausdrücklich bejaht: »Das Völkerrecht weist den nämlichen Charakter auf wie das einzelstaatliche Recht. Es ist wie dieses eine Zwangsordnung.« Aber schon in der 2. Auflage habe ich einschränkend dazu hervorgehoben, daß das Völkerrecht »noch eine primitive Rechtsordnung« sei, da es bisher keine institutionelle Absicherung in Gestalt von Rechtsnormen vollziehenden Organen gibt. So beherrscht das Gewohnheitsrecht den rechtlich-politischen Raum, was den einzelnen Staaten die Möglichkeit gibt, Kriege als Sanktionen des Völkerrechts einzusetzen. Nun ja, ich schweife ab. Nun aber zu Ihnen. Dann lassen Sie uns mal sehen, was Ihre Todesanzeigen uns zu berichten haben: »Ein großer Außenpolitiker, der mit seinem diplomatischen Geschick dazu beigetragen hat, die Globalisierung der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert voranzutreiben.« Deutsche Bank. Ja, natürlich, die denken immer zuerst ans Geld. »Ein Jahrhundert-Diplomat. Ein großer Transatlantiker, herausragender Staatsmann und geopolitischer Denker.« Atlantik-Brücke e. V., ein 1952 gegründeter Verein, der eine wirtschafts-, finanz-, bildungs- und militärpolitische Brücke zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland schlagen soll. »Dr. Kissinger gab seine Unterstützung, seine Intelligenz, seine Weisheit und seinen unfehlbaren Humor großzügig an unsere junge Einrichtung weiter.« American Academy, Berlin. Keine schlechte Presse, was?
Henry Kissinger: Well, wir beide haben es geschafft.
Hans Kelsen: Sie meinen wohl, Sie haben es erreicht, daß man Sie nicht vor einem internationalen Tribunal als Kriegsverbrecher angeklagt und verurteilt hat?
Henry Kissinger: Oh, please, don’t get me started.
Hans Kelsen: Was mir bei der anstrengenden Lektüre Ihrer Lebenserinnerungen, immerhin auf dreitausendfünfhundert Seiten ausgebreitet, in drei Bänden — ›The White House Years‹ (1979), den Years of Upheaval‹ (1982) und den ›Years of Renewal‹ (1999) — aufgefallen ist, das ist Ihr fast unglaubliches Gedächtnis für die tausend spezifischen Einzelheiten, die Sie dem Leser präsentieren. Sie müssen nach jedem Meeting mit den verschiedenen Staatsmännern Tagebuch geführt haben, anders kann ich mir diese Fülle an Details nicht erklären, die Sie dem Leser bieten. Es sind fast Regieanweisungen für einen Film mit atmosphärischen Hinweisen und wiedergegebenen Dialogen. Man könnte einen mehrstündigen Film daraus machen mit dem immer gleichen Szenario: Flug über den Wolken, Gespräche mit den Sie begleitenden Journalisten, Ankunft auf dem Airport, Empfang durch das einladende Land, Zusammentreffen mit den jeweiligen Staatsoberhäuptern, Resümee der Unterhandlungen, Bemerkungen zu den Personen, die Sie begleitet haben. Es hat mich an die Memoiren von Bernhard von Bülow erinnert, der ein fotografisches Gedächtnis gehabt hat und seine aufgetischten Geschichten, zudem in einer gut lesbaren Form, untermischt mit vielen aufschlußreichen amüsanten und boshaften Anekdoten, dargestellt hat. Und Sie haben ja bis zu Ihrem 99. Geburtstag immer weitergeschrieben, zuletzt ist 2022 ›Leadership. Six Studies in World Strategy‹ erschienen. Es kommt mir fast so vor, als wollten Sie mit dieser exzessiven Form der Dokumentation aller ihrer Einzelschritte vor sich selbst beweisen, daß Sie alles richtig gemacht haben und man spürt den legitimatorischen Zwang, vor ›der Geschichte‹ gut dazustehen. Irgendwann überfällt einen sogar der Gedanke, daß Sie ihre Leser totreden wollen, indem Sie jede Kleinigkeit auswalzen. Es sind weniger persönliche Erinnerungen an Ihre Zeit als Berater und Außenminister, sondern es ist weit eher eine ausladende Rechtfertigungsschrift.
Henry Kissinger: Lassen Sie mich ein Beispiel geben. Nehmen Sie Chile. Hier geschah es zum ersten und bis dahin einzigen Mal in der modernen Geschichte, daß ein demokratisches Verfahren fast zur Machtübernahme von Kommunisten geführt hätte. Allende wollte innerhalb eines bestimmten Zeitraums eine Art von kommunistischer Regierung etablieren. Uns besorgte der Umstand, daß Allende die Vereinigten Staaten aus ideologischen Gründen unversöhnlich haßte und entschlossen war, sein revolutionäres Evangelium in ganz Lateinamerika zu verbreiten. Der Umstand, daß Allende später zum Märtyrer geworden ist, hat seine politischen Ziele verschleiert. Allendes Wahl zum Präsidenten sollte die letzte nach demokratischen Regeln abgehaltene Wahl sein. Allende war ein erklärter Feind der Demokratie, wie wir sie kennen. Allende war eine geopolitische Herausforderung. Dieser Putsch war eine innerchilenische Angelegenheit. Allende wurde von den Kräften in Chile gestürzt, die er selbst entfesselt hatte, weil er sie nicht im Zaum halten konnte.
Hans Kelsen: Noch vor der Wahl Allendes in Chile haben Sie in einem Telegramm an den Leiter des CIA-Büros in Santiago diesen angewiesen: »Schaffen Sie zumindest ein für einen Putsch günstiges Klima, leisten Sie einer militärischen Aktion Vorschub.« Nach dem Staatsstreich am 11. September 1973 bestätigte der Direktor der CIA, William Colby: »U.S. policy has been to maintain maximum covert pressure to prevent the Allende regime’s consolidation.« CIA activities included »financial support totaling $6,476,166 for Chilean political parties, media, and private sector organizations opposed to the Allende regime.« Colby bestritt, daß die CIA eine direkte Rolle dabei gespielt hätte, die zur Etablierung eines neuen militärischen Regimes führte, aber die US-Regierung war daran beteiligt, den Oppositionsparteien und den Medien das Überleben zu sichern. Colby vermied die Diskussion, in welcher Weise es eine US-amerikanische Kooperation mit dem chilenischen Militär gegeben hatte. Mit autoritären Regimen sind Sie immer gut zurechtgekommen: Mit Portugals Marcelo Caetano, Spaniens Francisco Franco, Chiles Augusto Pinochet, mit den Mitgliedern der Junta Griechenlands und Argentiniens. Demokratisch gewählte politische Führer haben Sie dagegen mißtrauisch beäugt, wie im Fall von Portugals Mario Soares, den Sie einen »portugiesischen Kerensky« genannt haben, womit impliziert war, daß Sie den russischen Ministerpräsidenten für die Machtergreifung der Bolschewiki unmittelbar verantwortlich machten. Oder Salvador Allende, der für Sie eigentlich keine Person, sondern ein Symbol war und ein propagandistisches Schreckbild des Kommunismus. Hingegen haben Sie von Anwar as-Sadat ein von großer Sympathie getragenes Porträt gezeichnet.
Henry Kissinger: Ich hatte die Ehre, die ersten Schritte auf seinem Weg zum Frieden an der Seite von Anwar as-Sadat zu tun. Die Eigenschaften, die den bedeutenden politischen Führer vom mittelmäßigen unterscheiden, sind nicht die Fähigkeiten seines Intellekts, sondern sein Weitblick und sein Mut. Sadat hatte die Geduld und Heiterkeit der ägyptischen Massen, aus denen er stammte. Ich habe ihn einmal in dem schlichten Haus im Dorf Mit Abul-Kom im Nil-Delta besucht, wo er geboren wurde. Sadats Leidenschaft für den Frieden wurde im Lauf der Zeit immer intensiver und profunder. Er war kein Pazifist. Er glaubte nicht an den Frieden um jeden Preis. Richard Nixons größter Wunsch ist es gewesen, als Friedensstifter in die Geschichte einzugehen.
Hans Kelsen: Da bringen Sie uns gleich zu meinem Lebensthema. Denn auch für mich war Frieden der Kern aller meiner rechtswissenschaftlichen Schriften. Die Freiheit ist die Ideologie der Demokratie, aber der Friede ist ihre Realität. Ich habe immer wieder für die Einrichtung einer internationalen Gerichtsbarkeit gekämpft. ›Peace through Law‹, in dieser Schrift wird mein Gedanke zusammengefaßt. Nun, Sie als politischer Berater haben den anderen Weg gewählt und mit der vorsätzlich in Kauf genommenen Tötung von Hunderttausenden von Zivilpersonen in Indochina, durch das Bombardement der neutralen Staaten Kambodscha und Laos, sich schuldig gemacht. Manche nennen das »Kollateralschäden«, andere »Kriegsverbrechen«. Wie auch immer: Sie haben durch diese Maßnahmen Opfer von Menschenleben in einer Größenordnung hingenommen, die durch kein Völkerrecht gedeckt ist. In einem mitgeschnittenen Telefonat mit dem Präsidenten, sagte dieser, man sollte eine Möglichkeit finden, das Völkerrecht zu brechen. »Die Vereinigten Staaten sind eine große Nation geworden, indem sie das Völkerrecht gebrochen haben.« Sie haben Nixon geraten, den Feind so massiv zu bombardieren, daß er um Frieden bitten würde. Bereits vier Wochen nach der Amtseinführung Nixons, am 24. Februar 1969, haben Sie mit der Planung der geheimen ›Operation Menu‹ begonnen. Sie haben massive, anhaltende und beispiellose Angriffe durch B-52-Bomber auf nordvietnamesische Stellungen in Kambodscha vorgeschlagen. Der Codename für die Bombardierung Kambodschas lautete ›Menu‹, die einzelnen Bestandteile hießen ›Breakfast‹ und ›Lunch‹. Hinter dieser Operation verbarg sich die Bombardierung Kambodschas mit B-52-Bombern. Später haben Sie eingeräumt, daß diese Auswahl der Namen »geschmacklos« war. Drei Jahrzehnte blieb das ganze Ausmaß der Zerstörungen, die die USA in Kambodscha anrichteten, im Verborgenen, da die Militärakten bewußt gefälscht worden waren. Die Bombardierung war ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Zwischen März 1969 und August 1973 warf die USA 2.756.727 Tonnen Bomben über Kambodscha ab. Das überstieg die Tonnage sämtlicher Bomben, die die Alliierten während des Zweiten Weltkriegs abwarfen. Der US-amerikanische Historiker Greg Grandin nennt Sie einen machtbewußten und machtbesessenen, zu Wutausbrüchen, Eifersuchtsanfällen und Depressionen neigenden Mann. Tim Weiner charakterisiert Sie nach Gesprächen, die er mit Ihren ehemaligen Mitarbeitern geführt hat, als »hochfahrend und unbeherrscht«.
Henry Kissinger: Ich habe festgestellt, wenn die persönliche Beleidigung ein gewisses Maß erreicht hat, wird man unverwundbar.
Hans Kelsen: Der Historiker Grandin geht so weit, zu behaupten, daß bis zum Ende Ihrer Amtszeit es keine Verschwörung, keinen Putsch, keinen Bürgerkrieg, kein Attentat, keinen Folterbefehl und keinen politischen Mord gegeben hat, bei dem Sie nicht wenigstens indirekt die Verantwortung getragen haben.
Henry Kissinger: In weniger als einem Jahrzehnt ist ein nie da gewesenes Konzept entstanden, das darin besteht, die internationale Politik juristischen Verfahrensweisen zu unterziehen. Die Gefahr besteht darin, daß dieses Konzept zu weit getrieben wird und daß an die Stelle der Tyrannei von Regierungen die von Richtern tritt. In der Geschichte hat die Diktatur der Rechtschaffenen oft zu Inquisition und Hexenjagden geführt. Der Präzedenzfall wurde geschaffen, als vom Oktober 1998 an der ehemalige chilenische Präsident Augusto Pinochet aufgrund des Auslieferungsbegehrens eines spanischen Richters sechzehneinhalb Monate lang in Großbritannien inhaftiert war. Für die Fürsprecher einer universalen Rechtsprechung ist diese Haft ein Markstein, der ein universales Prinzip etablierte. Doch sollte jedes universale System eine Prozeßordnung beinhalten, die nicht nur dazu dient, die Ruchlosen zu bestrafen, sondern auch die Rechtschaffenen in Schranken halten. Diese darf nicht zulassen, daß rechtliche Grundsätze als Waffen benutzt werden, um politische Rechnungen zu begleichen.
Hans Kelsen: Sie haben Herrn Pinochet damals geschrieben: »We are sympathetic with what you are trying to do here. I think that the previous government was headed toward Communism. We wish your government well.« Sie sprechen also pro domo, wenn Sie Anmerkungen wie die eben geäußerte über die Geltung und Gültigkeit des Völkerrechts machen. Nicht sehr überzeugend auch, wenn Sie die Vertreter völkerrechtlicher Bestimmungen in die Nähe von Inquisition und Hexenjagd rücken. Doch nun noch zu einem anderen Punkt: Bevor der aufgrund des Watergate-Skandals zurückgetretene Präsident Richard Nixon das Weiße Haus verließ, nahm er sämtliche Tonbänder und Akten mit. Man zahlte ihm 1974 2 Millionen Dollar für die Veröffentlichung seiner Memoiren. Es wurden 1094 Seiten. Ihre Memoiren umfassen allein für die Jahre 1973-1974 insgesamt 1503 Seiten. 987 Seiten umfassen die ›Jahre der Erinnerung‹. Weshalb schreiben Politiker stets so lange Memoiren. Die Hälfte hätte doch vielleicht auch ausgereicht? Stehen Rechtfertigungszwang und Redseligkeit in einem kausalen Verhältnis zueinander? Wilhelm II. hat mit seinen Memoiren ›Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878–1918‹ (1922) es bei 308 Seiten belassen, und er war ja nun bekanntermaßen ein Vielredner. Karl Kraus schrieb damals in seiner Zeitschrift ›Die Fackel‹: »Amerika hat also, wie man jetzt weiß, das bessere Geschäft zu machen geglaubt, indem es, anstatt Wilhelm II. auf Jahrmärkten dressiert vorzuführen, ihm seine Memoiren abkaufte. Er hat sich an den Amerikanern nicht nur dadurch für seine Niederlage gerächt, daß er ihnen ein Dollarvermögen abknöpfte, sondern auch durch eine Leistungsprobe von Humbug, die geradezu das amerikanische Nationalbewußtsein beschämt. Seine Getreuen haben ihn gegen die Vorwürfe, die ihm der pure Literatenneid aus der Höhe dieses Honorars gemacht hat, in Schutz genommen, indem sie erklärten, daß das Honorar ›dem Rang und der Stellung des Autors durchaus angemessen‹ sei. Doch mit weit besserem Recht könnte einer Fürstin, die sich heute im Bordell prostituieren würde, zu der Bewertung ihrer persönlichen Vorzüge ein Preiszuschlag aus dem früheren Beruf resultieren als dem vazierenden Monarchen, der zur Presse geht.« Und was hat man Ihnen für Ihre Memoiren gezahlt?
Henry Kissinger: Das kann ich Ihnen nicht verraten, aber da ich eine internationale Berühmtheit bin, ist am Ende doch ein ganz hübsches Sümmchen zusammengekommen.
Hans Kelsen: Wie erfreulich für Sie. Wenn man die Mitschnitte Ihrer Konversation mit dem Präsidenten liest, fällt auf, wie devot Sie sich ihm gegenüber verhalten haben. Man gewinnt doch den Eindruck, daß Sie sich gegenüber dem Präsidenten wie ein Höfling benommen haben. Der Sachbuchautor Tim Weiner hat über Sie geschrieben: »Kissinger verstand es meisterhaft, Nixon stets das zu sagen, was dieser hören wollte.« Sie seien beschlagen gewesen in den Praktiken eines Doktor Faustus. Ihre Mitarbeiter hätten gewitzelt, daß Nixon bei weltbewegenden Entscheidungen drei Optionen hatte: 1. bedingungslose Kapitulation, 2. Atomkrieg, 3. Kissingers Empfehlung. Nixon entschied sich stets für die dritte Variante. Der Präsident war der Stratege, Sie der Taktiker. Beide seien Sie Geheimniskrämer und begabte Lügner gewesen. Ihre Servilität dokumentiert sich in protokollierten Dialogen mit dem Präsidenten. »Ich möchte, daß dieses Land (Nordvietnam) in Schutt und Asche gelegt wird. Wir werden diese Schweinehunde über den Haufen bomben.« (Nixon) »Keine Frage« antworten Sie darauf. »Jetzt, da wir die Grenze überschritten haben, gehen wir brutal gegen sie vor.« (Kissinger). »Ich würde sie gerne austricksen.« (Nixon). »Das können wir auch machen.« (Kissinger) »Wir müssen jetzt den maximalen Schockeffekt erzielen!« (Kissinger). Dazu der Tagebucheintrag eines Admirals: »Das ist eine irrsinnige Art, Krieg zu führen.«
Henry Kissinger: Aber in jedem Weißen Haus herrscht die bei Hofe übliche Atmosphäre, die von der in der heutigen Präsidentschaft konzentrierten schieren Macht nicht zu trennen ist. Im nachhinein kann das als Unterwürfigkeit ausgelegt werden, und manchmal war es das vielleicht auch.
Hans Kelsen: Was aber nicht ausschloß, daß Sie sich in freien Momenten gegenüber Ihren Mitarbeitern, oder sollte ich sagen: Untergebenen, herausgenommen haben, die Sprechweise des Präsidenten nachzuahmen: »Wir müssen diese Leute zermalmen! Wir müssen sie vernichten!«
Henry Kissinger: Ja, man muß die eigenen Leute bei Laune halten, und da ist eine Humoreinlage doch das beste Mittel, meinen Sie nicht auch?
Hans Kelsen: Ganz gewiß, ich habe das auch nicht als Vorwurf formuliert. Außerdem habe ich diese Sätze nicht erfunden, sie sind dokumentiert, so wie Ihre Administration ja so gut wie alles dokumentiert hat, eingeschlossen die geheimen Abhöranlagen, die auf Anordnung des Präsidenten installiert wurden. Sie hatten ja beide, Mr Nixon und Sie, gewisse Gemeinsamkeiten, nicht wahr? Sie waren beide »unverbesserliche Geheimniskrämer, aber Kissinger war es auf charmante Art.« Das hat der Leiter des Nachrichtendienstes des Außenministeriums, Thomas Hughes, über Sie beide gesagt. »Beide manipulierten, was das Zeug hielt, aber bei Nixon war das leichter zu durchschauen«. Sie haben die verdeckten Operationen nicht nur beaufsichtigt, Sie haben sie geleitet. Von Anfang an übten Sie eine Kontrolle über die CIA-Operationen aus, die immer strikter wurde. Und Sie haben, was heutigen Historikern bisher entgangen ist, die CIA dazu benutzt, um amerikanische Bürger auszuspionieren. Dabei gingen Sie mit dem Präsidenten konform, wonach jegliches präsidiale Handeln im Bereich der nationalen Sicherheit rechtskonform sein müßte. Was der Präsident macht, ist nicht unrechtmäßig, das war ja die Devise von Nixon, und dem haben Sie nichts entgegengesetzt.
Henry Kissinger: Mpf.
Hans Kelsen: Den ganzen Kalten Krieg über hat die CIA heimlich Politiker in Westeuropa mit Geld gefördert. Was man in der Nachkriegszeit in Italien anstellte, hat im nachhinein McGeorge Bundy 1965 als »die alljährliche Schande« bezeichnet. Als Nixon Präsident wurde, hat er zusammen mit Ihnen diese Politik des Geldes wiederaufleben lassen. Das Büro in Rom wurde damals von dem amerikanischen Sonderbotschafter Graham Martin geleitet. Sie haben ihn »den Typ mit den kalten Augen« genannt, und Sie meinten das als Kompliment. Der leitende politische Beamte in Rom, Robert Barbour, äußerte dazu: »Offenbar bewunderte Dr Kissinger jemanden, der in der Machtausübung ebenso rücksichtslos sein konnte wie er selbst.«
Henry Kissinger: Nehmen Sie das Beispiel Italien. Andreottis Energie verbrauchte sich beim Manövrieren in einem turbulenten politischen System, wo es für ihn nur einen extrem engen Handlungsspielraum gab. Seit zehn Jahren war die Politik in Italien durch die ›Öffnung nach links‹ beherrscht, eine Entwicklung, die Anfang der sechziger Jahre zum Teil von den Vereinigten Staaten in diese Richtung getrieben worden war, um die Linkssozialisten als vermeintliche Barriere gegen die Kommunisten in die Regierung zu bringen.
Hans Kelsen: Graham Martin sorgte ab 1970 dafür, daß 25 Millionen Dollar an die italienischen Christdemokraten und die Neofaschisten gingen. Einer der unverwüstlichsten italienischen Politiker, Giulio Andreotti, der auch des Mordes an politischen Oppositionellen beschuldigt, aber nie verurteilt wurde, hat mit diesen CIA-Geldern Wahlen gewonnen. Ich darf aus einer politische Studie zitieren: »The successful US effort to overthrow the elected president of Chile, Salvador Allende, in 1973 fitted into the long US history of intervening in Latin America against leftwing governments that nationalised US corporations (in this case, the big copper companies). But Kissinger also disliked Allende’s closeness to Moscow’s ally, Cuba.« Sie haben das folgendermaßen kommentiert: »I don’t see why we need to stand by and watch a country go communist due to the irresponsibility of its people«. Ihr Kommentar ist bezeichnend für Ihre Einstellung zu demokratischen Wahlverfahren: Wenn es Stimmen für die kommunistische Partei gibt, die legal an den Wahlen teilgenommen hat, dann hat eine ausländische Macht wie die Vereinigten Staaten von Amerika das Recht, dies zu verhindern.
Henry Kissinger: Allende stürzte über seine eigene Unfähigkeit und Starrheit. Er war entschlossen, sein revolutionäres Evangelium in ganz Lateinamerika zu verbreiten. Eine immer größere Zahl von Menschen hatte den Eindruck, daß entweder Allende gehen müßte oder die Demokratie zusammenbrechen werde.
Hans Kelsen: Ich glaube, wir sollten die Unterhaltung hier beenden, wir sind an einem toten Punkt angekommen. Aber zum Schluß unseres Gesprächs möchte ich doch daran erinnern, daß wir beide aus deutschsprachigen jüdischen Familien stammen.
Henry Kissinger: Ja, das trifft zu, aber ich habe dem niemals eine große Bedeutung beigemessen. Wir leben seit langem in säkularen Zeiten, die Religion hat nur noch private Bedeutung.
Hans Kelsen: Ich bin 1905 zuerst zum katholischen Glauben konvertiert, 1912 dann zum evangelischen. Dabei spielte aber der Glaube keine große Rolle, ich war praktisch zur Konvertierung gezwungen worden, denn sonst hätte ich niemals eine Professur in Österreich erhalten.
Henry Kissinger: Das haben Sie richtig gemacht, ich verurteile Sie dafür nicht. Wenn die Religion ohnehin ihr Fundament verloren hat, wieso sollten dann die Individuen sie noch stützen, zumal dann, wenn damit alle guten Lebenschancen verhindert werden.
Hans Kelsen: Der Rabbiner Norman Lamm hat sich sehr vehement von Ihnen distanziert. »Wir sollten uns offen von ihm distanzieren. Er will nicht Teil unseres Volkes, seiner Geschichte und seines Schicksals, seiner Leiden und seiner Freuden sein. So soll es sein. Laßt uns nie wieder, weder in unseren Gesprächen noch in unseren Veröffentlichungen, auf das Jüdischsein dieses Mannes hinweisen. Er ist ein Beispiel dafür, wie hoch ein assimilierter Jude in den Vereinigten Staaten aufsteigen und wie tief er in der Wertschätzung seiner jüdischen Mitbürger fallen kann.«
Henry Kissinger: Solche Äußerungen habe ich stets an mir abprallen lassen. Übrigens, wußten Sie, daß ich 1973 den Friedensnobelpreis erhalten habe? (lacht vergnügt)
Hans Kelsen: Ja, die Ironie der Weltgeschichte. You are a lucky bastard.
Über den Wolken muß die Freiheit wohl grenzenlos sein
Let me take you down
‚Cause I’m going to strawberry fields
Nothing is real
And nothing to get hung about
Strawberry fields forever
Living is easy with eyes closed
Misunderstanding all you see
It’s getting hard to be someone, but it all works out
It doesn’t matter much to me
(The Beatles: Strawberry Fields, 1967)
(Der Kontaktbereichsbeamte Karl-Heinz Lindmüller spricht zu einem imaginären Publikum)
Tja, einfach ist das nicht, aber wenn Sie es so ausdrücklich wünschen, erkläre ich es Ihnen natürlich gerne. Die niedersächsische Landesregierung hat ein Jahr nach der Teil-Legalisierung von Cannabis einen neuen Bußgeldkatalog verabschiedet. Danach darf der Konsument sich nicht in der unmittelbaren Nähe von Minderjährigen aufhalten, aber auch das Rauchen einer auf Cannabis-Basis produzierten Zigarette in der Fußgängerzone ist unerlaubt, es sei denn, es geschieht nach Einbruch der Dunkelheit, weil dann Minderjährige nicht mehr auf der Straße anzutreffen sind. So jedenfalls die Normalvorstellung über das Verhalten von Jugendlichen in diesem Staat (seufzt). Die zuständigen kommunalen polizeilichen Ordnungskräfte sollen dabei ihre Kontrollen ähnlich wie bei Parkverstößen vornehmen. Eine Bestimmung des neuen Bußgeldkatalogs weckt Erinnerungen an die Zeit im Corona-Lockdown: Ein Bußgeld in Höhe von 250 bis 1000 Euro soll ausgesprochen werden, wenn jemand mehr als 30 Gramm Cannabis an einem Ort bei sich führt — der nicht sein Wohnort ist! Im April 2020 wurden Fälle bekannt, wo die sächsische Polizei einen Strafbefehl gegen ein Paar beantragte, das beim Wandern 50 Kilometer entfernt von seinem Wohnort angetroffen wurde; ein Student wurde aus dem Wohnhaus seiner Eltern verwiesen, weil er den Erstwohnsitz am Studienort hatte; die Schriftstellerin Monika Maron erhielt in Mecklenburg-Vorpommern eine Ausreiseverfügung aus ihrem Landhaus, das sie zum Schreiben vorübergehend gemietet hatte, da es nicht mit ihrem Erstwohnsitz identisch war. Solche Fälle von Grundrechtsverletzungen waren damals in großer Zahl zu beklagen, Fälle, in denen sich im Großen wie im Kleinen die exekutive Selbstermächtigung eklatant zeigte. Der neue Bußgeldkatalog der niedersächsischen Landesregierung führt diese fatale Praxis fort. Es kommt aber noch besser: Erwachsene dürfen an ihrem Wohnort bis zu drei Cannabispflanzen anbauen, für den eigenen Verbrauch. Wer das kontrolliert? Fragen Sie nicht mich! In der Regel ist der Anbau von Hanf im Schrebergarten nicht erlaubt, sagt das Bundesgesundheitsministerium. Was heißt schon in der Regel? Wer kontrolliert das? Da sieht es schon besser aus, denn ihr Nachbar interessiert sich schon für das, was auf Ihrem Grundstück wächst, ob der Rasen ordentlich gemäht ist und kein Müll herumliegt. Schließlich gibt es ja einen untergründigen Wettbewerb bei den Schreberleuten, jeder will doch gut dastehen und ein vorzeigbares Gärtchen sein eigen nennen können. Für manche sieht auch Gott von oben herab und bemerkt, ob Sie unanständig oder nett sind. Oder ist das Santa Claus, der das macht? (seufzt). Wissen Sie, ich habe ja nicht von der Pike auf bei der Polizei studiert, ich bin promovierter Wissenschaftler. Chemie war mein Hauptfach, aber meine private Passion ist die Literatur, genauer: die französische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Ich habe sie alle gelesen, das dürfen Sie mir glauben, alle! Nennen Sie mir irgendeinen französischen Schriftsteller, der Ihnen gerade einfällt! Ich habe sie alle gelesen, und nicht nur ein Werk, sondern das gesamte Œuvre. Balzac, Flaubert, Stendhal, Victor Hugo, Zola, Baudelaire, Proust, Anatole France, Huysmans, Maupassant. Wenn ich den Namen Schlumberger fallen lasse, denken die Leute, die Besserverdienenden wie die wenigen Gebildeten unter ihnen, an die Champagnermarke, aber ich meine natürlich Jean Schlumberger, den Schriftsteller und Publizisten. Na, lassen wir das. Perlen vor die Säue. Wen interessiert’s? Keinen. Mit dem akademischen Grad eines Dr. rer. nat. habe ich in Chemie dann mit summa cum laude promoviert und lange Jahre in einem chemischen Großbetrieb gearbeitet als Laborleiter. Aber das waren keine schönen Jahre, weil man gezwungen war, Stoffe zu entwickeln, die nur die Umwelt vergiftet haben und natürlich die Menschen dazu. Irgendwann hatte ich dann genug davon, sollen andere neue Giftstoffe entwickeln und die Menschheit umbringen. Das wollte ich nicht mehr. Auch waren die langen Stunden im Chemielabor von großer Einsamkeit geprägt. Das habe ich auf die Dauer nicht mehr ausgehalten. Und so habe ich dann einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Genug Geld hatte ich mittlerweile auf der hohen Kante, ich brauchte mich nicht mehr meistbietend zu verkaufen. Und so bin ich denn zur Polizei gegangen. Ja, man glaubt es nicht, aber seit ich ein einfacher Kontaktbereichsbeamter bin, hat meinen Leben wieder einen Sinn bekommen. Man ist jeden Tag an der frischen Luft, kommt im Viertel, für das man zuständig ist, herum, lernt die Leute kennen und hat menschlichen Kontakt. Jetzt verstehen Sie vielleicht, warum ich eben von den Schreberleuten, den kleinen Leuten mit Schrebergarten, gesprochen habe. Da in meinen Zuständigkeitsbereich so eine Schrebergartenkolonie fällt, werde ich ständig eingeladen zum abendlichen Grillen im Sommer oder sonstigen geselligen Aktivitäten. Irgendwann habe ich denen dann vorgeschlagen, mal einen französischen Abend zu veranstalten. Das ist zunächst bei einigen der Leutchen falsch verstanden worden, die alten Klischees über die Franzosen, Sie verstehen schon. Nein, ein Leseabend mit ausgewählten Stücken aus der französischen Hochliteratur war natürlich gemeint. Sie glauben es nicht, das hat dann eingeschlagen wie nur irgendwas. Man muß die Leute nur zu nehmen wissen, dann fressen sie einem aus der Hand.Wußten Sie, daß dieser Baudelaire gegen den Verbrauch von Haschisch war? Sehen Sie, das haben Sie nicht gewußt, doch immerhin sagt Ihnen der Name Baudelaire noch was. Ja, bei so einem Antibürger nimmt man leichtfertig an, er wäre auch ein starker Drogenkonsument, aber denkste, der hat selbst diese milde Form der Berauschung abgelehnt, auch wenn er über die ›künstlichen Paradiese‹ geschrieben hat. Und wieso? Im Name der Willensfreiheit und der Poesie! Ich bediene meine Schreber gelegentlich auch mit leichten Themen. Die sitzen ja am Abend zuhause meist vor dem Fernsehapparat, aber die schauen nicht mehr das laufende Programm, davon haben sie sich schon lange verabschiedet. Die gucken Serien, vornehmlich aus den USA. Zwischen 2005 und 2012 gab es in den USA die sehr erfolgreiche Serie ›Weeds‹. Aber glauben Sie, daß irgendein deutscher Sender das in synchronisierter Fassung gebracht hat? Fehlanzeige. Ja, ich weiß, Streamingdienste sind da eingesprungen, aber das mögen meine Schreber nicht so, das kostet Abonnement-Gebühren und man muß sich binden. Das gefällt denen nicht. Schließlich gab es nach einigen Jahren tatsächlich eine vollständig deutsch synchronisierte Fassung als DVD-Box. Die haben sich einige der Feierabend-Gärtner dann doch angeschafft. Und waren begeistert. Ich habe dann mit der ganzen Autorität meines Kontaktbereichsbeamtentums sie darauf hingewiesen, daß es gegen deutsche Gesetze verstößt, Cannabis in großen Mengen in Gewächshäusern auf dem Gelände der Schrebergarten-Kolonie anzubauen. Das ist ja schon in der Fernsehserie absolut illegal, und der Reiz der Handlung besteht natürlich darin, daß man das geheim halten muß, es aber dann doch langsam durchsickert und es auch noch Konflikte mit brutalen örtlichen Dealern gibt, die das alles kostenlos einkassieren wollen. Was soll man machen, wenn der Anbau von Cannabis im Schrebergarten grundsätzlich verboten ist? Die klassische Antwort: Alkohol. Dagegen hat der Staat nichts einzuwenden, denn er verdient kräftig mit beim Erwerb jeder Flasche Wein oder Schnaps. Na denn Prost! So gibt es auf dem Schrebergarten-Terrain denn auch inzwischen viel mehr feuchtfröhliche Partys mit jeder Menge Alkohol und der Kontaktbereichsbeamte hat nur die Wahl, da mitzutrinken oder wegzubleiben. Ich will Sie jetzt nicht langweilen mit der Aufzählung der vielen Schriftsteller, die früh an Alkoholmißbrauch gestorben sind. Was soll’s? Jeder hat sein Kreuz zu tragen. Ich bin eben ein überqualifizierter Wissenschaftler, der seinen täglichen Stiebel macht. Für die Miete, Essen und Trinken reicht’s. Was sagen Sie? Ich sei doch Chemiker? Ja, sicher bin ich promovierter Chemiker, und ja, sicher hat es Anfragen gegeben, ob ich vielleicht auf einem ländlichen Areal ein kleines Meth-Labor einrichten möchte. Das Wissen ist ja da, aber dagegen sträubt sich bei mir dann doch alles, man hat ja schließlich eine Art ethisches Gewissen. Es gibt ohnehin genug Leiden auf der Welt. Das muß ich doch mit einem Meth-Labor nicht noch vergrößern, obwohl natürlich die in Aussicht gestellten Gewinnspannen beträchtlich sind. Was? Sie wissen nicht, was Meth ist? Methamphetamin, eine euphorisierende und stimulierende Rauschdroge. Auch als ›Panzerschokolade‹ in einschlägigen Kreisen bekannt. Eine der fürchterlichsten, lebensgefährlichsten Drogen überhaupt, und dabei spottbillig, was für die Ausbreitung auf dem Konsumentenmarkt sich äußerst günstig auswirkt. Selbstverständlich ist die private Herstellung absolut illegal. Aber das Bundesgesundheitsamt und die zuständigen Landesverwaltungen haben nichts Besseres zu tun als bekanntzugeben, daß nicht mehr als drei Blumentöpfe mit Cannabis auf dem Balkon erlaubt sind. Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand, hat der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel einen alten Scherz genannt, den man schon zu seiner Zeit, Anfang des 19. Jahrhunderts, nicht mehr ernst nehmen konnte, da in einem Staat, wo der Herrscher von Gottes Gnaden regiert, dieser Spruch Geltung hatte, denn in einem solchen Statt durfte es keine dummen Beamten geben, sonst hätten die Untertanen an der guten Ordnung zu zweifeln begonnen. Der Bußgeldkatalog der niedersächsischen Landesregierung gehört aber mit Sicherheit zu den behördlichen Maßnahmen, wo man nur die Hände gen Himmel heben und aus tiefsten Herzen seufzen kann: »Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand!« So! Und jetzt muß ich aber los und meine tägliche Runde absolvieren, aber vorher gebe ich Ihnen noch einen Tip, wie Sie völlig kostenlos und ohne Gefahr für Leib und Leben sich einen körpereigenen Rausch verschaffen können. Lesen Sie das Buch von Josef Zehentbauer: Körpereigene Drogen. Die ungenutzten Fähigkeiten unseres Gehirns, zuerst 1992 erschienen und danach immer wieder neu aufgelegt. Schauen Sie sich erst einmal das kurze Kapitel über die ›Methoden zur Mobilisierung körpereigener Drogen‹ an. Da werden Sie staunen, was man alles ohne Cannabis und Panzerschokolade erreichen kann: »Ekstatisches Tanzen fördert die Ausschüttung von Noradrenalin, Adrenalin, Schildrüsenhormonen und Endorphinen.« Ich glaube, ich werde meinen Schrebergärtnern demnächst einen Tanzabend vorschlagen, damit sie auf andere Gedanken und von der Haschisch-Versuchung wegkommen. Ich habe zuhause noch jede Menge Langspielplatten aus den späten sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. (Entfernt sich langsam und fängt an, den Song von The Doors, ›Break On Through to the Other Side‹ zu summen).
You know the day destroys the night
Night divides the day
Tried to run, tried to hide
Break on through to the other side
Break on through to the other side
Break on through to the other side, yeah
Eine große Koalition der Unzufriedenen
Keetenheuve spurte schlecht, er war nicht zu lenken, er war unbequem, er eckte an, er war in seiner Fraktion das Enfant terrible, so was bekam einem im allgemeinen schlecht. Alle wollten sie so schnell wie nur möglich in Regierungsnähe unter Dach kommen; es war, als fürchteten sie, die Regierung könne ihnen davonlaufen, würde eines Tages nicht mehr da sein. Als Politiker war er ein Heiratsschwindler, der impotent wurde, wenn er mit Frau Germania ins Bett gehen sollte. Aber in seiner Vorstellung und auch oft tatsächlich und mit ehrlichem Bemühen vertrat gerade er immer das Recht des Volkes! Keetenheuve dachte: Nicht mehr mitspielen, nicht mitmachen, den Pakt nicht unterschreiben, kein Käufer, kein Untertan sein. Am Bahnhof grölten Besoffene: »Wir wollen unsern Kaiser Wilhelm wiederhaben.« Bald würde man tun, wozu man hergekommen war, man würde seine Stimme abgeben und sein Geld verdient haben. Vielleicht würde eines Tages eine große Koalition der Unzufriedenen regieren. Die Mehrheit regierte. Die Mehrheit diktierte. Die Mehrheit siegte in einem zu. (Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus, 1953)
»Männe«, sagte Charlotte zu ihrem Friedrich, »heute gehst du mir nicht in diesem nachtblauen Anzug zur Kanzlerwahl, du mußt dich unterscheiden von den anderen Politikern, die ja auch immer nachtblaue Anzüge tragen mit diesem gewissen Schimmer, als wollten sie Blüten bestäubende Insekten anziehen! Außerdem erinnern die vielen blauen Anzüge mich doch immer sehr an die rotchinesische Einheitskleidung, an den Mao-Look, oder gar an den Blaumann eines Handwerkers, Gott, wie gewöhnlich!« Friedrich stand vor dem großen Standspiegel und schlüpfte in den bereitgelegten schwarzen Anzug und musterte sich darin. »Sehe ich nicht ein bißchen so aus, als ginge ich zu einer Beerdigung, Liebes?« fragte er mit ernstem Blick in den Spiegel. »Ach was«, flötete Charlotte, »du siehst fabelhaft aus, staatsmännisch elegant. Hier, dazu trägst du jetzt noch diese schöne blaue Krawatte mit dem feinen Muster, das gibt dem Ganzen einen gewissen Pfiff. Außerdem ist dieser Trump zur Beerdigung des Papstes mit so einem blauen Anzug anmarschiert, so was macht man doch nicht, so gegen die Kleidervorschriften zu verstoßen.« Die Zeit verrann. Plötzlich bemerkte Charlotte, daß es schon reichlich spät geworden war. Sie drängte zur Eile, aber dennoch traf man zur Vereidigung des neuen deutschen Bundeskanzlers etwas verspätet ein. Friedrich war das peinlich, galt er doch als der Pünktlichsten einer. Er setzte sich in die erste Reihe. Die Wahl konnte beginnen. Als alle Parlamentarier ihre Stimme abgegeben hatten, stellte sich heraus, daß Friedrich einige Stimmen fehlten. Er hatte keine Mehrheit bekommen. Er war, in der Sprache der Journalisten, »durchgefallen«. Nach hektischen Beratungen in den Fraktionen ließ man einen zweiten Wahlgang folgen. Diesmal reichte es für ihn, er war nun gewählter Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Mit betretenem Gesicht präsentierte er sich den Fotografen der Weltpresse. Damit war die Angelegenheit aber noch nicht erledigt, denn nun mußte der mediale Teil der Wahl absolviert werden. Es meldeten sich Stimmen aus den Parteien. Eine grüne Politikerin sprach von »einer ernsten Situation für das ganze Land.« Dann holte sie weit aus, als schaue sie aus dem Weltall auf die Erde nieder. »In einer Zeit globaler Krisen können wir uns politische Unsicherheiten nicht leisten.« Es schien so, als wüßte sie, wie man sich ordentlich verhält als parlamentarischer Abgeordneter und als habe der einzelne Abgeordnete eine unsichtbare Macht, die sich auf den ganzen Erdball erstreckt. Dann hob sie den Zeigefinger und sprach: »Häme ist jetzt völlig fehl am Platz, denn das Chaos in Berlin schadet dem Ansehen Deutschlands.« Die ganze Welt schaute ihrer Meinung nach auf Deutschland, und die Welt wunderte sich, daß einige der Abgeordneten nicht so funktionierten wie sich das die Parteifunktionäre vorgestellt hatten. Das ›Ansehen‹ war so wichtig, daß es vor allem um das ›Ansehen‹ ging, wie man sich vor der Welt präsentierte. Sie wußte aber zugleich, daß »die Menschen in unserem Land« – das formulierte sie wirklich so – daß »die Menschen in unserem Land zu Recht eine funktionierende handlungsfähige Regierung erwarten.« Damit hatte sie aber nur festgestellt, was die Parteifunktionäre von den Menschen in unserem Land erwarteten: eine ständige Bereitschaft zur Wahrnehmung der höchst wichtigen Vorgänge der Politik, den diese Parteivertreter verfolgten. Selbstreferenz nennt man das in der Soziologie, oder, auf deutsch: Wir sind so wichtig, daß alles, was sich um uns dreht, die Menschen in unserem Land zu interessieren hat. Ein FDP-Politiker flankierte der grünen Dame, indem er Scheindifferenzierungen in seine Rede brachte. Diese Wahl sei »keine Schwächung für Friedrich Merz, das schwächt die Institution Bundestag, das schwächt die Demokratie.« Welche Motive die nicht für Merz stimmenden Abgeordneten immer auch gehabt hatten, es galt dennoch Art. 38 des Grundgesetzes, wonach die Abgeordneten des Deutschen Bundestages eine besondere Gewissensfreiheit genießen und damit ihre Entscheidungen im Rahmen des freien Mandats nur anhand ihres Gewissens ohne Bindung an Weisungen und Aufträge fällen sollen. Das interessierte die Politiker, die nun über die unsichtbaren Abweichler herfielen, überhaupt nicht. Wer nicht den Vorgaben der zwischen den Parteien der künftigen Regierungskoalition ausgehandelten Vereinbarungen zu folgen bereit war, schwächte in ihren Augen automatisch das Parlament, ja sogar die Demokratie insgesamt. Es war dieser totalisierende Zug, der an den Stellungnahmen so bemerkenswert war und verriet, daß es den Parteien nicht um Parlament und Demokratie ging, sondern um ihre Machtstellung. Und wer die angriff, griff gleichzeitig die Demokratie an. Sie besaßen ja praktisch die Demokratie, waren die Demokratie, auch wenn sie von den Stimmen des Demos abhängig waren. Ein regierungstreuer SPD-Abgeordneter schrieb einen offenen Brief an die Mitglieder seines Wahlkreises und drückte seine Stimmung mit den Worten aus, er sei »überrascht/geschockt/empört« über diesen unglaublichen Vorgang. Doch er sprach nicht bloß von seinem Gefühlszustand, sondern gemeindete gleich alle Parteimitglieder mit ein, indem er sagte, er melde sich aus dem Plenum »bei Euch, weil Ihr sicherlich ähnlich überrascht/geschockt/empört seid darüber, was derzeit im Bundestag abläuft.« Konformismus war Bürgerpflicht, Abweichung von der Mehrheit war undemokratisch. »Es ist eine Niederlage der demokratischen Kräfte im Deutschen Bundestag.« Und er fügte beschwörerisch hinzu: »Profitieren wird lediglich die AfD.« Der Fabrikant Gundermann in Theodor Fontanes Roman ›Der Stechlin‹ sprach nicht anders, als er vor der SPD warnte: »Wer nicht stramm ist, ist schwach. Und Schwäche (die destruktiven Elemente haben dafür eine feine Fühlung), Schwäche ist immer Wasser auf die Mühlen der Sozialdemokratie.« Nun gehörte der real existierende SPD-Abgeordnete zu der Gruppe von Politikern, die mit dem Verbot dieser AfD-Partei durch das Bundesverfassungsgericht die Lösung des Problems sah. Ob vielleicht die große Zahl an Abgeordneten dieser unwillkommenen Partei im Bundestag daran lag, daß die übrigen Parteien, die sich ›demokratische Mitte‹ nannten, bei vielen Wähler nicht mehr so gut ankamen, weil die Probleme, mit denen sie im Alltag konfrontiert waren, nicht befriedigend gelöst wurden, diese Frage stellte er sich nicht. Die Existenz dieser Partei ist ja ein Krankheitssymptom und man kann eine Krankheit nicht durch ein Verbot zum Verschwinden bringen, stattdessen sollte man an die sozialen Ursachen herangehen und die dort vorhandenen Krankheiten heilen. Ein sozialdemokratischer Ministerpräsident ließ verlauten, die fehlenden Stimmen seien »eine Belastung für unsere Demokratie«. Nur weil ein Kandidat nicht gleich beim ersten Wahlgang die erforderliche Zahl der Stimmen auf sich vereinigen konnte, war für diesen Politiker die Demokratie bedroht. Man könnte das eine Überreaktion nennen, oder auch eine Form der selbstgefälligen Überhebung. Es ist in der Geschichte des Parlamentarismus schon vorgekommen, daß Parlamentarier der politischen Führung die Gefolgschaft aufgekündigt haben, nur eben noch nie bei einer deutschen Kanzlerwahl, weswegen es als »eine historische Stunde« dargestellt wurde. Ein wahres »historisches Chaos«, ja sogar über eine »Staatskrise« wurde gemunkelt. Folgerichtig müßte man sich dann zu einem Führerstaat bekennen, in dem es von vornherein keine Schwierigkeiten bei der Akklamation gibt, denn das Verhältnis von Führer und Masse ist einseitig geregelt.
Anstatt also den sich weigernden Abgeordneten Anerkennung dafür zu spenden, daß sie von ihrem grundgesetzlich verbrieften Recht Gebrauch gemacht hatten, verurteilten die um ihre Macht fürchtenden autokratischen Politiker dieses Verhalten als Gefährdung der Demokratie. Ein sozialdemokratischer Ministerpräsident meinte, »unser Land braucht eine handlungsfähige Regierung – und zwar schnell.« Das Motiv für diese Eile: »Es stehen wichtige Aufgaben an, die keinen Aufschub dulden, die Maßnahmen für die Belebung unserer Wirtschaft vorneweg.« Da Zeit Geld ist, darf es bei der Wahl eines Kanzlers keine zeitliche Verzögerung geben, jede Sekunde ist kostbar, jede Sekunde bedeutet Verlust für ›die Wirtschaft‹. Schnelligkeit bei der Regierungsbildung ist nach dieser hysterischen Einschätzung der politischen Lage der beste Garant für die kontinuierliche Akkumulation des Kapitals. »Systemtheoretisch gesehen ist also das Verhältnis von Wirtschaft und Politik durch funktionsbedingte Unterschiede und durch Parallelitäten im Systemaufbau, insbesondere durch entsprechende Instabilitäten in beiden Systemen charakterisiert. […] (Man kann im politischen System zum Beispiel nicht einfach entscheiden: es soll uns wirtschaftlich gutgehen!). […] Das heißt, die Strukturen eines Systems können nur mit systemeigenen Operationen variiert werden, die ihrerseits von den Strukturen des Systems abhängen. […] Von politischer ›Steuerung‹ der Wirtschaft kann man deshalb allenfalls in dem Sinne sprechen, daß die Politik die Wirtschaft mit Hilfe politikeigener Unterscheidungen […] beobachtet […] und diese Differenzen zu vermindern sucht. […] ›Steuern‹ kann jedes System also nur sich selber, weil alle Unterscheidungen systemeigene Konstruktionen sind. […] Demnach haben es sowohl die Wirtschaft als auch die Politik mit strukturellen Instabilitäten zu tun. Anders wäre ja auch eine Variation von Strukturen nicht zu denken.«(Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1988, 26f.)
»Das Kinderspielzeug Christentum«
Glaube, subst. masc. – Dinge für wahr halten, für die es keine Parallele und keinen Beweis gibt und die jemand verkündet, der über kein Wissen verfügt. (Ambrose Bierce: The Devil’s Dictionary, 1911)
A: Ach, na so was! Wir haben uns ja lange nicht gesehen. Wie geht’s denn so?
B: Hach! Ich bin noch ganz aufgewühlt, diese letzten Tage haben mich ganz schön mitgenommen.
A: Geburtstag? Hochzeit? Kindstaufe?
B: Viel besser! Kirchentag! In Hannover. Eigentlich Kirchentage, denn es ging ja über fünf Tage. 1500 Veranstaltungsangebote! Kaum zu schaffen, selbst wenn man alles vorher genau durchgerechnet hätte. Aber es war doch schön, dieses Gemeinschaftsgefühl, von dem auch die Menschen auf den Straßen und die Lokalzeitung täglich berichtet haben. Das Blatt brachte ein E-Paper-Spezial zur Eröffnung heraus mit der in Großbuchstaben gesetzten Schlagzeile: ›JA, WIR GLAUBEN DRAN!‹
A: Ja, die Journalisten, sie glauben dran, und müssen nie daran glauben, wenn sie etwas publiziert haben. Ich sehe, Sie haben da auch so einen blutroten Schal um den Hals hängen. Was steht denn da drauf? Ich kann es nicht lesen.
B: Zunächst einmal ist das nicht blutrot, denn wir gehören nicht zu den Kommunisten, für die ist die blutrote Fahne Pflicht. Das ist der Kirchentagsschal in rubinrot. Ist der nicht schick? Und die drei Wörter auf dem Schal, der übrigens zu hundert Prozent aus nachhaltiger, ökologisch angebauter Baumwolle besteht, lauten: »Mutig, stark, beherzt.« Das ist dem ersten Korintherbrief entnommen, Kapitel 16, Verse 13 und 14: »Wachet, steht im Glauben, seid mutig und seid stark! Alle eure Dinge laßt in der Liebe geschehen!« Aus Liebe wurde dann Herz, das paßt doch sehr gut, und das ist dann als »beherzt« noch hinzugefügt worden, weil drei Worte hintereinander immer besser klingen als zwei.
A: Sie meinen, wie in: »Glauben, gehorchen, kämpfen«, die Parole der italienischen Faschisten? Oder: »Ein Volk, ein Staat, ein Führer«, der Parole des deutschen Nationalsozialismus? Also ein Aktionsangebot an jeden Christenmenschen, selbst tätig zu werden und nicht darauf zu warten, daß Gott alles für ihn erledigt. Vorausgesetzt, daß es Gott wirklich gibt.
B: Von Ihnen lasse ich mir meine gute Kirchentagslaune nicht verderben! Ihnen fehlt das Gottvertrauen, das man gerade in unserer heutigen, unruhigen Zeit haben muß.
A: Mit aller Bescheidenheit gefragt: Wann gab es jemals ruhige Zeiten und wann gab es nicht zu allen Zeiten seit Bestehen des Christentums Redner, die sich auf das Gottvertrauen berufen haben. Wie ich höre, hat die ehemalige Bundeskanzlerin auf einer Veranstaltung gesagt: »Gottvertrauen, Vertrauen in Jesus, in den Glauben, hat mir oft geholfen.« Das ist doch ein ganz alter Hut, mit dem man immer kommt, wenn man nichts anderes mehr zu sagen weiß. Die Berufung auf das Höhere! Du liebe Zeit. Diese ehemalige Kanzlerin hat doch, als sie im Amt war und die vielen Flüchtlinge vor der Tür standen, nicht aus christlicher Nächstenliebe die Grenzen öffnen lassen, sondern weil sie wußte, daß es ihr politisch sehr schaden würde, wenn sie als ehemalige DDR-Bürgerin sich geweigert hätte, die Flüchtlinge hereinzulassen, wo sie selbst ja einmal um Asyl gebeten hat. Das hätte man ihr immer vorgehalten, und deshalb hat sie einfach behauptet: »Wir schaffen das.«. Was heißt hier wir? Das ist unglaublich, wenn man bedenkt, daß sie als Privatperson mit all den Problemen, die diese große Zahl an Flüchtlingen im ganzen Land geschaffen haben, überhaupt nichts zu schaffen hatte. Sie sitzt in ihrer Berliner Privatwohnung und berauscht sich am Neuen Testament, aber wie es in den Stadtbezirken zugeht, wo dicht an dicht die Flüchtlinge einquartiert worden sind, das interessiert diese Person nicht die Bohne. Und dann trumpft sie auf dem Kirchentag noch auf und sagt: »Darauf können wir stolz sein. Lassen wir uns das nicht nehmen.« Ebenso stolz auf das von ihm Erreichte ist der bald aus dem Amt scheidende Bundeskanzler, der auf dem Kirchentag sagte, »ich denke schon, daß ich überwiegend das Richtige getan habe.« Man könnte beinahe sprachlos werden gegenüber so viel unbefangener Selbstgerechtigkeit. Aber nur von sich so ungeheuer eingenommene Personen können es wohl bis an die Spitze eines Amtes schaffen.
B: Ja, das sind politische Fragen, die wurden auf dem Kirchentag natürlich auch erörtert, aber mich und die meisten der Besucherinnen und Besucher waren an den vielen Veranstaltungen interessiert. Das Angebot war überwältigend. Da war für jeden was dabei. Da Sie gerade die Kanzlerin erwähnt haben: Die hat an einer ›Bibelarbeit‹ teilgenommen, da wurde ein Stück aus dem 7. Kapitel des Markusevangeliums, nämlich die Austreibung eines Dämons durch Jesus, behandelt. Großartig, wie sie das hinbekommen hat. Aber zu den Angeboten: da gab es jede Menge Musik. In der Christuskirche wurde zweiundsiebzig Stunden lang in einem fort gesungen! Eine beachtliche Leistung! Geradezu sportliches Format hatte das. Und für die jüngeren Leute gab es ›Techno-beats‹ und dazu konnten sie sich segnen lassen. ›DJ-Segen‹ nannte sich das.
A: Was für eine Profanierung!
B: Nun haben Sie sich nicht so, die Kirche darf sich der Gegenwart und der Mode nicht verschließen und wir brauchen die Jugend doch, damit sie den christlichen Glauben in die nächste Generation weiterträgt. Deshalb wurde auch ein ›Taylor-Swift-Gottesdienst› eingerichtet, unter dem Motto »Take me to church, Taylor«. Dieses Event war sofort ausverkauft. Da sehen Sie, wie solche Modernisierungsvorstöße doch ihre Wirkung zeigen.
A: Hoffentlich haben die Fans von Taylor Swift nicht geglaubt, daß sie tatsächlich selbst zu diesem Konzert erscheinen wird. Das wäre doch eine herbe Enttäuschung für sie geworden. Sie wären sicher fast vom Glauben abgefallen.
B: Machen Sie nur ihre dummen Witze, das ficht mich nicht an. Es war eine bombenmäßige Stimmung in der Stadt, eine Polizistin hat Hannovers Superintendenten gefragt – das habe ich in meiner Heimatzeitung gelesen – ob nicht jeden Tag Kirchentag sein könnte.
A: Diese Polizistin mußte nicht – wie wir – Behinderungen im Straßenverkehr auf sich nehmen, langes Warten auf den Bus und zahlreiche Absperrungen. Würde das das ganze Jahr in Hannover so sein, dann müßten sich die Einwohner eine andere Stadt suchen und Hannover diesen Christenmenschen als Spielplatz überlassen. Was mich höchstens interessiert hätte, das wären diese Straßenredner gewesen, die sich bei solchen Veranstaltungen immer einfinden, verlorene Seelen, die im religiösen Überschwang aus vollem Herzen sprechen von Sünde und Teufel und den Zuhörern ins Gewissen reden. Da wird nichts gesegnet, da verausgabt sich vielmehr ein einzelner im tiefen Glauben an seine wirren Worte, wie man das seit 1872 auch in London an der ›Speaker’s Corner‹ erleben kann. Aber als ich um elf Uhr am Samstagabend im Bett lag und zu schlafen versuchte, drangen plötzlich helle Stimmen an mein Ohr. Die Fenster meines Schlafzimmers waren geschlossen, aber es klang so laut, als ob sie geöffnet wären. Ich stand auf, öffnete eines der Fenster, und da war er: ein vielstimmiger Chor, der irgendein den christlichen Glauben hochpeitschendes Lied intonierte. Noch völlig berauscht vom zurückliegenden Kirchentagserlebnis grölten diese Jugendlichen in die Stille der Nacht hinein, gänzlich uninteressiert an der Nachtruhe ihrer Mitmenschen.
B: (fängt an zu singen): »Laß doch der Jugend ihren Lauf, laß doch der Jugend ihren Lauf!« (räuspert sich). Entschuldigen Sie, ich habe mich hinreißen lassen. »Singen, beten und Haltung zeigen«, das war doch eine der Devisen auf dem Kirchentag. Seien Sie nicht nachtragend, Sie sind doch auch einmal jung gewesen und haben vielleicht damals ›I can’t get no satisfaction‹ auf ihrem Plattenspieler laufen lassen, so daß die Nachbarn vor Schreck aus ihren Betten gefallen sind. Aber jetzt etwas ganz Tolles vom Kirchentag: Die Spendendosen mußten während des Tages mehrmals geleert werden, so bereitwillig haben die hier versammelten Menschen Geld gegeben.
A: Da sind uns die Amerikaner weit voraus. Das beherrschen sie aus dem Eff-Eff. Diese Geldkirchen, die mit ihren rund um die Uhr laufenden Fernsehpredigten den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen. Das läuft da wie am Schnürchen.
B: Unterlassen Sie doch diese schiefen Vergleiche! Die Spenden sind doch nicht für geldgierige Fernsehprediger bestimmt gewesen, sondern waren freiwillige Beiträge zur Finanzierung eines Tellers Curry mit Reis, der im Kirchen-Vesper-Zelt ausgegeben wurde. Und diese Hilfsbereitschaft überall! Als ein alter Mann mit Rollator in eine überfüllte Straßenbahn eingestiegen ist, sind sofort fünf Pfadfinder aufgestanden und haben ihm einen Platz angeboten. Oder zwei alte Damen, die Arm in Arm gingen, die eine war blind, die andere führte sie durch die Messehalle, als wären es zwei alte Bekannte. Doch dann habe ich gehört, wie die blinde Dame zur anderen Dame sagte: »Ich komme aus Hessen, und Sie?« Sie waren sich eben erst begegnet! Das sind doch regelrechte Bibelszenen, denen man beiwohnen durfte!
A: Mir kommen die Tränen. Verschonen Sie mich mit diesen kitschigen Geschichten.
B: Die Landessuperintendentin des Kirchenkreises Burgdorf hat vor dem niedersächsischen Landtag die dort versammelten Gläubigen gesegnet und erzählte mir später: »Ich hatte hier vorhin eine Dame, die sehr unsicher wirkte. Nach dem Segen sagte sie, daß es sehr schön war. Erst später erfuhr ich, daß sie Autistin ist. Solche Momente, diese direkte Begegnung, das ist wirklich berührend.«
A: Hören Sie sich eigentlich selber zu, wenn Sie reden? Es mag ja sein, daß sich diese Geschichte so abgespielt hat, aber dann würde es doch ausreichen, wenn die Landessuperintendentin das für sich behält, aber nein, sie muß es ausposaunen, denn für die Kirche verwandelt sich alles in eine Botschaft. Wenn in diesem Fall eine Autistin sich entgegen der gewöhnlichen Erwartung verhält, wird daraus sofort eine Art Wunder. Denn davon schmarotzen alle Religionen und Kirchen der Welt, vom Wunder.
B: Es gab für die Kinder auch eine Hüpfburgkirche! Ist das schön? Man muß den Menschen doch entgegenkommen. Sie dort abholen, wo sie sind und leben.
A: »Das Kinderspielzeug Christentum«, wie John Updike es beschrieben hat! Hören Sie sich mal diese Zahlen an: Das Land Niedersachsen hat 7 Millionen Euro und die Stadt Hannover hat 4 Millionen Euro für die Finanzierung dieses Kirchentags gegeben. Die ›Giordano-Bruno-Stiftung‹ hat mit einem Stand auf dem Kirchentag diese Verschwendung von Steuergeldern angeprangert. Völlig zu recht. Vermutlich hat der Kirchentag darum auch dem niedersächsischen Ministerpräsidenten die Möglichkeit gegeben, sich vor Publikum befragen zu lassen, um dann mit solchen Einsichten die Zuhörerschaft zu fesseln: »Gerade in christlichen Gemeinden gibt es wahnsinnig viel Gemeinsinn.« Dafür sind die 7 Millionen Euro dann doch gut angelegt worden, um dem Volk solche Weisheiten zu vermitteln. Ich hätte es im übrigen besser gefunden, wenn wirklich harte Diskurse stattgefunden hätten, so in der Art: Religion gegen Philosophie. Und zwar der Philosophie, die mit Lukrez beginnt und über David Hume und Ludwig Feuerbach bei Friedrich Nietzsche enden, oder da erst richtig beginnen. Da wäre die christliche Religion ein bißchen ins Schwitzen geraten, aber nein, man läßt eine Politikerin im Ruhestand eine Bibelstelle zu ihren Gunsten auslegen und das versammelte Schafsvolk blökt Beifall. Oder wenn man, anstatt in der Christuskirche zweiundsiebzig Stunden Dauergesang erschallen zu lassen, einige zentrale Werke von John Updike im Ganzen vorgelesen hätte. Der hat in allen seinen Romanen Glauben und Gott behandelt, aber zaftig, um es mal auf jiddisch zu sagen. Ich will hier nicht irgendeine der vielen einschlägigen Passagen zitieren, um Sie nicht in Verlegenheit zu bringen, wo Sie doch gerade so erfüllt sind vom überirdischen Gemeinschaftserlebnis. Doch halt, eine Passage möchte ich doch zum besten geben, aus dem schmalen Roman ›Der Sonntagsmonat‹ (1975), in dessen Mittelpunkt ein amerikanischer Pfarrer steht, der von den verheirateten Frauen seiner Gemeinde immer wieder um Rat gefragt wird und dann, es läßt sich therapeutisch nicht vermeiden, Sex mit ihnen hat. »Und ich schlief mit einigen, wenigen, um mich nützlich zu machen. Die weinende Teenagerbraut, die nie einen Orgasmus hatte, und die hagere geschiedene Frau, bei der die Ergüsse nicht aufhörten, und die halbe Nonne, die auf das Abendmahl und die Gegenwart Jesu Christi und alles, was mit Frömmigkeit erfüllt, versessen war, alle flehten mich um Berührung an.« Schon im ersten großen Roman von Updike, ›Couples‹ (1968), geht es unentwegt um Gemeinschaftserlebnisse, indem die beiden befreundeten Ehepaare wechselweise sehr, sehr lieb zueinander sind, um noch mehr Gemeinschaftsgefühle zu erzeugen. Also gut: Nach ihrem biblischen Verständnis wird das sechste Gebot gebrochen, aber im gegenseitigen Einvernehmen, im Inneren einer Erwachsenenhüpfburg, gewissermaßen. Aber das kann ich Ihnen sagen, die Figuren in diesen Romanen von Updike sind ganz sicher nicht immer mutig und stark, aber daß sie stets beherzt zur Sache gegangen sind, das kann man ihnen guten Gewissens nachsagen.
B: Sie widern mich an, Sie perverses Schwein.
A: Ich darf aus Ihrer Reaktion entnehmen, daß Sie mit dem Inhalt der Romane von John Updike durchaus vertraut sind.
B: Verschwinden Sie, ich will mit Ihnen nicht mehr reden.
A: Erinnern Sie sich denn nicht an die Begrüßungsworte des Bundespräsidenten bei der Eröffnung des Kirchentages? »Wenn hier auch gestritten wird, dann ist das kein Anlaß zur Beunruhigung.« Auf einer der ›Bibelarbeit‹-Veranstaltungen hat die mit sehr viel jugendlichem Sendungsbewußtsein ausgestattete ›Klimaaktivistin‹ Luisa Neubauer gesagt: »In einer Zeit, in der sich so viele Menschen klein und kraftlos fühlen, finde ich es gerade wichtig, aufzustehen und zu widersprechen. Wir geben den Mut weiter, und dann trauen sich mehr Menschen, auch zu widersprechen.«
B: Auf Ihren Widerspruch lege ich keinen Wert. Sie bewegen sich außerhalb jeglicher gesitteter Wertordnung. Fahren Sie zur Hölle!
A: Das ist doch meine Rede, treten Sie ein in die Hölle, der Teufel ist doch so viel interessanter als Gott, amüsanter und mental nicht so befangen wie ein vom Gemeinschaftsgefühl besoffener Christenmensch, der mit einer brennenden Kerze durch eine deutsche Innenstadt rennt. Das schönste Gedicht über den Teufel und die Hölle hat Fritz Grünbaum, der österreichisch-jüdische Kabarettist, Schauspieler und Conférencier geschrieben. Er wurde 1880 geboren und 1941 von den Nazis im KZ Dachau ermordet. Hören Sie sich nur diesen Auszug an (deklamiert):
FRITZ GRÜNBAUM
Vom Teufel
Ich hab’ einen innigen Wunsch, einen frommen:
Ich möcht‘, wenn ich sterb’, in die Hölle kommen!
Schütteln Sie nicht so Ihr weises Haupt,
Die Hölle ist reizender als man es glaubt!
Bedenken Sie, bitte, vor allem nur
Die angenehm-mollige Temperatur!
[…]
Doch das, was man nirgends so fesch sich und schnell schafft,
Wie nur in der Hölle, das ist – die Gesellschaft!
[…]
Damen gibt’s da, so entzückend gebaut,
So eine Mitte von Witwe und Braut.
[…]
Sie sind ordinär und entsetzlich galant,
Schrecklich verlumpt, aber – amüsant!
[…]
So hab‘ ich bewiesen an dieser Stelle,
Das Schönste auf Erden ist doch die Hölle:
Die Leut‘ haben Temperament dort und Charme,
Das Klima ist angenehm, milde und warm;
Die Kleidung ist praktisch, kein Schneider will Geld,
Es ist eine reizend-gemütliche Welt,
Drum seufz‘ ich im Stillen oft: »Gott befohl’n,
Möcht‘ mich nur endlich der Teufel hol’n!«
Fading Civilization. Part Two. Eine apokalyptische Serie
Die Apokalypse hat eine lange Geschichte. Nimmt man sich irgendein Ereignis der Gegenwart vor, so kann man meist ohne Mühe daran ablesen, daß, wie es in gängiger Alltagsrede heißt, »alles den Bach runtergeht«. In dieser Rubrik sollen solche Alltagserscheinungen beleuchtet und interpretiert werden, dabei prüfend, ob nicht doch ein Ende erreicht werden wird und welche Vorteile dies für die Erde dann doch hätte: »Eines ist auf jeden Fall gewiß: der Mensch ist nicht das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen Wissen gestellt hat. Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis diese Dispositionen ins Wanken gerieten, dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« (Michel Foucault: Les mots et les choses, 1966)
Zeitweise Andorra
»Ein massiver Stromausfall hat die Iberische Halbinsel am Montag über Stunden lahmgelegt. Betroffen waren das gesamte spanische und portugiesische Festland sowie zeitweise Andorra. Die Züge, U-Bahnen und Straßenbahnen standen still, der Flugverkehr konnte nicht mehr wie gewohnt abgewickelt werden, und in zahlreichen Gebäuden fielen Aufzüge aus. In Spanien standen Züge still. Der Blackout habe ›zur Unterbrechung des Eisenbahnverkehrs im gesamten Netz geführt‹. Verkehrsampeln funktionierten nicht und führten an vielen Orten zu chaotischen Verhältnissen auf den Straßen. Die Generaldirektion für Verkehr forderte dazu auf, das Autofahren ›so weit wie möglich‹ zu vermeiden. Spaniens Regierungschef rief die Bevölkerung in einer Fernsehansprache dazu auf, sich verantwortlich zu verhalten und mit den Behörden zusammenzuarbeiten.« (FAZ, 29.4.2025)
»Als ob Dunkelheit eine Art Licht sei, das uns den Abgrund sehen läßt, in den wir gleich stürzen werden.« (John Updike: Rabbit. Eine Rückkehr, Reinbek b. Hamburg 2002, 142)
Nur wer mit elektronischen Handorakeln ausgestattet war, konnte diese Nacht überstehen, vorausgesetzt, diese Taschentheater waren vorher ausreichend aufgeladen worden. Die Lichtfunktion der intelligenten Telefone geleitete die Spanier durch die finstere Nacht. Mancher der gebildeten Spanier dachte an das finstere Mittelalter, als die Inquisition auf Geheiß des römischen Papstes unter den Menschen wütete. Nobody expects the spanish inquisition. Our chief weapons are fear and surprise and ruthless efficiency and an almost fanatical devotion to the Pope. (Monty Python’s Flying Circus, Just the Words, Vol. 1, Episode Fifteen, Reading 1989, 192f.). Efficiency, ja, die gab es in dieser Nacht nicht, aber es gab noch genug Elektrizität für eine Fernsehansprache des spanischen Regierungschefs, der die Spanier dazu aufforderte, sich verantwortlich zu verhalten und mit den Behörden zusammenzuarbeiten. Weder der Sinn dieser Ansprache noch die Tatsache ihrer Existenz schien einleuchtend zu sein, denn wie sollten die ohne elektrischen Strom zuhause hockenden Spanier überhaupt ihren Fernsehapparat einschalten können? Welche Art von Zusammenarbeit mit den Behörden stellte sich der Regierungschef dabei vor? Sollte man dem ohne Licht durch die Finsternis irrenden Polizisten ein Streichholz leihen, damit er sich bei seiner sinnlosen Tätigkeit wenigstens eine Zigarette schmecken lassen konnte? Diejenigen mit den intelligenten Telefonen hatten anderes zu tun, sie mußten versuchen, sich zu orientieren, um unbeschadet den Weg nach Hause zu finden und dazu konnte ihnen nur das kleine Lämpchen am Ende des elektronischen Handorakels helfen. Das Wort Noctivagator galt vor fünfhundert Jahren dem Nachtwanderer, der nur darauf aus war, seine Mitmenschen zu überfallen und zu berauben, doch nun war das leuchtende Handtelefon zum Noctivagator geworden, zum Leuchtstab inmitten der gänzlich unbeleuchteten spanischen Straßen. Im 18. Jahrhundert gab es Laternenträger, die des Nachts gegen Bezahlung den Fußgängern den Weg leuchteten. Bei Überfällen war der Befehl: Macht eure Lichter aus, oder wir schießen euch das Hirn aus dem Kopf! ein oft gehörter Befehl. Für Jahrhunderte war die Nacht für die Menschen mit Dunkelheit verbunden, außer dem Mond und den Sternen sowie Laternen an den Wohnhäusern, Kerzen in Metallzylindern, gab es keine künstliche Beleuchtung in den Straßen. Die Hauptwaffe der katholischen Kirche war das Licht, denn das sollte die Allgegenwart Christi bezeugen. Dazu veranstaltete man in Spanien während der ›heiligen Wochen‹ Prozessionen auf den Straßen, bei denen im Kerzenschein öffentlich Büßer gegeißelt wurden. Ganz Spanien war von Kapellen überzogen, die nur von einer einzigen Kerze beleuchtet waren. Alles wäre schrecklich ohne Kerzen war eine gängige Redensart, entnommen einem religiösen Meditationstext aus dem 16. Jahrhundert. Unterwegs, vom spanischen Blackout des 21. Jahrhunderts überraschten Menschen, nutzte diese Spruchweisheit wenig. Manchem Hochgebildeten fiel vielleicht ein, daß im England des 19. Jahrhunderts das Streichholz tatsächlich Lucifer (Lichtbringer) geheißen hatte. Auch der abgefallene Engel Gottes wollte also den Menschen das Licht bringen, vielleicht sogar das Licht der Aufklärung, in dem man sich vor keinem unsichtbaren Gott zu fürchten brauchte. Andere assoziierten die ungewohnte Dunkelheit mit der Zeit des Franco-Regimes, als Spanien, nicht zum ersten Mal, sich von der westeuropäischen Zivilisation verabschiedet hatte. Aber die allermeisten verschwendeten ihre Gedanken nicht an solche abseitigen Gedankenflüge, sie tappten und tasteten sich vorsichtig voran, denn Vorsicht ist die beste Kerze, wie es in einem walisischen Sprichwort heißt, denn auch heute kann man sich nie sicher sein, wenn plötzlich alles in Dunkelheit gehüllt ist und der neben einem gehende Mitmensch auf einmal sich als gemeiner Dieb herausstellt. Doch nicht jeder weiß, daß die Menschen in der Nacht mehr als die meisten Tiere sehen können und sich innerhalb von weniger als einer Stunde die Sehfähigkeit verbessert, die Iris sich weitet und dadurch mehr Licht hereinläßt. Im Dunklen ist gut munkeln. Nun ja, man muß den Januar 2026 abwarten und dann den spanischen Geburtenstatistikern den Nachweis überlassen, ob aus dem Stromausfall Ende April 2025 sich irgendwelche bevölkerungsrelevanten Konsequenzen ergeben haben. Im New York der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts war das geschehen, als die ganze Stadt einmal im Dunkel der Nacht lag und manche New Yorker zu zweit die Zeit bis zur vollständigen Erleuchtung zu überbrücken versucht hatten. Schon kam die todesstille Zeit der Nacht … Nur blut’ger Mord und Wollust geh’n jetzt um. (Shakespeare: Lucretia, 1594). Die Paarung unter den Menschen sollte aber doch bei vollem Tageslicht geschehen, zumindest die Wahl der Partner, denn bei Kerzenlicht betrachtet, kann es nach dem Aufhellen des Himmels zu bestürzenden Resultaten führen: Such dir bei Kerzenlicht weder eine Frau noch ein Leintuch aus. Denn: Bei Kerzenlicht sieht eine Ziege wie eine Dame aus. Die Menschen früherer Jahrhunderte hatten Humor. Dagegen verbot Papst Gregor XVI. (1765–1846) Straßenlaternen, weil die katholische Kirche meinte, diese würden mit ihrem eindringlichen Licht der Bevölkerung helfen, Aufstände zu schüren. Als zu Ostern 2025 der Papst starb und öffentlich aufgebahrt wurde, strömten Hunderttausende zum Petersplatz, bei hellem Tageslicht. Die Mächte der Finsternis müssen auch nach so vielen Jahren nicht um ihre Herrschaft bangen, mit oder ohne Straßenlaternen. Ex oriente lux.
Mit Dank an:
A. Roger Ekirch: At Day’s Close. Night in Times Past, New York 2005; dt. In der Stunde der Nacht. Eine Geschichte der Dunkelheit, Bergisch-Gladbach 2006