Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog
Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.
Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«
Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.
Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.
Fading Civilization. Part Two. Eine apokalyptische Serie
Die Apokalypse hat eine lange Geschichte. Nimmt man sich irgendein Ereignis der Gegenwart vor, so kann man meist ohne Mühe daran ablesen, daß, wie es in gängiger Alltagsrede heißt, »alles den Bach runtergeht«. In dieser Rubrik sollen solche Alltagserscheinungen beleuchtet und interpretiert werden, dabei prüfend, ob nicht doch ein Ende erreicht werden wird und welche Vorteile dies für die Erde dann doch hätte: »Eines ist auf jeden Fall gewiß: der Mensch ist nicht das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen Wissen gestellt hat. Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis diese Dispositionen ins Wanken gerieten, dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« (Michel Foucault: Les mots et les choses, 1966)
Zeitweise Andorra
»Ein massiver Stromausfall hat die Iberische Halbinsel am Montag über Stunden lahmgelegt. Betroffen waren das gesamte spanische und portugiesische Festland sowie zeitweise Andorra. Die Züge, U-Bahnen und Straßenbahnen standen still, der Flugverkehr konnte nicht mehr wie gewohnt abgewickelt werden, und in zahlreichen Gebäuden fielen Aufzüge aus. In Spanien standen Züge still. Der Blackout habe ›zur Unterbrechung des Eisenbahnverkehrs im gesamten Netz geführt‹. Verkehrsampeln funktionierten nicht und führten an vielen Orten zu chaotischen Verhältnissen auf den Straßen. Die Generaldirektion für Verkehr forderte dazu auf, das Autofahren ›so weit wie möglich‹ zu vermeiden. Spaniens Regierungschef rief die Bevölkerung in einer Fernsehansprache dazu auf, sich verantwortlich zu verhalten und mit den Behörden zusammenzuarbeiten.« (FAZ, 29.4.2025)
»Als ob Dunkelheit eine Art Licht sei, das uns den Abgrund sehen läßt, in den wir gleich stürzen werden.« (John Updike: Rabbit. Eine Rückkehr, Reinbek b. Hamburg 2002, 142)
Nur wer mit elektronischen Handorakeln ausgestattet war, konnte diese Nacht überstehen, vorausgesetzt, diese Taschentheater waren vorher ausreichend aufgeladen worden. Die Lichtfunktion der intelligenten Telefone geleitete die Spanier durch die finstere Nacht. Mancher der gebildeten Spanier dachte an das finstere Mittelalter, als die Inquisition auf Geheiß des römischen Papstes unter den Menschen wütete. Nobody expects the spanish inquisition. Our chief weapons are fear and surprise and ruthless efficiency and an almost fanatical devotion to the Pope. (Monty Python’s Flying Circus, Just the Words, Vol. 1, Episode Fifteen, Reading 1989, 192f.). Efficiency, ja, die gab es in dieser Nacht nicht, aber es gab noch genug Elektrizität für eine Fernsehansprache des spanischen Regierungschefs, der die Spanier dazu aufforderte, sich verantwortlich zu verhalten und mit den Behörden zusammenzuarbeiten. Weder der Sinn dieser Ansprache noch die Tatsache ihrer Existenz schien einleuchtend zu sein, denn wie sollten die ohne elektrischen Strom zuhause hockenden Spanier überhaupt ihren Fernsehapparat einschalten können? Welche Art von Zusammenarbeit mit den Behörden stellte sich der Regierungschef dabei vor? Sollte man dem ohne Licht durch die Finsternis irrenden Polizisten ein Streichholz leihen, damit er sich bei seiner sinnlosen Tätigkeit wenigstens eine Zigarette schmecken lassen konnte? Diejenigen mit den intelligenten Telefonen hatten anderes zu tun, sie mußten versuchen, sich zu orientieren, um unbeschadet den Weg nach Hause zu finden und dazu konnte ihnen nur das kleine Lämpchen am Ende des elektronischen Handorakels helfen. Das Wort Noctivagator galt vor fünfhundert Jahren dem Nachtwanderer, der nur darauf aus war, seine Mitmenschen zu überfallen und zu berauben, doch nun war das leuchtende Handtelefon zum Noctivagator geworden, zum Leuchtstab inmitten der gänzlich unbeleuchteten spanischen Straßen. Im 18. Jahrhundert gab es Laternenträger, die des Nachts gegen Bezahlung den Fußgängern den Weg leuchteten. Bei Überfällen war der Befehl: Macht eure Lichter aus, oder wir schießen euch das Hirn aus dem Kopf! ein oft gehörter Befehl. Für Jahrhunderte war die Nacht für die Menschen mit Dunkelheit verbunden, außer dem Mond und den Sternen sowie Laternen an den Wohnhäusern, Kerzen in Metallzylindern, gab es keine künstliche Beleuchtung in den Straßen. Die Hauptwaffe der katholischen Kirche war das Licht, denn das sollte die Allgegenwart Christi bezeugen. Dazu veranstaltete man in Spanien während der ›heiligen Wochen‹ Prozessionen auf den Straßen, bei denen im Kerzenschein öffentlich Büßer gegeißelt wurden. Ganz Spanien war von Kapellen überzogen, die nur von einer einzigen Kerze beleuchtet waren. Alles wäre schrecklich ohne Kerzen war eine gängige Redensart, entnommen einem religiösen Meditationstext aus dem 16. Jahrhundert. Unterwegs, vom spanischen Blackout des 21. Jahrhunderts überraschten Menschen, nutzte diese Spruchweisheit wenig. Manchem Hochgebildeten fiel vielleicht ein, daß im England des 19. Jahrhunderts das Streichholz tatsächlich Lucifer (Lichtbringer) geheißen hatte. Auch der abgefallene Engel Gottes wollte also den Menschen das Licht bringen, vielleicht sogar das Licht der Aufklärung, in dem man sich vor keinem unsichtbaren Gott zu fürchten brauchte. Andere assoziierten die ungewohnte Dunkelheit mit der Zeit des Franco-Regimes, als Spanien, nicht zum ersten Mal, sich von der westeuropäischen Zivilisation verabschiedet hatte. Aber die allermeisten verschwendeten ihre Gedanken nicht an solche abseitigen Gedankenflüge, sie tappten und tasteten sich vorsichtig voran, denn Vorsicht ist die beste Kerze, wie es in einem walisischen Sprichwort heißt, denn auch heute kann man sich nie sicher sein, wenn plötzlich alles in Dunkelheit gehüllt ist und der neben einem gehende Mitmensch auf einmal sich als gemeiner Dieb herausstellt. Doch nicht jeder weiß, daß die Menschen in der Nacht mehr als die meisten Tiere sehen können und sich innerhalb von weniger als einer Stunde die Sehfähigkeit verbessert, die Iris sich weitet und dadurch mehr Licht hereinläßt. Im Dunklen ist gut munkeln. Nun ja, man muß den Januar 2026 abwarten und dann den spanischen Geburtenstatistikern den Nachweis überlassen, ob aus dem Stromausfall Ende April 2025 sich irgendwelche bevölkerungsrelevanten Konsequenzen ergeben haben. Im New York der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts war das geschehen, als die ganze Stadt einmal im Dunkel der Nacht lag und manche New Yorker zu zweit die Zeit bis zur vollständigen Erleuchtung zu überbrücken versucht hatten. Schon kam die todesstille Zeit der Nacht … Nur blut’ger Mord und Wollust geh’n jetzt um. (Shakespeare: Lucretia, 1594). Die Paarung unter den Menschen sollte aber doch bei vollem Tageslicht geschehen, zumindest die Wahl der Partner, denn bei Kerzenlicht betrachtet, kann es nach dem Aufhellen des Himmels zu bestürzenden Resultaten führen: Such dir bei Kerzenlicht weder eine Frau noch ein Leintuch aus. Denn: Bei Kerzenlicht sieht eine Ziege wie eine Dame aus. Die Menschen früherer Jahrhunderte hatten Humor. Dagegen verbot Papst Gregor XVI. (1765–1846) Straßenlaternen, weil die katholische Kirche meinte, diese würden mit ihrem eindringlichen Licht der Bevölkerung helfen, Aufstände zu schüren. Als zu Ostern 2025 der Papst starb und öffentlich aufgebahrt wurde, strömten Hunderttausende zum Petersplatz, bei hellem Tageslicht. Die Mächte der Finsternis müssen auch nach so vielen Jahren nicht um ihre Herrschaft bangen, mit oder ohne Straßenlaternen. Ex oriente lux.
Mit Dank an:
A. Roger Ekirch: At Day’s Close. Night in Times Past, New York 2005; dt. In der Stunde der Nacht. Eine Geschichte der Dunkelheit, Bergisch-Gladbach 2006
Wir brennen für Ostern
So ist zweifellos das Buntfärben der Ostereier, welche die Kinder im Garten suchen müssen, ein Symbol für die Farben der Blumen, die in der Erde schlafen und das Ei, darin alles Leben verwahrt liegt, ist das tiefe Gleichnis des Grabes und der Sehnsucht nach Auferstehung.
Theodor Lessing: Die Farben der Blumen, in: ders.: Blumen, Berlin 1928, 92–108 (107f.)
Am Gartenzaun
Frau Pannemeyer und Prof. Friedrich Lensing unterhalten sich.
Frau Pannemeyer: Guten Morgen, Herr Professor! Na, wagen Sie sich auch aus dem Haus nach den gestrigen Osterfeuern?
Prof. Friedrich Lensing: Ach ja, liebe Frau Nachbarin, das war wieder eine schwere Nacht für mich. Sie wissen, daß ich seit nun schon vielen Jahren an Ostern keine Freude mehr habe. Seit die Osterfeuer epidemisch geworden sind, angefacht durch die hiesige SPD Mitte der achtziger Jahre, bekomme ich nachts keine Luft mehr. Dieser beißende Rauch setzt sich unerbittlich in allen Räumen des Hauses fest. Nun bin ich seit einigen Jahren dazu übergegangen, kurz bevor die heimischen Barbaren die Feuer entzünden, mein Schlafzimmer lange durchzulüften, so daß ich dann wenigstens den Brandgeruch nicht mehr drinnen habe, aber dafür fehlt mir beim Einschlafen dann doch das bißchen Sauerstoff, das man braucht, um in einen gesunden Schlaf hineinzufinden. So stellen sich dann Kopfschmerzen ein, weil die Frischluft, die ich am späten Nachmittag hereingelassen habe, dann doch im Laufe des Tages sich verflüchtigt hat.
Frau Pannemeyer: Wie kann ich Ihnen das nachfühlen! Es geht mir ja genauso. Unsere Biggi, die in Celle im Krankenhaus als Ärztin arbeitet, erzählt mir jedes Jahr davon, wie das auf der Krankenstation für manche Patienten eine jährliche Qual ist und einige der schwerkranken Lungenpatienten sogar unters Sauerstoffzelt gepackt werden müssen. Diese Menschen! Alle wissen vom schädlichen Feinstaub, und unsere Biggi hat gesagt, letzte Ostern wurden sehr hohe bodennahe Feinstaubkonzentrationen gemessen, die durch den Staub hervorgerufen wurden, der aus der Sahara zu uns herübergekommen ist. Die Luftqualität, sagt die Biggi, ist in vielen Teilen Deutschland mäßig bis schlecht Die Emissionen aus den Autos bilden dabei den Hauptanteil. Die Osterfeuer fügen dieser schlimmen Gesamtbilanz noch einiges hinzu. Die Partikel des Feinstaubs dringen tief in die Lungen vor, sagt die Biggi, und lagern sich in den Lungenbläschen ab. Das beeinträchtigt nicht nur die Atemwege, sondern auch das Herz-Kreislauf-System, den Stoffwechsel und das Nervensystem.
Prof. Friedrich Lensing: Es ist ein Irrsinn, der dem menschlichen Geschlecht als Vernunft vorkommt und man tut so, als würde man mit den Osterfeuern etwas für den Erhalt der menschlichen Gemeinschaft tun. Aber haben Sie vor kurzem in der Heimatzeitung diesen Artikel gelesen, der die Überschrift ›USA bitten Deutschland um Eier‹ trug? Es ging um ein neues Vogelgrippevirus, das in Amerika wütet. Der zuständige Redakteur wollte wohl ein Spaßvogel sein mit dieser Überschrift, aber wenn man den Artikel dann las, stand da folgender Satz, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ: »Um die Seuche einzudämmen, wurden in den USA mehr als 166 Millionen Nutzvögel wie Hühner oder Enten gekeult.« Stellen Sie sich das einmal vor: Mehr als 166 Millionen Tiere! Davon waren es 50 Millionen Hühner, das ist der gesamte Legehennenbestand Deutschlands! 50 Millionen Hühner sind gleich 40 Millionen Eier, und das täglich! Ja, da bitten die USA Deutschland um Eier, der Zeitungsredakteur macht eine witzig klingende Schlagzeile und übersieht völlig, welches Grauen sich dahinter verbirgt. Da werden Millionen ›Nutzvögel‹ gezüchtet, um Eier für die Menschen zu legen, und manche von diese Lege-Wesen werden dann später auch noch geschlachtet, um den unersättlichen menschlichen Appetit auf Tierfleisch zu befriedigen, aber das eigentliche Thema ist für diese Zeitung, daß nun in den USA kein anständiges Osterfest gefeiert werden kann, nicht etwa weil es nur wenige Eier auf dem Markt gibt, sondern auch weil eine »Eggflation« die Preise hochtreibt. So muß man in einigen Großstädten der USA zwölf Dollar für ein Dutzend Eier hinlegen.
Frau Pannemeyer: Ach. lieber Herr Professor, das ist ja furchtbar, was Sie da erzählen. Unsere Biggi, die gern Statistiken liest, hat mir erzählt, daß dieses Jahr in Deutschland im Durchschnitt jeder Bundesbürger 249 Eier verdrückt hat. Mich hat man nicht gefragt, aber ich bin auch nicht so ein Eier-Konsument. Man will doch den armen Hühnern auch etwas zum Bebrüten lassen, denn dafür sind die Eier doch eigentlich da. Ich habe gehört, daß Leute, die es sich leisten können, sich hart gekochte Eier als Unterlage für echten Kaviar gönnen, na ja, wer’s zahlen kann! Biggi sagt, laut Statistik der ›Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung‹ ist der bundesweite Verbrauch dieses Jahr um vier Prozent gewachsen, auf rund 20,8 Milliarden Eier. Nicht Millionen, Milliarden! Unglaublich, wie gefräßig die Menschheit ist.
Prof. Friedrich Lensing: Stellen Sie sich vor, man hätte die am Corona-Virus erkrankten Menschen einfach ›gekeult‹. Was gäbe das für einen humanitären Aufstand in der Öffentlichkeit. Die Menschheit würde sich über Jahrzehnte nicht mehr beruhigen über dieses gewaltige Verbrechen an unschuldigen Menschenleben. Aber ›Nutzvögel‹ sind eben keine ebenbürtigen Lebewesen, das sagt ja schon der Begriff ›Nutzvögel‹. Und alles vernutzen die Menschen ja, sie sind die Herren der Welt. Der liebenswerte Dodo, ein großer Vogel, der nicht fliegen konnte und ausschließlich auf der Insel Mauritius im Indischen Ozean gelebt hat, ist im Jahre 1690 ausgestorben. Und wieso ist er ausgestorben? Nicht etwa, weil die Insel ihm kein Futter, hauptsächlich Früchte, mehr bot. Nein, weil menschliche Invasoren Jagd auf die schönen Vögel machten. Das Fleisch des Dodo verspeisten diese Seefahrer nicht, weil es Ihnen nicht schmeckte, aber man fraß in großen Massen die Eier. Da jedes Schiff Ratten mit sich führte, hat die bisher auf Mauritius nicht heimische Pest dafür gesorgt, daß der Dodo innerhalb kürzester Zeit vom Erdboden verschwand. Eingeführte Schweine und Affen haben dann den Rest besorgt, indem sie die Gelege auffraßen. Lesen Sie das großartige Buch ›Der Gesang des Dodo. Eine Reise durch die Evolution der Inselwelten‹ von David Quammen, im Jahre 2001 auf deutsch erschienen. Ich leihe es Ihnen gern einmal, es hat allerdings 974 Seiten, aber es ist ganz leicht zu lesen, weil es packend geschrieben ist.
Frau Pannemeyer: Vielen Dank, Herr Professor Lensing, da will ich gern einmal hineinschauen, falls nicht meine Biggi, wenn sie mich wieder einmal besucht, es mir nicht stiehlt, denn sie ist von Kindheit an eine richtige Bücherratte gewesen. Und diese Art von Ratten lasse ich mir schon gefallen.
Fading Civilization. Part One. Eine apokalyptische Serie
Die Apokalypse hat eine lange Geschichte. Nimmt man sich irgendein Ereignis der Gegenwart vor, so kann man meist ohne Mühe daran ablesen, daß, wie es in gängiger Alltagsrede heißt, »alles den Bach runtergeht«. In dieser Rubrik sollen solche Alltagserscheinungen beleuchtet und interpretiert werden, dabei prüfend, ob nicht doch ein Ende erreicht werden wird und welche Vorteile dies für die Erde dann doch hätte: »Eines ist auf jeden Fall gewiß: der Mensch ist nicht das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen Wissen gestellt hat. Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis diese Dispositionen ins Wanken gerieten, dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« (Michel Foucault: Les mots et les choses, 1966)
Ratten übernehmen das Ruder
In Großbritanniens zweitgrößter Stadt, Birmingham, ist für Ratten das Paradies ausgebrochen. Ein Streik der Müllwerker hat ihnen ein reichliches Futterangebot beschert. Die Müllbeutel mit dem Inhalt von 20.000 Tonnen Müll, von 1,1 Millionen Menschen produziert, liegen seit Wochen vor den Häusern der Menschen. Bereits vor zwei Jahren hat der von der Labour Party beherrschte Stadtrat den Bankrott der Stadt erklären müssen. Eine Stadt, die nicht mehr genug Geld für den Abtransport des täglich anfallenden Mülls hat, findet sich damit ab, daß die Rattenpopulation reichlich Nahrung hat und damit die besten Voraussetzungen für eine immer schnellere Reproduktion dieser Spezies bietet. Selbst der Rattenfänger von Hameln würde angesichts dieser Mengen an Ratten die Achseln zucken und den Ort des Geschehens unverrichteter Dinge verlassen. Ein literarisches Denkmal hat Günter Grass 1986 der Ratte mit seinem dystopischen Roman ›Die Rättin‹ gesetzt. Im Plauderton berichtet ein fiktiver Erzähler von seinen Unterhaltungen mit einer weiblichen Ratte, die ihm aus der Geschichte der menschlichen Zivilisation Episoden vorführt, bei denen es zu denkwürdigen Begegnungen zwischen Mensch und Ratte gekommen ist. Wie der Roman ausgeht? Wer gewinnt? Lesen Sie das Buch, es ist nur 459 Seiten lang.
Wir schrecken ab! Wir sind abschreckend!
Marktschreierei füllte die ganze Welt. Für Diplomatie war keine Zeit. (H. G. Wells: Der Luftkrieg, 1908)
Der Schweizer Waffenhändler Kuno Raeber liegt in einem eleganten Deck-Chair auf seiner Yacht in der Marina von Monaco. Aus den Tiefen der Yacht dröhnt laute Musik: Come you masters of war / You that build all the guns / You that build the death planes / You that build the big bombs / You that hide behind walls / You that hide behind desks / I just want you to know / I can see through your masks… (Raeber schreit durch die geöffnete Luke nach unten): Ja, Herrschaftszeiten, Jean-Claude, jetzt ist aber mal gut! Ich weiß ja, daß du, seit wir mit dir ins Cinema zu dem Bob Dylan-Bio-Film gegangen sind, du seine Lieder abspielen willst, aber es hat alles seine Grenzen und seine Zeit. Ich brauche hier oben amal ein wenig Ruhe nach der geschäftigen Woche, wo der Papa ja doch wieder ein bißchen Geld hat einfahren können. Davon profitierst du ja auch mit, gell? (Musik verstummt augenblicklich. Der Waffenhändler wendet sich einem imaginären Publikum zu und fängt an zu monologisieren):
Ja, also, das war eine Woche! Wahnsinn! Eine Konferenz jagte die nächste. Ich bin aus dem Flieger gar nicht rausgekommen. Das heißt, ausgestiegen bin ich ja schon, denn ich mußte ja auf den verschiedenen Konferenzen und Messen voll präsent sein, damit wir hier in Europa einen langfristigen Frieden beschert bekommen, nicht wahr? Haben Sie das gesehen, wie seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine die Aktie des Rüstungsherstellers Rheinmetall eine beispiellose Rallye hinlegt? Als Rheinmetall 2023 in den DAX aufgenommen wurde, hat eine Aktie etwa 250 Euro gekostet. Jetzt springt sie von Allzeithoch zu Allzeithoch. Das hat den Rheinmetall-Vorstandsvorsitzenden denn auch dazu gebracht, von einer »neuen sicherheitspolitischen Dekade« zu sprechen. Und Deutschlands größter Rüstungskonzern Rheinmetall legt jetzt Jahr um Jahr mehr zu. Das liegt auch daran, daß man im Land umzudenken begonnen hat. Bis zum Überfall der Russen war der Bedarf an Munition immer weiter geschrumpft, keiner hat die Läger gefüllt, weil man geglaubt hat, daß man mit Artilleriemunition nicht sonderlich effektiv arbeiten kann, weil es ja Nuklearwaffen gibt. Doch nun ist Munitionsmangel die größte Sorge der ukrainischen Armee. Da kommt Rheinmetall ins Spiel. Denn die sind der größte Hersteller von Artilleriemunition in der westlichen Welt. Mehrere Hunderttausend Schuß gehen nun in die Ukraine, wie mir der Rheinmetall-Vorstandsvorsitzende schon vor einem Jahr bestätigte. Der Konzern ist 2024 um 40 % gewachsen und der wichtigste Treiber ist die Artillerie. Die Finanzmärkte messen Rheinmetall eine erhebliche Bedeutung für die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands und Europas zu. Intern spricht man von einer »Zeitenwende 2.0« Ich sprach eben von der Verteidigungsfähigkeit Deutschlands und Europas und dazu muß man wissen, daß die deutsche Bundeswehr nach Angaben des Statistischen Bundesamtes die siebtteuerste Armee der Welt ist. Also billig ist die Bundeswehr nicht und dennoch notorisch unterversorgt. Der milliardenschwere Schuldenplan der kommenden schwarz-roten Bundesregierung soll da einiges beheben. Aber das bedarf der Planungssicherheit. Der Bau von Panzern, Flugzeugen und Munition ist kapitalintensiv und es braucht viel Zeit, bis man die Produkte an die Front schicken kann. Erst kürzlich habe ich mich mit dem Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) unterhalten, und der sagte mir, daß Kunden in Europa jetzt »ihre Bedarfe bestmöglich harmonisieren und poolen« sollten. An so einem Satz hätte ich als Sprachliebhaber einiges auszusetzen, aber man kann von einem Hauptgeschäftsführer des BDSV auch keine Satzqualitäten wie die eines Goethe erwarten, oder? Er sagte weiter, »die Industrie braucht jetzt klare Ansagen, von welchen Produkten man wie viel in welcher Zeit als Output erwartet. Wenn dies klar ist, wird sie auch liefern.« Jetzt kommt’s. Der BDSV-Präsident ist im Hauptberuf Vorstandsvorsitzender von Rheinmetall. Sehen Sie, ist das nicht ein schönes Beispiel von Synergie? So muß das laufen, und wenn es so läuft, dann läuft es wie geschmiert. Nur so kann die Waffenproduktion schnell und zuverlässig hochgefahren werden. Ein französischer Verantwortlicher des Luft- und Raumfahrtkonzerns Safran sagte mir, man sei »bereit, sich an der Kriegswirtschaft zu beteiligen, aber wir brauchen Klarheit, um investieren zu können.« Schon jetzt aber könne man sich vor Aufträgen kaum retten, vor allem Aufträge aus den USA und den Arabischen Emiraten seien in großer Zahl eingetroffen. Auf diesen Rüstungskonferenzen hört man aber auch viel Unsinn. Da soll nun ganz viel Geld für die Modernisierung der Infrastruktur ausgegeben werden, zum Beispiel sollen die vielen maroden Brücken in Deutschland saniert werden. Ja, langt’s noch? Haben Sie es noch nicht kapiert? Wenn der Russe tatsächlich, wie in den Prognosen der Militärs behauptet, spätestens ab 2029 dem Zug nach dem Westen folgen wird, mit massiven Panzereinheiten, ja, was ist dann? Dann offeriert man den russischen Panzern ein komfortables Aufmarschplateau, mit stabilen, stahlbewehrten Brücken, auf denen sie zügig in unser Land einfallen können. Hingegen, wenn man die vielen maroden Brücken weiterhin in ihrem bisherigen Zustand beläßt und auf den Zahn der Zeit setzt, rollen die russischen Panzer auf diese Brücken und dann…zack, fallen sie in die Tiefe. Bessere Panzerfallen als unsere maroden Brücken kann es doch gar nicht geben. Rechnen Sie mit! Was kostet es allein an Sprengstoff, um die gerade erst renovierten Brücken in die Luft zu jagen, um dem Iwan den Überfall zu erschweren? Das wird teuer, sehr teuer, und die vielen Milliarden, die in die Behebung der Brückenmängel gesteckt wurden, kann man auch abschreiben. Also manchmal fehlt es diesen Militärpolitikern einfach an der strategischen Weitsicht und der Erkenntnis, daß eine gewisse Vulnerabilität von Vorteil sein kann. Ach, ja, da könnte man lange lamentieren, aber wir wollen dennoch freudig nach vorn schauen und dem russischen Präsidenten auf den Knien danken, daß er die Ukraine überfallen hat. Ein Gottesgeschenk aus rüstungswirtschaftlicher Perspektive. Dann aber auch, weil der Krieg sich so hinzieht, das ist rüstungswirtschaftlich immer von größerem Vorteil als wenn die ganze Angelegenheit in ein paar Wochen erledigt wird. Man hat zwar früher gern vom »Blitzkrieg« geredet, aber aus waffenwirtschaftlicher Sicht ist das nicht zu begrüßen, und deshalb gefällt mir die Strategie der Russen auch besser, so ganz gemächlich die Ukraine mit nicht nachlassenden Nadelstichen zu bekriegen. Da springt kriegswirtschaftlich gesehen einfach mehr heraus. Man probiert verschiedene Waffensysteme, praktisch unter Laborbedingungen aus, und dennoch handelt es sich nicht um Laborbedingungen, es ist wirklich Krieg und bedauerlicherweise sterben dabei auch Menschen. Wenn ich auf diesen Konferenzen mit den Vertretern der Staaten plaudere, löcke ich manchmal aus Daffke wider den Stachel. Dann sage ich zu denen: Also wissen Sie, Kant hat einmal gesagt: »Für nichts als den Krieg hat der Staat Geld.« Da müssen Sie mal deren Gesichter sehen! Großartig! Wie sich die Hautfarbe verfärbt, ins Grünlich-Bläuliche changiert. Diese Sekunden des Schocks und des Entsetzens koste ich immer voll aus. Ach, ehe ich es vergesse, ich hatte dann auch noch eine interessante Unterredung mit dem Generalinspekteur der Bundeswehr, also einem ganz hohen Tier. Aufgrund meiner Stellung als Waffendealer bin ich es aber gewöhnt, daß von mir ausgehende Einladungen zu einem Gespräch kaum verweigert werden. Das können die sich auch gar nicht leisten. Tja, er antwortete mir also auf meine Frage, ob wir in einem Krieg gegen russische Drohnen überhaupt verteidigungsfähig seien: »Wenn Sie allerdings fragen, ob wir uns in einem großmaßstäblichen Krieg auch gegen Drohnen ausreichend verteidigen könnten, würde ich Ihnen sagen, daß wir das derzeit nicht können.« Für den Generalinspekteur ist der Abschreckungsgedanke die leitende Idee. »Wir müssen damit rechnen, daß Rußland ab 2029 in der Lage ist, einen großmaßstäblichen Angriff gegen NATO-Territorium zu wagen. Um das zu verhindern, müssen wir abschrecken. Wir müssen genau so stark sein, daß es einem Gegner gar nicht erst in den Sinn kommt, uns anzugreifen. Wir wollen abschrecken und damit einen Krieg verhindern.« Ja, die Abschreckung, es ist doch ein zu schöner Gedanke, den man immer wieder aufgreift und darauf hofft, daß er seine Wirkung zeigt. Glauben Sie daran? Im Vertrauen gesagt, ich nicht. Aber das muß ich auch gar nicht. Die Hauptsache ist doch, daß unsere Abnehmer daran glauben oder zumindest der Öffentlichkeit einzureden versuchen, daß Abschreckung die beste Verteidigung ist. Und die läßt man sich denn auch schon etwas kosten. Mir kommt’s entgegen, ich habe keine Einwände. So, ich habe mir nun doch einen Appetit angeredet. Ich glaube, ich habe im Frigidaire noch eine Flasche Krug stehen, und dazu werde ich mir eine Scheibe Bauernbrot mit Bauernleberwurst machen. Wissen Sie, auf diesen Rüstungskonferenzen wird man jetzt ständig mit diesem Beluga-Kaviar abgefüttert. Das ist doch inzwischen ein Arme-Leute-Essen geworden. Gehen Sie mir los! Ich brauch’ das nicht. Aber eine Scheibe Bauernbrot mit einem feinen Leberwurstaufstrich und dazu dann ein Glas Krug-Champagner, also da kommt eine Stimmung auf. (Steht auf und geht auf die Treppe zu, die in den unteren Schiffsraum führt. Man hört die letzte Strophe des Protestsongs von Bob Dylan, ›Masters of War‹, aus dem Jahre 1963): And I hope that you die / And your death’ll come soon / I will follow your casket / In the pale afternoon / And I’ll watch while you’re lowered / Down to your deathbed / And I’ll stand o’er your grave / ’Til I’m sure that you’re dead.
Neue Gespräche im Elysium XXII
Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.
Ernst-Dieter Lueg meets Kurt Schwitters
Herbert Wehner: Ich weiß nichts, und Sie wissen nichts, Herr Lüg.
Ernst-Dieter Lueg: Vielen Dank für diese Zwischenkommentierung, Herr Woehner. (3. Oktober 1976)
Ernst-Dieter Lueg: (spricht sotto voce bei ausgeschaltetem Mikrophon, während im Hintergrund auf einem riesigen Bildschirm ein Wahlspot der CDU läuft, in der der CDU-Politiker Friedrich Merz sagt: »Es lohnt sich wieder, fleißig zu sein und anzupacken. Lass uns das machen, Deutschland … Damit wir wieder stolz sein können auf unser Land.« Danach folgt die Zeile: »Friedrich Merz. Kannzler für Deutschland« [Ja, bei der CDU heißt der Kanzler der Kannzler, weil es vom Können kommt]): Hören Sie, Herr Schwitters, wir hatten das doch schon in der Vorbesprechung vereinbart, daß Sie sich das Buch des Herrn Merz, ›Mehr Kapitalismus wagen‹, vornehmen und in der laufenden Sendung ›vermerzen‹, also in das von Ihnen erfundene Format MERZ bringen. Wir hatten einen Deal. Wenn Sie sich jetzt plötzlich weigern, das zu tun, weil Sie meinen, der Künstler dürfe sich nicht ins Politische einmischen, dann müssen wir auf die andere Variante zurückkommen und Sie verpflichten sich, den Intendanten zu porträtieren, so wie Sie das ja während Ihrer Zeit als Emigrant in England praktiziert haben, als Sie fotogetreue Gemälde von britischen Offizieren und Sergeanten gemalt haben, um sich damit über Wasser zu halten. Und im Falle unseres Intendanten müssen Sie dann ja auch nicht wie bei den Offizieren die Rangzeichen am Uniformkragen abmalen, weil unser Intendant über solche als normaler Zivilist nicht verfügt. Das ist jetzt ganz und gar Ihre Entscheidung.
Kurt Schwitters: Die Verantwortung des Künstlers gilt nur der Kunst. Der Abfall der Welt ist meine Kunst. Ich nannte meine neue Gestaltung mit prinzipiell jedem Material MERZ. Das ist die 2te Silbe von Kommerz. Es entstand beim Merz-Bild, einem Bilde, auf dem unter abstrakten Formen das Wort MERZ stand, aufgeklebt und ausgeschnitten aus einer Anzeige einer Bank, in der das Wort COMMERZ vorkam. So nannte ich ein Bild mit dem Worte MERZ das MERZ-Bild. Mir war damals auch das Kompositum ›Merzvieh‹ bekannt, also ausgesondertes Vieh, das man als abgängig oder überzählig aus den Herden aussondert und verkauft, aus Altersgründen oder weil es keinen Zweck mehr erfüllt. Damit zusammenhängend dann auch das Wort ›Ausmerze‹, das während der NS-Zeit eine fürchterliche Bedeutung angenommen hat. Das Wort MERZ hatte keine Bedeutung, als ich es formte. Jetzt hat es die Bedeutung, die ich ihm beigelegt habe. MERZ heißt Auswählen, Kombinieren, Montieren von Materialien, sowohl ganz gegenständliche wie immaterielle, also Worte. Ich habe daher Banalitäten vermerzt, ein Kunstwerk aus Gegenüberstellung und Wertung an sich banaler Sätze gemacht. Die Bedeutung des Begriffs MERZ ändert sich mit der Änderung der Erkenntnis derjenigen, die im Sinne des Begriffs weiterarbeiten. MERZ ist Konsequenz. MERZ bedeutet Beziehungen schaffen, am liebsten zwischen allen Dingen der Welt. Für mich ist MERZ Weltanschauung geworden, ich kann meinen Standpunkt nicht mehr wechseln, mein Standpunkt ist MERZ. Jetzt nenne ich mich selbst MERZ.
Ernst-Dieter Lueg: Wußten Sie, daß bereits seit 1908 das von einem Friedrich Merz gegründete pharmazeutische Unternehmen ›Merz‹ existierte? Die Firma brachte 1911 das Verhütungsmittel ›Patentex‹ auf den Markt. Es ist doch fabelhaft, wenn Sie bedenken, daß wir bald einen Bundeskanzler haben werden, der Merz heißt. Was ergeben sich da für künstlerische Möglichkeiten für Sie!
Kurt Schwitters: Ich habe ausgemerzt. Wir beide haben ausgemerzt, wir sind Schattengestalten, also was wollen Sie eigentlich von mir?
Ernst-Dieter Lueg: Sie haben 1919 die M.P.D gegründet, die MERZ-Partei Deutschland. Mit Aufrufen in Tageszeitungen haben Sie die Wähler aufgefordert: ›WÄHLT ANNA BLUME/M.P.D.‹
Kurt Schwitters: Ich war das einzige Mitglied dieser Partei. Das war eine künstlerische Aktion, mit der ich jede Partei negiert habe. Ich arbeite mit Abfall. Auch eine Partei oder ein Politiker sind Abfall der Zivilisation. Auch hier gilt das Prinzip Produzieren, Kaufen, Benutzen, Wegwerfen. Die Bilder Merzmalerei sind abstrakte Kunstwerke. Das Wort MERZ bedeutet wesentlich die Zusammenfassung aller erdenklichen Materialien für künstlerische Zwecke und technisch die prinzipiell gleiche Wertung der einzelnen Materialien. Die MERZmalerei bedient sich also nicht nur der Farbe und der Leinwand, des Pinsels und der Palette, sondern aller vom Auge wahrnehmbaren Materialien und aller erforderlichen Werkzeuge. Dabei ist es unwesentlich, ob die verwendeten Materialien schon für irgend welchen Zweck geformt waren oder nicht. Das Kinderwagenrad, das Drahtnetz, der Bindfaden und die Watte sind der Farbe gleichberechtigte Faktoren. Das Material ist so unwesentlich, wie ich selbst. Wesentlich ist das Formen. Weil das Material unwesentlich ist, nehme ich jedes beliebige Material, wenn es das Bild verlangt. Das Kunstwerk gestaltet sich nur aus seinen Mitteln. Alles stimmt, aber auch das Gegenteil.
Ernst-Dieter Lueg: Alles schön und gut, aber wir sind gleich auf Sendung. Also, Herr Schwitters, wie steht es, machen wir das nun?
Kurt Schwitters: Ehe ich den Indentendanten in Öl abmale, steige ich dann doch lieber in den Ring. Also gut, legen wir los.
Ernst-Dieter Lueg: Wunderbar. (Schaltet das die ganze Zeit in seiner Hand liegende Mikrophon an und wechselt in einen offiziellen Medienübertragungston): Guten Abend, meine Damen und Herren, herzlich willkommen zu ›ELY-TV‹, dem Sender aus der Unterwelt, wo die Zuschauer alles Wissenswerte aus der Oberwelt erfahren können. Mit MERZ bezeichnete Kurt Schwitters eine künstlerische Collage-Technik, mit der er Zeitungsausschnitte, Reklameanzeigen und Abfall von der Straße zusammenband. Merz ist der Nachname des kommenden Bundeskanzlers Friedrich Merz. Neben mir steht der berühmte deutsche Künstler Kurt Schwitters, der gleich aus dem Buch ›Mehr Kapitalismus wagen‹, das unser neuer Bundeskanzler Friedrich Merz vor siebzehn Jahren geschrieben hat, vortragen wird. Doch das wird keine gewöhnliche Rezitation werden, keine bloße Buchlesung, nein, meine Damen und Herren, der auch unter dem Künstlernamen MERZ bekannte Artist Kurt Schwitters wird das Werk auf neuartige Weise wiedergeben, in einer Lesart, wie es bisher keiner der Leser dieses Buches gelesen hat. Darf ich bitten, Herr Schwitters!
Kurt Schwitters: Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Meine MERZ-Kunst verarbeitet grundsätzlich alles und wertet das dann gegeneinander, Sinn gegen Unsinn. Ich werte Sinn gegen Unsinn. Den Unsinn bevorzuge ich, aber das ist eine rein persönliche Angelegenheit. Mir tut der Unsinn leid, daß er bislang so selten künstlerisch geformt wurde, deshalb liebe ich Unsinn. Ich habe hier einen Gegenstand, das Buch ›Mehr Kapitalismus wagen‹ des Politikers Friedrich Merz von der ›Christlich-demokratischen Union‹. Verwechseln Sie das, was nun folgt, nicht mit dem Dadaismus. Während Dadaismus Gegensätze nur zeigt, gleicht MERZ Gegensätze durch Wertung innerhalb eines Kunstwerks aus. Die Gestaltung erfolgt aus jedem Material. Dada war gegen Kunst, aber MERZ ist absolut und uneingeschränkt und vierundzwanzig Stunden am Tag FÜR Kunst. MERZ wertet den Abfall der Welt auf. Moholy, Mondrian und Malewitsch. Wir leben im Zeitalter des M, siehe MERZ. MERZ ist – Merz. Aber: Armes Deutschland! – Wenns nur Merz hat! Banalität ist jeden Bürgers Zier. Das Bürgertum ist aller Bürger Anfang. MERZ steht allen offen, den Idioten wie den Genies. Auch ich bin ein Idiot, und ich kann es beweisen. (Wird von Ernst-Dieter Lueg unterbrochen, der ihm zuraunt): Bitte, Herr Schwitters, kommen Sie doch zum Thema des Abends! (Schwitters läßt sich nicht beirren und fährt fort zu deklamieren): Haben Sie die interessanten Aufschriften auf Eisenbahnstellwerken gesehen, die immer so interessant wirken, weil man ihren Sinn nicht versteht? Kennen Sie meine Sciencefiction-Parabel ›Der grüne Globus‹? Mit großer Geschwindigkeit rast ein Himmelskörper auf die Erde zu. In immer kürzer werdenden Abständen erscheinen Sonderausgaben der Zeitungen zum bevorstehenden Weltuntergang. Die drohende Katastrophe führt zur Einigung aller politischen Parteien. Schließlich gleitet der Komet an der Erde vorbei. Ein Zusammenstoß, bei dem es nicht zum Zusammenstoß kommt! Ich habe hier die Porträts von Hitler und Goebbels (hebt beide Hände und tut so, als halte er zwei Gemälde in die Luft) Gut, hier sind sie, Leute, wollen wir sie aufhängen oder an die Wand stellen? Haben Sie meinen Text ›Aus dem Lande des Irrsinns‹ gelesen? Nein? Ist es eigentlich nötig, von einen Land des Irrsinns zu sprechen? wird der aufmerksame Leser sicherlich fragen, denn jeder weiß, daß wir in einer Welt des Irrsinns leben. Oder sollte es wirklich noch Leute geben, denen dieser Grundsatz nicht klar ist? (Ernst-Dieter Lueg schaut mit verzweifeltem Gesichtsausdruck auf Schwitters, sagt aber nichts; Schwitters ergreift das Merz-Buch und beginnt tatsächlich mit der vermerzten Lesung):
MERZ: Wenn aber schon eine große Koalition in Deutschland zur Lösung der Probleme nicht in der Lage ist? Diese Party ist jetzt vorbei. Die Deutschen sollten den Kapitalismus verstehen, damit er gerettet werden kann. Und retten müssen wir den Kapitalismus, denn ohne Kapitalismus gibt es keinen Sozialstaat. Die globale Lage wird politisch und ökonomisch instabiler. Die Party ist jetzt vorbei. Wenn die großen Weichen falsch gestellt sind, läßt sich zwar im Kleinen manches verbessern. Jeder Bürger soll seine Zukunft in die eigenen Hände nehmen. Wie kann man von unserer Wirtschaftsordnung als ›Kapitalismus‹ reden? Wir sprechen seit jeher — politisch korrekter – von ›Sozialer Marktwirtschaft‹. Mit großem »S«. Ursprünglich war das Adjektiv »sozial« für das Konzept der Marktwirtschaft nicht vorgesehen. Ihr Kern ist und bleibt der Wettbewerb im Markt. Die Akzeptanz der Marktwirtschaft in der Bevölkerung ist in den letzten Jahren erkennbar gesunken. Den Befürwortern von Freiheit und Eigenverantwortung fehlt das Selbstbewußtsein und die visionäre Kraft, sie einzufordern. Die Marktwirtschaft im Alltag erklärt sich nicht von selbst. Unternehmer kommen in deutschen Schulbüchern schlecht weg. Das ist ein Skandal. Politik und Wirtschaft müssen mit den richtigen Argumenten für die Marktwirtschaft werben. Die Globalisierung hat Vorteile für uns alle. Es kommt heute nicht mehr darauf an, welche Krawatte ein Politiker trägt. Die Welt um uns herum wird noch kapitalistischer werden! Die Welt wartet nicht auf Deutschland. Wir müssen uns alle wieder ein wenig mehr anstrengen und werden wieder mehr arbeiten müssen. Den Sozialpolitikern aller Parteien fällt es schwer, ihren Fürsorgedrang zu bändigen. Wenn der freie Mensch in den Tag hinein lebt. Niemals bindungs- und beziehungslos. Warum die Marktwirtschaft aus sich selbst heraus sozial ist. Gut, daß wir nun auch in Deutschland ›Heuschrecken‹ haben! Macht und Gewinnstreben sind Teil der menschlichen Natur. Was in der Demokratie die Wähler, das sind in der Wirtschaft die Kunden. Auf den deutschen Mittelstand können wir wirklich stolz sein. Seit jeher sind viele Deutschen anfällig für die Thesen ihres großen Sohns aus Trier. Auf fruchtbaren Boden fallen. Diese Party ist jetzt vorbei.
Wozu brauchen wir Politiker? Eine Nachlese zur Bundestagswahl
Jede Wahl beginnt mit einem Durcheinander. (Honoré de Balzac: Die Volksvertreter, 1854)
Dr. Anneliese Sendler: Ja, einen schönen guten Abend, meine lieben Zuschauer. Wir haben heute einen ganz besonderen Leckerbissen für Sie vorbereitet. Die Vertreter von drei philosophischen Vereinigungen werden sich zum Ausgang der eben stattgefundenen Bundestagswahl äußern. Der Titel der Sendung heißt: ›Wozu brauchen wir Politiker?‹ Mein Redakteur hat sich diesen Titel ausgedacht, in Anlehnung an den Song ›War, what is it good for?‹ aus dem Jahre 1969 von Norman Whitfield und Barrett Strong. Die Antwort auf diese Frage lautet: Absolutely nothing. Ja, wozu sind unsere Politiker eigentlich gut, brauchen wir sie überhaupt? Schließlich gab und gibt es Stimmen, die sagen: Die Politik wird doch ohnehin von den mächtigen Konzernen gemacht, die allein bestimmen, was entschieden wird, und die Politiker sind nur korruptionsanfällige Handlanger der Industrie. Da nun zwar nicht das Thema, aber doch die Vertreter der heutigen Diskussionsrunde eher etwas für die intellektuelle Minorität in unserem Lande sind, hat sich der Sender entschlossen, unser politisch-philosophisches Vierer-Runden-Gespräch erst nach Mitternacht zu senden, damit die arbeitende Bevölkerung nicht von ihren beliebten Unterhaltungssendungen am frühen Abend getrennt wird. Ich darf dann mal schnell die drei Gesprächsteilnehmer vorstellen. Da haben wir zunächst Herrn Dr. Christoph Stadler vom ›Luhmann-Lesen!-Freundeskreis‹. Herzlich willkommen! (Der Begrüßte nickt kurz mit dem Kopf, sagt aber nichts.) Dann gleich neben ihm haben wir, direkt aus Wien kommend: Dr. Katharina Gruber vom ›Fackel-Forschungszentrum‹. (Die Eingeladene neigt sacht den Kopf, sagt aber nichts.) Für diejenigen unter unseren Zuschauern, die mit dem Namen ›Fackel‹ nichts anfangen können: Das ist der Name der berühmten Zeitschrift, die der Wiener Schriftsteller Karl Kraus fast ganz allein geschrieben hat und die zwischen 1899 und 1936 erschienen ist. So! Und last but not least: Dr. Jürgen Wollseif, der Erster Vorsitzender der ›Nietzsche-Studiengruppe‹ ist. Nun aber zum heutigen Thema. Herr Stadler, bitte geben Sie doch ihr erstes Statement ab.
Dr. Christoph Stadler (Luhmann-Lesen!-Freundeskreis): Im klassischen Verständnis politischer Demokratie steht die politische Wahl im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie soll die Herrschaft des Volkes über sich selbst gewährleisten. Zwar nicht unmittelbar als Selbstbeherrschung, als potestas in seipsum, wohl aber indirekt in der Form der Wahl von Repräsentanten, die, so nimmt man an, den Willen des Volkes erahnen und durchzusetzen versuchen, weil sie anderenfalls nicht wiedergewählt werden würden.
Dr. Jürgen Wollseif (Nietzsche-Studiengruppe): Erahnen! Welcher sich zur Wahl stellende Politiker erahnt denn schon den ›Volkswillen‹? Mal ganz abgesehen davon, was soll dieses sprachliche Ungetüm eigentlich bedeuten? ›Volkswille‹! Die politischen Parteien bezahlen Meinungsforscher, die uns einzureden versuchen, was gerade als Thema besonders vorteilhaft für die Wiederwahl in der öffentlichen Meinung erscheint.
Dr. Christoph Stadler (Luhmann-Lesen!-Freundeskreis): Im übrigen muß man fragen, ob es einen solchen Volkswillen überhaupt gibt, oder ob es sich nur um ein semantisches Korrelat der Inszenierung politischer Wahlen handelt. Das würde die politische Wahl in die Nähe von funktionalen Äquivalenten wie Fahnen, Paraden, architektonisch ausgezeichneten Gebäuden bringen.
Dr. Jürgen Wollseif (Nietzsche-Studiengruppe): Das klingt schon besser. Da stimme ich Ihnen zu.
Dr. Christoph Stadler (Luhmann-Lesen!-Freundeskreis): Auch ist schwer zu sehen, wie die zur Wahl gestellten Parteien und Parteiprogramme eine zugrundeliegende Interessenlage repräsentieren könnten. Es ist die Funktion der regelmäßig zu wiederholenden politischen Wahl, die Politik mit einer für sie unbekannten Zukunft zu konfrontieren. Aber es gibt, schon wegen der Vielfalt der Themen und Interessen, keinen sicheren Schluß von Machtausübung auf Machterhaltung oder von Machtkritik auf Machtgewinn. Die Institutionalisierung politischer Wahl garantiert dem System eine im System selbst erzeugte Ungewißheit. Was wir ›Demokratie‹ nennen und auf die Einrichtung politischer Wahlen zurückführen, ist demnach nichts anderes als die Vollendung der Ausdifferenzierung eines politischen Systems. Durch die Einrichtung regelmäßiger Wahlen erzeugt das System eine relativ kurzfristige Unsicherheit.
Dr. Anneliese Sendler: Ja, vielen Dank, Herr Doktor Stadler, damit haben Sie sehr schön die Grundlinien unserer Diskussion festgelegt. Was sagt denn nun die Karl Kraus-Expertin zu diesen Befunden?
Dr. Katharina Gruber (Fackel-Forschungszentrum): Nun ja, da darf ich meinen Beitrag vielleicht mit einem Zitat aus einem Text von Karl Kraus aus dem Jahre 1908 einleiten: »Mein Verhältnis zur Politik drückt sich etwa in dem Dialog aus, den ich neulich führte: ›Wer wird Handelsminister?‹ ›Der jetzige bleibt‹. ›Aha‹, rief ich überrascht und setzte nach einer Pause hinzu: ›Wer ist denn der jetzige‹?« (Großes Gelächter in der Runde.) Halt, warten Sie, es geht ja noch weiter: »Was mich in der Politik immer wieder anzieht und beschäftigt, ist die Tatsache, daß es Politik gibt. Der Berufspolitiker ist eine durchaus plausible Erscheinung, um so mehr als er immer nur auf Kosten jener gewinnt, die nicht mitspielen. Politik ist Bühnenwirkung.«
Dr. Jürgen Wollseif (Nietzsche-Studiengruppe): Jedes Mal, wenn der Mensch anfängt zu entdecken, inwiefern er eine Rolle spielt und inwieweit er Schauspieler sein kann, wird er Schauspieler, sagt Nietzsche. Die Demokratie bringt Schauspieler hervor, die bestimmte Werte und Ideale vertreten, aber nicht unbedingt auch verkörpern können. Der Demokrat ist der »Gott der großen Zahl«. Und: »Überall geht das Mittelmäßige zusammen, um sich zum Herrn zu machen.«
Dr. Christoph Stadler (Luhmann-Lesen!-Freundeskreis): Wenn ich hier anschließen darf? Luhmann hat in einem Beitrag von 1993 mit dem Titel ›Die Ehrlichkeit der Politiker und die höhere Amoralität der Politik‹ sich zu diesem Thema geäußert. Müssen, sollen oder können Politiker ehrlich sein? Entscheidend dabei ist die Frage, ob sie es können. Seit dem 17. Jahrhundert ist es geläufig, daß man eigene Ehrlichkeit oder Aufrichtigkeit nicht kommunizieren kann. Wer sagen würde: Ich bin ehrlich, würde zugleich mitteilen, daß Zweifel bestehen. Wenn Nixon sagt: I am not a crook, Ich bin kein Betrüger, so schwingt eben doch das Gefühl dabei mit, daß diese Art von Beteuerung ihm nichts nutzt und er sich erst recht unter Verdacht stellt. In Wahlkampfzeiten beobachtet man das Phänomen, daß es zu einer »Kultur der wechselseitigen Beleidigungen« kommt, und Luhmann erwähnt einen Vergleich aus E.T.A. Hoffmanns ›Prinzessin Brambilla‹: Zwei Löwen gehen mit solchem Grimm aufeinander los, daß am Ende nichts von ihnen übrigbleibt als die beiden Schweife. Aber, fragt Luhmann, »wer hätte ein Interesse daran, zwischen zwei Schweifen zu wählen?« (Großes Gelächter in der Runde.) Es sind letztlich politische Konstellationen, die den Ausschlag geben in der Frage, ob und mit welchen Spezialfunktionen die Politik auf Moral zurückgreift. Und insofern sind dann Politiker in der Tat auch in ihrer moralischen Selbstdarstellung Opfer der Macht.
Dr. Anneliese Sendler: Vielen Dank für diese interessanten Ausführungen, Herr Dr. Stadler. Was sagt die Fackel-Spezialistin denn dazu?
Dr. Katharina Gruber (Fackel-Forschungszentrum): Dann lese ich Ihnen einmal einen Aphorismus von Kraus über die Politiker seiner Zeit vor: »Die Verworrenheit unserer politische Zustände hat einen großen Vorteil; sie erleichtert die Beurteilung der führenden Männer. Unter minder schwierigen Umständen konnte sich ein Minister jahrelang der Feststellung seines Wertes entziehen. Selbst der Geschichte fehlen die Anhaltspunkte zur Beurteilung einzelner Staatsmänner. Aber dieses historische Dämmerlicht ist vorüber. Heute ist die Beleuchtung so grell, daß man die Umrisse politischer Unfähigkeit weithin erkennt. Unsere Zeit richtet jeden Minister binnen ein paar Tagen – standrechtlich. Auch auf die Abstufungen der Mittelmäßigkeit läßt sie sich nicht mehr ein.«
Dr. Anneliese Sendler: Mmh…, das ist wieder so hübsch paradox, wie man das von Kraus gewohnt ist.
Dr. Katharina Gruber (Fackel-Forschungszentrum): Wenn ich das noch weiter ausführen dürfte? Kraus konstatiert, sollte es keine Politik und damit keine Politiker mehr geben, »so hätte der Bürger bloß sein Innenleben, also nichts, was ihn erfüllen könnte. Spannungen kann ihm nur der Rohstoff des Lebens bieten. Wer außer den Politikern beklagt denn die Dummheiten in der Politik? Daß es Politik gibt, ist erheblich. Daß sich die Menschheit keinen besseren Zeitvertreib weiß, als auf der Lauer ihrer Spannungen zu liegen.« Mit solchem »Völkerspielzeug, wie es die Politik ist«, gebe er sich nicht ab. Politik ist das, was man macht, um nicht zu zeigen, was man ist, und was man selbst nicht weiß. Politik ist Tonfall, losgelöst von Sinn und Gefühl. Das Verhängnis aller Politik ist der Ausfall an Phantasie. Und damit hier auch ein Beitrag zur Frage, ob man Politiker braucht, gegeben wird, diesen Aphorismus hier: »Der Parlamentarismus ist die Kasernierung der politischen Prostitution.« Warum Prostitution? Nun, für Kraus waren die Wiener Huren bedeutende Geschöpfe, bedeutender und lebenswichtiger als die Wiener Journalisten, denn im Gegensatz zur Presse konnten die Huren einen lebensnotwendigen Dienst anbieten und es gab auch einen reellen Gegenwert für das Geld, während die Journalisten mit ihren Artikeln meist kein verwendbares Gut lieferten, sondern nur Phrasen und Mißinformation. Deshalb schätzte Kraus die Prostitution als höherwertiger ein als die Leistungen der Presse, und das galt dann auch für das politische Pendant zur Figur des Journalisten, des Politikers, der mit seinen Wahlreden nur Versprechungen ausgab, von denen man von vornherein wußte, daß er sie nicht zu erfüllen verstand. Prostitution leitet sich von dem lateinischen Wort prostituere ab, das heißt: zur Schau stellen, preisgeben. Genau das macht der Politiker und deshalb ist eine gewählte Versammlung von Politikern im Parlament die Kasernierung der politischen Prostitution.
Dr. Christoph Stadler (Luhmann-Lesen!-Freundeskreis): Lassen Sie mich das Ganze doch ein bißchen versachlichen und uns damit wieder auf das Thema des Abends zurückbringen. Als ›Politik‹ kann man jede Kommunikation bezeichnen, die dazu dient, kollektiv bindende Entscheidungen durch Testen und Verdichten ihrer Konsenschancen vorzubereiten. Für Politik ist also Organisation erforderlich, weil man Kommunikationen sozialen Systemen zurechnen muß. In der politischen Wahl versuchen Politiker, das Volk zu überreden, sie zu wählen. Viel Sorgfalt wird auf eine günstige Präsentation der politischen Programme gelegt, und starke moralische Akzente dienen dazu, zu insinuieren, daß nur bei bestimmten Politiken Einverständnis und Motivation im Sinne des Guten-und-Richtigen zu erreichen sei. Natürlich durchschauen viele, wenn nicht alle, das Spiel, aber das System ist gegen das Durchschautwerden immun, weil es auf dieser Ebene keine Alternativen anbietet. Dem Volk bleibt als viel genutzte Alternative zu den angebotenen Alternativen die Resignation. Und eben deshalb kommt es für die ›Zukunft der Demokratie‹ vor allem darauf an, wie und worin sich die Alternativen unterscheiden, die angeboten werden.
Dr. Jürgen Wollseif (Nietzsche-Studiengruppe): Aber das ist doch gerade das Problem, daß es keine Alternativen mehr gibt und daß wir sogar politische Zustände haben, wo eine Partei sich mit dem Wort ›Alternative‹ schmückt, wo doch offenkundig es sich bei deren politischem Programm um keine Alternative handelt, sondern um eine Kopie eines Programms aus den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhundert und dieses ›Programm‹ die Handlungsanweisung für den Zweiten Weltkrieg gewesen ist.
Dr. Christoph Stadler (Luhmann-Lesen!-Freundeskreis): Sie berühren hier das Problem der öffentlichen Meinung, denn Parteien, die auf sich aufmerksam machen wollen, und das müssen alle Parteien gleich welcher Richtung, suchen sich öffentlichkeitswirksame Themen aus, die sie aber zusätzlich noch mit einem Drall ausstatten, der unweigerlich dazu führt, daß die Massenmedien diesen aufgreifen, ja aufgreifen müssen, weil Massenmedien darauf angewiesen sind, ständig neu zu aktualisieren und alles, was vom normativen öffentlichen Konsens abweicht, geradezu zwanghaft verarbeiten müssen. Luhmann sagt: »Die öffentliche Meinung ist ein Medium der Meinungsbildung. Sie ist der Heilige Geist des Systems. Sie ist das, was als öffentliche Meinung beobachtet und beschrieben wird. Man kann sie als einen durch die öffentliche Kommunikation selbsterzeugten Schein ansehen, als eine Art Spiegel, in dem die Kommunikation sich selber spiegelt. Die öffentliche Meinung ist daher nicht etwas, was irgendwo anders auch noch vorkommt. Sie ist die autistische Welt der Politik selbst.«
Dr. Anneliese Sendler: Was für ein schönes und zugleich düsteres Schlußwort! Vielen Dank, meine Dame, meine Herren, für ihre tiefschürfenden Beiträge. Ein Resümee? Schwierig. Ist Autismus heilbar? Ich fürchte nicht.
Zum Ausgang der Bundestagswahl am 23. Februar 2025
Beim Regierungswechsel gehen die einen satt von dannen, und die anderen drängen hungrig an die Krippe. (Edmund Rehwinkel, 1977)
Der geheime Sinn aller Weltveränderungen lautet: »Steh Du auf und laß mich an die Schüssel.« (Theodor Lessing, 1924)
Zur Amtseinführung des 47. amerikanischen Präsidenten am 20. Januar 2025
Nirgends bilden die ›Politiker‹ eine abgesondertere und mächtigere Abteilung der Nation als grade in Nordamerika. Hier wird jede der beiden großen Parteien, denen die Herrschaft abwechselnd zufällt, selbst wieder regiert von Leuten, die aus der Politik ein Geschäft machen, die auf Sitze in den gesetzgebenden Versammlungen des Bundes wie der Einzelstaaten spekulieren oder die von der Agitation für ihre Partei leben und nach deren Sieg durch Stellen belohnt werden. Es ist bekannt, wie die Amerikaner seit 30 Jahren [seit 1861] versuchen, dies unerträgliche Joch abzuschütteln, und wie sie trotz alledem immer tiefer in diesen Sumpf der Korruption hineinsinken. Gerade in Amerika können wir am besten sehn, wie diese Verselbständigung der Staatsmacht gegenüber der Gesellschaft, zu deren bloßem Werkzeug sie ursprünglich bestimmt war, vor sich geht. Hier existiert keine Dynastie, kein Adel, kein stehendes Heer, außer den paar Mann zur Bewachung der Indianer, keine Bürokratie mit fester Anstellung oder Pensionsberechtigung. Und dennoch haben wir hier zwei große Banden von politischen Spekulanten, die abwechselnd die Staatsmacht in Besitz nehmen und mit den korruptesten Mitteln und zu den korruptesten Zwecken ausbeuten – und die Nation ist ohnmächtig gegen diese angeblich in ihrem Dienst stehenden, in Wirklichkeit aber sie beherrschenden und plündernden zwei großen Kartelle von Politikern.
Friedrich Engels: Einleitung zu Marx’ ›Bürgerkrieg in Frankreich‹ [1891]. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, (Hg.) H. Merbach, D. Krause, H. Wettengel, R. Merkel, A. Wolf, W. Schulz, R. Sperl, Bd. 22, Berlin 1977, 188–199, (197f.)
Neue Gespräche im Elysium XXI
Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.
Frank Zappa meets Teresa von Avila
Er stellte sich vor, der große Kirchenphilosoph Thomas von Aquin, gestorben 1274, nachdem er die Gedanken seiner Zeit unsäglich mühevoll in beste Ordnung gebracht hatte, wäre damit noch gründlicher in die Tiefe gegangen und soeben erst fertig geworden; nun trat er, durch besondere Gnade jung geblieben, mit vielen Folianten unter dem Arm aus seiner rundbogigen Haustür, und eine Elektrische sauste ihm an der Nase vorbei. (Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [1930]. In: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 1, Erstes Buch, Kapitel 16, (Hg.) Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg 1978, 59)
Frank Zappa: Hi, Teresa, nice to finally meet you.
Teresa von Avila: Oh, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir uns auf Deutsch unterhalten? In meinem Zeitalter wurde die englische Sprache noch nicht so weltumfassend gelehrt wie heute. Und natürlich auch das Deutsche nicht, zumal ich ja aus Kastilien komme, aber auf Spanisch wollen wir uns wohl erst recht nicht unterhalten.
Frank Zappa: Aber gerne, ich habe in einem meiner Songs mit dem Titel ›Sofa No 2‹ auf dem Album ›One Size Fits All‹ (1975) sogar alles auf Deutsch formuliert: I am the heaven / I am the water
Teresa von Avila: Das ist aber Englisch…
Frank Zappa: Ja, ich weiß, es geht aber gleich weiter: Ich bin der Dreck unter deinen Walzen (Oh no, whip it on me, honey!)
Teresa von Avila: Schon wieder Englisch. Und was bedeutet ›Walzen‹?
Frank Zappa: Please, pay attention! Ich bin dein geheimer Schmutz / und verlorenes Metallgeld / (Metallgeld) / ich bin deine Ritze / Ich bin deine Ritze und Schlitze
Teresa von Avila: Du liebe Güte! Das haben Sie geschrieben? Wenn ich nicht wüßte, daß es die Künstliche Intelligenz à la ChatGPT 1975 noch nicht gegeben hat, würde ich sagen: das hat kein Normalsprachlicher verfaßt, sondern eine verrückte Maschine. Ich bin deine Ritze und Schlitze! Verbirgt sich dahinter eine Anzüglichkeit, die gewisse Menschen wie Sie gern benutzen?
Frank Zappa: Ich bin der Autor aller Felgen / Und Damast Paspeln / Ich bin der Chrome Dinette / Ich bin der Chrome Dinette / Ich bin Eier aller Arten
Teresa von Avila: Bitte hören Sie auf, das wird ja immer schlimmer! Felgen! Eier! Ich möchte gar nicht erst wissen, was Damast Paspeln sein sollen!
Frank Zappa: Ich bin alle Tage und Nächte / Ich bin alle Tage und Nächte / Ich bin hier (Aye-ah!) / Und du bist mein Sofa
Teresa von Avila: Na, am Schluß wird es ja wieder verständlicher, fast schon normal: Und du bist mein Sofa. Wollen Sie damit sagen, daß Sie ein verläßlicher Mensch sind und die hier Angesprochene wie ein vertrautes Möbelstück behandeln dürfen? Im Sinne von: setz’ dich zu mir und rede mit mir?
Frank Zappa: Oder setz’ dich auf mich drauf, if you know what I mean.
Teresa von Avila: Sie schlimmer Junge, man hat mich vor Ihnen gewarnt, aber ich bin nicht prüde, ganz und gar nicht. Als Philosophin ist mir nichts Menschliches fremd und als praktizierende Nonne war ich auch niemals weltfremd.
Frank Zappa: Zappa ist das italienische Wort für Hacke. Damit müssen die sizilianischen Bauern den trockenen Boden ihrer Heimat aufhacken, um etwas zu säen. So ähnlich bin ich ja auch vorgegangen. Mit meiner Musik habe ich den nicht empfängnisbereiten Boden des menschlichen Bewußtseins aufgehackt. By the way, die Mutter meiner Mutter hieß Theresa, eine strenggläubige Katholikin. Meine Mutter Rose Marie wäre beinahe in ein Kloster eingetreten. Als ich drei Jahre alt war, sah ich einmal auf der Straße einige Nonnen und ich soll gerufen haben: »Schau mal, Pinguin-Frauen!« Können Sie sich vorstellen, daß ich, bis ich 18 war, ständig zur Beichte gegangen bin? Die Nonnen zeigten uns alle diese Bilder von der Hölle, zeigten uns das lodernde Feuer und was passieren würde, wenn wir nicht parieren würden. Da sagte ich: »Hey, Spitze, das ist ja richtig aufregend!« Meine Eltern wollten, daß ich Meßdiener werde. Als eine dieser Pinguin-Nonnen mir aber mit einem Lineal auf die Hand geschlagen hatte, quittierte ich den Dienst. Mir gefiel auch nicht das ständige Niederknien, das zerknitterte doch meine Vorderschuhe.
Teresa von Avila: Sie sind aber ein richtiger Spaßvogel! Das hat mir auch schon so an diesem Film von Federico Fellini gefallen, in der eine fiktive Modenschau im Vatikan gezeigt wird und wo Nonnen in Designertracht und auf Rollschuhen vor dem Papst und seinen Kardinälen die allerneueste Sakralmode vorführen. Pinguine auf Rollerblades, köstlich!
Frank Zappa: Als ganz junger Mann habe ich in meinem ›Studio Z‹ ein Leben voller besessenen Overdubbens geführt, zwölf Stunden am Tag. Die Sittenpolizei in San Bernadino County begann sich für mich zu interessieren. Die hatten ein Loch in die Wand des Studios gebohrt und beobachteten mich mehrere Wochen lang. Ein angeblicher Gebrauchtwagenverkäufer sagte mir, seine Freunde wollten eine Party geben und ob ich, da vor meinem Studio ein Plakat mit der Aufschrift ›TV-Filme‹ hing, dafür einen »aufregenden Film« drehen könne. Er nannte mir all die verschiedenen Praktiken, die er in dem Film verewigt haben wollte. Unsere Unterhaltung wurde von der Sittenpolizei abgehört. Am Abend stellte ich das Band mit Hilfe eines Mädchens her, ungefähr eine halbe Stunde voll vorgetäuschten Stöhnens und quietschender Bettfedern. Ich blieb die ganze Nacht auf, um das Gelächter herauszuschneiden und fügte noch etwas Hintergrundmusik dazu. Am nächsten Tag kam der Kunde, ein Detective Willis, vorbei, und auf einmal flog die Tür auf, Blitzlichter flackerten, Reporter rannten durch das Studio, und um meine Handgelenke schlossen sich Handschellen. Man klagte mich wegen ›Verschwörung zur Verbreitung von Pornographie‹ an. Das Urteil lautete: Sechs Monate Gefängnis, die bis auf zehn Tage zur Bewährung ausgesetzt wurden. Die Wärter ließen die ganze Nacht über die Lichter an, um uns vom Schlafen abzuhalten. Tagsüber herrschten Temperaturen von rund 40 Grad Celsius. Die zehn Tage, die ich im Trakt C des Bezirksgefängnisses von San Bernardino verbrachte, waren außerordentlich lehrreich. Sie machten mich mißtrauisch gegenüber der amerikanischen Gesellschaft mit ihren geheuchelten moralischen Normen, die täglich von ihren Mitgliedern gebrochen wurden. Denken Sie nur an die Teleevangelisten, die sich Prostituierte bestellen und, wenn sie erwischt werden, vor die Kameras treten und mit gespielten Tränen in den Augen ihre ›Sünden‹ bekennen. Dann sollen die Idioten, die diesen Fernsehpriestern Geld gespendet haben, ihnen dann aber auch verzeihen, denn es gilt das Schema: Erst kommt die Sünde, dann die Vergebung. Die Wörter, die ich auf der Bühne benutzte, sind kein Protest gegen meine katholische Erziehung, sondern direkte Kommunikation. Der männliche Katholik kniet nieder, um zu Gott zu beten, aber in Wirklichkeit wünscht er sich, daß er stehen bleibt und das nette Mädchen aus dem Nachbarhaus vor ihm niederkniet und es ihm mit dem Mund besorgt. Deshalb habe ich auch ein grunzendes Schwein in viele meiner Songs eingebaut. Ich glaube, daß die Popmusik mehr für den oralen Sex getan hat als alles andere in der Welt. Und es ist gut für die Mädchen. Die meisten von ihnen werden schließlich mal normale Arbeiter heiraten. Und die werden glücklich darüber sein, eines dieser Mädchen abzukriegen, ein Mädchen, das schon eine bestimmte Ebene sexueller Erfahrung erreicht hat. Das tut dem ganzen Land gut. Es mußte immer etwas Gewagtes auf der Bühne passieren, denn das war diesen gläubigen Typen so peinlich, doch insgeheim gefiel das denen doch, weil jemand sich traute, was jeder und jede sich erträumte. Häufig begrüßte ich bei meinen Konzerten das Publikum mit ›Hi, pigs!‹ Es ging immer auch darum, zu testen, wieviel Beschimpfung das Publikum zu ertragen bereit war. Die meisten Leute begreifen, daß das, was ich gemacht habe, Satire ist. Denen geht es nicht in erster Linie um Musik, für das Publikum gibt es nichts Einfacheres als Klamauk.
Teresa von Avila: Vielleicht sind Sie mit meinem Leben nicht so vertraut, ich bin ja auch schon so lange tot, so daß es sicher gut wäre, wenn ich Ihnen ein wenig aus meinem Leben erzähle. Geboren bin ich am 15. März 1515 in Avila, das liegt in Kastilien, mit einundzwanzig Jahren trat ich ins heimische Karmelitinnenkloster ein. Im Laufe meines Lebens habe ich dann insgesamt fünfzehn Klöster gegründet, aber das wurde mir von der spanischen Inquisition nicht gutgeschrieben, immer wieder wurde ich aufgrund von Denunziationen vorgeladen, doch ich wurde immer wieder von allen Anschuldigungen freigesprochen. Die Richter dieser Welt sind lauter Männer, habe ich in dem Buch ›Wege der Vollkommenheit‹ geschrieben, und es gibt keine Tugend der Frau, die sie nicht für verdächtig halten. Ich hatte niemals Angst vor der Inquisition. Ich habe mich sogar häufig der Ironie bedient, um meine Peiniger lächerlich zu machen. Es waren schwere Zeiten, weil der Verdacht auf alle Menschen fiel und niemand sicher sein konnte, nicht plötzlich verfolgt zu werden. Aber Humor war eben damals noch kein weitverbreitetes Mittel der Befreiung von der Drangsal des Daseins. Das mußte ich gegenüber meinen Schwestern im Kloster immer wieder hervorkehren, denn sie nahmen die weltlichen und klösterlichen Dinge des öfteren all zu ernst. So schrieb ich: »Hütet euch, meine Töchter, vor Sorgen, die euch nichts angehen. Schaut, es gibt in dieser Burg nur wenige Wohnungen, in denen die bösen Geister vom Kämpfen absehen. Da gibt der böse Geist einer Schwester heftige Anstürme nach Buße ein, so daß sie meint, nicht zur Ruhe zu kommen, außer indem sie sich ständig kasteit. Es ist eigentlich ein gutes Prinzip, doch wenn die Priorin angeordnet hat, ohne Erlaubnis keine Buße zu tun, der böse Geist sie jedoch zu der Meinung verführt, daß sie es bei etwas so Gutem wohl wagen darf, und sie sich insgeheim ihr Leben so einrichtet, daß sie allmählich ihre Gesundheit einbüßt und der Anordnung der Regel nicht mehr folgt, dann seht ihr, wo dieses Gute endet. Einer anderen gibt der böse Geist einen sehr großen Eifer nach Vollkommenheit ein, was sehr gut ist, doch könnte es dahin führen, daß ihr jedes winzige Versäumnis der Mitschwestern wie ein schwerer Verstoß und als etwas vorkommt, auf das man achten muß, um dann zur Priorin zu rennen. Und manchmal könnte es sogar sein, dass sie vor lauter Eifer für die Ordenszucht ihre eigenen Fehler nicht mehr sieht.« Sie sehen, es gab eine Menge für mich zu tun, um meine Mitschwestern nicht auf Irrwege gelangen zu sehen.
Frank Zappa: Fine. Das ist schön, denn ich glaube, wir haben eine ganze Menge Gemeinsamkeiten. Ich habe ihre Schrift ›Die innere Burg‹ gelesen und es erinnerte mich an meine damalige Situation hier in Los Angeles. Versuchen Sie sich einmal vorzustellen, was das Gegenteil von Einsamkeit ist. Versteh’ doch, daß du isoliert bist. Genieß’ das! Freu dich drüber! Sei doch froh, daß da nicht ein Haufen Leute sind, die deine Zeit verschwenden. So was kannst du dir nirgendwo kaufen. Ich hasse L.A. und deshalb bin ich auch nie zu den Partys gegangen, die man da ständig gegeben hat. Nachdem sie nett zu dir waren, wollen sie jetzt auch was von dir. Und sie haben dir doch schon deine Zeit genommen. Ich blieb viel lieber zuhause, genauer gesagt: im Basement meines Hauses, wo ich für viel Geld ein großes Aufnahmestudio habe einrichten lassen. Als ich Ende der achtziger Jahre mein anstrengendes Tourleben aufgab, habe ich alle die vielen Live-Mitschnitte geordnet und neu abgemischt. Daraus ist dann die Serie ›You can’t do that on stage anymore‹ entstanden.
Teresa von Avila: Sie haben auf Ihren Konzerten immer eine Abteilung gehabt, wo Sie sagten: »What’s the secret word for tonight?« Nun, ich habe mir Ihre Texte zu den Musikstücken einmal daraufhin angesehen, ob man in diesen ein wiederkehrendes Muster finden könnte, und ich bin fündig geworden. Das geheime Wort Ihrer Songs lautet: Plastik. Die kulturelle Einöde der amerikanischen Vorstadt. Ihr Biograph hat das so beschrieben: »Das Leben in Amerika kennt wenig Varianten und ist vorhersagbar: Coca-Cola, Hamburger-Ketten und Kaffeestuben – in jeder Stadt überall gleich. Holiday Inn warb mit dem Slogan: ›Die beste Überraschung ist keine Überraschung.‹ Alles ist ein Massenprodukt. Zappa feierte diese Gleichförmigkeit, Häßlichkeit, Schäbigkeit und ihren Mangel an Geschmack. Zappa reagierte auf den Lebensrhythmus Südkaliforniens, und er hatte ein Gespür dafür, was diesen in Gang hielt. Zappas Musik konnte aus keiner anderen Stadt als L.A. kommen. Der entspannte Rhythmus der kalifornischen Autokultur schwingt darin mit, der Beat der Freeways, des ziellosen Durch-die-Gegend-Fahrens. Zappas innerer Rhythmus war wie ein Echo des Sounds der Vorstädte.« (Barry Miles: Zappa, London 2004; dt. Berlin 2005, 253f.).
Frank Zappa: ›What will you do if we / Let you go home, / And the plastic’s all melted / And so is the chrome‹ — Das ist aus meinem Song ›Who are the brain Police‹ aus dem Album ›Freak Out‹ von 1966, das war die erste Rock-Doppel-Langspielplatte überhaupt. Wir nannten uns ›The Mothers of Invention‹, gezwungenermaßen, denn die Leute von der Plattenfirma hatten sich davon überzeugt, daß kein Diskjockey jemals die Platte einer Band namens ›The Mothers‹ spielen würden. Denn unausgesprochen wußte jeder, daß der Name eine Kurzform von ›The Motherfuckers‹ war. Nur für Musiker aber ist klar, daß damit jemand bezeichnet wird, der sein Instrument ungewöhnlich gut spielt. Wir waren alle häßliche Typen mit abgedrehten Klamotten und langen Haaren: genau das, was die Unterhaltungsbranche brauchte.
Teresa von Avila: Sie haben drastische Mittel für einen moralischen Zweck verwendet, dagegen kann man nichts einwenden, im Gegenteil, das muß ein Künstler sogar von sich verlangen, dazu zwingt ihn seine innere Stimme praktisch.
Frank Zappa: Ein Beispiel. In meinen Texten und meiner Musik habe ich dem Humor und der Ironie großen Raum gelassen, eine meiner späten Langspielplatten trug sogar den ironischen Titel ›Does Humor Belong in Music?‹ (1986). Angefangen habe ich mit meiner Band ›Mothers of Invention‹ Ende der 1960er Jahre, da haben wir besondere Bühnenshows präsentiert. Da war zum Beispiel eine riesige Giraffe aus Stoff, die mit einem langen Schlauch ausgerüstet war, die der Leadsänger unserer Band mit einer Frosch-Handpuppe so lange massierte, bis der imaginäre Schwanz der Giraffe steif wurde und sich eine Ladung Schlagsahne in die ersten Reihen des Zuschauerraums entlud. Das war vielleicht ein Spaß! Die Leute wollten das immer wieder sehen. Nun, Musik und Theater sind immer ein Gesellschaftskommentar und wenn ich die Grausamkeiten der ›Marines‹ im Vietnam-Krieg gegen den Vietkong und die Vietnamesen auf der Bühne simuliert habe, so ist das ein legitimes künstlerisches Mittel gewesen, denn bei mir sind ja keine Menschen gestorben, bei den Bombardierungen von Vietnam aber schon. Einmal kamen drei Marines in voller Uniform und setzten sich in die erste Reihe. Ich fragte sie, ob sie Lust hätten, mit der Band auf der Bühne zu singen und sie sagten ja und ich ließ sie ›Everybody Must Get Stoned‹ singen. Dann schlug ich ihnen vor: Warum zeigt ihr nicht den Leuten im Saal, womit ihr Jungs euch den Lebensunterhalt verdient? Ich gab ihnen eine große Puppe und sagte: »Stellt euch einfach vor, daß das ein ›Schlitzaugenbaby‹ ist. Schlitzaugen war ein Kennwort für die Vietnamesen. Während wir spielten, schlitzen sie die Puppe auf und verstümmelten sie. Es war wirklich grausig. Niemand lachte.
Teresa von Avila: Sie haben eine ganze Reihe von Liebesliedern geschrieben, die alle sehr melodisch zum Mitsummen und Mitwippen sind, ›Fountain of Love› zum Beispiel, die erinnern an die Stücke, die in den 1950er Jahren als einfache Schlager im amerikanischen Radio liefen. Dabei sind auch Stücke, deren Inhalt schockierend ist, so in dem Lied ›Suicide Chump‹: »You say there ain’t no use in livin‘ / It’s all a waste of time / And you wanna throw your life away / Well people that’s just fine / Go ahead on and get it over with then / Find you a bridge and take a jump / Just make sure you do it right the first time /Cause nothing’s worse than a suicide chump.«
Frank Zappa: Das Fazit lautet: Wenn du dich schon umbringen willst, dann stell’ es aber richtig an, denn keiner mag jemanden, der es versucht und dann doch dabei versagt. Ein Chump ist ein Trottel. Über die Liebe: There ain’t no such thing as love, heißt es in einem meiner Songs, aber in einem anderen sage ich dann: I’m sure that love will never be a product of Plasticity. In einem anderen mache ich mich über die kommerziell-kitischigen Lovesongs lustig: »Love of my life, I love you so / Love of my life, don’t ever go / I have you only / Love, love of my life.« Ja, und ›Fountain of Love‹ ist auch so ein Song, in dem ich diese verlogenen Bilder von der Liebe, die die Schlagerindustrie den Leuten zum Fraß vorwirft, parodiere: »It was September, the leaves were gold / That’s when our hearts knew that story untold / We were young lovers strolling near / The fountain of love, fountain of love / Fountain of love.« Was ich an einigen Rock-and-Roll-Songs besonders zynisch finde, ist die Art und Weise, mit der sie sagen: ›Ich möchte dich lieben‹. Wer ist denn so bescheuert und sagt so etwas im wirklichen Leben? Man sollte eigentlich sagen: ›Ich will dich bumsen.‹ Aber um ins Radio zu kommen, muß es ›Ich will dich lieben‹ heißen, nicht: ›Bums mich, fick mich richtig durch!‹. Sex ist nur eine mechanische Freisetzung von Energie und Körpersäften, hormonelle Unterhaltung. Das Leben könnte man als komplexe Form elektrochemischer Unterhaltung beschreiben. Elektrische Impulse verändern chemische Substanzen, die sich neu zusammensetzen und elektrische Impulse erzeugen, die wiederum etc. etc. etc., was schließlich zum ›Leben als Verhaltenstheater‹ führt.
Teresa von Avila: Worüber ich mich immer wieder ärgere, das ist diese Marmorskulptur von mir, von Giovanni Lorenzo Bernini 1652 erschaffen. Man sieht einen Engel, der mit einem Pfeil auf das Herz einer Heiligen, das soll ich sein, zielt, und die Heilige wirft den Kopf in den Nacken und öffnet ihren Mund, verzückt und entrückt, als wenn sie gerade einen Orgasmus bekommt. Angeblich war das Vorbild für diese Skulptur meine Autobiographie. Man hat mich dann als Symbol der ›Sinnlichkeit des barocken Katholizismus‹ mißbraucht.
Frank Zappa: Die katholische Kirche hat noch nie vor Obszönitäten zurückgeschreckt. Die Heiligen an den Säulen ihrer Kirchen, ihre Hälse renken sich zu verderbten Längen, der Blick wird auf die bebenden Nasenlöcher gelenkt, die Engel lagern wie in Lotterbetten, der kurze Moment vor der vollständigen Entblößung gebauschter Schenkel.
Teresa von Avila: Die Bigotterie ist die Ursünde der katholischen Kirche. Aber die weltlichen Sphären sind ebenso verwerflich.
Frank Zappa: Kennen Sie diesen Peeping Tom namens Suckerberg? He was a student and founded this ›Facebook‹ to spy on women on the campus, to get pictures of naked women. He was a little wanker, a weasel, he was so repulsive so that no girl would have wanted to screw him. Now this jerk is a multimillionaire because a billion of people all around the world are stupid enough to log in to this ludicrous ›Facebook‹, where they exchange silly messages because they can’t imagine anything else than gossip. Now he has joined the new American government, with Dagobert Dump as president to suck his ugly dick together with this Egon Mushroom, another dwarf who made a fortune and now has found a way to influence the masses. Einige Wissenschaftler behaupten, daß Sauerstoff wegen seiner Häufigkeit der Grundbaustein des Universums ist. Dabei gibt es mehr Dummheit als Sauerstoff, und das ist der Grundbaustein des Universums. Die Idioten, die diesen Dump gewählt haben, beweisen doch nur, daß ich recht mit meiner Behauptung habe.
Teresa von Avila: Es ist schon tragisch, wie die Menschheit sich zugrunderichtet. Zu meiner Zeit gab es auch solche Personen, die nur Unheil über die Welt gebracht haben. Und es ist ja nur noch schlimmer geworden. Von Kierkegaard gibt es folgende Anekdote: »In einem Theater brach hinter der Bühne ein Feuer aus. Der Clown kam heraus, um das Publikum zu warnen; sie hielten es für einen Scherz und applaudierten. Er wiederholte es und der Beifall war noch größer. Ich glaube, genau so wird die Welt untergehen: unter allgemeinem Beifall von Menschen, die glauben, es sei ein Scherz.«
Frank Zappa: That’s what we always tried to tell the people who came to our concerts! Teresa, it’s so lovely to have met you. You have such a strong mind.
Teresa von Avila: You are welcome, Frank. Now let’s get out of here and have some fun. What would you recommend?
Frank Zappa: Well, I’m not sure, but we could get to the eternity lake and swim a few rounds.
Teresa von Avila: Das ist ein guter Vorschlag. Aber ich habe keinen Badeanzug dabei.
Frank Zappa: Ich habe auch keine Badehose… well, we could try to swim in the nude.
Teresa von Avila: What a wonderful idea, if only my fellow nuns could have experienced this. Let’s go crazy!
(Sie spazieren gemächlich zum See und singen gemeinsam):
Let me tell you about this right now
Let me tell you about this right here
You know you put me in office
So you must have wanted me in office
The man in the White House — oooh!
There’s just one thing I wanna know —
How’d that asshole ever manage to get in?
Neue Gespräche im Elysium XX
Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.
Mae West meets Hanns Dieter Hüsch
Mae West: Is that a gun in your pocket, or are you just happy to see me?
Hanns Dieter Hüsch: Was ich ja immer sage: Die Unanständigsten sind die Unschuldigsten. Aber erst einmal guten Tag, liebe Mae West, was bin ich erfreut Sie hier zu sehen! Bisher kannte ich Sie ja nur aus dem Film.
Mae West: I’m a woman of very few words, but lots of action. Ich kann nur zwei Sprachen: Englisch und Körper. Aber für Sie, mache ich, wie Sie gerade gehört haben, eine Ausnahme.
Hanns Dieter Hüsch: Ihre Sprüche sind weltberühmt, Ihre ›double entendres‹. Besonders der, den Sie gleich zu Anfang aufgesagt haben. Ja, wenige Worte, viel action. Für Ihre Auftritte hatten Sie immer die richtigen Songs: ›Go As Far As You Like‹, ›Nothing Bothers Me‹, ›I Don’t Care‹. Da müßte ich jetzt wohl über meine herzzerreißende Neigung zu schönen Mädchen sprechen, wo ich gleichzeitig immer meine riesengroße Angst fühlte, nicht angenommen zu werden. Die ganz schönen Mädchen waren natürlich für mich unerreichbar. Aber manchmal sind solche Frauen auch elend dran, schön zwar, aber elend dran, denn sie brauchen immer jemanden, der sie auffängt, wenn sie fallen. Ich war immer unterwegs, um die Damen mit den knappen Röcken, den hohen Absätzen und den offenen Herzen zu sehen, im Sommer und im Winter, immer wußte ich, wo es solche Etablissements gab, immer führte mich meine Sucht mitten hinein in die Welt der Lust und des Lasters, irgendetwas zog einen wie mich immer wieder dorthin, vielleicht wollte man einfach in den Arm genommen werden, und das natürlich möglichst lasziv. Ich war aber manchmal schon mit einem Blick zufrieden. Je höher der Strumpf, desto tiefer der Wahnsinn. Die Freundin, kurzsichtig, aber hochhackig.
Mae West: The best way to hold a man is in your arms. Between two evils, I always pick the one I never tried before. No one can have everything, so you have to try for what you want most. Too much of a good thing can be wonderful! Ten men waiting for me at the door? Send one of them home, I’m tired.
Hanns Dieter Hüsch: Ja, das bewundere ich an Ihnen ja so sehr, diese Freimütigkeit, dieses naiv Schamlose. Sie haben es in diesem prüden Land Amerika nicht leicht gehabt, ihre künstlerischen Vorstellungen durchzusetzen, aber Sie haben sie durchgesetzt. Ein Regisseur hat mir einmal gesagt: »Kinder, freundlich bleiben, auch die ernsten und aggressiven Sachen ruhig und fast leicht vortragen.«
Mae West: Wenn die Leute nur wüßten, was während der Aufführung meines Theaterstücks ›Sex‹ aus dem Jahr 1926, eine Aschenputtel-Geschichte, die mir 500 Dollar Geldstrafe und eine Woche im Gefängnis eingebracht hat, hinter der Bühne passierte, wären sie überrascht. Unser Hauptvergnügen zwischen den Akten waren Diskussionen über die Musik von Beethoven und Bach, über Shakespeare und die Philosophen der Welt.
Hanns Dieter Hüsch: Ich komme ja vom Niederrhein, das ist eine Gegend, die werden Sie jetzt nicht kennen. Die Leute dort, die Niederrheiner, sind ein eigenartiges Völkchen. Der Niederrheiner weiß nix, kann aber alles erklären. Umgekehrt, wenn man ihm etwas erklärt, versteht er nichts. Sagt aber dauernd: Ist doch logisch! Wenn man dann fragt: Wieso logisch? antwortet er sehr oft: Ja wieso, weiß ich auch nicht, muß man ’nen anderen fragen. Wenn man dann weiter nachhakt: Warum sachste denn dauernd: ›Ist doch logisch!‹, sagt er oft: Man wird doch mal was in Frage stellen dürfen? Der Niederrheiner hat, genau besehen, immer nur zwei große Themen: Essen und Sterben. Denn wir Niederrheiner können stundenlang erzählen, was wir gern essen und was wir nicht so gern essen und wie der und der gestorben ist und woran, und wie lang das gedauert hat, und welcher Arzt das alles verpfuscht hat, und wer schließlich das Ganze erbt, und daß gar nichts mehr da ist, weil, alles ist für die Operation draufgegangen, und wir hatten am Sonntag dicke Bohnen. Ich sage ja immer, man kann sich seinen Tod nicht aussuchen, aber das Essen schon, das ist doch wenigstens etwas im Leben. Die alte niederrheinische Geschichte von der Küche ins Krankenhaus, vom Krankenhaus auf den Kirchhof. Das sind die drei Ks des Niederrheiners, und von diesen Plätzen erzählt er auch immer sein Leben lang.
Mae West: You only live once, but if you do it right, once is enough. I eat the right foods, exercise, take care of myself to maintain my curves. I have improved the Venus de Milo, I have arms. I never worry about diets. The only carrots that interest me are the number you get in a diamond.
Hanns Dieter Hüsch: Ich eß ja am liebsten alles durcheinander. Ich knatsch mir die Kartoffeln und Soße, einfach durcheinander. Möhren mag ich ja weniger. Am liebsten eß ich ja Suppen. Oder Hülsenfrüchte. Da is ja auch alles durcheinander drin. Et kommt ja doch alles in einen Magen. Hamse schon Hunger? Pomm Fritz eß ich nich so gern. Bratwurst geht noch so eben. Ich eß auch gern mal en Spiegelei zwischendurch. Erbsensuppe schmeckt ja am besten im Winter. Mit Schwarzbrot und Butter. Schad is ja nur, daß man das meiste Essen nich bei sich behalten kann. Einmal stand ich vor einem Würstchenstand am Bahnhof, da höre ich gerade, wie die Verkäuferin an diesem Stand zu dem Herrn, der da stand, sagt: »Sagen Se mal, was hat er denn ganz genau gehabt? Er ist ja jetzt aus dem Krankenhaus wieder raus?« Da sagt der Mann zu der Verkäuferin: »Ja, wissen Sie, er hatte wohl so irgendwie Beschädigungen, die dann aber doch nicht reparabel waren, und das Andere weiß ich auch nicht.« Für die Verkäuferin war das klar, die kannte die Krankheit: »irgendwie so Beschädigungen haben«. Diese Krankheit gibt es nur am Niederrhein.
Mae West: Almost anything goes, anywhere, if it is good and fast and amusing.
Hanns Dieter Hüsch: Ich hab’ immer Sätze aufgeschnappt. Das ist eine niederrheinische Krankheit, das Erinnern, und ich habe ja mal gesagt: Wir sterben am Erinnern. Es gibt keine stärkere Krankheit als die Erinnerung. Wissen Sie, wenn man sich am Niederrhein vorstellt, sagt man am besten gleich die Krankheit dazu, denn man kommt doch in fünf Minuten darauf. »Et is zuviel«, sagen die Niederrheiner oft, wenn sie mit dem Leben nicht mehr fertig werden. Und weil die Niederrheiner ja zur Schwermut neigen, das kommt vom dem weiten, flachen Land, von der Aussichtslosigkeit, und die macht schwermütig, tun sie sich sehr oft was an. Nicht alle, aber viele.
Mae West: Ich war ein Kind des neuen Jahrhunderts, das gleich um die Ecke lag, und unerschrocken lief ich darauf zu. Sie erwähnten Essen und den Tod. Es gibt dann noch Sex. Was den Sex betrifft, ist der Mann von Natur aus ein Tier. Ich hatte immer meine besonderen Haustierchen. Bei älteren Liebhabern weiß man nie genau, wo die Leidenschaft aufhört und das Asthma beginnt. A hard man is good to find.
Hanns Dieter Hüsch: Ich bin ein Nomade, abends sitze ich schon wieder in den Zügen. Ich habe vieles im Wartesaal geschrieben, Leute beobachtet, Nachtschattengewächse, genau wie ich. Trunken war ich von diesen Nächten. Und dann Kartoffelsalat mit Würstchen, Kännchen Kaffee, Overstolz ohne Filter, fünfzig Stück am Tag mindestens.
Mae West: Man hat einen Cocktail nach mir benannt, den ›Mae West Martini‹. Er besteht aus Wodka, Mandellikör, Preiselbeersaft und einem Spritzer Melonenlikör. Und den wollen wir jetzt zusammen trinken und auf das neue Jahr anstoßen. Du kannst Mae zu mir sagen, Hanns Dieter.
Hanns Dieter Hüsch: Zehn Pils vor der Vorstellung machten mir früher nichts aus. Dann werde ich hier im Elysium wohl auch schon einen ›Mae West Martini‹ vertragen. Para el beneficio, liebe Mae! And a happy new year!