Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog

Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.

Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«

Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.

Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.

›Die Lüge‹ und ›Die Wahrheit‹

Die Überschrift eines Artikels in der ›Süddeutschen Zeitung‹ hat zum Vorbild die BILD-Zeitung:

»Gar nicht wahr. Die Lüge ist zurück. Mit Macht. Als Macht.«

So formulieren Schlagzeilen-Redakteure, die ihrem geistig minderbemittelten Publikum etwas näherbringen wollen.

Wenn der Tennisspieler Becker in ein Londoner Gefängnis muß, weil er zu einem längeren Aufenthalt von einem englischen Gericht dazu verurteilt wurde, würde die BILD-Zeitung diese Pseudonachricht  ungefähr so aufmachen:

»Schock! Boris Becker im Knast. Ein Mörder ist sein Zellennachbar.«

Wir erfahren dann in dem Artikel der beiden Reporter: »Die Lüge ist zurück. Mit Macht. Als Macht.« Womit im Text die Schlagzeilen wieder aufgenommen werden, was als rhetorisches Stilmittel wirken soll. Dann geht es weiter: »Eben noch belächelt, verspottet, kopfschüttelnd bestaunt.« Womit die Lüge, genauer: »Die Lüge« gemeint ist. Dann folgt als Zwischenüberschrift in mehrfacher Vergrößerung: 

»Im Weltrisikobericht 2025 steht die Desinformation auf Platz eins der größten globalen Risiken. Vor Klimakatastrophen, vor Kriegen.«

Das ist natürlich ein Schock für den Leser, das hätte er nicht gedacht, daß es so schlimm um die Welt steht. Unwidersprochen wird den Autoren des ›Weltrisikoberichts‹ zugestanden, daß Kriege und ökologische Verwüstung der Erde weniger wichtig sind als »Desinformation«. Das mag daran liegen, daß die Leute, die solche Berichte schreiben, ganz im Feld der Information aufgehen und Kommunikation und Information als das Ein und Alles der Welt ansehen.

Einige Absätze weiter liest man dann: »Der Abschied von den Fakten ist der Abschied von der Demokratie.« Damit wird den Fakten ein Status zugeschrieben, den sie auch zu Zeiten der Dominanz der bürgerlichen Presse niemals hatten. Es war sicherlich der Anspruch des heute gern so genannten ›Qualitätsjournalismus‹, nur die Fakten zu bringen und nichts als die Fakten, doch die Produktion einer Zeitung läuft so nicht ab. Obwohl der gewissenhafte Reporter gewiß sich bemühen wird, das Geschehen vor Ort, sagen wir: einen Dachstuhlbrand, genauestens zu beschreiben, auch Augenzeugen zu befragen, so gerinnt ihm sein Artikel doch immer wieder auch zu einer Meinungsäußerung. Das hat Karl Kraus am Beispiel eines Wiener Dachstuhlbrandes anschaulich geschildert. Es gibt keine reinen Fakten, wie hier suggeriert wird. Selbstverständlich gibt es Lügen, die gezielt eingesetzt werden, um zu desorientieren. Aber diese absolute Entgegensetzung von Lüge und Fakten (die unterschwellig mit der Wahrheit, oder gar ›Der Wahrheit‹ gleichgesetzt wird) ist manichäisch. 

Richtiggehend apokalyptisch wird es aber, wenn gefragt wird: »Wieviel Zeit bleibt uns?« Man hört da förmlich die Uhr ticken und schaudert vor der dann wohl bald explodierenden Zeitbombe. Im Einjagen von Angst halten die beiden SZ-Reporter mit den Lügen-Verbreitern durchaus mit.

Es geht munter apokalyptisch weiter, wenn ein »Aufdecker« mit dem Spruch zitiert wird, »Womöglich schaufeln wird gerade unser eigenes Grab«. Der »Aufdecker« weiß auch, weshalb das so ist: »Weil wir blind und bequem sind«. Das soll sich aber ändern, denn eine ganze Reihe von Zeugen wird nun aufgerufen, die diese Blindheit und Bequemlichkeit des allgemeinen Publikums fortwischen werden, aber nur, wenn man auf sie hört. Was haben sie uns zu sagen?

Vorerst gar nichts, denn es wird erneut bekräftigt, daß nicht ein tatsächlicher Krieg die Gefahr darstellt, sondern der »Informationsbereich« als der Ort entdeckt wird, »wo der dritte Weltkrieg ist«. 

Es werden dann die bekannten Tatsachen über den jetzigen US-Präsidenten wiedergegeben, der nicht auf die Wahrheit schwört, sondern auf die ihm zugute kommende Lüge. Daß er damit an die Macht gekommen ist und dort bleiben will, ist aus seiner Sicht verständlich. Niemand bestreitet das. Es ist ein offenes Geheimnis. Leider lassen die Wahlgesetze der USA und anderer westlicher Demokratien es nicht zu, ihn aus dem Amt zu entfernen, zumal er trotz der erheblichen kriminellen Energie es bisher immer noch erreicht hat, daß alle Strafverfahren gegen ihn entweder eingestellt oder nicht weiter verfolgt wurden. Der junge Mann, der vor der Wahl ihn am Ohr getroffen hat statt, wie wohl ursprünglich beabsichtigt, in den Kopf, hat dies nicht verhindern können.

Es werden dann einige nützliche Abwehrmaßnahmen erwähnt, die den weltweiten Unfug entweder einschränken oder löschen. Das ist erfreulich. Das aus der Natur bekannte Prinzip, womit man das, was schädlich ist, mit ebendiesem Schädlichen auch bekämpfen kann (ein Programm, »das mit KI erkennt, wenn Texte durch KI verändert wurden«). Das kennt man am Beispiel des so genannten ›Wettrüstens‹ schon lange, so wie Polizei und Verbrecher in einem ständigen, nie zu beendenden  Wettkampf sich befinden.

Dann folgt eine starke Behauptung: »Europas Bürger stecken alle fest in drei, vier fünf großen Plattformen – X, Facebook, Instagram, Youtube, Tiktok –, auf die wir unsere Debatten, unsere Geschäfte und Teile unseres Privatlebens ausgelagert haben.« Dazu müßte man ermitteln, wieviel Prozent dieser europäischen Bürger das tun, was hier ohne weiteres behauptet wird. 

Der alarmistische Ton der beiden Reporter wird beibehalten: »Vielleicht noch bedrohlicher: Mit der Entwicklung generativer KI-Systeme wird eine neue Form der Einflussnahme möglich, die nur schwer zu erkennen ist, da sie auf die Nutzer – deren psychologische Profile mithilfe ihrer Social-Media-Aktivitäten längst gesammelt werden – individuell zugeschneidert ist.« 

Ja, schön ist das nicht, nur gehen die Reporter von einem Nutzertypus aus, der sich durch ausgesprochene Beschränktheit auszeichnet. Diesen Typus gibt es ganz gewiß, vielleicht sogar in überwiegender Zahl, aber so zu tun, als seien die Benutzer dieser Technologien von vornherein der Propaganda hilflos ausgeliefert, unterschätzt die Fähigkeit zur Differenzierung doch sehr.

Die Kritiker dieser Entwicklungen sind ›Star Wars‹-Fans. Sie streuen gern Zitate aus diesen Filmen in ihre Bewertungen ein. Das kann manchmal sehr aufhellend wirken, in diesem Fall aber wird damit lediglich das manichäische Weltbild gestützt: »Is the dark side getting stronger?« Die beiden Reporter sind sich zusammen mit den von ihnen Interviewten sicher: »Aber die Mächte des Guten müssen sich niemals verloren geben«. Etwas Heroismus muß es schon sein, und zugleich wird damit doch auch bewiesen, daß der Kampf gegen das Böse auch einen sportlichen Reiz haben kann.

Für einen Moment nüchtern geworden, erwähnen die beiden Reporter Jonathan Swift und seinen 1710 erschienen Essay ›Die Kunst der politischen Lüge‹. Es ist alles schon einmal dagewesen, nichts Neues unter der Sonne, aber dann wird diese Sicht gleich wieder aktualisiert, mit einem nicht ganz gelungenen Vergleich: »Nur hat man heute das Gefühl, die Lüge habe Raketentreibstoff getankt.« Und schon sind wir wieder in einer Episode von ›Star Wars‹, der Art von Unterhaltung, die sowohl Reporter wie die Kämpfer gegen die Desinformation als private Entspannungsübung bevorzugen.

ACHTUNG! Der Fließtext wird aufgelockert durch eine aufgeblähte Zwischenüberschrift:

»Der ›Volksverpetzer‹, mit der auffälligste Faktenchecker und Anti-AfD-Blogger in Deutschland, hat heute 700 000 Follower auf Instagram.«

Dieser dem allgemeinen Informationswohl verpflichtete junge Mann, der so typisiert wird: »Cargopants, Sneaker, Typ fröhlicher Student« — Was will er? »›Werbung für die Wahrheit‹ will er machen, so heißt das Buch, mit dem er es vergangenes Jahr auf die Bestsellerlisten schaffte.« Mit dieser erfrischend direkten wahren Information wenden sich die beiden Reporter an die Leser der ›Süddeutschen Zeitung‹, damit sie im Bilde sind und sich das Buch kaufen, das ihnen bei der Bewältigung der bedrohlichen Lage helfen wird. Wie bereits oben ausgeführt, ist ›Die Wahrheit‹ der natürliche Antagonist von ›Die Lüge‹, so daß man mithilfe der Lektüre dieses Bestsellers gleichermaßen der Wahrheit wie der Lüge auf die Schliche kommen kann. »700 000 Follower auf Instagram.« Ja, Wahnsinn. »La vérité est en marche et rien ne l’arrêtera.« (Die Wahrheit ist auf dem Vormarsch und nichts kann sie aufhalten) schrieb Emile Zola in seinem berühmten Aufruf ›J’accuse‹ (1898). Damit nicht genug, der »Typ fröhlicher Student« schaut mal schnell auf das stets bereitliegende Smartphone und ruft begeistert aus: »21 Millionen Aufrufe in den letzten 30 Tagen.« Es kann also doch nicht ganz so schlimm um unsere Welt bestellt sein. 

Quelle:

Roman Deininger und Kai Strittmatter: Gar nicht wahr. Die Lüge ist zurück. Mit Macht. Als Macht. Wie sie die Demokratie zerstört – und wer sich dagegenstemmt. Eine Reise an die Front. In Süddeutsche Zeitung, 03.10.2025

Es ist nur ein Übergang

Als ich ein kleiner Knabe war, da sagte zu mir mein Großvater: »Du bist in eine schwere Zeit hineingeboren. Sie ist nur ein Übergang vom Alten zum Neuen.« Schön, dachte ich, also wird das Neue wohl noch kommen. Als ich in die Welt hinaus fuhr, da sagte zu mir mein Vater: »Unsere Zeit, mein Sohn, ist nur eine Übergangszeit. Wir stehen mit einem Fuße im 19., mit dem anderen schon im 20. Jahrhundert.« Ich dachte: Herrlich! Da werde ich also das Eigentliche noch erleben. […] Da floh ich nach Rußland; aber Rußland befand sich gerade in einem Übergang. »Teufel«, dachte ich, »wo finde ich denn nun das Wesentliche?« Immer sagen die Leute: »Wir befinden uns grade im Übergang.« […] Die Menschen glaubten eben jederzeit: ihre Zeit sei nur ein Übergang. (Theodor Lessing: Es ist nur ein Übergang. In: Prager Tagblatt, 28.5.1926)

A: Der Kanzler hat einen bedeutsamen Satz von sich gegeben.

B: Schon faul. Aufhören! Verschonen Sie mich mit Verlautbarungen von Regierungsmitgliedern.

A: Ich glaube, Sie sollten sich den Satz ruhig anhören. Er lautet nämlich: »Wir sind nicht im Krieg, aber wir  sind auch nicht im Frieden.«

B: Na großartig, jetzt geriert sich der Kanzler schon als Aphoristiker. Was will er denn damit aber eigentlich sagen?

A: Nie sollst du mich befragen. Tja, der Satz hat es schon in sich, er ist vielsagend und sagt doch zugleich nichts.

B: Was soll das nun wieder heißen?

A: Sehen Sie, seitdem ein Regierungsmitglied den Satz äußerte, Deutschland müsse »kriegstüchtig« werden, und seitdem  der Herrscher von Rußland ständig unfreundliche Akte gegen seine Nachbarn unternimmt, ist man in deutschen Regierungskreisen bemüht, sehr viel Geld für die militärische Aufrüstung des Landes auszugeben, weil man meint, mit noch mehr Waffen sei die Sicherheit des Landes garantiert.

B: Da hat sich in der Vergangenheit schon mancher Machthaber gründlich verrechnet.

A: Aus der Geschichte wird generell nichts gelernt, das steht als Grundsatz so fest wie der Eiffelturm.

B: Ja, und was lernen wir nun aus diesem Kanzler-Satz?

A: Man muß den Satz auseinandernehmen, um den eigentlichen Sinn freizulegen. Vielleicht so: Wir leben in einer Übergangszeit, die sich dadurch auszeichnet, daß wir nicht im Krieg, aber auch nicht mehr im Frieden leben.

B: Das ist aber doch nur die banale Wiederholung dessen, was der Kanzler gesagt hat.

A: Sie verkennen die langsame rhetorische Vorbereitung einer gründlichen Analyse. Lesen Sie mal Karl Kraus, der hat immer Sätze wiederholt, um dann nach und nach den Sinn und den Unsinn solcher Sätze zu zeigen. Der Kanzler hätte auch sagen können: »Liebe Landsleute! Schwere Zeiten stehen euch bevor. Ich kann Ihnen aber versichern, daß durch die enormen militärischen Ausgaben der letzten Monate dieses Land bestens darauf vorbereitet ist, in einen Krieg mit Rußland zu gehen!«

B: Das würde der Kanzler niemals sagen, das wäre auch durch die Geschichte nicht gedeckt, wenn man nur an die Feldzüge Napoleons gegen Moskau denkt, von dem Hitlerschen Vormarsch in russische Gefilde ganz zu schweigen. Das waren von vornherein Pleiteunternehmen.

A: Allerdings, aber nachdem durch die Politiker in diesem Lande und die ihnen wohlgesonnenen Medien in den letzten zwei Jahren allmählich eine Stimmung für einen Krieg vorbereitet worden ist, kommt dann der Zeitpunkt, wo ein Kanzler dem Volk, das nun auch noch wieder in die Wehrpflicht hineingedrängt werden soll, einen Zwischenbericht zur Lage der Nation vorlegen muß. Das glaubte er jedenfalls, als er sein Kanzler-Selbst befragte.

B: Nun gut, wie lösen Sie denn aber nun den Kanzler-Satz vom Nicht-Krieg und Nicht-Mehr-Frieden analytisch auf?

A: Wie ich schon sagte, will der Satz auf ein Übergangsstadium hindeuten, so wie auch der alte Satz, der sagt: Si vis pacem para bellum. Auf deutsch: Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor.

B: Oho! Das klingt aber ausnehmend kriegerisch.

A: Das ist es auch, nur wird es durch diese Konstruktion des Kanzler-Satzes ein wenig verdeckt, denn der Kanzler will seinem Volk ja keine Angst einjagen, sondern eben nur sagen, daß es sich auf andere Zeiten vorzubereiten hat, ja, daß diese anderen Zeiten bereits angebrochen sind: Der nichtkriegerische Frieden, die Vorstufe oder der Übergang zum friedlichen Einsatz von Waffen für einen guten Zweck: den Frieden.

B: Nun versteigen Sie sich aber in die Art von Kasuistik, die ich bei Rechtsanwälten immer gehaßt habe.

A: Aber darum geht es doch in dieser Sache! Niemand ist bereit, offen auszusprechen, was man plant und vorhat, aber zugleich muß man aus Gründen der politischen Legitimität etwas dazu sagen. Und so sagt man eben: »Wir befinden uns nicht im Krieg, aber auch nicht mehr im Frieden.« Es bleibt offen, ob man bald wieder zum Frieden zurückkehren will, aber es wird dem äußeren Feind deutlich gemacht, daß man nicht vor einem Krieg zurückschrecken wird.

B: Und die Kriegserklärung geht natürlich nicht von uns aus, sondern v0n den anderen.

A: Wie bei jedem Krieg, selbstverständlich. Keiner will der Aggressor sein, deshalb sagt man dann: »Seit fünf Uhr fünfundvierzig wird jetzt zurückgeschossen!«

B: Ja, mir ist dieser Satz wohlbekannt. Aber auch in der Vorkriegsphase des Ersten Weltkriegs gab es Bestrebungen innerhalb der deutschen politischen Elite, den Beginn eines Krieges mit Rußland so aussehen zu lassen, als ob die Russen mit dem Krieg begonnen hätten und man sich nun tapfer zu wehren habe.

A: In unserem heutigen Fall ist tatsächlich Rußland das kriegführende Land, seit es die Ukraine überfallen hat. Mittlerweile aber werden Unmengen an Geld in die militärische Aufrüstung gepumpt und in diesem Zusammenhang fiel dem Kanzler dann plötzlich ein, daß das eigentlich ein Zustand sein könnte, der nicht mehr eindeutig zu bestimmen ist und deshalb hat er ihn zwischen Krieg und Frieden plaziert. Also das ist ungefähr der Zustand, den man zu beschreiben versucht, wenn man von »ein bißchen schwanger« spricht. 1982 hat die Schlagersängerin Nicole das Lied ›Ein bißchen Frieden‹ populär gemacht. Aber wir haben es heute mit einem Zustand zu tun, bei der führende Politiker dieses Landes singen: ›Ein bißchen Frieden, ein bißchen Krieg‹, und so wie es aussieht, läuft es auf ein ›Ein bißchen Krieg‹ hinaus.

B: Sie wissen aber schon, daß er den Satz: »Wir sind nicht im Krieg, aber wir sind auch nicht im Frieden« eingeleitet hat mit diesem Satz: »Ich will es mal mit einem Satz sagen, der vielleicht auf den ersten Blick ein bißchen schockierend ist.«

A: »Ein bißchen schockierend«! Da haben wir es ja, wie auf Stichwort. Es scheint keiner zu bemerken, daß mit diesem Geschwafel das mentale Gelände für Dinge präpariert wird, bei der die Bundesrepublik zum Aufmarschgelände und Schlachtfeld für einen Krieg werden wird.

B: Mir wird speiübel.

A: Ich kann es Ihnen nicht verdenken. Übrigens hat der Kanzler in einer privaten Unterhaltung, die für die Öffentlichkeit bestimmt war, verlauten lassen, er trinke jetzt gar keinen Alkohol mehr.

B: Aha! Nur im Zustand völliger Nüchternheit zieht man ins Feld. Wie sagt man? »Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient.« 

A: Das ist von Joseph de Maistre (1753—1821), einem katholischen Reaktionär.

B: Na bitte, und welcher Partei gehört dieser Kanzler an?

Polygynie in Venedig

Zum 99. Geburtstag am 28. Juni 2025, für einen der größten Komiker und Parodisten der Gegenwart: Melvin Kaminsky, besser bekannt als Mel Brooks

Der Hinrainer Rudi, der hat einen Stil. International Flair! Er kann zwar kein Englisch, aber er frisst einen Sushi. Er sauft einen Bardolino. Fährt einen Mitsubishi. Außerdem ist er sowieso international, weil, er ist ja mit einer Thailänderin verheiratet. Seine Frau ist eine Thaifrau! Und zwar schon die dritte. Warum? Das ist nämlich auch interessant. Das ist jetzt zwar ein anderes Kapitel, aber der Rudi sagt, die Thaifrauen sind zum Anschauen wirklich anmutig – aber, sagt er, haltbar sind sie nicht. Er sagt, er hätte jederzeit aus seiner Sicht auch eine europäische Frau geehelicht. Das wäre ihm wurscht gewesen. Polin, Ungarin – scheißegal, sagt er. Aber jetzt kommt es – er sagt: Die europäische Frau hat sich seiner Meinung nach mit ihrem enormen Selbstbewusstsein im Grunde selber sehr geschadet. Gell. Das sag nicht ich, das sagt der Hinrainer Rudi.
Gerhard Polt: Der Europäer. In: ders.: Drecksbagage. Anwürfe, Unterstellungen, aber auch Ehrabschneidungen, Zürich 2008, 31–39 (38).

A: Was für ein Sommer dieses Jahr, und dabei haben wir die Monate Juli und August noch vor uns!

B: Jaja, es ist ganz schön heiß und soll kommende Woche noch heißer werden. Bis zu 36 Grad! In New York sind schon 39 Grad erreicht worden. Global Warming!

A: Ach, hören Sie doch auf mit diesen klimakritischen Phrasen, ich kann es einfach nicht mehr hören.

B: Sie haben mit dem Thema angefangen, nicht ich.

A: Da haben Sie recht, Entschuldigung, aber diese Hitze steigt mir in den Kopf und nachts schwitze ich wie ein Schwein, muß immer wieder aufstehen und das Nachtzeug wechseln und wenn dann der Morgen naht, fühle ich mich wie zerschlagen. Das Schlimmste aber ist: seit einigen Tagen friere ich tagsüber, es ist so, als wäre unter meiner Haut eine Eisschicht eingewandert. Dazu kommt ein Gefühl der Übelkeit und des Schwindels. 

B: Wie bedauerlich. Dafür haben Sie draußen eine blühende Natur, wie man es im Sommer gewohnt ist. Wenn alles kalt und grau ist, können Sie zwar besser die Nacht überstehen, aber das ist dann auch schon alles. Die Aussicht darauf, daß bald schon wieder Weihnachten ist und in den Fußgängerzonen der Glühwein die Menschheit bedroht, ist ja auch keine schöne Aussicht.

A: Jetzt aber mal was Anderes. Haben Sie die sündhaft teure Hochzeit dieses Jeff Bozo mit dieser Schlauchbootlippenbraut in Venedig verfolgt? Das ist ja Kabarett live.

B: Es war schwer, diesem Pseudoereignis auszuweichen, die Medien haben sich darauf gestürzt wie eine Wespe auf das letzte Stück Zwetschgenkuchen in der Konditorei.

A: Allerdings! Es ging aber auch um viel Geld. Unglaublich, was diese Superreichen sich alles leisten können und wie sie das Geld aus dem Fenster schmeißen, als wären es Karamellen im Karneval.

B: Deshalb fand das Spektakel ja wohl auch in Venedig statt, wo in früheren Zeit wochenlang Karneval gefeiert wurde. Was müssen das für Zeiten gewesen sein! Wie schade, daß man das nicht miterleben konnte.

A: Venedig ist nicht mehr das, was es einmal war. Ein Doge hätte niemals diesem Bozo erlaubt, vier Tage die Serenissima zu okkupieren, auch nicht mit einer großen Geldspende an die Stadt, wie sie dieser Bozo getätigt hat.

B: Sie sprechen vom vielen Geld, das dieser Bozo, der übrigens richtig Bezos heißt und der Begründer des Versandwarenhauses ›amazon‹ ist, hat springen lassen. Eins verstehe ich dabei nicht: Wie kann ein Mann, der Milliarden Dollar flüssig zur Verfügung hat, am Ende eine Frau heiraten, die so aussieht? Eine Vogelscheuche allerersten Grades! Für so ein unansehnliches Wesen, das ja vielleicht innere Werte haben mag, gebe ich doch nicht das ganze schöne Geld aus. Und was noch schlimmer ist: Die hat der jetzt jahrelang am Hals. In diesen Kreisen halten solche Ehen möglicherweise nicht lange, aber ganz egal, wie lange er diese Person nun sein eigen nennen darf, es bleibt doch zu fragen: wieso ein so angejahrtes und aufgespritztes Modell, wo man für viel weniger Geld doch etwas weitaus Besseres bekommen kann?

A: Das sehe ich ganz genau so. Ich würde aber noch einen Schritt weiter gehen als Sie. Bei dem ergaunerten Reichtum dieses Herrn Bozo fragt man sich doch, wieso er sich auf eine Frau beschränkt hat. Wieso nicht zwei Frauen, drei Frauen, was sage ich?, einen ganzen Harem. Das Geld ist doch vorhanden und ich bin mir sicher, daß man auf der ganzen Welt ausreichend Frauenmaterial zusammenbringen kann, um einen netten Harem damit zusammenzustellen. Und vor allem junge, hübsche Frauen aus aller Herren Länder! Latinas, Muslimas, schwarze, weiße, gelbe Frauen, da bin ich ganz vorurteilslos. Alles zusammenkarren und dann vor die Weltmedien treten und sie mit ganzem Besitzerstolz den Kameras präsentieren. Das hätte Klasse und Stil. Aber das traut sich dieser kleine glatzköpfige Mann nicht. Er hat zwar viel Geld, ist aber völlig gefangen in einer kleinbürgerlichen Welt der Ein-Ehe. Pah!

B: So betrachtet, hat das viel für sich. Personen aus diesen Kreisen haben ohnehin keinen Ruf zu verlieren, können aber enorm hinzugewinnen, wenn es darum geht, etwas wirklich Aufregendes und Neues der Welt vorzuführen.

A: Da sind wir uns einig. Und im übrigen müßte dieser Bozo ja gar nicht die Ehe mit jeder der Frauen aus seinem Harem ›konsumieren‹, wie man das im US-amerikanischen Sprachgebrauch so nennt. Doch der ungeheure Neid, den alle Männer der Welt, ob nun Christen oder Moslems, empfinden würden, wenn sie wüßten, daß diesem Milliardär erlaubt ist, das zu tun, wovon diese auf eine Frau festgelegten Kleinbürger nur träumen können, das allein wäre ein maßloses Gefühl der Macht. Denn das ist doch wohl klar: es geht bei einem Harem nicht um Sex, sondern um die Darstellung von männlicher Macht.

B: Wenn es aber ganz stilgerecht sein soll, müßte dieser Herr Bozo vielleicht doch erwägen, wenn er sich so einen Harem einrichten läßt, daß er dann auch einen Haremswächter einstellt. Einen Eunuchen. 

A: Uii! Guter Gedanke, aber sicher schwierig in der Ausführung, denn wo immer diese Vielweiberei stattfinden soll, ob in den USA oder Europa, wird man auf ethische Vorbehalte stoßen. Denn Sie wollen doch nicht bloß einen Haremswächter engagieren, der nicht vollkommen echt daherkommt, oder?

B: Sie meinen: Kastriert?

A: In der Tat, das muß dann schon sein, wenn man den Anspruch erhebt, einen authentischen Harem zu präsentieren. Ich denke aber doch, es sollte sich eine Lösung dafür finden. Wissen Sie, ich bin ja gelegentlich bei diesen am Starnberger See stattfindenden Symposien eingeladen. Letztes Jahr waren Marquis de Sade-Tage angesetzt worden, und da war ein hochinteressanter Vortrag eines Professors der Münchner Universität über jüdische Beschneidungsrituale und orientalische Kastrationstechniken angesetzt, also der war schon sehr eindrucksvoll, muß ich sagen. Nachher hat man sich dann beim Champagner über den Vortrag unterhalten und da sagte mir ein Teilnehmer, er kenne Ärzte, die würden gegen Aufpreis solche Kastrationen fachgerecht an entsprechenden Subjekten vornehmen. Die Operation an sich ist eigentlich keine große Sache, das geht alles ganz klinisch vor sich, so wie die Ärzte in Saudi-Arabien ja auch versierte Techniker sind und es noch nie zu ärztlichen Kunstfehlern gekommen ist, wenn dort den verurteilten Verbrechern eine Hand abgetrennt wurde. Genauso geht es dann auch bei der Gonadektomie zu; einmal zack, und ab ist der Balkon. Sicher, es ist ein heikles Thema, aber man nimmt für solche Prozeduren ja auch keine Westeuropäer, ja nicht einmal Osteuropäer, obwohl der Markt dafür langsam heranwächst. Nein, Personen mit der Ambition, sich einen privaten Harem einzurichten, stützen sich voll und ganz auf den südostasiatischen Raum. So ein Bangladeshi ist schon für 1000 Dollar zu haben, natürlich ohne die Kosten der Operation, das kommt extra. Aber dann hat man einen wirklich authentischen Haremswächter, der zudem von ausgewiesenen medizinischen Fachärzten behandelt wird. Auch für die Nachsorge ist alles vorbereitet. Andererseits sollte man auch den gigantischen US-Markt nicht ganz außen vor lassen. Die Gefängnisse dort sind ja ohnehin seit Jahren überfüllt. Wieso sollte man da einzelnen Subjekten nicht die Chance bieten, sich gegen Hergabe der Hoden vom Strafvollzug freizukaufen? Natürlich müßte man eine strikte Vorauswahl treffen. Ordinäre Vergewaltiger kämen von vornherein schon einmal nicht in Frage. So ein Milliardärs-Harem muß schon auf einem gewissen zivilisatorischen Niveau gehalten werden. Also, ich würde sagen: wenn unter diesen Verurteilten in den amerikanischen Gefängnissen einmal ein Bilanzfälscher ist (die haben sie ja öfter da drüben), da würde ich sagen: Ja, weshalb denn nicht? Der bringt eine gewisse Bildung mit, denn ohne eine solche wäre man ja nicht Bilanzfälscher geworden, nicht wahr? Und so würde sich so eine Person auch ganz unauffällig in den Harems-Haushalt einfügen lassen, meinen Sie nicht?

B: Tja, für diesen Herrn Bozo ist der Zug in dieser Hinsicht abgefahren, aber es gibt ja noch andere reiche Leute auf dieser Welt. Man darf gespannt sein. Das werden sich die internationalen Medien nicht entgehen lassen.

A: Darauf können Sie wetten. Ach, es ist doch immer wieder nett, mit Ihnen so ganz zwanglos über interessante Themen der Welt zu plaudern.

B: Das denke ich auch, dann bis zum nächsten Mal, Frau A.

Fading Civilization. Part Five. Eine apokalyptische Serie

Die Apokalypse hat eine lange Geschichte. Nimmt man sich irgendein Ereignis der Gegenwart vor, so kann man meist ohne Mühe daran ablesen, daß, wie es in gängiger Alltagsrede heißt, »alles den Bach runtergeht«. In dieser Rubrik sollen solche Alltagserscheinungen beleuchtet und interpretiert werden, dabei prüfend, ob nicht doch ein Ende erreicht werden wird und welche Vorteile dies für die Erde dann doch hätte: »Eines ist auf jeden Fall gewiß: der Mensch ist nicht das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen Wissen gestellt hat. Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis diese Dispositionen ins Wanken gerieten, dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« (Michel Foucault: Les mots et les choses, 1966)

Ein Kakerlak sitzt in meinem  Salat!

In der Verwechslungskomödie ›Victor and Victoria‹ (Regie: Blake Edwards, USA 1982) sind zwei arbeitslose Künstler sehr hungrig, haben aber nicht genug Geld, um in einem erstklassigen Pariser Restaurant ihren Hunger zu stillen. Victoria Grant, gespielt von Julie Andrews, hat eine Idee. Sie betritt mit dem Chansonnier Toddy, gespielt von Robert Preston, das Lokal und verrät ihm, wie man auch ohne Geld sich satt essen kann. Sie bestellt einen gemischten Salat und, nachdem der hochnäsige Kellner verschwunden ist, öffnet sie ihre Handtasche, und schüttelt den Inhalt über der Salatschüssel aus. Aber es geschieht nicht das, was sie eigentlich damit bezweckt hatte, denn in der Handtasche hatte sie eine riesige Kakerlake (Cockroach) versteckt. Verstört sucht sie in dem Salat nach dem Insekt, doch sie findet es nicht. Der Kellner steht plötzlich neben Victoria und beugt sich über den Tisch. Toddy sagt mit bestimmtem Ton, daß sie noch eine weitere Flasche Wein haben möchten. Während der Kellner  die leere Flasche ergreift, läuft ein Kakerlak über seine Hand. Victoria erschrickt sich, springt auf und fängt an zu schreien. Sie fällt gegen den Kellner, der wiederum kopfüber auf einen Nebentisch stürzt. Toddy verlangt den Manager des Restaurants zu sprechen, doch der hat bereits den entsetzlichen Vorfall aus dem Hintergrund beobachtet. Mit scheinheiliger Höflichkeit entschuldigt er sich bei ›Madame‹ und erklärt, in den fünf Jahren, seitdem er das Restaurant leite, sei es nur zweimal vorgekommen, daß ein Kakerlak in den servierten Speisen gefunden wurde, dann nämlich, wenn die Gäste das Insekt selbst in ihr Essen placiert hatten, um die Restaurantleitung zu erpressen und damit um das Bezahlen der Rechnung herumzukommen. Während das Geplänkel seinen Fortgang nimmt, wird die Kamera in einer Großaufnahme auf eine übergewichtige Dame mit Hut und großer Perlenkette gerichtet, die skeptisch das Geschehen um sie herum verfolgt hat. Dann schwenkt die Kamera auf den Fußboden des Restaurants und man sieht einen der Schuhe der Dame. Dort, auf der Spitze des Schuhs hat der Kakerlak Platz genommen. Unternehmungslustig krabbelt er das Bein hoch, Richtung Norden, zu wärmeren Gefilden. Als der Kakerlak ungefähr in Höhe der Kniekehle angekommen ist, erfolgt ein scharfer Kameraschnitt auf Gesicht und Oberkörper der Dame, die unter einem entsetzten Aufschrei von ihrem Sitz auffährt. Und dann sieht man das Restaurant von außen, eine abendliche Szene mit vier matt erleuchteten, zu einem Drittel mit weißen Gardinen abgedeckten Fenstern. Es ist vollkommen still. Dann aber sieht man, ohne Ton, wie alle Gäste hochspringen, wild gestikulieren, auf die Tische springen und mit Gegenständen auf die Tische einschlagen. Und ein Paar, Victor und Toddy, verläßt, sich an den Händen haltend, mit schnellen Schritten das Restaurant. 

Oddio, che schifo! (Oh Gott, wie ekelig!) hörte man in den letzten Tagen in sämtlichen Restaurants der Stadt Rom die Gäste rufen. Doch nicht etwa ein Zechpreller hat einen Kakerlak in sein Essen getan, sondern die Kakerlaken selbst haben sich in Massen dazu entschlossen, die römischen Restaurants aufzusuchen. Periplaneta americana (Amerikanische Großschabe) nennt sie sich, oder wird fälschlicherweise so genannt, denn das Insekt ist asiatischen Ursprungs und hat sich per Schiff über den gesamten Mittelmeerraum ausgebreitet. Der XXL-Kakerlak hält sich tagsüber in der Kanalisation auf und ernährt sich, wenn er nicht gerade auf Restauranttischen sich bedient, von den auf Roms Straßen herumliegenden Speiseresten. Die Ewige Stadt hat es bis heute nicht erreicht, sich auch nur eine einzige Müllverbrennungsanlage anzuschaffen, weswegen denn auch anderes Getier wie die allezeit und überall präsente Ratte in Rom ihr Auskommen findet. Aber auch Möwen und Tausende von Wildschweinen halten sich an offenen Mülltonnen gütlich. Die Riesen-Kakerlake profitiert von der Klimaerwärmung und wandert aus den Mittelmeergebieten immer weiter nach Norden, denn dort findet sie Temperaturen vor, die ihr ein Überleben auch im Winter ermöglichen. Igitt! wird man denn wohl auch bald in den Restaurants Hannovers zu hören bekommen. Auf deutsch: Wie ekelig!

Der Maskenball des Ministers

Gibt es Geschäfte, in denen es eine Ausnahme von der Maskenpflicht gibt? Ja. Banken und Sparkassen. Hier gilt keine Maskenpflicht. Das Land möchte so offenbar gewährleisten, daß normale Kunden in den Filialen von Bankräubern zu unterscheiden sind. (Pressemitteilung aus dem Frühjahr 2020)

Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? (Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper, 1931)

Zwei CDU-Parteimitglieder unterhalten sich.

A: Wenn ich an manchen Tagen die Zeitung aufschlage, natürlich die ›Große Frankfurter‹, was sonst?, dann frage ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, sie nicht aufzuschlagen.

B: Ach, was ist denn passiert? Schon wieder ein Raubüberfall auf einen Juwelierladen? Wie gehen denn übrigens die Geschäfte in Ihrem Juwelierladen?

A: Lassen Sie uns gar nicht erst damit anfangen, über die Geschäftslage zu reden. Aber in gewisser Weise haben Sie ins Schwarze getroffen mit Ihrer Frage. Viel schlimmer kann es schon gar nicht mehr kommen. Hier (reicht Herrn B die Zeitung herüber). Da, ich habe die betreffende Seite schon aufgeschlagen. Wirtschaftsteil, Seite 17. 

B: (liest laut vor): »Nach Bekanntwerden interner Ermittlungsergebnisse aus dem Bundesgesundheitsministerium zur überteuerten Maskenbeschaffung in der frühen Corona-Zeit wächst der Druck auf das Haus von Nina Warken und auf ihren Vorvorgänger Jens Spahn (beide CDU). Hintergrund sind die Ergebnisse der Aufklärungsbeauftragten im Ministerium. Diese hatte Warkens Vorgänger Karl Lauterbach (SPD) eingesetzt, weil der Bundesrechnungshof Kritik an Spahns Maskeneinkauf geübt hatte und weil das Ministerium viele Klagen gegen Lieferanten verloren hatte, die sich geprellt sahen. Das Prozeßrisiko für die Steuerzahler beträgt bis heute 2,3 Milliarden Euro.« Donnerlüttchen, da liegt der Hund begraben. 

A: (nimmt Herrn B das Blatt aus der Hand und liest weiter): »Der Zeitung liegen exklusiv Teile der Arbeitsergebnisse der Aufklärungsbeauftragten vor. Demnach könnte der Schaden für die Steuerzahler noch viel höher sein als angenommen. Vermutlich hat das Gesundheitsministerium in der Anfangsphase der Pandemie im Frühjahr 2020 bis zu 623 Millionen Euro zu viel gezahlt, obgleich die Fachabteilung des Hauses zu wesentlich niedrigeren Preisen geraten hatte. Das wären noch einmal 156 Millionen Euro mehr als bisher bekannt. Wichtige Teile des öffentlichen Preisrechts hat das Ministerium entweder nicht gekannt oder ignoriert. Die Milliardengeschäfte könnten daher nichtig sein.«

B: Das ist ja furchtbar, ganz furchtbar. Der arme Jens Spahn, den habe ich immer für einen ordentlichen Politiker gehalten, der hat doch schon während der schrecklichen Pandemie in einer Rede im Bundestag gesagt: »Wir werden einander viel verzeihen müssen.« Und dann hat er nach dem Ende der Pandemie daraus ein ganzes Buch gemacht. Ob er es selbst geschrieben hat? Das weiß man bei Politikern aller Couleur nie so genau. Egal, das Buch hat auch einen Untertitel: ›Wie die Pandemie uns verändert hat – und was sie uns für die Zukunft lehrt. Innenansichten einer Krise‹. 

A: (mit grimmiger Miene) Sätze wie diese sind wie ein Bumerang, sie  kommen zurück und treffen den Sprecher. Denn jetzt kommt’s. Hören Sie zu (liest weiter aus dem Artikel vor): »Spahn hat gegen mehrfache, sehr ausdrückliche Hinweise seiner Mitarbeiter in der Abteilung 1 des Ministeriums einen sehr viel höheren Preis mit Gewalt durchgesetzt.« Mit Gewalt! Gegen die ausdrücklichen Hinweise der Mitarbeiter! 

B: Ogottogott, ogottogott! Das hätte ich dann doch nicht gedacht, daß dieser sympathische junge Mann zu sowas fähig ist. Was hat er sich dabei bloß gedacht. Wer gibt schon gern freiwillig mehr Geld aus als nötig ist? Ich sage doch auch im Kaufmannsladen um die Ecke nicht: Ach, berechnen Sie ruhig mehr als mein Einkauf eigentlich kosten würde, ich hab’s ja. Und warum sollte ich Ihnen nicht eine Freude machen und völlig überteuerte Waren kaufen.

A: Hier kommt die Pointe der Geschichte! Sind Sie bereit? 

B: Nun spannen Sie mich doch nicht so auf die Folter!

A: (liest): »Man könnte vermuten, daß Spahn das für seine CDU-Freunde unter den Maskenhändlern gemacht hat.«

B: (völlig entgeistert, schluckt und spricht dann nur stockend weiter): Aber…das…ist…doch…nicht…möglich. Das macht man doch nicht, und wenn man auch ein noch so loyales Parteimitglied ist. Als Minister ist er doch dem Staatswohl, dem Allgemeinwohl verpflichtet. Artikel 56 des Grundgesetzes! »Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.« 

A: Ja, die Papierfassung einer Eidesformel klingt immer sehr schön und erhaben, doch die Wirklichkeit sieht anders aus. (Macht eine Handbewegung nach unten, wie als schließe er den Deckel eines Sarges): Der Mann ist erledigt. Toast, wie man in den Vereinigten Staaten sagt. Und man muß ihn ganz, ganz schnell loswerden. Der ist das reinste Leichengift. Raus damit aus der Partei. Ein Parteiausschlußverfahren muß sofort ingang gesetzt werden. Der zieht uns alle in den Abgrund. Wie stehen wir als Partei denn jetzt da? Wir sind doch Christenmenschen und nicht Betrüger und Parasiten, die auf dem Rücken des Steuerzahlers sich zugunsten von Parteifreunden bereichern und wie die Made im Speck des Staatskörpers verhalten. Das sind doch die Gründe, weshalb so viele Leute diese AfD-er-Partei wählen. Ich kann förmlich die Wut riechen, die die Wähler ergreift, wenn Sie  solche Meldungen hören.

B: Ich bin fassungslos. Wer hätte das gedacht, daß so etwas möglich ist, und das zu einer Zeit, wo Millionen Menschen vom Tod durch das Virus bedroht waren. Und da kommt dieser Kerl daher und schustert seinen Parteikumpanen die völlig überteuerten Preise zu. Dieser Zynismus! Und dann stellt der sich auch noch im Bundestag hin und sagt: »Wir werden einander viel verzeihen müssen.« Ja, das schlägt doch dem Faß den Boden aus! So ein Schweinehund, so ein elendiger! Tut so, als sei er vom Allmächtigen dazu bevollmächtigt, sich selbst vorab zu entschuldigen und zu entschulden, wo er gerade krumme Dinger als Minister gedreht hat. In China würde man ihn nicht nur aus der kommunistischen Partei ausschließen, der würde im Schnellverfahren liquidiert werden, als chinesischer Volksschädling. 

A: Nun beruhigen Sie sich doch. Es wird ja sicher wohl weitere Konsequenzen geben. Das heißt: noch ein Untersuchungsausschuß mit weiteren Einzelheiten. Aber im Endergebnis, da können Sie Gift darauf nehmen, wird garantiert nichts dabei herauskommen. Man kennt das doch schon von den mit schöner Regelmäßigkeit publizierten Berichten des Bundesrechnungshofs. Jedesmal liest man darin die haarsträubendsten Dinge über sinnlose Steuergeldverschwendung. Aber haben Sie jemals gelesen, daß einer der Schuldigen dafür ins Gefängnis gewandert ist? Natürlich nicht, wir sind ja in Deutschland. Und erst recht Politiker sind absolut gefeit gegen diese Angelegenheiten. 

B: Diese Type ist seit kurzem Fraktionsvorsitzender der CDU-CSU-Bundestagsfraktion. Und ich sage: heraus mit ihm! Wie auch aus allen anderen Ämtern und Mitgliedschaften. Der ist auch Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung. Man denke! Was hat der Altbundeskanzler Ludwig Erhard alles für das deutsche Wirtschaftswunder getan, alles im Dienste des Allgemeinwohls. Friedlich hat er seine tägliche Zigarre geraucht, und nun haben Schakale Platz genommen am reichlich gedeckten Tisch der deutschen Nation. Selbst wenn man diesem Spahn sein Wohnhaus wegnehmen und sein Privatvermögen beschlagnahmen würde, die Summe aller Werte ergäbe auch nicht annähernd die Summe, die er durch sein betrügerisches Verhalten den deutschen Staat gekostet hat. Wir sollten eine Unterschriftenaktion starten und alle CDU-Mitglieder zum Austritt aus der Partei auffordern, wenn nicht unverzüglich dieser Spahn aus der CDU hinausgeworfen wird!

A: Nun, manchmal reicht die Maske eines Biedermanns eben aus, um einen Banküberfall durchzuführen.

Neue Gespräche im Elysium XXV

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.

Shere Hite meets Stendhal

So ist für »Kristallisation« der Liebe bei Stendhal Kommunikation kaum noch nötig, und, wenn sie kommt, kann sie das Gebilde zerstören, weil sie das »nein« ermöglicht.
Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/M. 1982, 168

…dann zerriß er leise die Schnürbänder des Gewandes, das Mieder sprang auf, und die zwei weißen Köstlichkeiten zeigten sich in allen Prächten. Auf Silberschimmer dieses Busens blühte ein paradiesisch Rosenpaar. Er berührte sie leise mit den Lippen, ließ diese dann liebkosend dem Umriß der Brüste entlang gleiten. Rosalinde lächelte Gewährung in unerschöpflicher Güte und mühte sich, seine Zärtlichkeiten gleichwertig zu erwidern.
Théophile Gautier: Mademoiselle de Maupin – Doppelliebe [1834]. In: ders.: Romane und Erzählungen (Hg.) D. Oehler, Wiesbaden 2003, 29–220 (216)

Shere Hite: Der Wald war meine erste Liebe. Er schien mit mir zu sprechen, und ich hatte das Gefühl, daß auch die Bäume mich liebten und mir helfen wollten. Ich verspürte stets den Impuls, die Baumstämme mit den Armen zu umschlingen. Ich wollte ihre Kraft, ihre Festigkeit an meiner Brust fühlen.

Stendhal: Wenn ich während des Pariser Frühlings aus dem Fenster schaute und die knospenden Lindenbäume sah, überkam mich das Gefühl, in diesen Bäumen meine ersten Freunde in der großen Stadt gefunden zu haben.

Shere Hite: An einem jener Abende verspürte ich ein seltsames Begehren, ein tiefes Sehnen, das aus dem unerreichbaren Innern meines Körpers zu kommen schien. Bald entdeckte ich, daß ich das Gefühl verstärken konnte, indem ich den Körper gegen das Bett drückte und die Beine hin und her bewegte. Ich preßte den Körper gegen das Bett, bis das Gefühl, anstatt zu enden, immer heftiger und immer fordernder wurde. Eines Tages nahm ich dabei eine wunderbare Explosion tief in meinem Körper wahr. Der Genuß war wie ein elektrischer Schlag zwischen meinen heißen, sich krümmenden Beinen. Ich wollte es immer wieder tun, und ich tat es immer wieder. Dann tat ich es jeden Tag. 

Stendhal: Ja, liebe Madame Hite, das war eine schöne Beschreibung Ihres sexuellen Erwachens, die Sie mir da eben gegeben haben. Meine erste sexuelle Erfahrung machte ich mit einer Mailänder Hure. In meinem Roman ›Lamiel‹, der erst 1889 veröffentlicht wurde, beschreibe ich dieses angeblich so einschneidende Erlebnis und lasse eine meiner Figuren fragen: Comment, ce fameux amour ce n’est que ça! Ist die Liebe weiter nichts? Auch ich habe mich im Laufe meines Lebens mit dem Phänomen der Liebe immer wieder beschäftigt, allerdings durfte ich angesichts der damaligen Zeitverhältnisse nicht so offen schreiben und sprechen, wie Sie das soeben demonstriert haben. Die Liebe war mein Hauptthema, beim Schreiben und in meinem eigenen Leben. Sie kennen vielleicht den von mir entdeckten Vorgang der »Kristallisation«? Nein? Dann will ich Ihnen das einmal beschreiben. Die Kristallbildung hört in der Liebe fast nie auf. Ich verstehe unter Kristallbildung eine Art Fieber der Einbildungskraft, durch das ein meist ganz gewöhnlicher Gegenstand bis zur Unkenntlichkeit verändert und zu etwas Besonderem wird. Bildschöne Frauen machen schon am zweiten Tage nicht mehr den gleichen Eindruck. Das ist ein großes Unglück, denn es stört die Kristallbildung, es läßt ihr nicht genügend Raum. Da ihre Reize allgemein sichtbar und gleichsam ein Aushängeschild sind, müssen auf der Liste ihrer Liebhaber mehr Dummköpfe, Prinzen, Millionäre und so weiter stehen. Sie, verehrte Madame Hite, sind übrigens wirklich bildschön.

Shere Hite: Ja, ja, ich weiß, jetzt sind aber genug Süßholz geraspelt und versteckte Beleidigungen ausgesprochen worden. Ich warte immer noch auf die Beschreibung Ihrer Beobachtung, auf die Definition der Kristallbildung.

Stendhal: Oh, entschuldigen Sie. Eine sachlich-poetische Beschreibung des Vorgangs können Sie in einem Nachlaßtext von mir finden, betitelt ›Der Salzburger Zweig‹. Ich schrieb diese Reflexion, nachdem ich am 5. und 6. Januar 1810 im österreichischen Hallein das Salzbergwerk besucht hatte. Man verkaufte dort Zweiglein, die im Salzbad Kristalle angesetzt hatten. Hier, ich habe den Text bei mir. (Liest vor): Im Salzbergwerk von Hallein bei Salzburg werfen die Bergleute einen entlaubten Baumzweig in die Tiefe der verlassenen Schächte. Zwei bis drei Monate später finden sie ihn durch die Wirkung des salzhaltigen Wassers, das den Zweig benetzt und beim Ablaufen Niederschläge hinterläßt, ganz mit glitzernden Kristallen bedeckt. Die kleinsten Äste, nicht größer als die Füße einer Meise, sind mit einer Unzahl kleiner, lockerer, glitzernder Kristalle überzogen. Der eigentliche Zweig kommt nur noch hier und da zum Vorschein, die Salzkristalle haben ihn fast völlig verdeckt. Das ist die Metapher der Kristallbildung, und genau so verlieben sich die Menschen ineinander. Es gibt sieben Phasen der Liebe. 1. Bewunderung. 2. Verlangen. 3. Hoffnung. 4. Entstehung der Liebe. 5. Erste Kristallbildung. 6. Entstehung des Zweifels. 7. Zweite Kristallbildung. Zwischen 1 und 2 kann ein Jahr vergehen, zwischen 2 und 3 ein Monat. Zwischen 3 und 4 liegt ein Augenblick, 4 und 5 folgen unmittelbar. Zwischen 5 und 6 können ein paar Tage liegen, 6 und 7 folgen unmittelbar aufeinander. Sie sehen, es ist kein durchgehend linearer Prozeß, es gibt Verzögerungen, es braucht Zeit, um die Kristallisation zum Abschluß zu bringen. Mit all den Verhängnissen, die die dann beginnende Liebe mit sich bringt. Die Liebe gleicht dem Fieber. Sie entsteht und vergeht ohne den geringsten Einfluß des Willens. Damit unterscheidet sich meine Kristallisationstheorie der Liebe von Goethes Wahlverwandtschaft in seinem gleichnamigen Roman. Darin wird die leidenschaftliche Liebe als unausweichliche gegenseitige Anziehung zweier chemischer Elemente beschrieben, die beiden Paare finden zueinander in alles andere ausschließender Schicksalhaftigkeit.

Shere Hite: Sehr interessant. Mein Forschungsansatz bestand darin, daß ich vier Jahre lang Tausende von Fragebögen an Frauen in den Vereinigten Staaten von Amerika verschickte und sie bat, auf meine Liste an Fragen zu ihrer sexuellen Erfahrung offen zu antworten. Daraus entstand dann 1976 der ›The Hite-Report. A Nationwide Study of Female Sexuality‹. Das waren keine Multiple-choice-Fragebögen, die Frauen mußten handschriftliche Antworten auf meine Fragen geben, und das haben sie in großer Zahl dann auch getan. Das war ein quantitativer Ansatz, da ich der Meinung war, ich müßte herausfinden, was Frauen wirklich empfinden, wenn sie sexuelle Empfindungen haben, nicht das, was die Alltagsfolklore über die Frauen im allgemeinen bisher als bekannte Tatsachen vorausgesetzt hat. Es waren insgesamt dreiundsechzig Fragen, und wenn ich es mir recht überlege, wurden die Frauen im Grunde aufgefordert, ihre sexuelle Autobiographie zu schreiben, so detailliert waren die Fragen, und deshalb war es aber auch so schwierig, die Antworten zu quantifizieren. Aber immerhin haben fünfzehntausend Frauen bei meinen Untersuchungen mitgewirkt, während Freud nur drei Frauen der Wiener Oberschicht befragt hat, weshalb meine Theorien über das sexuelle Verhalten der Frauen in den USA viel fundierter sind als seine.

Stendhal: Ich habe meine Frauengestalten in meinen Romanen von den Stereotypen der Zeit freigehalten. Bei mir gibt es keine geduldig Leidende, kein sanftes Musterbeispiel der Tugend; meine Frauengestalten besitzen die gleichen Eigenschaften wie die meiner Männergestalten: Tatkraft, Eigenwille, Wagemut, Intelligenz. Sie sind äußerst energisch und entschlossen, vergleichen Sie das mal mit den Frauengestalten meines Kollegen Balzac! Auch Ratschläge habe ich gegeben, so, als mein Kollege Prosper Mérimée mich brieflich fragte, wie meine Romanfigur Armance denn in den kurzen Tagen ihrer Ehe mit Octave ein so ekstatisches Glück habe empfinden können. Ich habe ihm ausführlich geschildert, welche Mittel ein impotenter Mann anwenden könne, um einer noch unerfahrenen jungen Frau physische Befriedigung zu verschaffen.

Shere Hite: Sehr schön, sehr, sehr schön. Mein Buch ›Frauen & Liebe. Eine kulturelle Revolution‹ (1987) war mein bis dahin aufwendigstes Projekt. Schließlich beabsichtigte ich, Emotionen zu quantifizieren. Im Grunde versuche ich immer noch herauszufinden, was Sex ist. Ich glaube, daß sich in ihm vielerlei Gefühle vermischen.

Stendhal: Ich hatte als junger Mann eine Vorliebe für die Mathematik, ihre nüchterne Sprache bestach mich durch ihre kalte, klare Schönheit. Die Mathematik heuchelt nicht wie die Bourgeoisie, sie ist in ihrer Logik unbestechlich, ehrlich, klar. Der Erzählstil kann gar nicht klar, nicht schlicht genug sein. Als ich die ›Kartause von Parma‹ (1839) schrieb, las ich zur Einstimmung jeden Morgen zwei bis drei Seiten im Bürgerlichen Gesetzbuch. In meiner Prosa erfand ich einen Erzählstil, der kompromißlose Wahrhaftigkeit einschloß.  Dazu gehört als Vorbereitung das Verliebtsein, bei dem alles andere Interesse erlischt.  Aber die Momente höchster Leidenschaft sind nicht die besten fürs Schreiben. Als Romanschriftsteller muß man sich ganz auf die Beobachtungsgabe und die Beschreibungskunst verlassen. So habe ich Gefühle im Fluß ihres Erlebens dargestellt und innere Einstellungen zergliedert; das haben Henry James und Marcel Proust dann auf vorbildliche Weise fortgeführt.

Shere Hite: ›Frauen & Liebe‹ ist ein sehr komplexes Werk und stellt Fragen wie: Ist die Liebe etwas Reales, oder nur ein Instrument zur Manipulation der Frau? Sofern es sie gibt, welches sind die realen Aspekte der Liebe? Welche Art Liebe ist Frauen wichtig, oder an welchen Aspekten der Liebe haben sie Freude? Wie kommt es dazu, daß Liebe manchmal emotional oder physisch gewalttätig wird? Möchte die Frau von heute die Liebe, oder will sie lieber ohne Liebe leben? Meines Erachtens befähigt die Liebe die Frauen zu heroischen Leistungen. Die Frauen ›klammern‹ sich keineswegs an den Mann und sind auch nicht masochistisch, wie es oft heißt. Jedoch stellt sich die Frage, ob das Hegen und Pflegen, das Sorgen und Lieben für die Frauen selbst von Vorteil ist. Wußten Sie, daß 50% der Frauen ihre Ehe beenden und 50% erhalten sie aufrecht, obwohl sie emotional unbefriedigt sind? Die Ansprüche der Frauen an eine Partnerschaft sind drastisch gestiegen. Heute besitzen die Frauen durch ihre materielle und sexuelle Unabhängigkeit eine neue, beispiellose Macht. 

Stendhal: Jeder, der meinen Namen kennt, ist mit meiner Romanfigur Julien Sorel vertraut, dem Protagonisten von ›Le Rouge et le Noir. Chronique du XIXe Siècle (1831), aber wer kennt ›L’Amiel‹ (1889)? Da finden Sie die Vollendung meiner Frauengestalten, Frauen, die sich nicht um die gesellschaftlichen Normen scheren und gegen die männliche Dominanz aufbegehren. Amiel ist das weibliche Gegenstück zu Julien Sorel. Sie erreicht die Gleichberechtigung nicht durch Bitten, sondern durch selbstbewußten Kampf. Erst hier, im Elysium, habe ich die Zeit gehabt, weit über mein kurzes Leben hinweg, alle die Erfahrungen nachzuholen, die ich zu Lebzeiten niemals hätte sammeln können. Auch wenn mein Wahlspruch lautete: Immer für das 20. Jahrhundert arbeiten! Aber wenn Sie sich vorstellen: Ich bin 1783 geboren und starb 1842, Sie sind 1942 geboren und 2020 gestorben. Sie sind 100 Jahre nach meinem Tod geboren worden. Ich wäre heute, im Jahre 2025, 242 Jahre alt. Was ist nicht alles innerhalb dieser Zeitspanne auf der Welt geschehen! Wieviele Bücher sind geschrieben worden, wieviele Erkenntnisse sind zusammengetragen worden. Aber ist die Menschheit vorangeschritten? Wenn ich nur Ihre Forschungsergebnisse mir vor Augen führe, dann muß ich die Frage absolut bejahen. Wenn ich mir das tatsächliche Verhalten der Menschen ansehe, und wir werden hier im Elysium ja sehr gut mit Informationen über die andere Welt versorgt, so muß ich sagen: Nein, die Erkenntnisse laufen den Ereignissen und der unveränderlichen menschlichen Natur hinterher. 

Shere Hite: Das ist leider nur zu wahr. Das Buch ›Frauen & Liebe‹ wurde von reaktionären Kräften attackiert, die amerikanischen Medien hetzten unaufhörlich gegen meine Bücher, so daß ich irgendwann beschloß, das Land für immer zu verlassen. Ich lebte noch drei Jahre nach Verlassen der USA mit einem Restgefühl des Terrors. Ich habe dann auch meine amerikanische Staatsbürgerschaft aufgegeben und die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen.

Stendhal: Sie müssen meinen Roman ›Lucien Leuwen‹ lesen, darin schildere ich die französische Bourgeoisie und ihre Verfallenheit ans Geld, wie allein das Geld über alles entscheidet. Amerika war für mich immer die Diktatur des Mittelmaßes und ich bedauere sehr, daß Sie dort unter den Nachstellungen und Verleumdungen der amerikanischen Öffentlichkeit so zu leiden hatten.

Shere Hite: Das ist sehr freundlich von Ihnen, vielen Dank. ›Frauen & Liebe‹ wurde trotz der Hetzkampagne der amerikanischen Medien auf der ganzen Welt gut verkauft, allein in Deutschland wurden fast eine Million Exemplare abgesetzt. Man denke aber nicht, daß mir das Geld massenweise zufloß, denn die Kosten für die Forschung beliefen sich auf viele hunderttausend Dollar. Häufig saß ich vierzehn Stunden pro Tag am Schreibtisch. Von den ersten drei der vier Hite-Reports wurden in sechsunddreißig Ländern mehr als zwanzig Millionen Bücher verkauft.

Stendhal: Für mein erstes selbständiges Buch ›De l’Amour‹ (1822) haben sich in den ersten zehn Jahren seines Erscheinens siebzehn Käufer gefunden. To the happy few! Die Stendhal-Forschung, die es heute tatsächlich gibt, hat errechnet, daß ich mit meiner Literatur 75 Centimes pro Tag, und 270 Francs pro Jahr eingenommen habe. Ist es aufs Ganze gesehen wirklich die Mühe wert zu leben?

Fading Civilization. Part Four. Eine apokalyptische Serie 

Die Apokalypse hat eine lange Geschichte. Nimmt man sich irgendein Ereignis der Gegenwart vor, so kann man meist ohne Mühe daran ablesen, daß, wie es in gängiger Alltagsrede heißt, »alles den Bach runtergeht«. In dieser Rubrik sollen solche Alltagserscheinungen beleuchtet und interpretiert werden, dabei prüfend, ob nicht doch ein Ende erreicht werden wird und welche Vorteile dies für die Erde dann doch hätte: »Eines ist auf jeden Fall gewiß: der Mensch ist nicht das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen Wissen gestellt hat. Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis diese Dispositionen ins Wanken gerieten, dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« (Michel Foucault: Les mots et les choses, 1966)

Bergrutsch begräbt Dorf

In geistig bankerotten Zeiten wird statt der Anschauungsmünze das Papiergeld der Phrase verausgabt. Wenn statt der Dinge Bilder von anderen Dingen bezogen werden, steht es schlimm genug. Aber wenn diese Bilder auch dort noch gebrauchsfähig sind, wo die Dinge schon bei den Dingen sind, wenn Ufer eine Umschreibung für Ufer und Klippe eine Phrase für Klippe ist — dann ist ein Krieg unvermeidlich!
Karl Kraus: Die Phrase im Krieg. In: Die Fackel, 15. Jg. Nr. 374–375, (8. Mai 1913), 3

Der Zusammenstoß zwischen einer Wirklichkeit und einer Metapher ist immer eine Katastrophe.
Karl Kraus: Der Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt. In: Die Fackel, 30. Jg., Nr. 781–786 (Anfang Juni 1928), 1–9 (5)

In der Schweiz ist durch einen Erdrutsch ein ganzes Dorf vernichtet worden. Dank eines Vorwarndienstes konnten sich die Einwohner vor dem Unglück in Sicherheit bringen. Solche als ›Naturkatastrophen‹ bezeichneten Ereignisse sind in den Teilen der Erde, die mit Bergen ausgestattet sind, keine Seltenheit. Der ›Bergsturz von Goldau‹ im Jahre 1806 gehört zu den schlimmsten Naturkatastrophen. Und wenn es auch eine Vorwarnzeit von dreißig Jahren gab, mit den charakteristischen Anzeichen einer Rißbildung am Berg, offenen Spalten und dem knallenden Reißen gesprengter Wurzeln, so zogen doch damals nur fünf Einwohner aus dem Ort weg. 457 Menschen wurden unter den Geröllmassen begraben, 323 »Stück Vieh« verloren gleichfalls das Leben. Gerade an diesem Fall, der ein tatsächlicher Fall ist, ein Abfall und ein Herabstürzen von Erdmassen inmitten einer unbezähmbaren Naturlandschaft, kann die Phrase, wonach »alles den Bach runtergeht«, anschaulich zeigen, wie vorsichtig man mit solchen Bemerkungen sein sollte. Natürlich kann man diesen Satz ohne weiteres auch auf einen Bergsturz anwenden und dabei glauben, damit sei sogar der Idealfall einer Beschreibung gegeben, denn tatsächlich hat sich ja genau das abgespielt, was der Satz in seiner sowohl sachlichen wie metaphysisch-prophetischen Art zu sagen versucht. Die beiden Zitate aus der ›Fackel‹ versuchen aber den Fall einer Wirklichkeit zu beschreiben, bei der die Metapher zwar vordergründig zu treffen scheint, was der Fall ist (Ludwig Wittgenstein): Genauer: Die Welt ist all das, was der Fall ist, also die Gesamtheit der Tatsachen. Doch wenn versucht wird, einen Bergrutsch in die Kategorie eines Den-Bach-Runtergehen-Falles zu subsumieren, so gerät man in die von Karl Kraus beschriebene Metaphern-Falle. Es sei denn, man will damit beweisen, es könne Verhältnisse im Hochgebirge geben, wo man gezwungen wird einzugestehen, daß nicht alles unternommen wurde, um das Leben des Dorfes und seiner Bewohner zu sichern, es sich also um eine gesellschaftliche Unterlassung handelt und daher dann doch alles den Bach runtergeht, weil die politischen Mächte und Kräfte in diesen entlegenen Gegenden der Welt es vermieden oder unterlassen haben, alles zu tun, damit ein solches Ereignis erst gar nicht stattfinden kann. Der Weisheit letzter Schluß wäre dann allerdings wohl nur ein Ziel: die Evakuierung sämtlicher Einwohner aus Berggebieten und ihre Umsiedlung in bergrutschfreie Lebenszonen. Der Zufall hat es so eingerichtet, daß zugleich mit dieser Schreckensmeldung eine andere Schreckensmeldung zu lesen war, auch sie aus den Bergen kommend: ›Der Vandalismus in den Berghütten nimmt zu‹. Zu Beginn der Hüttensaison hat der ›Deutsche Alpenverein‹ die Öffentlichkeit jetzt darüber unterrichtet, daß erneut ein schwerer Fall von Bergvandalismus vorgekommen ist. Eine der Hütten, die Bergwanderern einen sicheren Ort zur Übernachtung bieten sollen, wurde mit einer in dieser Form noch nicht vorgekommenen Brutalität verwüstet. Der Ofen der Hütte wurde aus seiner Befestigung herausgerissen und vor die Tür geworfen, leere Schnapsflaschen lagen rund um die Hütte verstreut, Fenster wurden zerschlagen. Die Kasse, in die man die Übernachtungsgebühr einwerfen muß, wurde aufgebrochen und geplündert, und, wie es sich für richtige Barbaren gehört, hatten diese überall ihre Körperausscheidungen hinterlassen, vor und in der Hütte. Damit andere Bergwanderer garantiert die Orientierung verlieren, waren die Wegweiser mit Aufklebern unlesbar gemacht worden.

Der Chor in Friedrich Schillers ›Die Braut von Messina. Trauerspiel mit Chören‹ (1803) singt:
Auf den Bergen ist Freiheit! Der Hauch der Grüfte
Steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte;
Die Welt ist vollkommen überall,
Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.

Neue Gespräche im Elysium XXIV

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.

Für Oskar Ansull, den Freund aus Celler Tagen, zum 75. Geburtstag am 29. Mai 2025

Emile Zola meets Edmund Rehwinkel

Zolas Protagonist ist jedermann, es sind die Menschen, die in labyrinthischen Städten, dumpfen Mietskasernen, überfüllten Stuben, zivilisationslosen Landkaten, verschüchterten Industriedörfern geboren werden, leiden, kämpfen, sich lieben, andere Elende zeugen, zugrundegehen, sterben. Man warf Zola vor, in Schmutz und Abschaum zu wühlen. Zola gebrauchte Worte, die man nie zuvor in der Literatur gekannt hatte, beschrieb Natürlichkeiten, Dinge und Handlungen, die noch nie beschrieben worden waren. Die Entrüstung über ihn war nichts anderes als die Wut des entlarvten Spießers. (Wolfgang Koeppen: Zola und die Moderne, 1974)

Edmund Rehwinkel: Ja, Herr Zola, ich grüße Sie. Da sind wir nun also hier versammelt im Schattenreich, und niemals wäre ich Ihnen im Leben begegnet, denn unsere Lebensläufe sind ja doch zeitlich weit auseinander. Um gleich zur Sache zu kommen: Ich habe Ihren Bauern-Roman ›Die Erde‹, 1888 zuerst erschienen, gelesen und als ehemaliger Bauern-Präsident der deutschen Bauernschaft hat mich das Thema natürlich sehr interessiert. 

Emile Zola: Sie erwarten sicher nicht von mir, daß ich schon einmal von Ihnen gehört habe; jedoch habe ich mich immer für Menschen aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen interessiert. Daher sage ich nur: Sehr erfreut, Sie kennenzulernen! Und vielen Dank für Ihr Interesse an meinen Romanen. Welche von denen haben Sie außer der ›Erde‹ denn noch gelesen?

Edmund Rehwinkel: Nur diesen und noch einen anderen, auf den ich gleich kommen werden, entschuldigen Sie, aber ich bin doch durch das Thema der Bauerngeschichte überhaupt auf Sie gekommen.

Emile Zola: Das macht überhaupt nichts. Nun erzählen Sie mir aber, was Ihnen an dem Roman gefallen hat!

Edmund Rehwinkel: Dann will ich gleich einmal mit der Tür ins Haus fallen. Schon die Szene mit César und Coliche hat mich  beeindruckt. César ist ein Bulle, und Coliche ist eine Kuh. Beide sollen dazu gebracht werden, wie soll ich das jetzt sagen…mhh, zu kopulieren. Aber der Bulle hat Schwierigkeiten, auf die Coliche aufzusetzen, ihr Rücken ist zu hoch für ihn, er schafft es nicht. Und da tritt nun Françoise auf, sie packt den Bullen und es gelingt ihr, die beiden zusammenzubringen. Wie Sie das geschildert haben, das hat mich sehr beeindruckt, weil Sie die Tatsachen des Lebens ungeniert beim Namen nennen: Sie mußte weit ausholen mit dem Arm, sie ergriff mit der ganzen Hand das Glied des Bullen, das sie wieder hochrichtete. Und als er fühlte, daß er am Rande war, raffte er all seine Kraft zusammen und drang mit einem einzigen Lendenstoß tief ein. Dann zog er wieder heraus. Es war getan; der Stoß mit dem Pflanzholz, das ein Samenkorn tief in die Erde drückt. Standfest und mit der empfindungslosen Fruchtbarkeit der Erde, die besät wird, hatte die Kuh ohne eine Bewegung diesen befruchtenden Strahl des Mannestieres empfangen. Meine Hochachtung, Herr Zola, für dieser Schilderung. Ohne falsche Scham haben Sie benannt, was sich im Leben täglich abspielt. 

Emile Zola: Es wird Ihnen im Verlauf des Lesens sicher aufgefallen sein, daß ich die Erde und ihre Fruchtbarkeit vielfach wiederaufnehme und natürlich auch die Menschenschicksale damit verbunden habe.

Edmund Rehwinkel: Oh ja, meisterhaft. Es zieht sich durch den ganzen Roman mit allen zum Teil schauerhaften Einzelheiten. Ihre Darstellung, wie die junge Françoise das Glied des die Kuh vergebens bespringenden Bullen ergreift und ihn in die Spalte schiebt, also das erinnert mich an mein Gedicht ›Blattzeit‹:  Vor mir treibt der Bock die Ricke, / denn sie will nicht, wie er will, / läßt sich immer wieder jagen, / aber schließlich hält sie still. // Mußte an die Mädchen denken, / die sich auch erst lange zieren, / bis sie dann die ersten Küsse / widerstrebend doch probieren. // Kommen später ganz allein, / wenn sie erst Geschmack gefunden, / und dem ersten Stelldichein / folgen frohe Schäferstunden.

Emile Zola: Ja, so kann man das auch sagen. 

Edmund Rehwinkel: Ich bin ja 1899 in Westercelle zur Welt gekommen, das ist ein Stadtteil der niedersächsischen Stadt Celle, und in Westercelle bin ich auch in die dortige Dorfschule gegangen. Mit einundzwanzig Jahren habe ich dann mit dem Dichten angefangen. Wollen Sie sich noch eins meiner Gedichte anhören? Sie sind nicht so bedeutend wie die eines gleichfalls aus Westercelle stammenden Poeten, der übrigens auch eine voluminöse Stadtgeschichte von Celle verfaßt hat: ›Heimat, schöne Fremde. CELLE Stadt & Land. Eine literarische Sichtung‹; das Buch ist 2019 erschienen und begleitet mich seitdem täglich als schöne Erinnerung an meine alte Heimat. Nun hören Sie sich das an, es heißt ›Im Frühlingswind‹: Heute radelte ein hübsches Kind / an mir vorbei recht munter, / sein Röckchen flatterte im Wind, / doch sittsam, wie die Mädchen  sind, / zog es ihn schämig runter. // Der Wind indessen gutgelaunt, / der blies recht neckisch weiter, / ich hab’ sein keckes Spiel bestaunt, / und was ich dabei sonst noch sah, / das stimmte mich recht heiter.

Emile Zola: Sehr nett. An Ihnen ist kein Dichter verloren gegangen,  Sie sind einer. 

Edmund Rehwinkel: Ich bin wie Sie ein Aufrührer gewesen. Hören Sie mal dieses Gedicht, es heißt ›Einzelgänger‹: Ich trotte nicht im Haufen mit, / ich gehe lieber ganz allein; und geht es auch durch dick und dünn / und über Stock und Stein. // Wer aufrecht durch das Leben will, der hat es immer schwer, / die kleinen Kläffer kuschen sich / und rennen hin und her. // Wer immer Ja und Amen sagt, / ist ein bequemer Untertan, / wer’s Kind beim rechten Namen nennt, / eckt allenthalben an. // Ich trotte nicht im Haufen mit, / ich gehe lieber ganz allein, / und wenn es auch beschwerlich ist. – Ich kann nicht anders sein.

Emile Zola: Es reicht fast schon an meine Anklage ›J’accuse‹ heran, den offenen Brief vom 13. Januar 1898 an den französischen Staatspräsidenten, in dem ich den zu Unrecht des Verrats von Staatsgeheimnissen angeklagten Generalstabsoffizier Alfred Dreyfus verteidigt habe.

Edmund Rehwinkel: Zu gütig, mein Herr, zu viel der Ehre. Doch nicht ganz weit daher geholt. Wissen Sie, ich habe einen Ihrer Landsleute, den General De Gaulle, persönlich kennengelernt, wie ich war er sehr national eingestellt und hat mich sehr dafür gelobt, wie viel ich für meine deutschen Bauern geleistet hätte. Er redete mich in perfektem Deutsch an! Nun aber noch zu einem anderen Gedicht. Da habe ich mich gegen den Krieg ausgesprochen. Es heißt ›Die alte Melodie‹: Die Völker haben nicht gelernt aus diesem Kriege, / wie immer wiederholt sich die Vergangenheit, / der Unverstand der feiert neue Siege, / und jede Dummheit macht sich wieder breit. // Es wechseln nur die Ideologien, / und neue Volksbeglücker treten auf den Plan / mit neuen Phrasen – neuen Utopien, / Friede auf Erden aber bleibt ein Wahn. // Von Völkerfrieden wird solange nur gesprochen, / bis man sich andren überlegen glaubt, / dann wird ein neuer Krieg vom Zaun gebrochen, / und immer wieder wird gemordet und geraubt.

Emile Zola: Sehr nobel. Man kann es nicht oft genug sagen und wiederholen, wie schön, daß es immer wieder Menschen gibt, die diese alten Wahrheiten mit ihren sprachlichen Mitteln wiederholen. Wie Voltaire schon sagte: Ich werde mich solange wiederholen, bis ich verstanden werde. Lassen Sie uns aber doch wieder auf meinen Roman ›La Terre‹ zurückkommen. Er hat von allen meinen Romanen am meisten ›Anstoß‹ erregt. Mein englischer Verleger Henry Vizetelly wurde 1889 zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, weil er eine gereinigte, aber nach Ansicht des Gerichts nicht genügend gereinigte Übersetzung von ›La Terre‹ herausgebracht hatte. Insofern bin ich Ihnen dankbar, daß Sie ausgerechnet diesen Roman zur Lektüre gewählt haben. Die Erde ist die Heldin meines Buches. Die nährende Erde, die Leben schenkt und es zurücknimmt, leidenschaftslos. Eine gewaltige Person, immer gegenwärtig, nimmt sie das ganze Buch ein. Der Mensch, der Bauer, ist nur ein Insekt, das sich auf ihr tummelt, fronend, um ihr seinen Lebensunterhalt zu entreißen. Er geht gebückt, er sieht nur den Gewinn, den er aus ihr zu ziehen gedenkt, er sieht weder Land noch Landschaft. Alle meine Romanpersonen müssen von der Leidenschaft zur Erde erfüllt sein. Alsbald enthüllt sich der Bauer als raffsüchtig; der Mensch mit seinen  engen Leidenschaften auf dem weiten Land, der Bauer, das reißende wilde Tier inmitten der wohltätigen ruhigen Erde. Ihn nicht edel darstellen, seine spezifische Größe suchen und zeigen. Was der Bauer politisch war und sein wird. Seine Rolle in der Gesellschaft durch das Eigentum. Er ist die Mehrheit, die stumme ruhende Kraft, die eines Tages große Dinge entscheiden wird.

Edmund Rehwinkel: Ich habe nun ja nicht nur Ihren Bauernroman ›Die Erde‹ gelesen, sondern auch eines Ihrer Werke aus der Spätzeit, aus der Reihe ›Die vier Evangelien‹, und zwar das Werk mit dem Titel ›Fécondité‹, auf deutsch: ›Fruchtbarkeit‹. Das ist ja auch ein beherrschendes Thema in der ›Erde‹ gewesen, die Fruchtbarkeit der Erde wie auch die Fruchtbarkeit der Menschen, die versuchen, von den Früchten der von ihnen bearbeiteten Erde leben zu können. Aber als ich nun Ihren Roman über die Fruchtbarkeit der französischen Frauen gelesen habe, bin ich doch schockiert gewesen über die Art Ihrer Darstellung. Warten Sie, ich habe den Roman hier in meiner Aktentasche (beugt sich und holt das Buch heraus, blättert kurz und schlägt dann eine Seite auf und liest, wobei er einige Sätze ausläßt): Mathieu betrachtete Marianne voll Zärtlichkeit. […] Die Gattin, die Geliebte war wieder erwacht, sie war wieder Weib geworden, in dem frohen Bewußtsein der Kindesentwöhnung, ein neuer Frühling erstand, eine neue, von der Ruhe erquickte Erde erschloß sich wieder, bebend vor Fruchtbarkeit. Nie noch hatte er sie so liebreizend, von einer so kraftvollen, ruhigen Schönheit gefunden, wie in diesem Triumphe ihrer glücklichen Mutterschaft, gleichsam vergöttlicht durch den Milchstrom, der aus ihr entsprungen war, um durch die Welt zu fließen. Sie war von einer Glorie umflossen, die Lebensspenderin, die wahre Mutter, die, die nährte, nachdem sie geboren hatte […]. Und wie er sie so in ihrer Glorie sah, inmitten seiner kraftvollen Kinder, einer guten Göttin gleich, in fortwährender Fruchtbarkeit, wieder bereit zu empfangen, da fühlte er sich durchzuckt von Anbetung, von Verlangen, von heißer Begierde, von der unauslöschlichen Flamme der ewigen Sonne. Also verehrter Herr Zola, bei allem was recht ist, welcher Teufel ist da in Sie gefahren? 1938 hat das NS-Regime in Deutschland das ›Mutterkreuz‹ eingeführt, für kinderreiche Mütter; im Volksmund nannte man es das Karnickelkreuz. Es tut mir leid, es sagen zu müssen, aber dieses Kreuz fiel mir ein, als ich diese Szene mit Ihrer Romanmutter, vergöttlicht durch den Milchstrom, las. Was für eine Gesellschaft haben Sie sich da ausgedacht, wo ein Kind nach dem anderen aus den Gebärmaschinen herausgestoßen wird? Und doch steht es da, so wie ich es eben vorgelesen habe. Die Frauen befinden sich dann in besonderer Gefahr, / wenn sie sich männlichem Schutz anvertrauen. Das ist aus einer meiner Aphorismen-Sammlungen. 

Emile Zola: In einem Artikel von 1896, ›Dépopulation‹ genannt, habe ich geschrieben: Jede Liebe, die nicht ein Kind will, ist im Grunde nur Ausschweifung. 

Edmund Rehwinkel: Ja, aber lieber Herr Zola, sind Sie denn noch bei Trost? Zwar habe auch ich einmal geschrieben: Eine Frau ohne Kind ist wie ein Baum ohne Früchte. Aber in Ihrem Roman ›Fécondité‹ lassen Sie das Ehepaar insgesamt zwölf Kinder in die Welt setzen! Zwölf! Und auch wenn man in Rechnung stellt, daß Sie nicht alle zwölf Kinder in Ihrem Roman ein gesundes Erwachsenenalter erreichen lassen, Sie also doch realistisch genug sind angesichts der im 19. Jahrhundert noch weithin verheerenden Säuglingssterblichkeit, so muß ich doch sagen: Das ist doch keine soziale Utopie, daß zwei sich Liebende, ein Ehepaar, meinen, es müsse zwölf Kinder hervorbringen! Haben Sie denn noch nie etwas von der Überbevölkerung gehört, die unsere Erde belastet?

Emile Zola: Ich wollte immer einen strahlenden Optimismus. Er ist die natürliche Folgerung meines ganzen Werkes. In diesen späten Romanen stelle ich meine Liebe zu Kraft und Gesundheit, zu Fruchtbarkeit und Arbeit dar. Als ›Fécondité‹ 1899 erschien, wurden schon nach kurzer Zeit bereits 94.000 Exemplare davon verkauft. 

Edmund Rehwinkel: Ich glaube Ihnen schon, daß Sie mit Ihren Romanen einen kommerziellen Erfolg hatten, nur das Bild, das Sie von der ›Cité future‹ darin zeichnen, ist grauenerregend. Es kommt mir fast so vor, als meinten Sie, nachdem Sie in ›Nana‹ das ausschweifende Leben einer Kurtisane erzählt hatten, Sie müßten zum Ausgleich nun eine Geschichte schreiben, die reinster Kitsch ist. (Fängt an, erneut aus dem Roman zu zitieren) In fortwährender Fruchtbarkeit, wieder bereit zu empfangen, da fühlte er sich durchzuckt von Anbetung, von Verlangen, von heißer Begierde… Das hätten Sie doch wirklich nicht nötig gehabt, so einen Schwulst zu produzieren. Das hat Ihrem Ansehen als naturalistischem Revolutionär sehr geschadet, in meinen Augen jedenfalls.

Emile Zola: Vierzig Jahre lang habe ich andauernd seziert, analysiert. Ich wollte mir auf meine alten Tagen gestatten, ein wenig zu träumen.

Edmund Rehwinkel: Ich habe den Verdacht, daß Sie durch Ihre außereheliche Verbindung mit Jeanne Rozerot, der zwei Kinder entsprungen sind, ganz aus der Fassung gekommen sind und Ihr privates Glück allen anderen Menschen durch diese Milchstrom-Fabel aufdrängen wollten. Aber nur weil Sie in fortgeschrittenem Alter noch zweimal Vaterfreuden erlebt haben, können Sie doch daraus nicht für sich ableiten, Gleiches allen anderen Menschen anzuempfehlen und es sogar als politisches Ziel ausgeben. Es hätte doch gereicht, wenn Sie sich still des Glücks mit ihrer Mätresse … nein, entschuldigen Sie, mit ihrer Zweitfrau …mmhh … also sagen wir: Geliebten, erfreut hätten. Genügend Geld hatten Sie mit Ihren vielen und so erfolgreich verkauften Romanen doch zusammengebracht.

Emile Zola: Sie haben nicht zu meiner Zeit gelebt und verstehen das deshalb nicht. Das 19. Jahrhundert stand ganz und gar im Zeichen des allgemeinen Fortschritts. Wir konnten nicht wissen, daß das 20. Jahrhundert zwei Weltkriege hervorbringen würde. Das konnte, das wollte sich niemand vorstellen. Aber wir glaubten zu wissen, daß mit Naturwissenschaft und Technik ein neues, glücklicheres Zeitalter seinen Anfang nehmen würde, auch wenn einige von uns kritischen Beobachtern schon registrieren konnten, daß es den Fortschritt nicht ohne Kosten geben würde. In diesem Zusammenhang gehören dann eben meine ›Evangelien‹, wovon ›Fécondité‹ ein Teil ist.

Edmund Rehwinkel: (greift erneut in seine Aktentasche und zieht einen schmalen Gedichtband heraus) Hier habe ich noch ein Gedicht. Es heißt: ›Stoßseufzer eines Forstwirts‹: Draußen in Gottes Natur / läßt es sich herrlich leben. / Ich liebe jegliche Kreatur. / Nur Menschen müßte es weniger geben. // Die breiten sich jetzt überall aus / und verbreiten sich immer weiter, / und wenn das noch lange so weiter geht, / dann wissen wir bald nicht weiter. // Die Menschen schätz’ ich natürlich auch, / das ist gar keine Frage; / doch treten sie in Massen auf, / dann werden sie leicht zur Plage.

Ist Sex noch zeitgemäß?

Daß die wichtigsten Dinge durch Röhren getan werden. Beweise erstlich die Zeugungsglieder, die Schreibfeder und unser Schießgewehr, ja was ist der Mensch anders als ein verworrnes Bündel Röhren? (Georg Christoph Lichtenberg)

Every sperm is sacred / Every sperm is great / If a sperm is wasted / God gets quite irate (Monty Python’s Flying Circus)

Die hannoversche Stadtverwaltung hat den Betreiber eines Kondomautomaten in der Herren-Toilette der Empfangshalle des Neuen Rathauses aufgefordert, diesen zum nächstmöglichen Zeitpunkt zu entfernen, sollte dies nicht erfolgen, werden wir dies veranlassen. Der Automatenaufsteller brachte die Stadtverwaltung nicht in Verlegenheit, er montierte den Automaten fristgerecht ab und gab gegenüber einem lokalen Zeitungsreporter an, der Automat sei nie vollgeschmiert oder beschädigt worden, auch sei der Automat einer gewesen, aus dem ich regelmäßig eine große Handvoll Geld herausgeholt habe.  Anscheinend gehören die Mitglieder des Rathauses zu den Angehörigen des Menschengeschlechts, die in gewissen zeitlichen Abständen dem Geschlechtsverkehr nachgehen. Die Stadtverwaltung hat in einer schriftlichen Stellungnahme der Öffentlichkeit mitgeteilt, es habe wiederholt mündliche Beschwerden beziehungsweise auch belustigte oder irritierte Nachfragen gegeben. Diesen Nachfragen hat die Stadtverwaltung Rechnung getragen, zumal es, wie die Stadtverwaltung in ihrer Stellungnahme betonte, aus Kreisen der Bevölkerung Hinweise gegeben habe, daß dieser Automat in einem denkmalgeschützten, altehrwürdigen Gebäude wie dem Neuen Rathaus an einer Toilettenwand festgeschraubt worden seien. Der Automatenaufsteller erklärte ferner, er sei von der hannoverschen Stadtverwaltung im Dezember letzten Jahres angerufen worden und man habe ihn gefragt, ob so ein Kondomautomat denn noch zeitgemäß sei. Es ist nicht bekannt, wie der Automatenaufsteller auf diese Anfrage geantwortet hat. Das ›Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit‹ hat eine Antwort auf die Frage, ob solche Automaten noch zeitgemäß sind. Oben ohne. Unten mit. So heißt einer der launigen Sprüche, mit denen das Institut für das zeitgemäße Tragen von Kondomen während des Geschlechtsverkehrs wirbt. Erst im Jahre 2011 war der Automat in der Herren-Toilette des Neuen Rathauses zu Hannover eingeführt worden. Vierzehn Jahre lang war er zeitgemäß, und es hat seit der Aids-Epidemie ein Vierteljahrhundert gedauert, bis man im altehrwürdigen Rathaus ein Einsehen hatte und einen Kondomautomat tolerierte. Nun ist er es nach dem Verwaltungsakt der hannoverschen Stadtverwaltung nicht mehr. Für das Titelbild eines sogenannten ›Nachrichtenmagazins‹ (›Meldepflicht für Aids?‹, Nr. 7/1987) hatte sich die damalige CDU-Gesundheitsministerin Rita Süssmuth in einem Ganzkörperkondom fotografieren lassen. Damals erklärte sie: Weil Aids-Aufklärung so wichtig ist, daß man auch ungewöhnliche Wege gehen muß. Seit dem Verwaltungsakt der hannoverschen Stadtverwaltung weiß die Öffentlichkeit aber nun, daß es Ablaufzeiten für Zeitgemäßheit gibt, schon deswegen, weil das Wort zeitgemäß unzweifelhaft darüber belehrt, daß alles seine Zeit hat, irgendwann alles der Zeit verfällt und den Weg alles Zeitlichen gehen muß. So bleibt den Mitgliedern des Neuen Rathauses nur die Wahl zwischen der Enthaltsamkeit, um dadurch mehr Zeit für die Sorge um das Allgemeinwohl der Bürger der Stadt Hannover zu bekommen, oder an einem anderen, womöglich schummerigen Ort, Geldstücke in den in vielen Fällen vollgeschmierten oder beschädigten Automaten zu werfen.

Das ›Reichsaffenhaus‹ und seine ›Würde‹

Den Reichstag müsse man schußgerecht kommen lassen, meinte Reichskanzler, Großgrundbesitzer und Jägersmann Bismarck, Jahrgang 1815. Er mochte das Parlament, das er gleichwohl gern für seine Reden benutzte, ganz und gar nicht, weil es nun ja doch ein Instrument der Demokratie war, wenn auch zu Zeiten des kaiserlichen Deutschlands kein ausgesprochen mächtiges Instrument. Für Kaiser Wilhelm II. war es einfach das Reichsaffenhaus. Heutige Bundestagspräsidentinnen legen großen Wert auf die Würde des Parlaments. Wenn ein Abgeordneter eine Baskenmütze trägt, wird er aufgefordert, diese entweder abzunehmen oder den Saal unverzüglich zu verlassen. Die jetzige Bundestagspräsidentin (CDU) bezieht sich auf eine Gepflogenheit, die es den Bundestagsabgeordneten verbietet, Kopfbedeckungen an ihren Sitzplätzen im Parlament zu tragen. Die Hausordnung des Deutschen Bundestages enthält allerdings keinerlei Bestimmungen darüber, ob Abgeordnete mit Kopfbedeckung oder ohne Kopfbedeckung ihre Volkssouveränität auszuüben haben. Man sollte Ruhe und Ordnung wahren und die Würde des Hauses zu achten. Worin die Würde des Parlament besteht, wird nicht ausgeführt, es ist ein ungeschriebenes Gesetz, eben eine Gepflogenheit, die vermutlich mit einem ebenfalls unausgesprochenen zivilen Verhalten zusammenhängt, das man den Abgeordneten abverlangt. Der SPD-Abgeordnete Carlo Schmidt, Jahrgang 1896, rügte seine Parteigenossin Lenelotte von Bothmer, Jahrgang 1915, als diese im Deutschen Bundestag am 14. April 1970 in einem Hosenanzug erschien, sie hätte damit die Würde des Parlaments verletzt. Als sie am 14. Oktober 1970 dann in einem Hosenanzug ans Rednerpult trat und zu den versammelten Abgeordneten sprach, gab es Zwischenrufe wie Die erste Hose am Pult, obwohl das ja nicht der Wahrheit entsprach, denn alle männlichen Abgeordneten waren bis dato immer mit langen Hosen vor ihre Kollegen getreten. Der damalige Bundestagspräsident (CSU) guckte grimmig, forderte die Rednerin aber nicht auf, entweder den Hosenanzug unverzüglich auszuziehen oder den Saal zu verlassen. Zuvor hatte er angekündigt, niemals eine Dame im Hosenanzug ans Rednerpult treten zu lassen. Dies würde die Würde der Dame verletzen. Die damalige Bundestagsvizepräsidentin Liselotte Funcke (FDP) beschloß daraufhin, nun müsse erst recht eine Frau in Hosen erscheinen. Sie hätte es gern selbst getan, meinte aber, nicht die Figur dafür zu haben. Und so wurde die gertenschlanke Lenelotte von Bothmer (SPD) gebeten, dies stellvertretend für sie zu tun. Heute gibt es fast keine Rockträgerinnen mehr im Deutschen Bundestag, die gewählten weiblichen Abgeordneten tragen fast einheitlich einen Hosenanzug und sehen darin alle gleich langweilig aus. Der Abgeordnete mit der Baskenmütze (Die Linke) verließ kurz den Saal und kam mit der Baskenmütze auf dem Kopf wieder herein, woraufhin die Bundestagsvizepräsidentin (CSU) ihn von der Sitzung ausschloß. (Beifall für diese Handlungsweise der Bundestagsvizepräsidentin kam dafür von den Abgeordneten der CDU, AFD, SPD und den Grünen).

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