Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog

Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.

Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«

Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.

Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.

Neue Gespräche im Elysium XXII

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.

Ernst-Dieter Lueg meets Kurt Schwitters

Herbert Wehner: Ich weiß nichts, und Sie wissen nichts, Herr Lüg.
Ernst-Dieter Lueg: Vielen Dank für diese Zwischenkommentierung, Herr Woehner. (3. Oktober 1976)

Ernst-Dieter Lueg: (spricht sotto voce bei ausgeschaltetem Mikrophon, während im Hintergrund auf einem riesigen Bildschirm ein Wahlspot der CDU läuft, in der der CDU-Politiker Friedrich Merz sagt: »Es lohnt sich wieder, fleißig zu sein und anzupacken. Lass uns das machen, Deutschland … Damit wir wieder stolz sein können auf unser Land.« Danach folgt die Zeile: »Friedrich Merz. Kannzler für Deutschland« [Ja, bei der CDU heißt der Kanzler der Kannzler, weil es vom Können kommt]): Hören Sie, Herr Schwitters, wir hatten das doch schon in der Vorbesprechung vereinbart, daß Sie sich das Buch des Herrn Merz, ›Mehr Kapitalismus wagen‹, vornehmen und in der laufenden Sendung ›vermerzen‹, also in das von Ihnen erfundene Format MERZ bringen. Wir hatten einen Deal. Wenn Sie sich jetzt plötzlich weigern, das zu tun, weil Sie meinen, der Künstler dürfe sich nicht ins Politische einmischen, dann müssen wir auf die andere Variante zurückkommen und Sie verpflichten sich, den Intendanten zu porträtieren, so wie Sie das ja während Ihrer Zeit als Emigrant in England praktiziert haben, als Sie fotogetreue Gemälde von britischen Offizieren und Sergeanten gemalt haben, um sich damit über Wasser zu halten. Und im Falle unseres Intendanten müssen Sie dann ja auch nicht wie bei den Offizieren die Rangzeichen am Uniformkragen abmalen, weil unser Intendant über solche als normaler Zivilist nicht verfügt. Das ist jetzt ganz und gar Ihre Entscheidung.

Kurt Schwitters: Die Verantwortung des Künstlers gilt nur der Kunst. Der Abfall der Welt ist meine Kunst. Ich nannte meine neue Gestaltung mit prinzipiell jedem Material MERZ. Das ist die 2te Silbe von Kommerz. Es entstand beim Merz-Bild, einem Bilde, auf dem unter abstrakten Formen das Wort MERZ stand, aufgeklebt und ausgeschnitten aus einer Anzeige einer Bank, in der das Wort COMMERZ vorkam. So nannte ich ein Bild mit dem Worte MERZ das MERZ-Bild. Mir war damals auch das Kompositum ›Merzvieh‹ bekannt, also ausgesondertes Vieh, das man als abgängig oder überzählig aus den Herden aussondert und verkauft, aus Altersgründen oder weil es keinen Zweck mehr erfüllt. Damit zusammenhängend dann auch das Wort ›Ausmerze‹, das während der NS-Zeit eine fürchterliche Bedeutung angenommen hat. Das Wort MERZ hatte keine Bedeutung, als ich es formte. Jetzt hat es die Bedeutung, die ich ihm beigelegt habe. MERZ heißt Auswählen, Kombinieren, Montieren von Materialien, sowohl ganz gegenständliche wie immaterielle, also Worte. Ich habe daher Banalitäten vermerzt, ein Kunstwerk aus Gegenüberstellung und Wertung an sich banaler Sätze gemacht. Die Bedeutung des Begriffs MERZ ändert sich mit der Änderung der Erkenntnis derjenigen, die im Sinne des Begriffs weiterarbeiten. MERZ ist Konsequenz. MERZ bedeutet Beziehungen schaffen, am liebsten zwischen allen Dingen der Welt. Für mich ist MERZ Weltanschauung geworden, ich kann meinen Standpunkt nicht mehr wechseln, mein Standpunkt ist MERZ. Jetzt nenne ich mich selbst MERZ. 

Ernst-Dieter Lueg: Wußten Sie, daß bereits seit 1908 das von einem Friedrich Merz gegründete pharmazeutische Unternehmen ›Merz‹ existierte? Die Firma brachte 1911 das Verhütungsmittel ›Patentex‹ auf den Markt. Es ist doch fabelhaft, wenn Sie bedenken, daß wir bald einen Bundeskanzler haben werden, der Merz heißt. Was ergeben sich da für künstlerische Möglichkeiten für Sie!

Kurt Schwitters: Ich habe ausgemerzt. Wir beide haben ausgemerzt, wir sind Schattengestalten, also was wollen Sie eigentlich von mir?

Ernst-Dieter Lueg: Sie haben 1919 die M.P.D gegründet, die MERZ-Partei Deutschland. Mit Aufrufen in Tageszeitungen haben Sie die Wähler aufgefordert: ›WÄHLT ANNA BLUME/M.P.D.‹

Kurt Schwitters: Ich war das einzige Mitglied dieser Partei. Das war eine künstlerische Aktion, mit der ich jede Partei negiert habe. Ich arbeite mit Abfall. Auch eine Partei oder ein Politiker sind Abfall der Zivilisation. Auch hier gilt das Prinzip Produzieren, Kaufen, Benutzen, Wegwerfen. Die Bilder Merzmalerei sind abstrakte Kunstwerke. Das Wort MERZ bedeutet wesentlich die Zusammenfassung aller erdenklichen Materialien für künstlerische Zwecke und technisch die prinzipiell gleiche Wertung der einzelnen Materialien. Die MERZmalerei bedient sich also nicht nur der Farbe und der Leinwand, des Pinsels und der Palette, sondern aller vom Auge wahrnehmbaren Materialien und aller erforderlichen Werkzeuge. Dabei ist es unwesentlich, ob die verwendeten Materialien schon für irgend welchen Zweck geformt waren oder nicht. Das Kinderwagenrad, das Drahtnetz, der Bindfaden und die Watte sind der Farbe gleichberechtigte Faktoren. Das Material ist so unwesentlich, wie ich selbst. Wesentlich ist das Formen. Weil das Material unwesentlich ist, nehme ich jedes beliebige Material, wenn es das Bild verlangt. Das Kunstwerk gestaltet sich nur aus seinen Mitteln. Alles stimmt, aber auch das Gegenteil. 

Ernst-Dieter Lueg: Alles schön und gut, aber wir sind gleich auf Sendung. Also, Herr Schwitters, wie steht es, machen wir das nun?

Kurt Schwitters: Ehe ich den Indentendanten in Öl abmale, steige ich dann doch lieber in den Ring. Also gut, legen wir los.

Ernst-Dieter Lueg: Wunderbar. (Schaltet das die ganze Zeit in seiner Hand liegende Mikrophon an und wechselt in einen offiziellen Medienübertragungston): Guten Abend, meine Damen und Herren, herzlich willkommen zu ›ELY-TV‹, dem Sender aus der Unterwelt, wo die Zuschauer alles Wissenswerte aus der Oberwelt erfahren können. Mit MERZ bezeichnete Kurt Schwitters eine künstlerische Collage-Technik, mit der er Zeitungsausschnitte, Reklameanzeigen und Abfall von der Straße zusammenband. Merz ist der Nachname des kommenden Bundeskanzlers Friedrich Merz. Neben mir steht der berühmte deutsche Künstler Kurt Schwitters, der gleich aus dem Buch ›Mehr Kapitalismus wagen‹, das unser neuer Bundeskanzler Friedrich Merz vor siebzehn Jahren geschrieben hat, vortragen wird. Doch das wird keine gewöhnliche Rezitation werden, keine bloße Buchlesung, nein, meine Damen und Herren, der auch unter dem Künstlernamen MERZ bekannte Artist Kurt Schwitters wird das Werk auf neuartige Weise wiedergeben, in einer Lesart, wie es bisher keiner der Leser dieses Buches gelesen hat. Darf ich bitten, Herr Schwitters!

Kurt Schwitters: Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Meine MERZ-Kunst verarbeitet grundsätzlich alles und wertet das dann gegeneinander, Sinn gegen Unsinn. Ich werte Sinn gegen Unsinn. Den Unsinn bevorzuge ich, aber das ist eine rein persönliche Angelegenheit. Mir tut der Unsinn leid, daß er bislang so selten künstlerisch geformt wurde, deshalb liebe ich Unsinn. Ich habe hier einen Gegenstand, das Buch ›Mehr Kapitalismus wagen‹ des Politikers Friedrich Merz von der ›Christlich-demokratischen Union‹. Verwechseln Sie das, was nun folgt, nicht mit dem Dadaismus. Während Dadaismus Gegensätze nur zeigt, gleicht MERZ Gegensätze durch Wertung innerhalb eines Kunstwerks aus. Die Gestaltung erfolgt aus jedem Material. Dada war gegen Kunst, aber MERZ ist absolut und uneingeschränkt und vierundzwanzig Stunden am Tag FÜR Kunst. MERZ wertet den Abfall der Welt auf. Moholy, Mondrian und Malewitsch. Wir leben im Zeitalter des M, siehe MERZ. MERZ ist – Merz. Aber: Armes Deutschland! – Wenns nur Merz hat! Banalität ist jeden Bürgers Zier. Das Bürgertum ist aller Bürger Anfang. MERZ steht allen offen, den Idioten wie den Genies. Auch ich bin ein Idiot, und ich kann es beweisen. (Wird von Ernst-Dieter Lueg unterbrochen, der ihm zuraunt): Bitte, Herr Schwitters, kommen Sie doch zum Thema des Abends! (Schwitters läßt sich nicht beirren und fährt fort zu deklamieren): Haben Sie die interessanten Aufschriften auf Eisenbahnstellwerken gesehen, die immer so interessant wirken, weil man ihren Sinn nicht versteht? Kennen Sie meine Sciencefiction-Parabel ›Der grüne Globus‹? Mit großer Geschwindigkeit rast ein Himmelskörper auf die Erde zu. In immer kürzer werdenden Abständen erscheinen Sonderausgaben der Zeitungen zum bevorstehenden Weltuntergang. Die drohende Katastrophe führt zur Einigung aller politischen Parteien. Schließlich gleitet der Komet an der Erde vorbei. Ein Zusammenstoß, bei dem es nicht zum Zusammenstoß kommt! Ich habe hier die Porträts von Hitler und Goebbels (hebt beide Hände und tut so, als halte er zwei Gemälde in die Luft) Gut, hier sind sie, Leute, wollen wir sie aufhängen oder an die Wand stellen? Haben Sie meinen Text ›Aus dem Lande des Irrsinns‹ gelesen? Nein? Ist es eigentlich nötig, von einen Land des Irrsinns zu sprechen? wird der aufmerksame Leser sicherlich fragen, denn jeder weiß, daß wir in einer Welt des Irrsinns leben. Oder sollte es wirklich noch Leute geben, denen dieser Grundsatz nicht klar ist? (Ernst-Dieter Lueg schaut mit verzweifeltem Gesichtsausdruck auf Schwitters, sagt aber nichts; Schwitters ergreift das Merz-Buch und beginnt tatsächlich mit der vermerzten Lesung): 

MERZ: Wenn aber schon eine große Koalition in Deutschland zur Lösung der Probleme nicht in der Lage ist? Diese Party ist jetzt vorbei. Die Deutschen sollten den Kapitalismus verstehen, damit er gerettet werden kann. Und retten müssen wir den Kapitalismus, denn ohne Kapitalismus gibt es keinen Sozialstaat. Die globale Lage wird politisch und ökonomisch instabiler. Die Party ist jetzt vorbei. Wenn die großen Weichen falsch gestellt sind, läßt sich zwar im Kleinen manches verbessern. Jeder Bürger soll seine Zukunft in die eigenen Hände nehmen. Wie kann man von unserer Wirtschaftsordnung als ›Kapitalismus‹ reden? Wir sprechen seit jeher — politisch korrekter – von ›Sozialer Marktwirtschaft‹. Mit großem »S«. Ursprünglich war das Adjektiv »sozial« für das Konzept der Marktwirtschaft nicht vorgesehen. Ihr Kern ist und bleibt der Wettbewerb im Markt. Die Akzeptanz der Marktwirtschaft in der Bevölkerung ist in den letzten Jahren erkennbar gesunken. Den Befürwortern von Freiheit und Eigenverantwortung fehlt das Selbstbewußtsein und die visionäre Kraft, sie einzufordern. Die Marktwirtschaft im Alltag erklärt sich nicht von selbst. Unternehmer kommen in deutschen Schulbüchern schlecht weg. Das ist ein Skandal. Politik und Wirtschaft müssen mit den richtigen Argumenten für die Marktwirtschaft werben. Die Globalisierung hat Vorteile für uns alle. Es kommt heute nicht mehr darauf an, welche Krawatte ein Politiker trägt. Die Welt um uns herum wird noch kapitalistischer werden! Die Welt wartet nicht auf Deutschland. Wir müssen uns alle wieder ein wenig mehr anstrengen und werden wieder mehr arbeiten müssen. Den Sozialpolitikern aller Parteien fällt es schwer, ihren Fürsorgedrang zu bändigen. Wenn der freie Mensch  in den Tag hinein lebt. Niemals bindungs- und beziehungslos. Warum die Marktwirtschaft aus sich selbst heraus sozial ist. Gut, daß wir nun auch in Deutschland ›Heuschrecken‹ haben! Macht und Gewinnstreben sind Teil der menschlichen Natur. Was in der Demokratie die Wähler, das sind in der Wirtschaft die Kunden. Auf den deutschen Mittelstand können wir wirklich stolz sein. Seit jeher sind viele Deutschen anfällig für die Thesen ihres großen Sohns aus Trier. Auf fruchtbaren Boden fallen. Diese Party ist jetzt vorbei.

Wozu brauchen wir Politiker? Eine Nachlese zur Bundestagswahl

Jede Wahl beginnt mit einem Durcheinander. (Honoré de Balzac: Die Volksvertreter, 1854)

Dr. Anneliese Sendler: Ja, einen schönen guten Abend, meine lieben Zuschauer. Wir haben heute einen ganz besonderen Leckerbissen für Sie vorbereitet. Die Vertreter von drei philosophischen Vereinigungen werden sich zum Ausgang der eben stattgefundenen Bundestagswahl äußern. Der Titel der Sendung heißt: ›Wozu brauchen wir Politiker?‹ Mein Redakteur hat sich diesen Titel ausgedacht, in Anlehnung an den Song ›War, what is it good for?‹ aus dem Jahre 1969 von Norman Whitfield und Barrett Strong. Die Antwort auf diese Frage lautet: Absolutely nothing.  Ja, wozu sind unsere Politiker eigentlich gut, brauchen wir sie überhaupt? Schließlich gab und gibt es Stimmen, die sagen: Die Politik wird doch ohnehin von den mächtigen Konzernen gemacht, die allein bestimmen, was entschieden wird, und die Politiker sind nur korruptionsanfällige Handlanger der Industrie. Da nun zwar nicht das Thema, aber doch die Vertreter der heutigen Diskussionsrunde eher etwas für die intellektuelle Minorität in unserem Lande sind, hat sich der Sender entschlossen, unser politisch-philosophisches Vierer-Runden-Gespräch erst nach Mitternacht zu senden, damit die arbeitende Bevölkerung nicht von ihren beliebten Unterhaltungssendungen am frühen Abend getrennt wird. Ich darf dann mal schnell die drei Gesprächsteilnehmer vorstellen. Da haben wir zunächst Herrn Dr. Christoph Stadler vom ›Luhmann-Lesen!-Freundeskreis‹. Herzlich willkommen! (Der Begrüßte nickt kurz mit dem Kopf, sagt aber nichts.) Dann gleich neben ihm haben wir, direkt aus Wien kommend: Dr. Katharina Gruber vom ›Fackel-Forschungszentrum‹. (Die Eingeladene neigt sacht den Kopf, sagt aber nichts.) Für diejenigen unter unseren Zuschauern, die mit dem Namen ›Fackel‹ nichts anfangen können: Das ist der Name der berühmten Zeitschrift, die der Wiener Schriftsteller Karl Kraus fast ganz allein geschrieben hat und die zwischen 1899 und 1936 erschienen ist. So! Und last but not least: Dr. Jürgen Wollseif, der Erster Vorsitzender der ›Nietzsche-Studiengruppe‹ ist. Nun aber zum heutigen Thema. Herr Stadler, bitte geben Sie doch ihr erstes Statement ab.

Dr. Christoph Stadler (Luhmann-Lesen!-Freundeskreis): Im klassischen Verständnis politischer Demokratie steht die politische Wahl im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie soll die Herrschaft des Volkes über sich selbst gewährleisten. Zwar nicht unmittelbar als Selbstbeherrschung, als potestas in seipsum, wohl aber indirekt in der Form der Wahl von Repräsentanten, die, so nimmt man an, den Willen des Volkes erahnen und durchzusetzen versuchen, weil sie anderenfalls nicht wiedergewählt werden würden.

Dr. Jürgen Wollseif (Nietzsche-Studiengruppe): Erahnen! Welcher sich zur Wahl stellende Politiker erahnt denn schon den ›Volkswillen‹? Mal ganz abgesehen davon, was soll dieses sprachliche Ungetüm eigentlich bedeuten? ›Volkswille‹! Die politischen Parteien bezahlen Meinungsforscher, die uns einzureden versuchen, was gerade als Thema besonders vorteilhaft für die Wiederwahl in der öffentlichen Meinung erscheint.

Dr. Christoph Stadler (Luhmann-Lesen!-Freundeskreis): Im übrigen muß man fragen, ob es einen solchen Volkswillen überhaupt gibt, oder ob es sich nur um ein semantisches Korrelat der Inszenierung politischer Wahlen handelt. Das würde die politische Wahl in die Nähe von funktionalen Äquivalenten wie Fahnen, Paraden, architektonisch ausgezeichneten Gebäuden bringen.

Dr. Jürgen Wollseif (Nietzsche-Studiengruppe): Das klingt schon besser. Da stimme ich Ihnen zu.

Dr. Christoph Stadler (Luhmann-Lesen!-Freundeskreis): Auch ist schwer zu sehen, wie die zur Wahl gestellten Parteien und Parteiprogramme eine zugrundeliegende Interessenlage repräsentieren könnten. Es ist die Funktion der regelmäßig zu wiederholenden politischen Wahl, die Politik mit einer für sie unbekannten Zukunft zu konfrontieren. Aber es gibt, schon wegen der Vielfalt der Themen und Interessen, keinen sicheren Schluß von Machtausübung auf Machterhaltung oder von Machtkritik auf Machtgewinn. Die Institutionalisierung politischer Wahl garantiert dem System eine im System selbst erzeugte Ungewißheit. Was wir ›Demokratie‹ nennen und auf die Einrichtung politischer Wahlen zurückführen, ist demnach nichts anderes als die Vollendung der Ausdifferenzierung eines politischen Systems. Durch die Einrichtung regelmäßiger Wahlen erzeugt das System eine relativ kurzfristige Unsicherheit. 

Dr. Anneliese Sendler: Ja, vielen Dank, Herr Doktor Stadler, damit haben Sie sehr schön die Grundlinien unserer Diskussion festgelegt. Was sagt denn nun die Karl Kraus-Expertin zu diesen Befunden?

Dr. Katharina Gruber (Fackel-Forschungszentrum): Nun ja, da darf ich meinen Beitrag vielleicht mit einem Zitat aus einem Text von Karl Kraus aus dem Jahre 1908 einleiten: »Mein Verhältnis zur Politik drückt sich etwa in dem Dialog aus, den ich neulich führte: ›Wer wird Handelsminister?‹ ›Der jetzige bleibt‹. ›Aha‹, rief ich überrascht und setzte nach einer Pause hinzu: ›Wer ist denn der jetzige‹?« (Großes Gelächter in der Runde.) Halt, warten Sie, es geht ja noch weiter: »Was mich in der Politik immer wieder anzieht und beschäftigt, ist die Tatsache, daß es Politik gibt. Der Berufspolitiker ist eine durchaus plausible Erscheinung, um so mehr als er immer nur auf Kosten jener gewinnt, die nicht mitspielen. Politik ist Bühnenwirkung.«

Dr. Jürgen Wollseif (Nietzsche-Studiengruppe): Jedes Mal, wenn der Mensch anfängt zu entdecken, inwiefern er eine Rolle spielt und inwieweit er Schauspieler sein kann, wird er Schauspieler, sagt Nietzsche. Die Demokratie bringt Schauspieler hervor, die bestimmte Werte und Ideale vertreten, aber nicht unbedingt auch verkörpern können. Der Demokrat ist der »Gott der großen Zahl«. Und: »Überall geht das Mittelmäßige zusammen, um sich zum Herrn zu machen.«

Dr. Christoph Stadler (Luhmann-Lesen!-Freundeskreis): Wenn ich hier anschließen darf? Luhmann hat in einem Beitrag von 1993 mit dem Titel ›Die Ehrlichkeit der Politiker und die höhere Amoralität der Politik‹ sich zu diesem Thema geäußert. Müssen, sollen oder können Politiker ehrlich sein? Entscheidend dabei ist die Frage, ob sie es können. Seit dem 17. Jahrhundert ist es geläufig, daß man eigene Ehrlichkeit oder Aufrichtigkeit nicht kommunizieren kann. Wer sagen würde: Ich bin ehrlich, würde zugleich mitteilen, daß Zweifel bestehen. Wenn Nixon sagt: I am not a crook, Ich bin kein Betrüger, so schwingt eben doch das Gefühl dabei mit, daß diese Art von Beteuerung ihm nichts nutzt und er sich erst recht unter Verdacht stellt. In Wahlkampfzeiten beobachtet man das Phänomen, daß es zu einer »Kultur der wechselseitigen Beleidigungen« kommt, und Luhmann erwähnt einen Vergleich aus E.T.A. Hoffmanns ›Prinzessin Brambilla‹: Zwei Löwen gehen mit solchem Grimm aufeinander los, daß am Ende nichts von ihnen übrigbleibt als die beiden Schweife. Aber, fragt Luhmann, »wer hätte ein Interesse daran, zwischen zwei Schweifen zu wählen?« (Großes Gelächter in der Runde.) Es sind letztlich politische Konstellationen, die den Ausschlag geben in der Frage, ob und mit welchen Spezialfunktionen die Politik auf Moral zurückgreift. Und insofern sind dann Politiker in der Tat auch in ihrer moralischen Selbstdarstellung Opfer der Macht.

Dr. Anneliese Sendler: Vielen Dank für diese interessanten Ausführungen, Herr Dr. Stadler. Was sagt die Fackel-Spezialistin denn dazu?

Dr. Katharina Gruber (Fackel-Forschungszentrum): Dann lese ich Ihnen einmal einen Aphorismus von Kraus über die Politiker seiner Zeit vor: »Die Verworrenheit unserer politische Zustände hat einen großen Vorteil; sie erleichtert die Beurteilung der führenden Männer. Unter minder schwierigen Umständen konnte sich ein Minister jahrelang der Feststellung seines Wertes entziehen. Selbst der Geschichte fehlen die Anhaltspunkte zur Beurteilung einzelner Staatsmänner. Aber dieses historische Dämmerlicht ist vorüber. Heute ist die Beleuchtung so grell, daß man die Umrisse politischer Unfähigkeit weithin erkennt. Unsere Zeit richtet jeden Minister binnen ein paar Tagen – standrechtlich. Auch auf die Abstufungen der Mittelmäßigkeit läßt sie sich nicht mehr ein.«

Dr. Anneliese Sendler: Mmh…, das ist wieder so hübsch paradox, wie man das von Kraus gewohnt ist.

Dr. Katharina Gruber (Fackel-Forschungszentrum): Wenn ich das noch weiter ausführen dürfte? Kraus konstatiert, sollte es keine Politik und damit keine Politiker mehr geben, »so hätte der Bürger bloß sein Innenleben, also nichts, was ihn erfüllen könnte. Spannungen kann ihm nur der Rohstoff des Lebens bieten. Wer außer den Politikern beklagt denn die Dummheiten in der Politik? Daß es Politik gibt, ist erheblich. Daß sich die Menschheit keinen besseren Zeitvertreib weiß, als auf der Lauer ihrer Spannungen zu liegen.« Mit solchem »Völkerspielzeug, wie es die Politik ist«, gebe er sich nicht ab. Politik ist das, was man macht, um nicht zu zeigen, was man ist, und was man selbst nicht weiß. Politik ist Tonfall, losgelöst von Sinn und Gefühl. Das Verhängnis aller Politik ist der Ausfall an Phantasie. Und damit hier auch ein Beitrag zur Frage, ob man Politiker braucht, gegeben wird, diesen Aphorismus hier: »Der Parlamentarismus ist die Kasernierung der politischen Prostitution.« Warum Prostitution? Nun, für Kraus waren die Wiener Huren bedeutende Geschöpfe, bedeutender und lebenswichtiger als die Wiener Journalisten, denn im Gegensatz zur Presse konnten die Huren einen lebensnotwendigen Dienst anbieten und es gab auch einen reellen Gegenwert für das Geld, während die Journalisten mit ihren Artikeln meist kein verwendbares Gut lieferten, sondern nur Phrasen und Mißinformation. Deshalb schätzte Kraus die Prostitution als höherwertiger ein als die Leistungen der Presse, und das galt dann auch für das politische Pendant zur Figur des Journalisten, des Politikers, der mit seinen Wahlreden nur Versprechungen ausgab, von denen man von vornherein wußte, daß er sie nicht zu erfüllen verstand. Prostitution leitet sich von dem lateinischen Wort prostituere ab, das heißt: zur Schau stellen, preisgeben. Genau das macht der Politiker und deshalb ist eine gewählte Versammlung von Politikern im Parlament die Kasernierung der politischen Prostitution.

Dr. Christoph Stadler (Luhmann-Lesen!-Freundeskreis): Lassen Sie mich das Ganze doch ein bißchen versachlichen und uns damit wieder auf das Thema des Abends zurückbringen. Als ›Politik‹ kann man jede Kommunikation bezeichnen, die dazu dient, kollektiv bindende Entscheidungen durch Testen und Verdichten ihrer Konsenschancen vorzubereiten. Für Politik ist also Organisation erforderlich, weil man Kommunikationen sozialen Systemen zurechnen muß. In der politischen Wahl versuchen Politiker, das Volk zu überreden, sie zu wählen. Viel Sorgfalt wird auf eine günstige Präsentation der politischen Programme gelegt, und starke moralische Akzente dienen dazu, zu insinuieren, daß nur bei bestimmten Politiken Einverständnis und Motivation im Sinne des Guten-und-Richtigen zu erreichen sei. Natürlich durchschauen viele, wenn nicht alle, das Spiel, aber das System ist gegen das Durchschautwerden immun, weil es auf dieser Ebene keine Alternativen anbietet. Dem Volk bleibt als viel genutzte Alternative zu den angebotenen Alternativen die Resignation. Und eben deshalb kommt es für die ›Zukunft der Demokratie‹ vor allem darauf an, wie und worin sich die Alternativen unterscheiden, die angeboten werden.

Dr. Jürgen Wollseif (Nietzsche-Studiengruppe): Aber das ist doch gerade das Problem, daß es keine Alternativen mehr gibt und daß wir sogar politische Zustände haben, wo eine Partei sich mit dem Wort ›Alternative‹ schmückt, wo doch offenkundig es sich bei deren politischem Programm um keine Alternative handelt, sondern um eine Kopie eines Programms aus den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhundert und dieses ›Programm‹ die Handlungsanweisung für den Zweiten Weltkrieg gewesen ist.

Dr. Christoph Stadler (Luhmann-Lesen!-Freundeskreis): Sie berühren hier das Problem der öffentlichen Meinung, denn Parteien, die auf sich aufmerksam machen wollen, und das müssen alle Parteien gleich welcher Richtung, suchen sich öffentlichkeitswirksame Themen aus, die sie aber zusätzlich noch mit einem Drall ausstatten, der unweigerlich dazu führt, daß die Massenmedien diesen aufgreifen, ja aufgreifen müssen, weil Massenmedien darauf angewiesen sind, ständig neu zu aktualisieren und alles, was vom normativen öffentlichen Konsens abweicht, geradezu zwanghaft verarbeiten müssen. Luhmann sagt: »Die öffentliche Meinung ist ein Medium der Meinungsbildung. Sie ist der Heilige Geist des Systems. Sie ist das, was als öffentliche Meinung beobachtet und beschrieben wird. Man kann sie als einen durch die öffentliche Kommunikation selbsterzeugten Schein ansehen, als eine Art Spiegel, in dem die Kommunikation sich selber spiegelt. Die öffentliche Meinung ist daher nicht etwas, was irgendwo anders auch noch vorkommt. Sie ist die autistische Welt der Politik selbst.«

Dr. Anneliese Sendler: Was für ein schönes und zugleich düsteres Schlußwort! Vielen Dank, meine Dame, meine Herren, für ihre tiefschürfenden Beiträge. Ein Resümee? Schwierig. Ist Autismus heilbar? Ich fürchte nicht.

Zum Ausgang der Bundestagswahl am 23. Februar 2025

Beim Regierungswechsel gehen die einen satt von dannen, und die anderen drängen hungrig an die Krippe. (Edmund Rehwinkel, 1977)

Der geheime Sinn aller Weltveränderungen lautet: »Steh Du auf und laß mich an die Schüssel.« (Theodor Lessing, 1924)

Zur Amtseinführung des 47. amerikanischen Präsidenten am 20. Januar 2025

Nirgends bilden die ›Politiker‹ eine abgesondertere und mächtigere Abteilung der Nation als grade in Nordamerika. Hier wird jede der beiden großen Parteien, denen die Herrschaft abwechselnd zufällt, selbst wieder regiert von Leuten, die aus der Politik ein Geschäft machen, die auf Sitze in den gesetzgebenden Versammlungen des Bundes wie der Einzelstaaten spekulieren oder die von der Agitation für ihre Partei leben und nach deren Sieg durch Stellen belohnt werden. Es ist bekannt, wie die Amerikaner seit 30 Jahren [seit 1861] versuchen, dies unerträgliche Joch abzuschütteln, und wie sie trotz alledem immer tiefer in diesen Sumpf der Korruption hineinsinken. Gerade in Amerika können wir am besten sehn, wie diese Verselbständigung der Staatsmacht gegenüber der Gesellschaft, zu deren bloßem Werkzeug sie ursprünglich bestimmt war, vor sich geht. Hier existiert keine Dynastie, kein Adel, kein stehendes Heer, außer den paar Mann zur Bewachung der Indianer, keine Bürokratie mit fester Anstellung oder Pensionsberechtigung. Und dennoch haben wir hier zwei große Banden von politischen Spekulanten, die abwechselnd die Staatsmacht in Besitz nehmen und mit den korruptesten Mitteln und zu den korruptesten Zwecken ausbeuten – und die Nation ist ohnmächtig gegen diese angeblich in ihrem Dienst stehenden, in Wirklichkeit aber sie beherrschenden und plündernden zwei großen Kartelle von Politikern.

Friedrich Engels: Einleitung zu Marx’ ›Bürgerkrieg in Frankreich‹ [1891]. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, (Hg.) H. Merbach, D. Krause, H. Wettengel, R. Merkel, A. Wolf, W. Schulz, R. Sperl, Bd. 22, Berlin 1977, 188–199, (197f.)

Neue Gespräche im Elysium XXI

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.

Frank Zappa meets Teresa von Avila

Er stellte sich vor, der große Kirchenphilosoph Thomas von Aquin, gestorben 1274, nachdem er die Gedanken seiner Zeit unsäglich mühevoll in beste Ordnung gebracht hatte, wäre damit noch gründlicher in die Tiefe gegangen und soeben erst fertig geworden; nun trat er, durch besondere Gnade jung geblieben, mit vielen Folianten unter dem Arm aus seiner rundbogigen Haustür, und eine Elektrische sauste ihm an der Nase vorbei. (Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [1930]. In: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 1, Erstes Buch, Kapitel 16, (Hg.) Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg 1978, 59)

Frank Zappa: Hi, Teresa, nice to finally meet you.

Teresa von Avila: Oh, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir uns auf Deutsch unterhalten? In meinem Zeitalter wurde die englische Sprache noch nicht so weltumfassend gelehrt wie heute. Und natürlich auch das Deutsche nicht, zumal ich ja aus Kastilien komme, aber auf Spanisch wollen wir uns wohl erst recht nicht unterhalten.

Frank Zappa: Aber gerne, ich habe in einem meiner Songs mit dem Titel ›Sofa No 2‹ auf dem Album ›One Size Fits All‹ (1975) sogar alles auf Deutsch formuliert: I am the heaven / I am the water

Teresa von Avila: Das ist aber Englisch…

Frank Zappa: Ja, ich weiß, es geht aber gleich weiter: Ich bin der Dreck unter deinen Walzen (Oh no, whip it on me, honey!) 

Teresa von Avila: Schon wieder Englisch. Und was bedeutet ›Walzen‹?

Frank Zappa: Please, pay attention! Ich bin dein geheimer Schmutz / und verlorenes Metallgeld / (Metallgeld) / ich bin deine Ritze / Ich bin deine Ritze und Schlitze

Teresa von Avila: Du liebe Güte! Das haben Sie geschrieben? Wenn ich nicht wüßte, daß es die Künstliche Intelligenz à la ChatGPT 1975 noch nicht gegeben hat, würde ich sagen: das hat kein Normalsprachlicher verfaßt, sondern eine verrückte Maschine. Ich bin deine Ritze und Schlitze! Verbirgt sich dahinter eine Anzüglichkeit, die gewisse Menschen wie Sie gern benutzen?

Frank Zappa: Ich bin der Autor aller Felgen / Und Damast Paspeln / Ich bin der Chrome Dinette / Ich bin der Chrome Dinette / Ich bin Eier aller Arten

Teresa von Avila: Bitte hören Sie auf, das wird ja immer schlimmer! Felgen! Eier! Ich möchte gar nicht erst wissen, was Damast Paspeln sein sollen!

Frank Zappa: Ich bin alle Tage und Nächte / Ich bin alle Tage und Nächte / Ich bin hier (Aye-ah!) / Und du bist mein Sofa

Teresa von Avila: Na, am Schluß wird es ja wieder verständlicher, fast schon normal: Und du bist mein Sofa. Wollen Sie damit sagen, daß Sie ein verläßlicher Mensch sind und die hier Angesprochene wie ein vertrautes Möbelstück behandeln dürfen? Im Sinne von: setz’ dich zu mir und rede mit mir? 

Frank Zappa: Oder setz’ dich auf mich drauf, if you know what I mean.

Teresa von Avila: Sie schlimmer Junge, man hat mich vor Ihnen gewarnt, aber ich bin nicht prüde, ganz und gar nicht. Als Philosophin ist mir nichts Menschliches fremd und als praktizierende Nonne war ich auch niemals weltfremd.

Frank Zappa: Zappa ist das italienische Wort für Hacke. Damit müssen die sizilianischen Bauern den trockenen Boden ihrer Heimat aufhacken, um etwas zu säen. So ähnlich bin ich ja auch vorgegangen. Mit meiner Musik habe ich den nicht empfängnisbereiten Boden des menschlichen Bewußtseins aufgehackt. By the way, die Mutter meiner Mutter hieß Theresa, eine strenggläubige Katholikin. Meine Mutter Rose Marie wäre beinahe in ein Kloster eingetreten. Als ich drei Jahre alt war, sah ich einmal auf der Straße einige Nonnen und ich soll gerufen haben: »Schau mal, Pinguin-Frauen!« Können Sie sich vorstellen, daß ich, bis ich 18 war, ständig zur Beichte gegangen bin? Die Nonnen zeigten uns alle diese Bilder von der Hölle, zeigten uns das lodernde Feuer und was passieren würde, wenn wir nicht parieren würden. Da sagte ich: »Hey, Spitze, das ist ja richtig aufregend!« Meine Eltern wollten, daß ich Meßdiener werde. Als eine dieser Pinguin-Nonnen mir aber mit einem Lineal auf die Hand geschlagen hatte, quittierte ich den Dienst. Mir gefiel auch nicht das ständige Niederknien, das zerknitterte doch meine Vorderschuhe. 

Teresa von Avila: Sie sind aber ein richtiger Spaßvogel! Das hat mir auch schon so an diesem Film von Federico Fellini gefallen, in der eine fiktive Modenschau im Vatikan gezeigt wird und wo Nonnen in Designertracht und auf Rollschuhen vor dem Papst und seinen Kardinälen die allerneueste Sakralmode vorführen. Pinguine auf Rollerblades, köstlich!

Frank Zappa: Als ganz junger Mann habe ich in meinem ›Studio Z‹ ein Leben voller  besessenen Overdubbens geführt, zwölf Stunden am Tag. Die Sittenpolizei in San Bernadino County begann sich für mich zu interessieren. Die hatten ein Loch in die Wand des Studios gebohrt und beobachteten mich mehrere Wochen lang. Ein angeblicher Gebrauchtwagenverkäufer sagte mir, seine Freunde wollten eine Party geben und ob ich, da vor meinem Studio ein Plakat mit der Aufschrift ›TV-Filme‹ hing, dafür einen »aufregenden Film« drehen könne. Er nannte mir all die verschiedenen Praktiken, die er in dem Film verewigt haben wollte. Unsere Unterhaltung wurde von der Sittenpolizei abgehört. Am Abend stellte ich das Band mit Hilfe eines Mädchens her, ungefähr eine halbe Stunde voll vorgetäuschten Stöhnens und quietschender Bettfedern. Ich blieb die ganze Nacht auf, um das Gelächter herauszuschneiden und fügte noch etwas Hintergrundmusik dazu. Am nächsten Tag kam der Kunde, ein Detective Willis, vorbei, und auf einmal flog die Tür auf, Blitzlichter flackerten, Reporter rannten durch das Studio, und um meine Handgelenke schlossen sich Handschellen. Man klagte mich wegen ›Verschwörung zur Verbreitung von Pornographie‹ an. Das Urteil lautete: Sechs Monate Gefängnis, die bis auf zehn Tage zur Bewährung ausgesetzt wurden. Die Wärter ließen die ganze Nacht über die Lichter an, um uns vom Schlafen abzuhalten. Tagsüber herrschten Temperaturen von rund 40 Grad Celsius.  Die zehn Tage, die ich im Trakt C des Bezirksgefängnisses von San Bernardino verbrachte, waren außerordentlich lehrreich. Sie machten mich mißtrauisch gegenüber der amerikanischen Gesellschaft mit ihren geheuchelten moralischen Normen, die täglich von ihren Mitgliedern gebrochen wurden. Denken Sie nur an die Teleevangelisten, die sich Prostituierte bestellen und, wenn sie erwischt werden, vor die Kameras treten und mit gespielten Tränen in den Augen ihre ›Sünden‹ bekennen. Dann sollen die Idioten, die diesen Fernsehpriestern Geld gespendet haben, ihnen dann aber auch verzeihen, denn es gilt das Schema: Erst kommt die Sünde, dann die Vergebung. Die Wörter, die ich auf der Bühne benutzte, sind kein Protest gegen meine katholische Erziehung, sondern direkte Kommunikation. Der männliche Katholik kniet nieder, um zu Gott zu beten, aber in Wirklichkeit wünscht er sich, daß er stehen bleibt und das nette Mädchen aus dem Nachbarhaus vor ihm niederkniet und es ihm mit dem Mund besorgt. Deshalb habe ich auch ein grunzendes Schwein in viele meiner Songs eingebaut. Ich glaube, daß die Popmusik mehr für den oralen Sex getan hat als alles andere in der Welt. Und es ist gut für die Mädchen. Die meisten von ihnen werden schließlich mal normale Arbeiter heiraten. Und die werden glücklich darüber sein, eines dieser Mädchen abzukriegen, ein Mädchen, das schon eine bestimmte Ebene sexueller Erfahrung erreicht hat. Das tut dem ganzen Land gut. Es mußte immer etwas Gewagtes auf der Bühne passieren, denn das war diesen gläubigen Typen so peinlich, doch insgeheim gefiel das denen doch, weil jemand sich traute, was jeder und jede sich erträumte. Häufig begrüßte ich bei meinen Konzerten das Publikum mit ›Hi, pigs!‹ Es ging immer auch darum, zu testen, wieviel Beschimpfung das Publikum zu ertragen bereit war. Die meisten Leute begreifen, daß das, was ich gemacht habe, Satire ist. Denen geht es nicht in erster Linie um Musik, für das Publikum gibt es nichts Einfacheres als Klamauk. 

Teresa von Avila: Vielleicht sind Sie mit meinem Leben nicht so vertraut, ich bin ja auch schon so lange tot, so daß es sicher gut wäre, wenn ich Ihnen ein wenig aus meinem Leben erzähle. Geboren bin ich am 15. März 1515 in Avila, das liegt in Kastilien, mit einundzwanzig Jahren trat ich ins heimische Karmelitinnenkloster ein. Im Laufe meines Lebens habe ich dann insgesamt fünfzehn Klöster gegründet, aber das wurde mir von der spanischen Inquisition nicht gutgeschrieben, immer wieder wurde ich aufgrund von Denunziationen vorgeladen, doch ich wurde immer wieder von allen Anschuldigungen freigesprochen. Die Richter dieser Welt sind lauter Männer, habe ich in dem Buch ›Wege der Vollkommenheit‹ geschrieben, und es gibt keine Tugend der Frau, die sie nicht für verdächtig halten. Ich hatte niemals Angst vor der Inquisition. Ich habe mich sogar häufig der Ironie bedient, um meine Peiniger lächerlich zu machen. Es waren schwere Zeiten, weil der Verdacht auf alle Menschen fiel und niemand sicher sein konnte, nicht plötzlich verfolgt zu werden. Aber Humor war eben damals noch kein weitverbreitetes Mittel der Befreiung von der Drangsal des Daseins. Das mußte ich gegenüber meinen Schwestern im Kloster immer wieder hervorkehren, denn sie nahmen die weltlichen und klösterlichen Dinge des öfteren all zu ernst. So schrieb ich: »Hütet euch, meine Töchter, vor Sorgen, die euch nichts angehen. Schaut, es gibt in dieser Burg nur wenige Wohnungen, in denen die bösen Geister vom Kämpfen absehen. Da gibt der böse Geist einer Schwester heftige Anstürme nach Buße ein, so daß sie meint, nicht zur Ruhe zu kommen, außer indem sie sich ständig kasteit. Es ist eigentlich ein gutes Prinzip, doch wenn die Priorin angeordnet hat, ohne Erlaubnis keine Buße zu tun, der böse Geist sie jedoch zu der Meinung verführt, daß sie es bei etwas so Gutem wohl wagen darf, und sie sich insgeheim ihr Leben so einrichtet, daß sie allmählich ihre Gesundheit einbüßt und der Anordnung der Regel nicht mehr folgt, dann seht ihr, wo dieses Gute endet. Einer anderen gibt der böse Geist einen sehr großen Eifer nach Vollkommenheit ein, was sehr gut ist, doch könnte es dahin führen, daß ihr jedes winzige Versäumnis der Mitschwestern wie ein schwerer Verstoß und als etwas vorkommt, auf das man achten muß, um dann zur Priorin zu rennen. Und manchmal könnte es sogar sein, dass sie vor lauter Eifer für die Ordenszucht ihre eigenen Fehler nicht mehr sieht.« Sie sehen, es gab eine Menge für mich zu tun, um meine Mitschwestern nicht auf Irrwege gelangen zu sehen.

Frank Zappa: Fine. Das ist schön, denn ich glaube, wir haben eine ganze Menge Gemeinsamkeiten. Ich habe ihre Schrift ›Die innere Burg‹ gelesen und es erinnerte mich an meine damalige Situation hier in Los Angeles. Versuchen Sie sich einmal vorzustellen, was das Gegenteil von Einsamkeit ist. Versteh’ doch, daß du isoliert bist. Genieß’ das! Freu dich drüber! Sei doch froh, daß da nicht ein Haufen Leute sind, die deine Zeit verschwenden. So was kannst du dir nirgendwo kaufen. Ich hasse L.A. und deshalb bin ich auch nie zu den Partys gegangen, die man da ständig gegeben hat. Nachdem sie nett zu dir waren, wollen sie jetzt auch was von dir. Und sie haben dir doch schon deine Zeit genommen. Ich blieb viel lieber zuhause, genauer gesagt: im Basement meines Hauses, wo ich für viel Geld ein großes Aufnahmestudio habe einrichten lassen. Als ich Ende der achtziger Jahre mein anstrengendes Tourleben aufgab, habe ich alle die vielen Live-Mitschnitte geordnet und neu abgemischt. Daraus ist dann die Serie ›You can’t do that on stage anymore‹ entstanden.

Teresa von Avila: Sie haben auf Ihren Konzerten immer eine Abteilung gehabt, wo Sie sagten: »What’s the secret word for tonight?« Nun, ich habe mir Ihre Texte zu den Musikstücken einmal daraufhin angesehen, ob man in diesen ein wiederkehrendes Muster finden könnte, und ich bin fündig geworden. Das geheime Wort Ihrer Songs lautet: Plastik. Die kulturelle Einöde der amerikanischen Vorstadt. Ihr Biograph hat das so beschrieben: »Das Leben in Amerika kennt wenig Varianten und ist vorhersagbar: Coca-Cola, Hamburger-Ketten und Kaffeestuben – in jeder Stadt überall gleich. Holiday Inn warb mit dem Slogan: ›Die beste Überraschung ist keine Überraschung.‹ Alles ist ein Massenprodukt. Zappa feierte diese Gleichförmigkeit, Häßlichkeit, Schäbigkeit und ihren Mangel an Geschmack. Zappa reagierte auf den Lebensrhythmus Südkaliforniens, und er hatte ein Gespür dafür, was diesen in Gang hielt. Zappas Musik konnte aus keiner anderen Stadt als L.A. kommen. Der entspannte Rhythmus der kalifornischen Autokultur schwingt darin mit, der Beat der Freeways, des ziellosen Durch-die-Gegend-Fahrens. Zappas innerer Rhythmus war wie ein Echo des Sounds der Vorstädte.« (Barry Miles: Zappa, London 2004; dt. Berlin 2005, 253f.).

Frank Zappa: ›What will you do if we / Let you go home, / And the plastic’s all melted / And so is the chrome‹ — Das ist aus meinem Song ›Who are the brain Police‹ aus dem Album ›Freak Out‹ von 1966, das war die erste Rock-Doppel-Langspielplatte überhaupt. Wir nannten uns ›The Mothers of Invention‹, gezwungenermaßen, denn die Leute von der Plattenfirma hatten sich davon überzeugt, daß kein Diskjockey jemals die Platte einer Band namens ›The Mothers‹ spielen würden. Denn unausgesprochen wußte jeder, daß der Name eine Kurzform von ›The Motherfuckers‹ war. Nur für Musiker aber ist klar, daß damit jemand bezeichnet wird, der sein Instrument ungewöhnlich gut spielt. Wir waren alle häßliche Typen mit abgedrehten Klamotten und langen Haaren: genau das, was die Unterhaltungsbranche brauchte.

Teresa von Avila: Sie haben drastische Mittel für einen moralischen Zweck verwendet, dagegen kann man nichts einwenden, im Gegenteil, das muß ein Künstler sogar von sich verlangen, dazu zwingt ihn seine innere Stimme praktisch.

Frank Zappa: Ein Beispiel. In meinen Texten und meiner Musik habe ich dem Humor und der Ironie großen Raum gelassen, eine meiner späten Langspielplatten trug sogar den ironischen Titel ›Does Humor Belong in Music?‹ (1986). Angefangen habe ich mit meiner Band ›Mothers of Invention‹ Ende der 1960er Jahre, da haben wir besondere Bühnenshows präsentiert. Da war zum Beispiel eine riesige Giraffe aus Stoff, die mit einem langen Schlauch ausgerüstet war, die der Leadsänger unserer Band mit einer Frosch-Handpuppe so lange massierte, bis der imaginäre Schwanz der Giraffe steif wurde und sich eine Ladung Schlagsahne in die ersten Reihen des Zuschauerraums entlud. Das war vielleicht ein Spaß! Die Leute wollten das immer wieder sehen. Nun, Musik und Theater sind immer ein Gesellschaftskommentar und wenn ich die Grausamkeiten der ›Marines‹ im Vietnam-Krieg gegen den Vietkong und die Vietnamesen auf der Bühne simuliert habe, so ist das ein legitimes künstlerisches Mittel gewesen, denn bei mir sind ja keine Menschen gestorben, bei den Bombardierungen von Vietnam aber schon. Einmal kamen drei Marines in voller Uniform und setzten sich in die erste Reihe. Ich fragte sie, ob sie Lust hätten, mit der Band auf der Bühne zu singen und sie sagten ja und ich ließ sie ›Everybody Must Get Stoned‹ singen. Dann schlug ich ihnen vor: Warum zeigt ihr nicht den Leuten im Saal, womit ihr Jungs euch den Lebensunterhalt verdient? Ich gab ihnen eine große Puppe und sagte: »Stellt euch einfach vor, daß das ein ›Schlitzaugenbaby‹ ist. Schlitzaugen war ein Kennwort für die Vietnamesen. Während wir spielten, schlitzen sie die Puppe auf und verstümmelten sie. Es war wirklich grausig. Niemand lachte.

Teresa von Avila: Sie haben eine ganze Reihe von Liebesliedern geschrieben, die alle sehr melodisch zum Mitsummen und Mitwippen sind, ›Fountain of Love› zum Beispiel, die erinnern an die Stücke, die in den 1950er Jahren als einfache Schlager im amerikanischen Radio liefen. Dabei sind auch Stücke, deren Inhalt schockierend ist, so in dem Lied ›Suicide Chump‹: »You say there ain’t no use in livin‘ / It’s all a waste of time / And you wanna throw your life away / Well people that’s just fine / Go ahead on and get it over with then / Find you a bridge and take a jump / Just make sure you do it right the first time /Cause nothing’s worse than a suicide chump.«

Frank Zappa: Das Fazit lautet: Wenn du dich schon umbringen willst, dann stell’ es aber richtig an, denn keiner mag jemanden, der es versucht und dann doch dabei versagt. Ein Chump ist ein Trottel. Über die Liebe: There ain’t no such thing as love, heißt es in einem meiner Songs, aber in einem anderen sage ich dann: I’m sure that love will never be a product of Plasticity. In einem anderen mache ich mich über die kommerziell-kitischigen Lovesongs lustig: »Love of my life, I love you so / Love of my life, don’t ever go / I have you only / Love, love of my life.« Ja, und ›Fountain of Love‹ ist auch so ein Song, in dem ich diese verlogenen Bilder von der Liebe, die die Schlagerindustrie den Leuten zum Fraß vorwirft, parodiere: »It was September, the leaves were gold / That’s when our hearts knew that story untold / We were young lovers strolling near / The fountain of love, fountain of love / Fountain of love.« Was ich an einigen Rock-and-Roll-Songs besonders zynisch finde, ist die Art und Weise, mit der sie sagen: ›Ich möchte dich lieben‹. Wer ist denn so bescheuert und sagt so etwas im wirklichen Leben? Man sollte eigentlich sagen: ›Ich will dich bumsen.‹ Aber um ins Radio zu kommen, muß es ›Ich will dich lieben‹ heißen, nicht: ›Bums mich, fick mich richtig durch!‹. Sex ist nur eine mechanische Freisetzung von Energie und Körpersäften, hormonelle Unterhaltung. Das Leben könnte man als komplexe Form elektrochemischer Unterhaltung beschreiben. Elektrische Impulse verändern chemische Substanzen, die sich neu zusammensetzen und elektrische Impulse erzeugen, die wiederum etc. etc. etc., was schließlich zum ›Leben als Verhaltenstheater‹ führt.

Teresa von Avila: Worüber ich mich immer wieder ärgere, das ist diese Marmorskulptur von mir, von Giovanni Lorenzo Bernini 1652 erschaffen. Man sieht einen Engel, der mit einem Pfeil auf das Herz einer Heiligen, das soll ich sein, zielt, und die Heilige wirft den Kopf in den Nacken und öffnet ihren Mund, verzückt und entrückt, als wenn sie gerade einen Orgasmus bekommt. Angeblich war das Vorbild für diese Skulptur meine Autobiographie. Man hat mich dann als Symbol der ›Sinnlichkeit des barocken Katholizismus‹ mißbraucht.

Frank Zappa: Die katholische Kirche hat noch nie vor Obszönitäten zurückgeschreckt. Die Heiligen an den Säulen ihrer Kirchen, ihre Hälse renken sich zu verderbten Längen, der Blick wird auf die bebenden Nasenlöcher gelenkt, die Engel lagern wie in Lotterbetten, der kurze Moment vor der vollständigen Entblößung gebauschter Schenkel. 

Teresa von Avila: Die Bigotterie ist die Ursünde der katholischen Kirche. Aber die weltlichen Sphären sind ebenso verwerflich.

Frank Zappa: Kennen Sie diesen Peeping Tom namens Suckerberg? He was a student and founded this ›Facebook‹ to spy on women on the campus, to get pictures of naked women. He was a little wanker, a weasel, he was so repulsive so that no girl would have wanted to screw him. Now this jerk is a multimillionaire because a billion of people all around the world are stupid enough to log in to this ludicrous ›Facebook‹, where they exchange silly messages because they can’t imagine anything else than gossip. Now he has joined the new American government, with Dagobert Dump as president to suck his ugly dick together with this Egon Mushroom, another dwarf who made a fortune and now has found a way to influence the masses. Einige Wissenschaftler behaupten, daß Sauerstoff wegen seiner Häufigkeit der Grundbaustein des Universums ist. Dabei gibt es mehr Dummheit als Sauerstoff, und das ist der Grundbaustein des Universums. Die Idioten, die diesen Dump gewählt haben, beweisen doch nur, daß ich recht mit meiner Behauptung habe.

Teresa von Avila: Es ist schon tragisch, wie die Menschheit sich zugrunderichtet. Zu meiner Zeit gab es auch solche Personen, die nur Unheil über die Welt gebracht haben. Und es ist ja nur noch schlimmer geworden. Von Kierkegaard gibt es folgende Anekdote: »In einem Theater brach hinter der Bühne ein Feuer aus. Der Clown kam heraus, um das Publikum zu warnen; sie hielten es für einen Scherz und applaudierten. Er wiederholte es und der Beifall war noch größer. Ich glaube, genau so wird die Welt untergehen: unter allgemeinem Beifall von Menschen, die glauben, es sei ein Scherz.«

Frank Zappa: That’s what we always tried to tell the people who came to our concerts! Teresa, it’s so lovely to have met you. You have such a strong mind. 

Teresa von Avila: You are welcome, Frank. Now let’s get out of here and have some fun. What would you recommend?

Frank Zappa: Well, I’m not sure, but we could get to the eternity lake and swim a few rounds.

Teresa von Avila: Das ist ein guter Vorschlag. Aber ich habe keinen Badeanzug dabei.

Frank Zappa: Ich habe auch keine Badehose… well, we could try to swim in the nude.

Teresa von Avila: What a wonderful idea, if only my fellow nuns could have experienced this. Let’s go crazy!

(Sie spazieren gemächlich zum See und singen gemeinsam):

Let me tell you about this right now
Let me tell you about this right here
You know you put me in office
So you must have wanted me in office
The man in the White House — oooh!
There’s just one thing I wanna know —
How’d that asshole ever manage to get in?

Neue Gespräche im Elysium XX

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.

Mae West meets Hanns Dieter Hüsch

Mae West: Is that a gun in your pocket, or are you just happy to see me?

Hanns Dieter Hüsch: Was ich ja immer sage: Die Unanständigsten sind die Unschuldigsten. Aber erst einmal guten Tag, liebe Mae West, was bin ich erfreut Sie hier zu sehen! Bisher kannte ich Sie ja nur aus dem Film.

Mae West: I’m a woman of very few words, but lots of action. Ich kann nur zwei Sprachen: Englisch und Körper. Aber für Sie, mache ich, wie Sie gerade gehört haben, eine Ausnahme.

Hanns Dieter Hüsch: Ihre Sprüche sind weltberühmt, Ihre ›double entendres‹. Besonders der, den Sie gleich zu Anfang aufgesagt haben. Ja, wenige Worte, viel action. Für Ihre Auftritte hatten Sie immer die richtigen Songs: ›Go As Far As You Like‹, ›Nothing Bothers Me‹, ›I Don’t Care‹. Da müßte ich jetzt wohl über meine herzzerreißende Neigung zu schönen Mädchen sprechen, wo ich gleichzeitig immer meine riesengroße Angst fühlte, nicht angenommen zu werden. Die ganz schönen Mädchen waren natürlich für mich unerreichbar. Aber manchmal sind solche Frauen auch elend dran, schön zwar, aber elend dran, denn sie brauchen immer jemanden, der sie auffängt, wenn sie fallen. Ich war immer unterwegs, um die Damen mit den knappen Röcken, den hohen Absätzen und den offenen Herzen zu sehen, im Sommer und im Winter, immer wußte ich, wo es solche Etablissements gab, immer führte mich meine Sucht mitten hinein in die Welt der Lust und des Lasters, irgendetwas zog einen wie mich immer wieder dorthin, vielleicht wollte man einfach in den Arm genommen werden, und das natürlich möglichst lasziv. Ich war aber manchmal schon mit einem Blick zufrieden. Je höher der Strumpf, desto tiefer der Wahnsinn. Die Freundin, kurzsichtig, aber hochhackig. 

Mae West: The best way to hold a man is in your arms. Between two evils, I always pick the one I never tried before. No one can have everything, so you have to try for what you want most. Too much of a good thing can be wonderful! Ten men waiting for me at the door? Send one of them home, I’m tired.

Hanns Dieter Hüsch: Ja, das bewundere ich an Ihnen ja so sehr, diese Freimütigkeit, dieses naiv Schamlose. Sie haben es in diesem prüden Land Amerika nicht leicht gehabt, ihre künstlerischen Vorstellungen durchzusetzen, aber Sie haben sie durchgesetzt. Ein Regisseur hat mir einmal gesagt: »Kinder, freundlich bleiben, auch die ernsten und aggressiven Sachen ruhig und fast leicht vortragen.«

Mae West: Wenn die Leute nur wüßten, was während der Aufführung meines Theaterstücks ›Sex‹ aus dem Jahr 1926, eine Aschenputtel-Geschichte, die mir 500 Dollar Geldstrafe und eine Woche im Gefängnis eingebracht hat, hinter der Bühne passierte, wären sie überrascht. Unser Hauptvergnügen zwischen den Akten waren Diskussionen über die Musik von Beethoven und Bach, über Shakespeare und die Philosophen der Welt.

Hanns Dieter Hüsch: Ich komme ja vom Niederrhein, das ist eine Gegend, die werden Sie jetzt nicht kennen. Die Leute dort, die Niederrheiner, sind ein eigenartiges Völkchen. Der Niederrheiner weiß nix, kann aber alles erklären. Umgekehrt, wenn man ihm etwas erklärt, versteht er nichts. Sagt aber dauernd: Ist doch logisch! Wenn man dann fragt: Wieso logisch? antwortet er sehr oft: Ja wieso, weiß ich auch nicht, muß man ’nen anderen fragen. Wenn man dann weiter nachhakt: Warum sachste denn dauernd: ›Ist doch logisch!‹, sagt er oft: Man wird doch mal was in Frage stellen dürfen? Der Niederrheiner hat, genau besehen, immer nur zwei große Themen: Essen und Sterben. Denn wir Niederrheiner können stundenlang erzählen, was wir gern essen und was wir nicht so gern essen und wie der und der gestorben ist und woran, und wie lang das gedauert hat, und welcher Arzt das alles verpfuscht hat, und wer schließlich das Ganze erbt, und daß gar nichts mehr da ist, weil, alles ist für die Operation draufgegangen, und wir hatten am Sonntag dicke Bohnen. Ich sage ja immer, man kann sich seinen Tod nicht aussuchen, aber das Essen schon, das ist doch wenigstens etwas im Leben. Die alte niederrheinische Geschichte von der Küche ins Krankenhaus, vom Krankenhaus auf den Kirchhof. Das sind die drei Ks des Niederrheiners, und von diesen Plätzen erzählt er auch immer sein Leben lang.

Mae West: You only live once, but if you do it right, once is enough. I eat the right foods, exercise, take care of myself to maintain my curves. I have improved the Venus de Milo, I have arms. I never worry about diets. The only carrots that interest me are the number you get in a diamond.

Hanns Dieter Hüsch: Ich eß ja am liebsten alles durcheinander. Ich knatsch mir die Kartoffeln und Soße, einfach durcheinander. Möhren mag ich ja weniger. Am liebsten eß ich ja Suppen. Oder Hülsenfrüchte. Da is ja auch alles durcheinander drin. Et kommt ja doch alles in einen Magen. Hamse schon Hunger? Pomm Fritz eß ich nich so gern. Bratwurst geht noch so eben. Ich eß auch gern mal en Spiegelei zwischendurch. Erbsensuppe schmeckt ja am besten im Winter. Mit Schwarzbrot und Butter. Schad is ja nur, daß man das meiste Essen nich bei sich behalten kann. Einmal stand ich vor einem Würstchenstand am Bahnhof, da höre ich gerade, wie die Verkäuferin an diesem Stand zu dem Herrn, der da stand, sagt: »Sagen Se mal, was hat er denn ganz genau gehabt? Er ist ja jetzt aus dem Krankenhaus wieder raus?« Da sagt der Mann zu der Verkäuferin: »Ja, wissen Sie, er hatte wohl so irgendwie Beschädigungen, die dann aber doch nicht reparabel waren, und das Andere weiß ich auch nicht.« Für die Verkäuferin war das klar, die kannte die Krankheit: »irgendwie so Beschädigungen haben«. Diese Krankheit gibt es nur am Niederrhein. 

Mae West: Almost anything goes, anywhere, if it is good and fast and amusing. 

Hanns Dieter Hüsch:  Ich hab’ immer Sätze aufgeschnappt. Das ist eine niederrheinische Krankheit, das Erinnern, und ich habe ja mal gesagt: Wir sterben am Erinnern. Es gibt keine stärkere Krankheit als die Erinnerung. Wissen Sie, wenn man sich am Niederrhein vorstellt, sagt man am besten gleich die Krankheit dazu, denn man kommt doch in fünf Minuten darauf. »Et is zuviel«, sagen die Niederrheiner oft, wenn sie mit dem Leben nicht mehr fertig werden. Und weil die Niederrheiner ja zur Schwermut neigen, das kommt vom dem weiten, flachen Land, von der Aussichtslosigkeit, und die macht schwermütig, tun sie sich sehr oft was an. Nicht alle, aber viele. 

Mae West: Ich war ein Kind des neuen Jahrhunderts, das gleich um die Ecke lag, und unerschrocken lief ich darauf zu. Sie erwähnten Essen und den Tod. Es gibt dann noch Sex. Was den Sex betrifft, ist der Mann von Natur aus ein Tier. Ich hatte immer meine besonderen Haustierchen. Bei älteren Liebhabern weiß man nie genau, wo die Leidenschaft aufhört und das Asthma beginnt. A hard man is good to find.

Hanns Dieter Hüsch: Ich bin ein Nomade, abends sitze ich schon wieder in den Zügen. Ich habe vieles im Wartesaal geschrieben, Leute beobachtet, Nachtschattengewächse, genau wie ich. Trunken war ich von diesen Nächten. Und dann Kartoffelsalat mit Würstchen, Kännchen Kaffee, Overstolz ohne Filter, fünfzig Stück am Tag mindestens.

Mae West: Man hat einen Cocktail nach mir benannt, den ›Mae West Martini‹. Er besteht aus Wodka, Mandellikör, Preiselbeersaft und einem Spritzer Melonenlikör. Und den wollen wir jetzt zusammen trinken und auf das neue Jahr anstoßen. Du kannst Mae zu mir sagen, Hanns Dieter.

Hanns Dieter Hüsch: Zehn Pils vor der Vorstellung machten mir früher nichts aus. Dann werde ich hier im Elysium wohl auch schon einen ›Mae West Martini‹ vertragen. Para el beneficio, liebe Mae! And a happy new year!

Zum Wahlausgang in den USA

In Europa glauben viele Leute, ohne es zu sagen, oder sie sagen es, ohne es zu glauben, daß einer der großen Vorzüge des allgemeinen Wahlrechts darin bestehe, zur Führung der Geschäfte Männer zu berufen, die des öffentlichen Vertrauens würdig sind. […] Was mich angeht, muß ich sagen, daß nichts von dem in Amerika Gesehenen mich berechtigt, dies für wahr zu halten. Nach meiner Ankunft in den Vereinigten Staaten entdeckte ich zu meiner Überraschung, wie sehr bei den Regierten das Verdienst verbreitet und wie wenig es bei den Regierenden vorhanden war. Es ist in den Vereinigten Staaten eine feststehende Tatsache, daß die bedeutendsten Männer selten zu öffentlichen Ämtern berufen werden, und dies trifft, wie man zugeben muß, in dem Maße zu, wie die Demokratie alle ihre früheren Grenzen überschritt. Ganz offenkundig hat sich der Bestand der amerikanischen Staatsmänner seit einem halben Jahrhundert außerordentlich verschlechtert. Für diese Erscheinung lassen sich mehrere Gründe anführen. Was man auch immer tue, es ist unmöglich, die Bildung des Volkes über eine gewisse Stufe emporzuheben. […] Eine Gesellschaft, in der alle Menschen hochgebildet wären, läßt sich daher ebensowenig ausdenken, wie ein Staat von lauter reichen Bürgern. […] Welch langes  Studium, welch verschiedenartige Kenntnisse sind notwendig, um das Wesen eines einzigen Menschen zu erfassen! Die größten Geister irren sich darin, und wie sollte es der Menge gelingen! Das Volk hat nie die Zeit und die Mittel, sich dieser Aufgabe zu widmen. Es muß immer in Hast urteilen und sich an das Hervorstechendste halten. Daher kommt es, daß die Schwindler aller Art sich so trefflich darauf verstehen, ihm zu gefallen, während seine wahren Freunde darin sehr häufig scheitern. Übrigens fehlt der Demokratie nicht so sehr die Gabe, verdienstvolle Männer auszulesen, als der Wunsch und die Neigung hierzu.

Alexis de Toqueville: Über die Demokratie in Amerika, (Hg.) J. P. Mayer, Th. Eschenburg, H. Zbinden, [1835; 1976], 226f.

Money to burn

Day by day, night by night / I ain’t gonna mind that warnin light / I’m findin out, it’s too late to turn / Got nothing to lose, and money to burn / Oh, money to burn / […] / Red light night / In your cheap sleazy blue suit / Tell me everything I wanna hear / Anything but the truth / […] / Day by day, night by night / I ain’t gonna mind that warnin light / I’m findin‘ out, its too late to turn / Got nothing to lose / Oh! And money to burn / I got money to burn (Samantha Fish. Runaway, CD (2011), Track 4: Money To Burn)

Egon Mushroom: Kommen Sie doch ’rauf auf die Bühne, damit ich Ihnen den Scheck überreichen kann! (Die Menge tobt. Eine Frau mittleren Alters steigt auf das Wahlkampfpodium und strahlt über das ganze Gesicht.)

Mrs. Middle America: (Hält ihre Hände vor ihr Gesicht.) Danke, Danke, Danke! (Nimmt den auf Pappe aufgezogenen Scheck entgegen.) 

Egon Mushroom: Wollen Sie nicht etwas sagen?

Mrs. Middle America: Oh ja, natürlich! Danke, Danke, Danke! Ich glaube an alles, was Sie tun. Sie benutzen Ihren Reichtum, um die Redefreiheit zu schützen. Gott schütze Sie! Ich habe Sie schon immer bewundert. Für freie Rede und das Recht, Waffen zu tragen! Danke für den Scheck! (Geht mit dem symbolischen Scheck über eine Million Dollar unter dem Arm von der Bühne ab.)

Egon Mushroom: Ich darf den Leuten im Publikum mal kurz erklären, wie das jetzt bis zum Wahltag am 5. November gehen wird. Sie müssen sich mit Namen und Adresse registrieren lassen, um meine Eingabe zum Erhalt der amerikanischen Verfassung zu unterstützen. Und jeden Tag wird durch eine Lotterie ein Gewinner von einer Million Dollar ermittelt werden. (Aufbrandender Beifall aus der vollbesetzten Halle, wo die Teilnehmer dicht an dicht nebeneinandersitzen.)

Egon Mushroom (strahlt): Sie glauben gar nicht, wie wohl mir das tut, diese Energie, die Sie hier zu mir herauf schicken, es entzündet ein Feuer in meiner Seele!

Die Menge (ruft im Chor): Mushroom! Mushroom! Mushroom! Mushroom! Mushroom!

Egon Mushroom: Danke, danke! Sie sind sehr freundlich. Ähem, ich möchte Sie hier nur darauf hinweisen, daß Sie hier im Staate Pennsylvania nur noch bis Mitternacht Zeit haben, sich registrieren zu lassen. Also: Registrieren! Registrieren! Registrieren! Denn vergessen Sie nicht: Präsident Dump ist der einzige, der die Demokratie retten kann. So! Wissen Sie, wenn man die Leute fragen würde, was wohl die inspirierendste Sache gewesen ist, die Menschen jemals getan haben, dann würden sie sagen: daß wir auf den Mond geflogen sind. Und wir werden bald auf dem Mars sein! Es wird eine Stadt auf dem Mars geben! Viele Städte!

Die Menge (unisono): Wir lieben dich Egon! Wir lieben dich Egon! Wir lieben dich! 

Egon Mushroom: Thank you, thank you so much! Vergeßt nicht, euch alle registrieren zu lassen, denn wenn Präsident Dump nicht wieder Präsident wird, bedeutet das das Ende der Demokratie in Amerika. Und das wollen wir doch wohl alle nicht? Man hat mich immer wieder gefragt, warum ich nicht selbst für diesen Job kandidiere. Zunächst einmal geht das schon aus formalen Gründen nicht, denn ich bin nicht in den USA geboren, und die Verfassung verbietet die Kandidatur eines Ausländers. Doch das macht mir gar nichts, ich hasse Politik. Ich mag es viel lieber, Dinge aufzubauen und vor allem Dinge produzieren zu lassen, die die Leute lieben.

Frau Pannemeyer (schaltet mit einer Fernbedienung den laufenden Fernsehapparat ab): Greulich, dieser Kerl! Mir wird ganz schlecht von diesem Gefasel. Aber Sie (wendet sich zu dem neben ihr sitzenden Prof. Friedrich Lensing) wollten sich diese Veranstaltung ja einmal zu Gemüte führen. Na, also ich bin bedient. Diese Amerikaner sind doch Idioten, die man für Geld zu allem bewegen kann. Die schnappen nach dem geheiligten Dollar ebenso wie unser Lumpi nach der Knackwurst, wenn man ihm eine hinhält.

Prof. Friedrich Lensing: Sie haben schon Recht, liebe Frau Pannemeyer, das ist die Neue Welt, das ist Amerika. Das Zahlungsmittel, der Dollar, ist das große Symbol dieses großen Landes. Alles wird ausgedrückt durch diesen Seelengeneralnenner und Lebensgradmesser. Vergessen Sie auch nicht, daß in Amerika die politischen Wahlkämpfe stets erst einmal Kämpfe um das Geld sind, die Zahlen sprechen für sich, es sind inzwischen dreistellige Millionenbeträge, die die beiden dort existierenden Parteien einwerben. Damit machen sie sich natürlich abhängig von den Geldgebern, die ihr schönes Geld ja nicht aus edelmütigen Motiven hergeben, im Gegenteil, sie wollen einen Gegenwert dafür haben. Wer das meiste Geld sammelt, hat die meiste Werbezeit im Fernsehen und im Internet. Er ist dann der Dollarkönig.

Frau Pannemeyer: Und das alles für diesen widerlichen Kerl, diesen Dagobert Dump, der so viel auf dem Kerbholz hat, daß er eigentlich für den Rest seines Lebens im Kittchen sitzen müßte. Selbst der größte Teil seines Geldvermögens gehört eigentlich gar nicht ihm, es beruht alles auf gefälschten Konten und anderen Schwindeleien. Und so ein Individuum, so ein Verbrecher war für vier Jahre Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Also, als er unlängst beinahe von einem Attentäter ermordet worden wäre, da habe ich ganz im Stillen das schon ein bißchen bedauert, daß der Schütze aus dem Hinterhalt nicht richtig getroffen hat. Denn das habe ich aus meiner Schulzeit denn doch fürs Leben mitgenommen: Der Tyrannenmord ist gerechtfertigt. (Fällt in den Zitiermodus): »Zu Dionys, dem Tyrannen, / schlich Damon, den Dolch im Gewande: / Ihn schlugen die Häscher in Bande, / ›Was wolltest du mit dem Dolche? sprich!‹ / Entgegnet ihm finster der Wüterich. / »Die Stadt vom Tyrannen befreien!‹ Das ist von Schiller, Friedrich Schiller. Ein deutscher Klassiker. 

Biggi Pannemeyer (Tochter von Frau Pannemeyer und Ärztin im Allgemeinen Krankenhaus Celle, die übers Wochenende zu Besuch bei ihrer Mutter in Hannover ist): Ach Mutter, nun laß’ mal gut sein. Das hilft uns auch nicht weiter, wenn sich die Menschen gegenseitig aus dem Wege räumen, nur weil dem einen die Nase des anderen nicht paßt. 

Frau Pannemeyer: Nase? Welche Nase? Dieser Dump ist doch von oben bis unten und von außen nach innen durch und durch verkommen! Ein richtiger Schweinehund. Es ist mir unbegreiflich, wie es tatsächlich Menschen geben kann, die einer solchen verabscheuungswürdigen Person eine Stimme geben können! Und dieser Mushroom ist auch nicht besser, ich will nicht wissen, wie der sich sein vieles Geld zusammengegaunert hat.

Biggi Pannemeyer: Das Vermögen dieses Egon Mushroom wird im ›Bloomberg Billionaires Index‹ auf 270 Milliarden Dollar geschätzt. Stell’ dir das mal vor! Das ist die tägliche Million, die er an die Wählermasse verschenkt, das ist ein Klacks für den. Das merkt der ja gar nicht, daß es weniger wird. Und ein richtiges Geschenk ist es ja auch eigentlich nicht, denn er erwartet sich davon ja die Wahl dieses Dumps und damit eine künftige Absicherung und Weiterentwicklung seiner Firmengeschäfte.

Prof. Friedrich Lensing: Diese eine Million ist ja doch sehr relativ. Für normale Leute mag das viel Geld sein und in ihrem Glücksrausch werden sie das Geld sicher bald durchgebracht haben, aber ein Vertreter der 400 reichsten New Yorker hat 1888 gesagt: »Ein Vermögen von einer Million ist nur respektable Armut.« Das bringt mich auf das Thema, weshalb diese sehr reichen Leute sich nicht einfach damit begnügen, ihren unglaublichen Reichtum zu genießen und sich auf die faule Haut zu legen, so wie ich das machen würde, wenn ich keine Geldsorgen mehr hätte und mich ganz meinen Studien widmen könnte. Die Reichen brauchen Aufmerksamkeit und Macht, und die erhalten sie nur, wenn sie in der Öffentlichkeit untereinander konkurrieren. Vor über zwanzig Jahren habe ich einmal dazu ein sehr interessantes Buch gelesen, es stammt von Richard Conniff und heißt ›Magnaten und Primaten. Über das Imponiergehabe der Reichen‹ (2002). Der Autor benutzt dazu den Zoomorphismus, das ist die Methode, Menschen so zu betrachten, als wären sie Tiere. Warum gibt es so viele Multimillionäre, die sich eigene Flugschiffe, ja sogar richtige Raketen zugelegt und sich in diese gefährlichen Vehikel begeben haben? Doch nur, um den anderen Millionären und Milliardären zu beweisen, daß sie besser sind als die anderen dieser kleinen Gemeinschaft. Dieser Richard Branson hat sogar eine Fluggesellschaft gegründet, nur um zu demonstrieren, daß er weit mehr als ein bloßer Angeber ist, obwohl er genau das ist. 

Biggi Pannemeyer: Haben Sie gehört, was dieser Mr. Mushroom am Ende seiner Rede gesagt hat. Moment, ich bekomme es noch ungefähr zusammen. Er hat gesagt, daß er Politik haßt und daß er es viel lieber mag, Dinge aufzubauen, vor allem Dinge produzieren zu lassen, die die Leute lieben. Ich finde das schon bemerkenswert, denn damit hat er seinen Geschäftspartner, diesen Mr. Dump, doch auf den zweiten Platz verwiesen und deutlich gemacht, wer wen dominiert. Dump ist sein Produkt und er setzt einen wenn auch sehr geringen Teil seines riesigen Geldvermögens dafür ein, daß dieser Dump als politische Person zum amerikanischen Präsidenten gewählt wird. Er ist seine Handpuppe.

Prof. Friedrich Lensing: Das haben Sie sehr gut gesehen, liebe Biggi, sie sind nicht nur eine gute Ärztin, der man vertrauen kann, sondern haben auch einen scharfen politischen Verstand.

Frau Pannemeyer: Ja, unsere Biggi war schon als kleines Mädchen ganz schön helle, nicht wahr, meine kleine Biggi?

Biggi Pannemeyer: Mutter! Aufhören! Genug? Du kannst doch in Gegenwart unseres gelehrten Gastes mich nicht so in Verlegenheit bringen.

Prof. Friedrich Lensing: Grämen Sie sich nicht, liebe Biggi, und machen Sie sich nichts draus, liebe Frau Pannemeyer, das ist eben so in Familien, entweder streitet man sich oder man ist, wie in ihrem Fall, die reinste Harmonie. Das ist doch eigentlich wunderschön.

Frau Pannemeyer: Wie recht Sie wieder einmal haben, lieber Herr Professor. Aber was soll nur aus der Welt und der Weltpolitik werden, wenn solche Ganoven mit ihrem vielen Geld und ihren primitiven Lockmitteln womöglich am Ende noch die Wahl gewinnen, weil der durchschnittliche Amerikaner nicht besonders schlau ist und auf jeden billigen Trick reinfällt?

Prof. Friedrich Lensing: Es läuft ja doch alles letztlich zusammen in der gewaltigen Maschinerie, die nicht nur in Amerika herrscht. Alles wird zur Maschine, und damit auch die Menschen, die mechanisch auf Reize reagieren und hilflos nach irgendetwas greifen, das ihnen als Lösung angeboten wird. Ihnen wird ein Theater vorgespielt vom weltgewandten Staatsmann, vom internationalen Bankherrn, vom vorurteilslosen Großindustriellen, von den vielen Schreiberseelen, die ihnen zugunsten Meinung produzieren, und alles im Dienste des Erfolgs und der Macht. Wir kommen nicht los von der Maschinerie, denn sie ist das unbewußte Ziel des abendländischen Menschen. Wir sind abhängig von kurzsichtigen Tagespolitikern, die nur bewegt werden von den Machtbedürfnissen der Gruppen und von solchen Unterstellungen, die jeweils für ihre Gruppe, ihre Partei die angemessensten sind. Alles wird zusammengehalten durch den Selbsterhaltungswillen einer Menschheit, die ihr Leben auf Selbsttäuschung aufgebaut hat, die nicht sehen will. So entsteht der Größenwahn und ihm entsprechen zufällige Sprecher dieses Größenwahns, die allen Ernstes Städte auf dem Mars bauen wollen. Haben Sie gehört, wie auf der Propaganda-Veranstaltung, die wir gerade im Fernsehen erlebt haben, ein Mann aus der Menge rief: »Go to the sun!«. Erinnert das nicht an den alten Mythos von Ikarus, der, übermütig geworden, immer höher flog, der Sonne entgegen, und die Sonne die mit Wachs zusammengehaltenen Flügel schmelzen ließ und er ins Meer stürzte? Das ist der Fluch der Maschine, unter die wir uns alle gebeugt haben und glauben, sie allein löse alle menschheitlichen Probleme. Wirft ein Staat auf dem Gebiet des Nachbarn Bomben ab und schießt mit Raketen, dann meint der Nachbarstaat, die richtige Antwort besteht darin, das dann auch zu tun. Irgendwann, nach vielen Toten und einer verwüsteten Landschaft, endet dieser Krieg dann, aber es gibt keinen Sieger, sondern nur Verlierer.

Frau Pannemeyer: Ach, lieber Professor Lensing, Sie haben ja in allem recht, aber die Wahrheit ist doch sehr schmerzlich anzuhören. Ich hole uns jetzt aus der Küche einen selbstgebrannten Zwetschgenschnaps, der soll uns auf fröhlichere Gedanken bringen.

Die Invasion

A: Was für eine Invasion!

B: Ja, die israelische Armee ist nie unbeschäftigt, sie sagen, sie müßten in den Südlibanon einmarschieren, sonst gebe es niemals Frieden im Nahen Osten.

A:  Was reden Sie denn da?! Wovon ich hier spreche, hat die Dimensionen eines Hitchcock-Films. Ja, es ist geradezu die Kopie eines Hitchcock-Films.

B: ???

A: The Birds!

B: ???

A: Also gut, Sie scheinen die Nachricht aus Hilario Ascasubi nicht zur Kenntnis genommen zu haben.

B: ??? Hilario Ascasubi? Was ist das denn?

A: Das ist ein Städtchen mit 5000 Einwohnern in Argentinien.

B: Ja, und? Welcher Operettengeneral hat nun schon wieder geputscht?

A: Kein Militärputsch, sondern die Invasion von tausenden von Vögeln, genauer: Papageien, in dem Städtchen. Sie sind überall. 

B: Aus einem nahegelegenen Zoo entflogen?

A: In Argentinien braucht man keinen Zoo, um Papageien zu halten, die leben in den umliegenden Wäldern des erwähnten Städtchens. Sie emigrieren in die Dörfer und Städte, weil ihr natürliches Habitat immer mehr entschwindet, genauer: weil die Menschen durch ihren Raubbau die Wälder abholzen und die hungrigen Vögel auf der Suche nach Futter und Wasser deshalb zu Tausenden Nahrung und Unterschlupf in den von Menschen bewohnten Gegenden finden.

B: Ach so, ja, das ist die Erklärung.

A: Aber nicht die Lösung, denn die Papageien sitzen auf den elektrischen Oberleitungen und zerbeißen diese, so daß es immer wieder zu Stromausfällen kommt. Außerdem hinterlassen sie überall ihre Ausscheidungen und machen die Einwohner wahnsinnig mit ihrem andauernden Kreischen.

B: Wird die Nationalgarde auftreten und die Invasoren mit den geeigneten Waffen erledigen?

A: Sind Sie wahnsinnig geworden? Es sind ohnehin durch die Umweltzerstörung viel weniger dieser schönen Kreaturen übrig gebliebenen als in früheren Zeiten; sie zu erschießen wäre ein zusätzlicher Umweltfrevel, dessen sich die Menschen schuldig machen würden.

B: Na gut, aber wie wird man dann dieser Situation Herr werden?

A: Ein örtlicher Biologe hat in einem Interview erklärt, wir müßten die natürliche Umwelt restaurieren, aber bevor das geschehen ist, müßten wir uns Strategien überlegen, wie man auf die harmonischste Weise in den Städten zusammenleben könnte.

B: In Argentinien? Was für ein Spaßvogel! 

Neue Gespräche im Elysium XIX

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt. 

Dorothy Parker meets Trude Herr

Dorothy Parker: I’m not a writer with a drinking problem, I’m a drinker with a writing problem.

Trude Herr: Ach, entschuldigen Sie, können wir diese Konversation auf deutsch fortsetzen? Das wäre schön.

Dorothy Parker: Aber ja, meine Liebe, verzeihen Sie mir, Sie sind ja nicht von hier.

Trude Herr: Was heißt von hier? Was meinen Sie denn, wo wir uns hier befinden? Man möcht’ meinen, Sie glauben, wir sind noch auf der Erde.

Dorothy Parker:  Of course not. What fresh hell is this?

Trude Herr: Das würd’ ich jetzt auch nicht wieder so sagen. Die Insel der Seligen ist zwar nicht die Sahara, die ich achtmal durchquert habe, doch sie hat auch ihre Vorteile.

Dorothy Parker: Alles was nicht Manhattan ist, kommt für mich überhaupt nicht in Frage, auch wenn ich zeitweise in Hollywood Drehbücher verfassen mußte. Aber die Leute da!

Trude Herr: Vielleicht darf ich mich kurz vorstellen, gnädige Frau. Ich bin die Trude Herr aus Köln, geboren 1927. Mit sechs Jahren habe ich erleben müssen, wie mein  Vater nach Polen, ins KZ verschleppt wurde. Der mußte dort dann bis zum Ende des Weltkriegs 1945 als Lokführer arbeiten. Meine Mutter hat uns Kinder während dieser Zeit alleine durchgebracht, an ihr konnte ich sehen, wie eine Frau auch unter schwersten Bedingungen das Leben meistern mußte und konnte. Ich bin dann mit 18 Jahren über die Dörfer getingelt und habe schließlich Büttenreden für den Sitzungskarneval geschrieben. Ich bin dann dort auch aufgetreten, aber der Sitzungskarneval wurde mir bald zu albern. Daß ich Sängerin bin, ist eine Verleumdung meiner Schallplattenfirma. 

Dorothy Parker: Ich bin die Tochter von deutsch-jüdischen und schottischen Einwanderern. Wir lebten in einem großen Apartment an der Upper West Side in New York City, das war damals die exklusivste Wohngegend in Manhattan. Wir waren gehobene Mittelklasse. Mein Vater hieß Rothschild und fuhr am Weihnachtstag in seiner Kutsche in die Lower East Side, um Umschläge mit Banknoten an die Armen zu verteilen. Aber genug von mir. Ich kenne Sie! Wenn man auf ›Youtube‹ ihren Namen eingibt, springt als Erstes ein Auftritt in Schwarz-Weiß aus dem Jahre 1959 auf den Schirm. (Sie rezitiert) »Ich will keine Schokolade. Ich will lieber einen Mann. / Ich will einen, der mich küssen / Und um den Finger wickeln kann.« Fabelhaft! Diese Direktheit! Das muß für die damalige Zeit in Deutschland doch für viele Zuhörer ein Schock gewesen sein. Eine Frau äußert sich ungeniert über ihre sexuellen Bedürfnisse. 

Trude Herr: Ach ja, erinnern Sie mich nicht daran. Ich weiß, ich habe solchen Schlagern viel zu verdanken, ich habe ja auch noch andere gesungen, und ich bin meinem Publikum immer dankbar für alles, das es für mich getan hat. Ich habe aber auch noch andere Sachen gemacht, verstehen Sie?

Dorothy Parker: Wem sagen Sie das! Wenn man seinen Ruf so einfach ändern könnte! Ich bin festgelegt auf die sarkastische Sprüchemacherin. Wenn den Journalisten in den USA nichts mehr einfällt, also praktisch jeden Tag, dann suchen sie sich einen meiner Sätze heraus, um ihre langweiligen Artikel etwas aufzupeppen. Wollen Sie mal ein paar hören? The first thing I do in the morning is brush my teeth and sharpen my tongue. – I like to have a martini, / Two at the very most. / After three I’m under the table, / after four I’m under my host. – If you wear a short enough skirt, the party will come to you. – I’d rather have a bottle in front of me than a frontal lobotomy.

Trude Herr: Köstlich, wenn ich nicht mein eigenes Theater vor Jahren aufgegeben hätte, dann würde ich Sie auf der Stelle engagieren. Wissen Sie, daß ich mit Mitte Zwanzig angefangen habe, Büttenreden zu schreiben. Das werden Sie jetzt als Amerikanerin nicht so kennen, also die Bütt, das ist rheinisch für ein Rednerpult, hinter dem man während der Karnevalszeit steht und eine meist gereimte lustige Rede hält. Ich selbst wollte aber nicht hinter so einem Pult stehen, da ist doch die halbe Figur weg. Einmal habe ich mich in einem zusammengerollten Teppich auf die Bühne tragen lassen, die beiden Träger haben mich dann auf der Bühne ausgerollt und dann stand ich als Cleopatra da und habe den Leuten im Saal den neuesten Klatsch aus Hollywood verzählt. Ich trat in der Rolle des unbedarften kölschen Mädchens auf, eines dicken Dummerchens. So habe ich mich dann bis zur Selbstverleugnung über meine Körperfülle lustig gemacht, und das ist beim Publikum wirklich gut angekommen. Einmal, da war der Krieg schon fast zehn Jahre vorbei, habe ich ein Besatzungskind gegeben, denn die Soldaten aus den USA sind damals manches Mal eine amouröse Verbindung mit den Töchtern des besetzten Landes eingegangen. Da waren dann natürlich auch Neger darunter. Und so habe ich dann gerufen: »Weil meine Mutter eso jern amerikanische Schokelad jejessen hat, bin ich eso schwarz jeworden.« Das ist sehr gut angekommen, das glauben Sie gar nicht. Dann bin ich noch etwas mutiger geworden und habe eine ›Gangsterbraut‹ gespielt, das wollten die Leute im Sitzungskarneval gar nicht hören, weil es aus dem Asozialenmilieu kam. Dann habe ich ›Die Karnevalspräsidentengattin‹ gegeben, eine Satire auf die Ehegattin eines Sitzungskarnevalspräsidenten, da wurden die Leute richtig böse, das mochten sie nicht, wenn man sie so dargestellt hat.

Dorothy Parker: Wie gut ich das kenne! Ständig hatte ich Anfragen für witzige Sprüche. Einmal habe ich dem Präsidenten der Filmgesellschaft von MGM gesagt: I know this will come as a shock to you, Mr. Goldwyn, but in all history, which has held billions and billions of human beings, not a single one ever had a happy ending.

Trude Herr: Ja, wissen Sie, ich habe ja auch viele Theaterstücke geschrieben, mit mir in der Hauptrolle, das war reine Unterhaltung, so wie man das im Volkstheater eben so macht. Also so Szenen wie diese hier mit einer vulgären Person, die in dem Stück, sich selbst bewundernd, in einem biederen Kostüm vor dem Spiegel steht und zu sich sagt: »Jetzt bin ich aber en fein Dame, leck mich am Arsch!« Und da war ich dann schon über 50 Jahre alt, da spielte ich eine Trinkerin, das versoffene Lenche, die sich in einer Kneipe zu Tode tanzt, nur um einen Schnaps zu bekommen. Das mochte das Publikum nicht. Die Leute wollen ein Happy-End. Sie wollten immer nur Klamauk sehen, aber man kann doch nicht ewig am Kronleuchter hängen. Ich saje, wat ich meine, jon ich och dodran kapott, / Schad ich mir och selvs, ich kruffe keinem en de Fott. / Mer hät doch e Hätz noch, / Ne Kopp, e Jewesse, / Un sin Meinung verkäuf me nit om Maat.

Dorothy Parker: Da müssen Sie mir jetzt aber weiterhelfen, ich beherrsche den Kölner Dialekt wirklich nicht.

Trude Herr: Ich sage, was ich meine, geh’ ich auch daran kaputt, / Schade ich mir auch selbst, ich krieche keinem in den Arsch. / Man hat doch ein Herz noch, / ’nen Kopf, ein Gewissen, / Und seine Meinung verkauft man nicht auf dem Markt.

Dorothy Parker: Das kommt mir sehr entgegen, auch wenn man sich ein bißchen was vormacht, wenn man glaubt, man sei unabhängig und müsse nicht für den Markt produzieren. 

Trude Herr: Ja, wissen Sie, da haben Sie schon recht. Als ich meine Filme über die Sahara verkaufen wollte, haben die Produzenten mir gesagt: Nein, das paßt doch gar nicht zu Ihrem Image. Machen Sie das doch nicht, singen Sie lieber was. Aber natürlich gibt es keine Komik ohne Salz. Was mich wirklich interessiert, das ist der Moment, wo die Komik umkippt, wo die Komik plötzlich nicht mehr komisch ist und wo die Tragödie plötzlich zum Lachen ist. Nur so Witze erzählen, das interessiert mich nicht. Ich habe versucht, Geschichten zu schreiben, die heute spielen und heute möglich sind. 

Dorothy Parker: Das genau habe auch ich versucht, über Dinge zu schreiben, die ich wirklich kenne: die Welt berufstätiger urbaner Singlefrauen in New York. Davon handeln meine Kurzgeschichten. Beobachtungen über die Damen der Upper-Class. Ich gebe die Alltagserlebnisse der städtischen Mittelklasse der 1920er Jahre wieder. Einmal habe ich, ich war zeitweise politisch sehr aktiv, die Charity-Ladies der High Society um Spenden für den ›Spanish Children’s Milk Fond‹ gebeten. Sie wissen, in Spanien tobte Mitte der dreißiger Jahre der Bürgerkrieg, aber die Damen der Gesellschaft haben nichts gegeben. Diese engherzige Mentalität habe ich in der Short story ›Das Butterkremherz‹ beschrieben.

Trude Herr: Ich bin politisch erzogen worden, wir waren Kommunisten. Wenn ich innerlich entscheide, dann entscheide ich, wie ein Kommunist entscheidet. So ähnlich wie es doch Herr Marx und Herr Engels dargelegt haben. Der Mensch ist gar nicht gut und das müßten wir einmal wissen, daß wir nicht gut sind. Ich bin ein einfacher Mensch und sehe die Dinge konkret. Ich bin nicht damit einverstanden, was man im Namen von Marx und Engels alles treibt. Ich weiß auch, daß die Kommunisten Mist bauen, allenthalben, aber irgendwo ist man doch da zuhause. Und dann habe ich den Ruck nach rechts gemacht und bin in die SPD eingetreten. 

Dorothy Parker: Espede?

Trude Herr: Ach so, ja, das muß ich erklären. SPD, das heißt auf deutsch: Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Die kommunistische Partei ist 1956 in der Bundesrepublik Deutschland verboten worden. 

Dorothy Parker: Wir haben in den USA nur zwei Parteien, die Demokraten und die Republikaner, aber beide werden vom großen Geld getragen. If you want to know what God thinks of money, just look at the people he gave it to. Die einen vertreten das große liberale Geld, die anderen das große konservative, oder, wie man in letzter Zeit feststellen muß, das große reaktionäre Geld. Alles spielt sich über den Dollar ab. Wenn Sie über keinen großen Wahlkampffond verfügen, können Sie es gleich bleiben lassen. Der Sozialismus oder gar der Kommunismus hat hier keine Chance. Der Kommunismus bestand zu Zeiten der Kommunistenverfolgung, als Senator McCarthy unter jedem Bett in Amerika einen ›Red‹ oder wie man auch sagte, einen ›Commie‹ vermutete, nur als Phantom.

Trude Herr: Wissen Sie, ich wollte irgendwann etwas ganz anderes machen. Und deshalb bin ich dann auch in die Wüste gefahren, mehrmals, immer wieder. Wüste, schon der Name ist falsch. ›Weite sei um dich‹, so begrüßt man sich hier. Für die Nomaden ist sie der Begriff der Weite, Platz, einfach Platz. Im Morgengrauen quält diese Landschaft noch nicht. Bevor die Sonne aufgeht, weht sogar ein frischer Wind, so, als sei dies ein Auftakt zu der Schreckensherrschaft des Tages, der Sonne, der Hitze. Und wenn erst die Helligkeit voll da ist, wenn der Sand wie Salz in den Wunden brennt, weiß man um die ungeheure Kraft der Wüste. Es ist eine Landschaft, die hart und klar ist, keine Lüge hat in ihr Platz. Sie verlangt das Äußerste und gibt gleichzeitig alles. 

Dorothy Parker: Ich bin doch immer eine Großstadtpflanze geblieben. Ja, ich war längere Zeit in Kalifornien, aber da hat es mir nicht gefallen. New York war für mich von Anfang an die ganze Welt. Deshalb bin ich immer wieder dorthin zurückgekehrt, und als ich älter und auch nicht mehr ganz gesund war, dorthin zurückgezogen und habe mich in eins dieser Apartmenthotels eingemietet, wo für alles gesorgt wird. In ›Ladies im Hotel‹ habe ich das vergeudete Leben jener Frauen beschrieben, die überall in den USA in diesen kleinen Apartmenthotels leben. Sie haben genug Geld und noch mehr Zeit, und ihre einzige Beschäftigung besteht darin, das eine auszugeben und das andere totzuschlagen. Sie sind nicht mehr ganz jung. Aber sie achten sehr auf sich und können sich gut und gerne auf weitere zwanzig Jahre freuen, in denen sie genau dasselbe tun werden wie im Augenblick, nämlich gar nichts. Aus den jungen Stenotypistinnen mit den falschen Erwartungen sind verbitterte ältere Frauen geworden. Diesen Gefühlszustand moderner Frauen habe ich immer wieder beschrieben.

Trude Herr: Vier Jahre vor meinem Tod bin ich auf eine Insel gegangen, eine Fidschi-Insel, um dort mich ganz dem Schreiben zu widmen. Mein Leben hat sich immer außerhalb der gesicherten bürgerlichen Grenzen abgespielt. Ich habe mit meiner Theaterarbeit und den Unterhaltungsfilmen viel Geld verdient, aber oft noch mehr ausgegeben, wozu ist Geld schließlich da? Ich habe aber nie vergessen, daß, wer das Elend der Arbeiterviertel um die Chemische Fabrik in Köln-Kalk übersteht, dies nie ohne irgendeinen Schaden tut. 

Dorothy Parker: Bei mir hat der Alkohol sehr stark in mein Leben hineingewirkt. Noch am Abend vor meinem Tode war ich betrunken. Man hat mit mir manche Versuche unternommen, mich von der Flasche wegzubringen, aber der Trieb zum Trinken war doch immer stärker. Und meine geliebten Chesterfield-Zigaretten!

Trude Herr:  Während meiner letzten Lebensjahre mußte ich manches Mal damit rechnen, daß man mir wegen meines starken Rauchens ein Bein abnehmen muß. Nicht zu reden von den tatsächlich hineinoperierten künstlichen Venen und den Bypaß-Operationen. Und mein Pillenbeutel hat mich stets begleitet, da habe ich immer wieder wahllos hineingegriffen.

Dorothy Parker: Ich habe drei Selbstmordversuche unternommen, aber alle drei sind gescheitert, stellen Sie sich das mal vor!  Was bin ich für eine Versagerin! Während dieser Zeit habe ich immer neue Inschriften für meinen Grabstein verfaßt. Dieser scheint mir am gelungensten zu sein, aber natürlich hat man ihn nicht auf meinem Grabstein eingemeißelt: Wherever she went, including here, it was against her better judgment.

Trude Herr: Ach du meine Güte! Sie sind ja wohl auch wie ich verbrannt worden, und meine Urne wurde im Familiengrab bestattet, und zwanzig Jahre nach meinem Ableben stand dann in der Kölner Presse: »Fast wäre das Grab von Trude Herr im Jahr 2011 eingeebnet worden. Hintergrund: Die Liegezeit des Grabs war nach 20 Jahren abgelaufen. Es fand sich zunächst niemand mehr, der die Liegezeit und die Kosten von 1. 500 Euro für weitere 25 Jahre verlängern wollte. Nach einer öffentlichen Debatte meldete sich ein anonymer Spender, der die Kosten übernahm. So ist die Liegezeit für das Grab von Trude Herr nun bis mindestens 2036 gesichert.« Ist das nicht komisch? Liegezeit! Wo ich doch nur als Dose voller Staub da eingebuddelt worden bin.

Dorothy Parker: Warten Sie, bis ich Ihnen die Geschichte meiner Urne erzählt habe. Ich gehe also in einem Krematorium in Flammen auf. Die Asche, oder genauer gesagt: einen Teil der Asche, denn man befüllt diese Gefäße niemals mit der ganzen hinterbliebenen Asche des Verstorbenen, da immer Knochenteile übrigbleiben, die man dann einfach in die Mülltonne wirft, also: meine Asche gelangt in eine Urne… und dann holt sie niemand ab. Ich war zu Lillian Hellman, die sich in den letzten Jahren meines Lebens rührend um mich gekümmert hat, nicht sehr nett und habe sie nicht als Gesamterbin in meinem Testament eingesetzt, sondern die NACCP, das ist die Organisation, der Martin Luther King jr. angehörte, die ›National Association for the Advancement of Colored People‹. Jedenfalls wird die Urne zu einem Wanderpokal und landet nach einigen Zwischenstationen, über zwanzig Jahre nach meinem Tod, im Jahr1988, bei der NACCP. Die hat ihren Hauptsitz in Baltimore. Nun kommt es. In einem nach mir benannten ›Memorial Garden‹ wird auf einer Rasenfläche die Erde ausgehoben und meine Urne dort beigesetzt. In Baltimore! Einer Stadt, wie eine Biographin völlig zutreffend schrieb, die ich niemals freiwillig betreten hätte. Wenn sie wenigsten so viel Humor bewiesen hätten und meine selbsterfundene Grabinschrift dort eingraviert hätten: ›Wo immer sie auch hinging, einschließlich hierher, sie tat es wider bessere Einsicht‹.

Trude Herr: Da sind Sie dann aber nicht auf dem neuesten Stand der Urnenverbringung. Vor drei Jahren, 2021, wurde Ihre Urne nach New York überführt und Ihr Grabstein hat eine neue Inschrift, die auch von Ihnen stammt: Leave for her a red young rose, / Go your way, and save your pity; / She is happy, for she knows / That her dust is very pretty.

Dorothy Parker: Well, home at last. Menschen sollten entweder jung oder tot sein.