Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog

Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.

Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«

Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.

Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.

Die Hinterwäldler oder: Dein Hintern hat kein Gesicht

Dr. Anneliese Sendler: Guten Abend, meine lieben Zuschauer an den Bildschirmen. Heute heißt unser Gesprächsthema: Ist das Fotografieren von fremden Körperteilen strafbar? Auslöser war eine Frau aus Köln, die einen Mann dabei erwischte, wie er hinter ihrem Rücken ihr Hinterteil fotografiert hatte. Sie erstattete bei der Polizei Anzeige und trat schon bald in einer Fernsehsendung als Gast auf, wo die Moderatorin sie vorstellte mit den Worten: »Wir wollen natürlich über das Video sprechen, das dein Leben verändert hat. Über 14 Millionen mal wurde dieses Video angeklickt.« Da ist also ausreichend Publizität erzeugt worden, das müssen wir hier nicht noch einmal wiederholen. Wir haben sie deshalb nicht eingeladen, weil wir einmal der parteilich nicht gebundenen freien Wissenschaft das Wort geben wollen, um diesen Fall zu beurteilen. Ich begrüße als ersten Gast Professor Hans Peter Duerr, Ethnologe und Kulturhistoriker, der mit seinem fünfbändigen Werk mit dem Sammeltitel ›Der Mythos vom Zivilisationsprozeß‹, erschienen zwischen 1988 und 2002, für Furore in der akademischen Welt gesorgt hat. Herr Professor, was sagen Sie zu unserem heutigen Thema?

Prof. Hans Peter Duerr: Nehmen Sie Japan als Beispiel. Im Zuge der ›Amerikanisierung‹ des Schönheitsideals haben sich viele Japanerinnen auch um eine stärkere Profilierung ihres Hinterns bemüht. Heute tragen zahlreiche Japanerinnen ›Wonder-Slips‹ oder ›Hip-Bras‹, breite Stoffstreifen, die unterhalb der Pobacken verlaufen, hochgeschnürt und um die Taille geschlossen werden. 

Dr. Anneliese Sendler: Sie wollen damit sagen, daß Frauen auf der ganzen Welt körperbewußt agieren und damit aber auch in Kauf nehmen, daß sie sexuell belästigt werden. Ja, dann möchte ich gleich eine weitere Gesprächspartnerin vorstellen, die Sexualwissenschaftlerin und Kulturanthropologin Dr. Ingelore Ebberfeld, die von Professor Duerr promoviert wurde und 2020 leider von uns gegangen ist. Dank der ›Artificial Intelligence‹ können wir sie aber zu uns rufen und uns mit ihr unterhalten. (Ein Hologramm baut sich rasch auf.) Herzlich willkommen, Frau Dr. Ebberfeld! 

Dr. Ingelore Ebberfeld: Wenn ich da gleich einhaken darf? Die ›Wonder-Slips‹ sind miederähnliche Unterhosen, die dem flachen Hintern Form geben und an entsprechenden Stellen abgepolstert sind. ›Hip-Bras‹ sind, wie Herr Duerr eben schon sagte, breite Stoffstreifen, die unterhalb der Pobacken verlaufen. Sie werden hochgeschnürt und um die Taille geschlossen. So geschnürt haben die Hinterbacken mehr Form. Der Sinn dieses Täuschungsmanövers ist offenkundig. Der runde Po soll anmachen, ganz so wie jede andere Art der Gesäßinszenierung auch.

Dr. Anneliese Sendler: Ja, freilich, das schon, aber es geht in der öffentlichen Diskussion um die Frage, ob es statthaft ist, bei dieser ›Gesäßinszenierung‹ auch Kameras zuzulassen. Es wird ja wohl auch Frauen geben, die einfach nur gut angezogen sich im öffentlichen Raum bewegen wollen, auf dem Weg zu einem Termin oder um zu shoppen. Und in diesem Zusammenhang wollen sie, glaube ich, nicht von hinten fotografiert werden, und wenn der Po auch noch so hübsch und rund aussehen mag.Unerwünschte sexualisierte Fotos oder Videos könnten künftig unter Strafe gestellt werden. Die derzeitige Bundesjustizministerin will bis Anfang 2026 einen Gesetzentwurf dazu vorlegen. »Der Rechtsstaat muß mehr tun, um Menschen vor Gewalt zu schützen«, sagte die SPD-Politikerin. Der grüne Justizminister von Nordrhein-Westfalen sagte: »Wir bestrafen das Fahren ohne Fahrschein, aber wenn jemand voyeuristische Bildaufnahmen von jungen Frauen macht, die im Park Sport machen, dann bestrafen wir das nicht. Das halte ich für ungerecht.« Ein sehr merkwürdiger Rechtsbegriff, der zugleich einen Gerechtigkeitsbegriff postuliert, indem er Äpfel mit Birnen vergleicht. Leider wird es noch nicht unter Strafe gestellt, daß Minister solche unsinnigen Vergleiche in aller Öffentlichkeit aufstellen. Das gibt mir die Gelegenheit, nun auch einen weiteren Studiogast einzuführen, Frau Chiara Battaglia von der politischen Partei ›Movimento Pomponazzi‹, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die während der italienischen Renaissance entwickelten Freiheitsvorstellungen in unsere Gegenwart zu transportieren. Die Bewegung hat sich nach dem italienischen Renaissancephilosophen Pietro Pomponazzi benannt, der von 1462 bis 1525 gelebt hat. Frau Battaglia, was halten Sie denn nun von dieser ganzen Angelegenheit? Lohnt es sich überhaupt, darüber zu reden?

Chiara Battaglia (Movimento Pomponazzi): Es handelt sich um ein Pseudoproblem. Wenn man von mir ein Foto macht, auf dem ich mein Gesicht verziehe, also nicht gut aussehe, bin ich verärgert und will es nicht publiziert sehen, aber wenn man meinen Hintern fotografiert, der kein Gesicht hat, ist das keine »digitale Gewalt«, wie dies die Justizministerin behauptet hat. Facebook zeigt Faces, man kann die Personen identifizieren, aber ein Arsch ist anonym, es findet eine Entpersonalisierung statt. Ich glaube kaum, daß anhand des Fotos, sollte es aus dem privaten Bereich des Spanners in die Öffentlichkeit gelangen, die Person, die zu diesem Körperteil gehört, namentlich identifiziert werden kann. Junge Mädchen hingegen, die vollkommen nackt mittels einer Webkamera sich in aller Öffentlichkeit zeigen, und dabei zusätzlich noch ihr Gesicht zeigen, tun sich damit selbst Gewalt an und werden das in einigen Jahren vielleicht bereuen. Und was ist mit Fußfetischisten, die die Schuhe und Stiefel, die ihnen auf der Straße entgegenkommen, fotografieren? Ist das »digitale Gewalt«, wenn man einen anonymen Schuh fotografiert? Muß die Frau in Stiefeln um ihre mentale Gesundheit fürchten, wenn man ihre Schuhe fotografiert? Sollte sie zur Polizei laufen? Ich habe schon Komplimente für meine schönen italienischen Schuhe auf der Straße erhalten, aber wenn meine Schuhe fotografiert werden, soll das dann ein Straftatbestand werden? Soweit sind wir gekommen, daß Menschen glauben, sie müßten bei jedem lächerlichen Anlaß den Staat zu Hilfe rufen. Wenn jemandem eine herausfordernde Geste eines Passanten nicht paßt, kann er zurückgestikulieren. Cazzo! sagt man bei uns in Italien in solchen Fällen. Fick dich! So regelt man in zivilen Gesellschaften solche Dinge. Aber was haben wir statt dessen? »Anzügliches Rufen, Reden, Pfeifen, Gestikulieren oder aufdringliche Blicke in der Öffentlichkeit« sollen zu einem Straftatbestand erklärt werden! Aufdringliche Blicke! Man stelle sich das Leben auf der Straße unter einer solchen gesetzlichen Vorgabe einmal vor. Und mit solchem Schwachsinn befassen sich heute manche Politiker, während die Massenmedien damit natürlich ein gern angenommenes Futter angeboten bekommen.

Ingelore Ebberfeld: Da bin ich vollkommen mit Ihnen d’accord. Nur muß man eben sehen, daß wir in jeder Stadt und jedem Dorf es mit Menschen zu tun haben, die einen ausgeprägten Sexualtrieb mit sich führen, ob das ihnen nun paßt oder nicht und auch unabhängig von der Frage, ob sie gewillt sind, diesen auf irgendeine Weise auch auszuüben. Und da muß ich dann doch sagen: So naiv, wie sich manche Frauen bei diesem Thema geben, verhält sich die Sache nicht. Es gibt kaum einen Mann, der einem Frauenhintern widerstehen kann. Und die Frauen wissen das, auch wenn sie natürlich nicht vierundzwanzig Stunden am Tag ihren Hintern bewußt oder unbewußt vorzeigen. Der Po ist einfach da. Man kann sich zwar schlappige Klamotten umhängen und so tun, als gäbe es ihn nicht, aber der Po einer Radfahrerin wirkt nun mal auf einem Fahrradsattel, ob sie will oder nicht, auf ihre Umgebung, und  zwar auf  zufällig vorbeikommende Passanten beiderlei Geschlechts. Bei der Übervisualisierung unserer Gesellschaft und bei der allgemeinen Verfügbarkeit von sehr guten Fotohandys muß man sich deshalb nicht wundern, wenn es gelegentlich zu solchen Zwischenfällen kommt wie dem in Köln. Ein Frauenpo, der, ob mit oder ohne Absicht, in der Rückstellung nach hinten gestreckt wird, verfehlt niemals seine Wirkung. Schauen Sie doch nur die Zeichnung ›Die Marktfrauen auf Rädern‹ an, eine 1972 entstandene Skizze für den Spielfilm ›Amarcord‹ von Federico Fellini. Wir sehen sechs Radfahrerinnen, die prominent ihr Hinterteil auf dem Fahrradsattel spazierenfahren. Das ist nicht nur eine private Obsession Fellinis gewesen, sondern er hat mit dieser Zeichnung sehr schön eine alte anthropologische Weisheit zur Anschauung gebracht. Beugt sich ein Schimpansenweibchen nach vorne und streckt dabei das Hinterteil ihrem Liebsten entgegen, so ist dies eine Aufforderung zur Kopulation.

Prof. Hans Peter Duerr: Die jungen Frauen der Motu tragen zwei bis drei von den Hüften bis zu den Knien reichende Grasschurze übereinander, deren hintere Partie sie beim Gehen aufreizend hin- und her schwenken. Wenn man in Nordamerika von einer Frau sagt: »Das hat sie mit ihren dicken Titten geschafft!«, heißt es entsprechend in Nigeria, sie verdankt dies ihrer »bottom power«. 

Jetzt aber noch ein Wort zum Thema Fahrradfahren. Als das Fahrradfahren 1817 durch die Erfindung des Freiherrn von Drais, der Draisine, aufkam und schon bald Mode wurde, wurde in England für die Frauen der ›Ladies accelerator‹ erfunden, mit Sitz, Fußplatte, einem Vorder- und zwei Hinterrädern, damit die Dame auf sittsame Weise den Antrieb ähnlich wie eine Nähmaschine betätigen konnte. So mußten die englischen Frauen nicht auf dem für unanständig empfundenen Herrensitz Platz nehmen. Gegen Ende des Jahrhunderts stiegen immer mehr jüngere Frauen aufs Fahrrad, auch wenn nicht wenig gegen dieses Fortbewegungsmittel seitens der Männerwelt eingewandt wurde. 1896 beruhigte ein deutscher Arzt in einem Zeitungsbeitrag alle um die weibliche Tugend besorgten Heuchler mit der Feststellung, seines Erachtens könnten ›auch bei stark vornübergebeugtem Oberkörper masturbatorische Neigungen nicht leicht entstehen‹. Doch gab es auch genügend Ärzte, die von den ›leicht entzündbaren Wesen‹ sprachen, wie es junge Frauen ihrer Ansicht nach nun einmal waren, die auf dem Fahrradsattel geheimes Vergnügen erfahren könnten. Man verdächtigte die jungen Frauen, auf dem Fahrradsattel auf seltsame Weise hin- und her zu rutschen und die Vulva am immer wärmer werdenden Ledersattel zu reiben. Für amerikanische Kirchenvertreter war das Fahrrad schlechthin ›the advanced agent of the devil‹. 

Ingelore Ebberfeld: Der ›Hottentottenhintern‹! Ein Po mit ausgeprägtem Fettsteiß. Mit der Einführung des Reifrocks am französischen Hof wurde er der letzte Schrei, oder wie man in Paris sagte: ›Cul de Paris‹. Seinen Ursprung verdankt er aber den Afrikanerinnen und ihren ausgeprägten Hintern. Das war das Geschenk der Natur an sie. Bei den Maori in Neuseeland bringen Mütter ihren Töchtern das aufreizende Wackeln bei, »onioni«, was nichts anderes als ›bumsen‹ bedeutet. Afrikanische Frauen lassen die Hinterbacken tanzen und rollen, die Jamaikaner haben das den ›African walk‹ genannt. Das Schwingen des Gesäßes weckt unzweifelhaft Assoziationen an den Geschlechtsverkehr. Das kräftige Wackeln mit den möglichst breiten Hüften wird als sicheres Zeichen für guten Sex verstanden. 

Prof. Hans Peter Duerr: Der römische Philosoph Lukrez führt dazu an, daß eine Frau dann am leichtesten empfange, wenn sie sich auf die Brüste lege und den Hintern »nach Art vierfüßiger Tiere« hochrecke. Lesen Sie das mal nach in seinem Buch ›Von der Natur der Dinge‹.

Ingelore Ebberfeld: Oh ja, und schon 1912 hat der Ethnologe Jean Wegeli festgestellt, daß es Männer gäbe, auf die die Hinterbacken einer Frau sinnlich stärker einwirken als der schönste Busen. Und diese Männer würden den Koitus bevorzugt von hinten vollziehen.  Der größte Anreiz, den Koitus von hinten auszuführen, liegt in der archaischen Form der Besitzergreifung der Frau. Es ist eine Begattungsart, die bei allen Tierarten praktiziert wird.

Prof. Hans Peter Duerr: Aus dem Jahr 1664 gibt es einen Bericht aus Amsterdam, wonach um die Sommerszeit die Badenden oft ganz nackt herumlaufen, »zum Scandal für ehrbare Frauenzimmer, aber freilich auch zur Augenweide der fürwitzigen, die sich an solchen monstris ergötzen«. Und im 18. Jahrhundert heißt es, daß sich an den englischen Stränden Frauen in großer Anzahl einfanden, um einen Blick auf die nacktbadenden Männer zu erhaschen, wobei sich die Damen der besseren Gesellschaft ihrer Operngläser bedienten. An manchen Stränden wurde den Männern allein deshalb das Nacktbaden verboten, weil sich dort ganze Trauben von Voyeurinnen bildeten. Für die Gegenwart kann ich mich auf Berichte meiner Informantinnen berufen, die mir immer wieder von den Gesprächen erzählten, die sie während eines Aufenthalts in öffentlichen Damentoiletten erlauscht hatten. Sie würden sich wundern, was für ein Gesprächston da herrscht und wie unbefangen zugleich über männliche Glieder geplaudert wird.

Dr. Anneliese Sendler: Es gab vor vielen Jahren, Ende der siebziger Jahre den Fall der Alice Black von der Frauenzeitschrift ›Modern Jane‹, die dem allgemeinen Publikum bestens bekannt ist durch ihre öffentlichen Aktionen gegen die »Darstellung der Frau als bloßes Sexualobjekt«. Sie hatte 1978 vergeblich versucht, auf dem Wege der Popularklage gegen die Zeitschrift ›Stern‹ rechtlich vorzugehen und nach der Abweisung der Klage gesagt: »Ab jetzt kann kein Zeitungsmacher mehr solche Titel bringen, ohne zu wissen, was er tut: was er Frauen damit antut.«

Chiara Battaglia (Movimento Pomponazzi): Dazu muß man aber sagen, daß Frau Black gegen ein Foto von Grace Jones vorgehen wollte, damals charakterisierte sie das Foto folgendermaßen: »Eine Schwarze, nackt, in der Hand ein phallisches Mikrofon und um die Fesseln – schwere Ketten.« Wer Grace Jones kennt, weiß, daß sie kein Opfer eines lüsternen Fotografen gewesen ist, sondern solche Inszenierungen bewußt geplant hat. So gibt es von ihr auch ein Musikvideo, wo sie einen Mann von hinten mit schwungvollen Beckenstößen traktiert, doggy stlye. Sie selbst ist als Sängerin und Schauspielerin ein maskuliner Typ, wobei sie aber immer eine sehr attraktive weibliche Frau bleibt und gerade diese Differenz zu ihrem Vorteil ausspielt. Es wäre also auch möglich gewesen, diese Szene als Bespiel für die ›Empowerung‹ der Frauen zu preisen, zu zeigen, daß auch Frauen sich männlich dominant verhalten können, aber das paßte Frau Black und ihrer Zeitschrift ›Modern Jane‹ nicht ins Konzept. Viel einfacher war es, das theatralische Foto zum Anlaß zu nehmen, um über eine  nackte schwarze Frau mit einem männlichen Glied in der Hand, angekettet, zu klagen. Das ist journalistische manipulative Projektion. Grace Jones ist wie Madonna eine harte Entertainerin, die alles, was nur entfernt nach ›Tabu‹ aussieht, sofort in ihre kommerzielle Verwertungsstrategie einbezieht. Solchen Leuten wird nichts ›getan‹, sie beherrschen ihre Kunden, ein zahlendes Massenpublikum. Frau Black geht es gar nicht um die Entwürdigung der Frauen, sondern darum, als journalistische Macht aufzutreten und einer anderen massenmedialen Macht zu demonstrieren, welche Macht sie selbst hat und haben kann. Alice Black unterscheidet sich nicht von Grace Jones, sofern es sich um die öffentliche Selbstdarstellung handelt. Beide sind kommerzielle Darstellerinnen, doch würde ich Grace Jones noch immer den Kredit des ehrlichen Showgewerbes zubilligen, während Alice Black an Oberflächenphänomenen der Zeit nagt. Übrigens hat die Schauspielerin und Sängerin Jane Birkin von sich Fotos machen lassen, die in dem Männer-Magazin ›Lui‹ abgedruckt wurden: Man sieht sie da splitternackt, mit Handschellen an Heizungskörper gefesselt, ihr nacktes derrière prall dem Auge des Betrachters entgegenstreckend. Später hat sie über diese Fotos gesagt: »Manchmal signiere ich heute noch das Foto, auf dem ich nackt an eine Heizung gefesselt bin. Ich finde mich darauf sehr schön.« Was will ich damit sagen? Es muß jeder Frau überlassen bleiben, ob und wie sie sich fotografieren lassen will. Natürlich sind heimliche Fotos unerlaubt, das ist doch gar keine Frage. Die Frage ist nur, ob dazu ein Gesetz erforderlich ist, um dies unter Strafandrohung zu stellen.

Dr. Anneliese Sendler: Mir fällt dazu eine Anekdote über den Soziologen Max Horkheimer ein. Der nahm einem Fotografen, der ohne vorherige Genehmigung eine Szene in der Frankfurter Universität ablichtete, die teure Hasselblad-Kamera aus der Hand, und warf sie auf den Boden, wo sie in tausend Stücke zersprang. Dann versicherte er dem perplexen Fotografen, er solle ihm die Nummer seines Bankkonto geben, damit er den geldlichen Gegenwert der Kamera überweisen könne. Das hatte natürlich Stil, so etwas konnte nur ein souveräner Großbürgersohn wie Max Horkheimer zustandebringen. Um aber nun unsere Debatte zusammenzufassen: Ich glaube, wir können feststellen, daß es eine überzogene Reaktion seitens des Gesetzgebers wäre, das Fotografieren eines weiblichen Pos unter Strafe zu stellen. Es gibt allerdings Stimmen, wenn auch sehr radikale, die ganz anderer Meinung sind. Als weiteren Gast in unserer Talk-Runde möchte ich nun wieder ein neues Hologramm aufrufen in Gestalt von Valerie Solanas, die 1988 gestorben ist und 1968 durch mehrere Schüsse auf Andy Warhol diesen lebensgefährlich verletzt hat. Zuvor hatte sie in einem ›Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer‹ auf sich aufmerksam gemacht und dazu eine Organisation mit dem Namen ›Society for Cutting Up Men‹, abgekürzt SCUM, gegründet (Das Hologramm baut sich vor den geladenen Studiogästen langsam auf und man sieht in voller Lebensgröße den Gast aus der Unterwelt.) Valerie, was sagen Sie zu der jungen Frau aus Köln, die ungewollt beim Joggen von einem fremden Mann von hinten gefilmt wurde und daraufhin eine Petition eingereicht hat, die nun zu diesem Gesetzentwurf geführt hat?

Valerie Solanas: Das ist doch ganz einfach. Ich fordere hiermit alle Mädchen und Frauen auf: Stecken Sie, wenn Sie unterwegs in der Stadt sind, eine Geflügelschere in Ihre Handtasche. Und wenn dann so ein Männerschwein mit einem Fotohandy kommt und Sie von hinten fotografieren will, dann treten Sie ihm zunächst einmal kräftig in seine Weichteile, das wird genügen, der fällt um wie ein Baum, dann Hose runter und ab mit dem Schweineschwanz, das geht ruck zuck. Der wird Sie nicht mehr belästigen und Sie ersparen sich den Papierkrieg mit der Polizei.

Dr. Anneliese Sendler: Aber, aber, so geht es ja nun auch nicht. Was Sie hier eben vorgeschlagen haben, ist ja eine Aufforderung zum Mord. Das Fotografieren lebender weiblicher Körperteile geht berührungslos vonstatten, das fotografierte Objekt erleidet keinen körperlichen Schaden.

Valerie Solanas: Erst wenn alle Männer von der Erde verschwunden sind, wird es Frieden für die Frauen dieser Welt geben. (Das Hologramm beginnt zu wackeln, und sackt plötzlich ins sich zusammen.)

Ingelore Ebberfeld: Tja, dann will ich mal versuchen, wieder etwas Sachlichkeit in die Debatte zu bringen. Lassen Sie mich dazu einen kurzen Blick zurück in die Geschichte tun. Im Juni 1977 rückte die Redaktion der Illustrierten ›Stern‹ einen halbnackten Frauenhintern auf einem Fahrradsattel aufs Titelbild. Es folgten weitere solcher Fotos. Daraufhin reichte die Zeitschrift ›Emma‹ eine Unterlassungsklage ein, die das Landgericht Hamburg am 26. Juli 1978 abwies. Das Urteil stellte fest, daß Frauen als Kollektiv nicht beleidigungsfähig sein können. Schauen Sie doch noch einmal die hier an der Studiowand angebrachte Fellini-Zeichnung der radfahrenden Marktfrauen an. Sechs Radfahrerinnen, die prominent ihr Hinterteil auf dem Fahrradsattel spazierenfahren. Wechseln Sie für einen Augenblick die Perspektive. Könnte man nicht über die dargestellten Personen sagen, daß sie voller körperlichem Selbstbewußtsein auf ihren Drahteseln sitzen, mit ihren prächtigen Hinterteilen, und die Fahrt sichtlich genießen. Die Dame in der Mitte des Bildes wirft dem Betrachter einen fröhlichen Blick zu, wissend, daß ihr Anblick beim fremden Beobachter ebenfalls freudige Gefühle auslösen wird. Das ist gesunde Sinnlichkeit, eine Feier des Lebens. Nur Vertreter der Kirchen, insbesondere der katholischen Kirche, werden dagegen den Tod und das Seelenheil der Verdammten beschwören und die schönen Körper dieser Frauen verwerfen.

Dr. Anneliese Sendler: Halt! Da haben Sie mir das Stichwort für unseren nächsten Gast gegeben. Uns zugeschaltet ist nun die ehemalige preußische Landtagsabgeordnete Heidrich, die sich während der Verhandlungen des Preußischen Landtags in der 28. Sitzung vom 16.12.1932 zu Wort meldete. (Ein Hologramm baut sich auf, noch etwas schwach, aber schon an Konturen gewinnend, und dann sieht man deutlich die Figur der Abgeordneten, die mit fester Miene dreinschaut) Frau Heidrich, ich grüße Sie, einen herzlichen Willkommensgruß zurück zu Ihnen ins ewige Schattenreich der Toten.

H. M. Heidrich, preußische Landtagsabgeordnete: Die heutigen Frauen preisen sich an, stellen sich zur Schau. So geht die Würde dahin und damit das Bestreben des Mannes, sie würdevoll zu umwerben. Lernt die Frau wieder, ihr Herz, ihre Seele wie ein köstliches Geheimnis zu wahren, ihren Körper als kostbares Naturgut zu behüten, so wird sie dem Manne nicht nur achtbar und liebenswert erscheinen, sondern ihn selbst kraft des ihr allein verliehenen Zaubers in die Schranken zurückverweisen, in denen beide Geschlechter dem Volksganzen Segen bringen können.

Dr. Anneliese Sendler: Ja, vielen herzlichen Dank für dieses Statement aus dem Jahre 1932. Ich muß dazu Folgendes sagen: Die Abgeordnete bezog sich mit ihrer Stellungnahme auf den so genannten ›Zwickelerlaß‹, eine Ausführungsbestimmung der Verordnung vom 22. August 1932. In dieser heißt es in Paragraf 1: »Das öffentliche Nacktbaden oder Baden in anstößiger Badekleidung ist verboten. Als öffentlich im Sinne dieser Bestimmung gilt das Baden, wenn die Badenden von öffentlichen Wegen oder Gewässern aus sichtbar sind.« Ein sozialdemokratischer Abgeordneter verwies in einer Protestrede auf die zur Kaiserzeit dominierenden großen Rücken-Dekolletés der Damen-Abendkleider. Eine sozialdemokratische Zeitung erwähnte, daß zu Hofbällen die Damen sogar angehalten worden waren, Abendkleider mit besonders tiefem Rückenausschnitt zu tragen. Diese Vorschrift sei von den eingeladenen Damen keineswegs als anstößig empfunden worden. Verrückte Zeiten waren das damals, nicht wahr? Ich sehe, daß unser italienischer Gast vehement mit den Armen gestikuliert, sie scheint ums Wort zu bitten.

Chiara Battaglia (Movimento Pomponazzi): Schauen Sie sich doch nur die Filme meines Landsmannes Federico Fellini an! Was sieht man? Schwellende Körperformen, wogende Busen, ausladende Hüften, pralle Hintern, erigierte Glieder. Ganz unbekümmert hat er das gedreht. Nicht erst seitdem eine Neofaschistin gegenwärtig in Italien den Staat anführt, hat sich dort, ja in ganz Europa, von den USA ganz zu schweigen, eine kulturelle Reaktion gebildet, die Filme, Fotos und Bücher wegen vermeintlich sexistischer Bilder oder Worte verbietet. Diese hinterwäldlerischen Heuchler tun so, als wären die Menschen aus Zuckerwatte oder seien ätherische Engel, während doch gerade das Gegenteil der Fall ist.

Dr. Anneliese Sendler: Ja, damit sind wir wieder einmal ans Ende unserer heutigen Sendung angekommen. Ich dank allen Teilnehmern, den lebenden und den toten, für ihre erhellenden Beiträge und verabschiede mich bis zum nächsten Mal mit einem herzlichen Servus, Ciao Ciao und auf Wiedersehen!

Reklamefahrten zur Hölle

In meiner Hand ist ein Dokument, das, alle Schande dieses Zeitalters überflügelnd und besiegelnd, allein hinreichen würde, dem Valutenbrei, der sich Menschheit nennt, einen Ehrenplatz auf einem kosmischen Schindanger anzuweisen. Hat noch jeder Ausschnitt aus der Zeitung einen Einschnitt in die Schöpfung bedeutet, so steht man diesmal vor der toten Gewißheit, daß einem Geschlecht, dem solches zugemutet werden konnte, kein edleres Gut mehr verletzt werden kann. […] Aber was bedeutet wieder jenes Gesamtbild von Grauen und Schrecken, das ein Tag in Verdun offenbart, was bedeutet der schauerlichste Schauplatz des blutigen Deliriums, durch das sich die Völker für nichts und wieder nichts jagen ließen, gegen die Sehenswürdigkeit dieser Annonce! Ist hier die Mission der Presse, zuerst die Menschheit und nachher die Überlebenden auf die Schlachtfelder zu führen, nicht in einer vorbildlichen Art vollendet? […] Sie erkennen, daß diese Staaten Strafparagraphen haben, welche das Leben und sogar die Ehre von Preßpiraten ausdrücklich schützen, die aus dem Tod einen Spott und aus der Katastrophe ein Geschäft machen und den Abstecher zur Hölle als Herbstfahrt besonders empfehlen. (Karl Kraus: Reklamefahrten zur Hölle, 1921)

Drei Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs hatten die ›Basler Nachrichten‹ einen Einfall, einen Presse-Einfall. Sie brachten den Einfall in die Form einer großen Annonce und versahen diese mit der fettgedruckten Überschrift:

Schlachtfelder-Rundfahrten im Auto!

In etwas kleinerer Schrifttype setzte man darunter:

Unvergeßl. Eindrücke

Dem geübten Zeitungsleser traute man zu, das abgekürzte Wort »Unvergeßl.« zu ergänzen in »Unvergeßliche«. Wenn man viel mitzuteilen hat, muß man sich beschränken. Um den Leser in einen Rundfahrten-Teilnehmer zu verwandeln, der zuvor 117 Schweizer Franken zu erlegen hatte, bevor er unvergeßliche Eindrücke von den Schlachtfeldern von Verdun mitnehmen durfte, wird dem noch zögernden Zeitungsleser versichert:

Keine Paß-Formalitäten!

So kann der Abonnement der ›Basler Nachrichten‹ so sicher wie in Abrahams Schoß sich auf die Rundfahrt begeben, die von seiner Zeitung noch mit dem werbenden Zusatz versehen wurde:

Als Herbstfahrt besond. zu empfehlen!

Dieser Hinweis erfolgte dann aber schon in einer sehr verkleinerten Schrifttype und erneut vertraute man auf die Fähigkeit des Abonnenten, abgekürzte Wörter wie »besond.« umgehend und ohne Schwierigkeiten in »besonders« umzuwandeln. Sodann wird der Leser mit der Fahrtroute vertraut gemacht, wozu auch Mitteilungen über die Art des Zuges (Schnellzug II. Klasse) und der Unterbringung (in einem erstklassigen Hotel) gehören. Doch dann wird es spannend. Um jede Überraschung während der Fahrt auszuschließen, wird dem Abonnenten mitgeteilt: »Sie fahren durch die zerstörten Dörfer ins Festungsgebiet von Vaux mit den riesigen Friedhöfen mit hunderttausenden von Gefallenen.« Als ob diese Information nicht schon genug an Information bedeutet hätte, fügt man zum weiteren Anreiz hinzu: »Sie besichtigen das Ossuaire« — Halt! Natürlich verzichtet ein anständiges Blatt niemals darauf, für alle verständlich zu formulieren, und so geht der Satz denn auch so weiter: »Ossuaire (Beinhaus) von Thiaumont, wo die Überreste der nicht agnostizierten Gefallenen fortwährend eingeliefert und aufbewahrt werden.« Mit dieser beruhigenden Versicherung, daß solch ein großer Friedhof noch immer über eine weitere Aufnahmekapazität verfügt, es sich also nicht um einen toten Ort handelt, vielmehr um eine fortwährend erweiterte Ruhestätte für die Toten des Weltkrieges. Damit aber auch für den hartgesottensten Schlachtfeldtouristen dennoch Gelegenheit ist, sich von den unvergeßlichen Eindrücken zu erholen, wird dem Abonnenten versichert: »bei reichlicher Verpflegung in erstklassigen Gasthäusern«. 

Die Ausgabe der ›Hannoverschen Allgemeinen Zeitung‹ vom 30. Oktober 2025 enthielt zwei bemerkenswerte Beiträge. Der eine war ein als redaktioneller Beitrag aufgemachter Artikel über den ›Fall Kentler‹. Die zweigeteilte Überschrift lautete:

Professor, Medienstar, Missbrauchstäter
Neuer HAZ-Podcast arbeitet den Fall Kentler auf

In einem weiteren Untertitel heißt es: »Der hannoversche Sozialpädagogikprofessor Helmut Kentler ist Hauptfigur in einem der größten Pädophilie-Skandale«

Damit ist der Boden bereitet für die in der gleichen Ausgabe abgedruckten Annonce. Die Stichworte »Hauptfigur« und »Skandal« geben den Ton vor. In der Annonce heißt es:

Echte Kriminalfälle, noch mehr Spannung!

Und zur weiteren Erläuterung wurde hinzugefügt:

Wahre Verbrechen, die unter die Haut gehen. 

Um den seriösen journalistischen Anstrich zu untermauern, wird des weiteren erläutert:

Neu: Der Fall Kentler – eine vierteilige Serie, aufwendig recherchiert und eindrucksvoll dokumentiert von der HAZ

Im Artikel wird von dem vielfachen Kindesmißbrauch berichtet, deren sich Kentler und sogenannte »pädophile Pflegeväter« schuldig gemacht haben. Das hält das Blatt nicht davon ab, aus dem sachlichen Bericht über ein Verbrechen zugleich einen Kriminalfall zu machen, der die Leserphantasie anregen soll. Denn zwar sind Kriminalromane, oder, wie die Diminitivform unter Lesern dieser Ware heißt: Krimis, natürlich erfunden, fiktiv, aber es gibt ja auch die Möglichkeit, die Spannung für den Leser noch zu steigern, indem man ihm versichert: 

Echte Kriminalfälle, noch mehr Spannung!

Ja, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, wird suggeriert:

Wahre Verbrechen, die unter die Haut gehen. 

Wie es den Opfern der pädophilen Verbrecher unter die Haut gehen mag, wenn sie mit solchen Totschlag-Zeilen konfrontiert werden, interessiert die Redaktion der ›Hannoverschen Allgemeinen Zeitung« nicht. Es gilt vielmehr der Grundsatz: Wenn Krimis Spannung bedeuten, wieviel mehr Spannung bedeuten dann erst »Echte Kriminalfälle«, oder, in noch schärferer Formulierung: »Wahre Verbrechen«. Ob die Leser dieses Blattes wohl bemerken, daß das wahre Verbrechen sich manchmal auch innerhalb der Redaktionsstuben einer Zeitung abspielen kann?

Der Vampyrdurst des Kapitals

A: Ja, da sind Sie ja, ich habe schon auf Sie gewartet. Alles bereit für den großen Tag?

B: Wie man’s nimmt. Für meine Kinder ist ›Halloween‹ durchaus ein großer Tag, auch wenn es jedes Jahr immer teurer für mich wird. Wußten Sie, daß es mittlerweile Leute in der Nachbarschaft gibt, die ›Halloween‹ ganz kommerziell aufgezogen haben? So gibt es bei uns ein Gelände, das mit selbst gebauten Grabsteinen, Skeletten und einer Guillotine ausgestattet ist. Das ist noch kostenfrei, aber auf einem Nachbargrundstück müssen Sie zwölf Euro hinlegen, um sich ordentlich zu gruseln. Das nennt sich ›Hardcore-Labyrinth‹, nur für Erwachsene. Man wird durch ein nächtliches Maisfeld geführt und engagierte ›Erschrecker‹ springen plötzlich aus dem Dunkel hervor und es gibt sogar Entführungen, bei denen man erst wieder freikommt, wenn man eine Reihe von Rätseln gelöst hat. Mich beschleicht einfach das Gefühl, daß hier der Besitzer eines S&M-Studios auf andere Art seinen Schnitt machen will. Ein berufsmäßiger Sadist. Da sagt der doch über seine Ambitionen: »Ich überlege, wie ich verschiedene Typen knacken kann – die Ängstlichen, die Coolen, die Poser.« Unangenehme Person, deshalb habe ich auch meine Mitgliedschaft in diesem Club gekündigt.

A: Was reden Sie da bloß? Glauben Sie, ich feiere diesen widerlichen amerikanischen Tag, an dem sich die Menschen bewußt infantilisieren und ihr bißchen Geld für solchen Blödsinn verschwenden?

B: Aber, aber, das ist doch alles für die Kinder, glauben Sie mir. Ich habe jedes Jahr an diesem Tag eine riesengroße Schale mit Süßigkeiten neben der Wohnungstür stehen, und wenn dann die gruselig verkleideten Kinder aus der Nachbarschaft bei mir klingeln, kriegt jeder etwas in den aufgehaltenen Beutel. Bei uns hängen auch keine künstlichen Leichen vor der Eingangstür und vor unserem Haus stehen keine Werwolf-Puppen.

A: Jetzt reicht es aber! Heute ist Reformationstag, Sie ungläubiger Thomas! Schon mal davon gehört? Offensichtlich nicht. Nun ja, Sie sind ja auch wesentlich jünger als ich und man kann nicht davon ausgehen, daß in den Schulen noch ordentlicher Religionsunterricht stattfindet. Aber seit 2018 ist der Reformationstag gesetzlicher Feiertag in Niedersachsen. Das war aber auch höchste Zeit, wenn man bedenkt, wieviele Feiertage es in den katholisch dominierten Bundesländern gibt. Die Katholiken wußten von jeher, wie man sich vor der Arbeit drückt. Nun sind wir Protestanten auch einmal an der Reihe, ähm, ich meine natürlich nicht, um uns vor der Arbeit zu drücken, sondern um unserem Glauben in angemessener Weise öffentlichen Ausdruck zu verleihen. Es geht jetzt gleich zur Kirche.

B: Ach so, diese Nummer meinen Sie. Dieser Luther hat das doch damals veranlaßt, diese Reformation. 

A: Mein lieber Herr Gesangsverein, nun nehmen Sie sich aber mal zusammen. So spricht man nicht über eine der bedeutendsten Gestalten der deutschen Geistes- und Religionsgeschichte! Es hat schwerer Kämpfe bedurft, die Reformation durchzusetzen! Das war ja kein Gesetzesentwurf, der in einem Parlament nach einer Mehrheit gesucht hat, das war harter, entbehrungsreicher Glaubenskampf, bei dem viele unserer Glaubensbrüder am Wegesrand liegengeblieben sind. Und diese andauernden Anfeindungen bis heute! Jetzt haben doch tatsächlich die Unternehmerverbände verlangt, den gerade erst eingeführten Reformationstag wieder abzuschaffen. Nun hören Sie sich diese Stellungnahme des Hauptgeschäftsführers der Unternehmerverbände Niedersachsen an: »Der Reformationstag ist ein Wahlgeschenk zu Lasten Dritter, nämlich der niedersächsischen Arbeitgeber. Dieser Tag kostet die Wirtschaft jedes Jahr aufs Neue Geld und Kapazität.« Und was sagt die Industrie- und Handelskammer dazu? »Zusätzliche Feiertage führen regelmäßig zu meßbaren Produktivitätsverlusten und erhöhen die Kostenbelastung für die Unternehmen.« Ja, wes Brot ich eß, des Lied ich sing. 

B: Mmhh, lassen Sie mich mal sehen (holt sein Smartphone heraus und tippt rasch etwas ein.) Aha! An diesem Tag sind Tanz-, Sport- und Zirkusveranstaltungen, Filmvorführungen, der Betrieb von Spielhallen, bis 13 Uhr auch der DVD-Verleih oder der Betrieb von Autowaschanlagen verboten. Kurios, besonders das mit den Autowaschanlagen. Darauf muß man erst mal kommen. 

A: Jaja, lassen wir diese stupiden Vorschriften beiseite, das interessiert mich jetzt ganz und gar nicht. Daß die Kapitaleigentümer dieses Landes ausgerechnet den Reformationstag abschaffen wollen, ist ein Skandal, der durch ihre Unwissenheit nur noch schlimmer gemacht wird. Denn ohne den Protestantismus gäbe es keinen Kapitalismus.

B: Ach was!

A: Ja, und ich habe hier die berühmte Schrift des deutschen Soziologen Max Weber, die das beweist. Sie heißt ›Die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapitalismus‹. Und jetzt stürmen wir die Empore der Apostelkirche und ich lese den dort Versammelten diese Stellen aus Max Webers Schrift vor. Die werden vielleicht staunen. Aber das soll ja auch so sein. Wir gläubigen Protestanten protestieren damit gegen den Versuch der niedersächsischen Kapitalisten, unseren Reformationstag wieder abzuschaffen im Namen ihres privaten Profits. Ohne uns wären diese Damen und Herren Charaktermasken gar nicht denkmöglich. Auf geht’s. (Sie betreten die Apostelkirche und steigen zur Empore hinauf. Herr A stellt sich an den Rand der Empore, zieht seine Fotokopien von ›Die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapitalismus‹ hervor und beginnt damit, den Text vorzulesen): 

»Ein Blick in die Berufsstatistik eines konfessionell gemischten Landes pflegt mit auffallender Häufigkeit eine Erscheinung zu zeigen, welche mehrfach in der katholischen Presse und auf den Katholikentagen Deutschlands lebhaft erörtert worden ist: den ganz vorwiegend protestantischen Charakter des Kapitalbesitzes. Fast überall da, wo überhaupt die kapitalistische Entwicklung in der Zeit ihres Aufblühens freie Hand hatte, die Bevölkerung nach ihren Bedürfnissen sozial umzuschichten und beruflich zu gliedern, finden wir jene Erscheinung in den Zahlen der Konfessionsstatistik ausgeprägt. Gerade eine große Zahl der reichsten, durch Natur oder Verkehrslage begünstigten und wirtschaftlich entwickeltsten Gebiete des Reiches, insbesondere aber die Mehrzahl der reichen Städte, hatten sich aber im 16. Jahrhundert dem Protestantismus zugewendet und die Nachwirkungen davon kommen den Protestanten noch heute im ökonomischen Kampf ums Dasein zugute. Es entsteht aber alsdann die historische Frage: welchen Grund hatte diese besonders starke Prädisposition der ökonomisch entwickeltsten Gebiete für eine kirchliche Revolution? Nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig von kirchlich-religiöser Beherrschung des Lebens war es ja, was gerade diejenigen Reformatoren, welche in den ökonomisch entwickeltsten Ländern erstanden, zu tadeln fanden. (Mittlerweile sind Kirchenbedienstete auf die Empore geeilt und zerren, bisher vergeblich, an Herrn A, der unbeirrt weiter aus Max Webers Schrift liest und nun, unter äußerster Bedrängnis, mit lauter Stimme in den Raum der Kirche ruft): Hier stehe ich, ich kann nicht anders! (Während die Kirchendiener nun Herrn A fest im Griff haben, übernimmt Herr B das Kommando, hält sich die ihm zuvor von Herrn A zugesteckte Fotokopie einer Passage aus dem ersten Band des ›Kapital‹ von Karl Marx, 1867 erschienen, vor die Augen und liest ab: »Der Kapitalist hat die Arbeitskraft zu ihrem Tageswert gekauft. Ihm gehört ihr Gebrauchswert während eines Arbeitstags. Er hat also das Recht erlangt, den Arbeiter während eines Tags für sich arbeiten zu lassen. Aber was ist ein Arbeitstag? Jedenfalls weniger als ein natürlicher Lebenstag. Um wieviel? Der Kapitalist hat seine eigne Ansicht über die notwendige Schranke des Arbeitstags. Die Verlängrung des Arbeitstags über die Grenzen des natürlichen Tags in die Nacht hinein wirkt nur als Palliativ, stillt nur annähernd den Vampyrdurst nach lebendigem Arbeitsblut. Arbeit während aller 24 Stunden des Tags anzueignen ist daher der immanente Trieb der kapitalistischen Produktion. Als Kapitalist ist er nur personifiziertes Kapital. Seine Seele ist die Kapitalseele. Die ökonomischen Charaktermasken der Personen sind nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten. Das Kapital hat aber einen einzigen Lebenstrieb, den Trieb, sich zu verwerten, Mehrwert zu schaffen, die größtmögliche Masse Mehrarbeit einzusaugen. Das Kapital ist verstorbne Arbeit, die sich nur vampyrmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt. Die Verlängrung des Arbeitstags über die Grenzen des natürlichen Tags in die Nacht hinein wirkt nur als Palliativ, stillt nur annähernd den Vampyrdurst nach lebendigem Arbeitsblut. Arbeit während aller 24 Stunden des Tags anzueignen ist daher der immanente Trieb der kapitalistischen Produktion. (Herr B ist sichtlich aufgeregt, zumal das Wort ›Vampyr‹ hat ihn in Feiertagsstimmung versetzt, und beglückt über die Gelegenheit, am Reformationstag dieses Wort öffentlich zur Kenntnis zu bringen, ruft er nach unten, in die inzwischen stehende Kirchengemeinde): Happy Halloween!

Wer kommt heute zum Bund?

Gewinne! Gewinne! Gewinne!

Großes Gewinnspiel! Auslosung vor großem Publikum. Jeder Gewinner erhält eine Bundeswehruniform als Einstiegsgeschenk!
Austragungsort: Großer Sendesaal des Funkhauses Hannover

Dr. Anneliese Sendler (die in ein eng geschnittenes Kostüm, einer Bundeswehruniform nachempfunden, eingekleidet ist): Ja, einen ganz herzlichen guten Abend, liebes Publikum hier in Hannover. Dies ist ja der Ort, wo so oft die beliebte Fernsehsendung ›Einer wird gewinnen‹ aufgezeichnet wurde. Manche Ihrer Großeltern werden sich noch daran erinnern, gell? Und wenn nicht, an den Moderator dieser erfolgreichen Sendung werden sich die Großeltern ganz sicher erinnern (Breitet beide Arme aus, streckt sie in die Höhe und ruft entzückt): Kuli! (Totenstille im Publikum) Sein bürgerlicher Name: Hans-Joachim Kulenkampff. Mein großes Vorbild. Was für ein Charmeur! Solche Leute fehlen halt im heutigen Mediengeschäft. (Fängt sich wieder, legt den Enthusiasmus ab und fährt normal fort.) Willkommen zu unserer Sendung ›Wer kommt heute zum Bund?‹, bei der junge Wehrpflichtige die Chance erhalten, zum Wehrdienst eingezogen zu werden. Ja, meine Damen und Herren, das muß ich Ihnen hier im schönen großen Sendesaal des Funkhauses Hannover nicht weiter erklären, aber denken Sie doch bitte an die vielen Millionen Fernsehzuschauer, die jetzt an ihren Apparaten sitzen und gern wissen wollen, worum es hier heute eigentlich geht. Also, wir haben in Deutschland nicht genügend Soldaten, die unser schönes Land gegen Angriffe von außerhalb verteidigen. Deshalb hat man sich seitens der Regierung entschlossen, ein Losverfahren einzuführen, das gewährleistet, daß wir über ausreichend Soldaten für den Fall verfügen, sollte einmal der Ernstfall eintreten, also, wenn der äußere Feind den Boden unseres Landes betreten sollte. Und damit das Ganze den Beteiligten auch ein gutes Gefühl gibt, wird es heute Abend und an den folgenden Abenden ein tolles Gewinnspiel geben, bei dem die in die engere Auswahl gekommenen jungen Wehrpflichtigen hier vor Ihren Augen und unter Teilnahme eines Millionenpublikums da draußen die Chance haben, schon morgen bei der Bundeswehr anfangen zu dürfen. Es wird heute Abend also nicht nur wie bei ›Einer wird gewinnen‹ einen Gewinner geben, sondern ganz, ganz viele! Und es gereicht diesem Land zur Ehre, solche mutigen Freiwilligen hier begrüßen zu dürfen, die diesem Land mit der Waffe in der Hand dienen wollen. (Die Moderatorin hält einen Moment inne und spricht dann im Normalton weiter.) Ich darf dann mal die Kandidaten bitten, nach vorne zu kommen. (Eine riesige gläserne Wand öffnet sich lautlos hinter der Moderatorin, und nach und nach betreten hundert junge Männer in Zivilkleidung den Sendesaal und stellen sich in Zehner-Reihen hintereinander auf.) Ja, herzlich willkommen, liebe Wehrsoldaten! Auch wenn heute nicht alle von Ihnen vom Los mit einem Gewinn bedacht werden können, so sind Sie doch alle für mich unsere Helden der Nation. Wir sind dankbar und glücklich, Sie unter uns zu haben. Auf Ihren Schultern ruhen die Sicherheit und der Frieden dieses Landes! (Dr. Sendler wirft den rechten Arm in die Höhe, während sie weiter mit der linken Hand das Mikrophon hält und darin hineinspricht.) Ja, und da ist auch schon die elektronisch betriebene Lostrommel, die jetzt gleich die ersten Glücklichen auslosen wird. Dem Publikum darf ich versichern, daß die Lostrommel zuvor von einem unabhängigen, staatlich geprüften Mechaniker und Notar auf Herz und Nieren geprüft worden ist, damit auch alles mit rechten Dingen zugeht und alles seine Ordnung hat. Jeder der jungen Bundeswehr-Aspiranten trägt eine Nummer auf dem Rücken seines Hemdes. Die Glückskugeln in der Lostrommel tragen ebenfalls alle diese Nummern. Sie sehen, alles ganz einfach, aber ungeheuer spannend, ich habe schon eine Gänsehaut vor lauter Aufregung. Dann darf ich mal die Regie bitten, die Lostrommel per Fernsteuerung in Gang zu setzen! (Sie hebt wieder ihren rechten Arm und winkt zu einem von den Zuschauern nicht einsehbaren Punkt weit oben unter der Saaldecke.) Und los geht’s! (Die gläserne Lostrommel beginnt sich zu drehen, um den Mischvorgang auszulösen, nach einigen Runden hält sie an und dreht sich dann in die andere Richtung, wobei eine kleine Schaufel mit einem Hohlraum in den Loskugel-Haufen hineingreift und eine Kugel aufnimmt und dann mit einer leichten Hebung die Kugel durch eine kleine Öffnung in einen schmalen Auffangbehälter fallen läßt. Eine Saalkamera zoomt auf die Kugel und zeigt in Großaufnahme die darauf erkennbare Zahl.) Nun wird’s aber spannend. (Die Moderatorin nimmt die Kugel aus der Halterung und zeigt sie der heranfahrenden Kamera.) Wir haben einen Gewinner! Die Ziffer 13 gewinnt! Bitte, Nummer 13, bitte kommen Sie doch nach vorne, damit ich Sie beglückwünschen kann! (Niemand unter den hundert eingeladenen Wehrdienstanwärtern rührt sich. Dr. Sendler wird ein wenig unruhig.) Nur keine falsche Scheu! Kommen Sie! Sie haben gewonnen! (Schaut mit zwinkernden Augen in die Kamera und ruft:) Gewinne! Gewinne! Gewinne! (Niemand rührt sich.) Die Glücksgöttin Fortuna will ihr reiches Füllhorn über Sie ergießen. Kommen Sie doch mal aus Ihrer Reserve. Wir wollen doch den ersten Gewinner bei der Wehrdienst-Gewinn-Lotterie begrüßen! (Keiner bewegt sich vom Fleck.) Ja, wenn das alles nichts hilft, dann muß ich Sie bitten, sich einmal herumzudrehen, damit man sehen kann, wer denn die erste Glückszahl auf dem Rücken trägt. (Keiner der jungen Leute dreht sich um. Durch den Sendesaal geht ein Raunen.) Ja, Herrschaften, Ihr könnt doch hier nicht den Betrieb aufhalten! Es war doch vor Beginn der Sendung verabredet, daß Sie nach der Ziehung einer Zahl Ihren Teil des Deals zu erledigen haben, indem Sie sich als der Gewinner präsentieren, wenn die Zahl der Loskugel mit der Zahl auf Ihrem Rücken übereinstimmt! (Die jungen Männer starren unbewegt vor sich hin und stehen ebenso starr auf ihren Plätzen.) Tja, nun bleibt mir aber wirklich keine andere Wahl mehr, liebes Publikum, wenn diese Herrschaften sich so anstellen. Saalordner, bitte zu mir! (Mehrere recht große stämmige Männer erscheinen von den Seiten des Raumes und schauen grimmig entschlossen drein.) Also bitte, nun drehen Sie bitteschön die jungen Herrschaften einmal um, damit man die Ziffern auf ihren Rücken sehen kann. Wir wollen heute Abend ja nicht nur einen Wehrdienst-Gewinner begrüßen, sondern viele weitere. Neue Soldaten braucht das Land, wenn ich mir einmal den Titel eines berühmten deutschen Schlagers ausleihen darf. (Kichert in sich hinein, fängt sich aber schnell wieder.) Es wartet auf die frisch gekürten Soldaten im hinteren Teil des Saales dann auch noch eine besondere Überraschung. Eine nagelneue Bundeswehruniform! Die dürfen die durch Los ermittelten Gewinner dann gleich in den Umkleidekabinen anprobieren und sich vor der Kamera als neue Mitglieder unserer Wehrgemeinschaft präsentieren. Einige der heute ausgewählten Soldaten werden bald näher an Rußland heranrücken, hat man mir gesagt, denn es ist die Stationierung einer Brigade in Litauen geplant. Also, einige unter Ihnen können sich schon bald den Wind der Fremde um die Nase wehen lassen. Wer noch keinen Jahresurlaub gebucht hat, hier wartet ein kostenloser Trip auf Sie. Draußen stehen schon mehrere Geländewagen der Bundeswehr, die die heutigen Gewinner der Wehrdienst-Auslosung in ihre Unterkünfte abtransportieren, ähh, transportieren werden. (Während die Moderatorin weiterredet, spielen sich hinter ihr rauhe Szenen ab. Da die eingeladenen Wehrdienstanwärter in der Überzahl sind, ist es für die Handvoll Muskelmänner nicht so einfach, diese zum Umdrehen ihres Körpers zu bewegen. Selbstverständlich geschieht dies nicht durch eine persönliche Ansprache, sondern mit Gewalt, aber sobald einer der Gorillas versucht, einen der avisierten jungen Männer umzuwenden, stürzen sich die anderen zur Wehrpflicht-Show Eingeladenen auf diese und werfen sie zu Boden. Da die Regie davon ebenso überrascht ist wie die Moderatorin und das Saalpublikum, bleiben die Kameras ›dran‹ und senden die sich zu einer gewaltigen Rauferei steigernden Szenen weiter.) Ja, um Gottes Willen, meine Herren, so benehmen Sie sich doch! Das ist ja furchtbar, was Sie hier tun. Sie sollen doch der Stolz unseres Landes sein. Wir müssen uns doch immer auf unsere zivilen Umgangsformen besinnen, es herrscht hier doch kein Krieg! (Die Regie hat nun begriffen, daß es keinen Sinn mehr hat, mit der Sendung fortzufahren. Plötzlich wird der Bildschirm schwarz, dann erscheint eine Informationstafel mit der Aufschrift: Technische Störung.)

›Die Lüge‹ und ›Die Wahrheit‹

Die Überschrift eines Artikels in der ›Süddeutschen Zeitung‹ hat zum Vorbild die BILD-Zeitung:

»Gar nicht wahr. Die Lüge ist zurück. Mit Macht. Als Macht.«

So formulieren Schlagzeilen-Redakteure, die ihrem geistig minderbemittelten Publikum etwas näherbringen wollen.

Wenn der Tennisspieler Becker in ein Londoner Gefängnis muß, weil er zu einem längeren Aufenthalt von einem englischen Gericht dazu verurteilt wurde, würde die BILD-Zeitung diese Pseudonachricht  ungefähr so aufmachen:

»Schock! Boris Becker im Knast. Ein Mörder ist sein Zellennachbar.«

Wir erfahren dann in dem Artikel der beiden Reporter: »Die Lüge ist zurück. Mit Macht. Als Macht.« Womit im Text die Schlagzeilen wieder aufgenommen werden, was als rhetorisches Stilmittel wirken soll. Dann geht es weiter: »Eben noch belächelt, verspottet, kopfschüttelnd bestaunt.« Womit die Lüge, genauer: »Die Lüge« gemeint ist. Dann folgt als Zwischenüberschrift in mehrfacher Vergrößerung: 

»Im Weltrisikobericht 2025 steht die Desinformation auf Platz eins der größten globalen Risiken. Vor Klimakatastrophen, vor Kriegen.«

Das ist natürlich ein Schock für den Leser, das hätte er nicht gedacht, daß es so schlimm um die Welt steht. Unwidersprochen wird den Autoren des ›Weltrisikoberichts‹ zugestanden, daß Kriege und ökologische Verwüstung der Erde weniger wichtig sind als »Desinformation«. Das mag daran liegen, daß die Leute, die solche Berichte schreiben, ganz im Feld der Information aufgehen und Kommunikation und Information als das Ein und Alles der Welt ansehen.

Einige Absätze weiter liest man dann: »Der Abschied von den Fakten ist der Abschied von der Demokratie.« Damit wird den Fakten ein Status zugeschrieben, den sie auch zu Zeiten der Dominanz der bürgerlichen Presse niemals hatten. Es war sicherlich der Anspruch des heute gern so genannten ›Qualitätsjournalismus‹, nur die Fakten zu bringen und nichts als die Fakten, doch die Produktion einer Zeitung läuft so nicht ab. Obwohl der gewissenhafte Reporter gewiß sich bemühen wird, das Geschehen vor Ort, sagen wir: einen Dachstuhlbrand, genauestens zu beschreiben, auch Augenzeugen zu befragen, so gerinnt ihm sein Artikel doch immer wieder auch zu einer Meinungsäußerung. Das hat Karl Kraus am Beispiel eines Wiener Dachstuhlbrandes anschaulich geschildert. Es gibt keine reinen Fakten, wie hier suggeriert wird. Selbstverständlich gibt es Lügen, die gezielt eingesetzt werden, um zu desorientieren. Aber diese absolute Entgegensetzung von Lüge und Fakten (die unterschwellig mit der Wahrheit, oder gar ›Der Wahrheit‹ gleichgesetzt wird) ist manichäisch. 

Richtiggehend apokalyptisch wird es aber, wenn gefragt wird: »Wieviel Zeit bleibt uns?« Man hört da förmlich die Uhr ticken und schaudert vor der dann wohl bald explodierenden Zeitbombe. Im Einjagen von Angst halten die beiden SZ-Reporter mit den Lügen-Verbreitern durchaus mit.

Es geht munter apokalyptisch weiter, wenn ein »Aufdecker« mit dem Spruch zitiert wird, »Womöglich schaufeln wird gerade unser eigenes Grab«. Der »Aufdecker« weiß auch, weshalb das so ist: »Weil wir blind und bequem sind«. Das soll sich aber ändern, denn eine ganze Reihe von Zeugen wird nun aufgerufen, die diese Blindheit und Bequemlichkeit des allgemeinen Publikums fortwischen werden, aber nur, wenn man auf sie hört. Was haben sie uns zu sagen?

Vorerst gar nichts, denn es wird erneut bekräftigt, daß nicht ein tatsächlicher Krieg die Gefahr darstellt, sondern der »Informationsbereich« als der Ort entdeckt wird, »wo der dritte Weltkrieg ist«. 

Es werden dann die bekannten Tatsachen über den jetzigen US-Präsidenten wiedergegeben, der nicht auf die Wahrheit schwört, sondern auf die ihm zugute kommende Lüge. Daß er damit an die Macht gekommen ist und dort bleiben will, ist aus seiner Sicht verständlich. Niemand bestreitet das. Es ist ein offenes Geheimnis. Leider lassen die Wahlgesetze der USA und anderer westlicher Demokratien es nicht zu, ihn aus dem Amt zu entfernen, zumal er trotz der erheblichen kriminellen Energie es bisher immer noch erreicht hat, daß alle Strafverfahren gegen ihn entweder eingestellt oder nicht weiter verfolgt wurden. Der junge Mann, der vor der Wahl ihn am Ohr getroffen hat statt, wie wohl ursprünglich beabsichtigt, in den Kopf, hat dies nicht verhindern können.

Es werden dann einige nützliche Abwehrmaßnahmen erwähnt, die den weltweiten Unfug entweder einschränken oder löschen. Das ist erfreulich. Das aus der Natur bekannte Prinzip, womit man das, was schädlich ist, mit ebendiesem Schädlichen auch bekämpfen kann (ein Programm, »das mit KI erkennt, wenn Texte durch KI verändert wurden«). Das kennt man am Beispiel des so genannten ›Wettrüstens‹ schon lange, so wie Polizei und Verbrecher in einem ständigen, nie zu beendenden  Wettkampf sich befinden.

Dann folgt eine starke Behauptung: »Europas Bürger stecken alle fest in drei, vier fünf großen Plattformen – X, Facebook, Instagram, Youtube, Tiktok –, auf die wir unsere Debatten, unsere Geschäfte und Teile unseres Privatlebens ausgelagert haben.« Dazu müßte man ermitteln, wieviel Prozent dieser europäischen Bürger das tun, was hier ohne weiteres behauptet wird. 

Der alarmistische Ton der beiden Reporter wird beibehalten: »Vielleicht noch bedrohlicher: Mit der Entwicklung generativer KI-Systeme wird eine neue Form der Einflussnahme möglich, die nur schwer zu erkennen ist, da sie auf die Nutzer – deren psychologische Profile mithilfe ihrer Social-Media-Aktivitäten längst gesammelt werden – individuell zugeschneidert ist.« 

Ja, schön ist das nicht, nur gehen die Reporter von einem Nutzertypus aus, der sich durch ausgesprochene Beschränktheit auszeichnet. Diesen Typus gibt es ganz gewiß, vielleicht sogar in überwiegender Zahl, aber so zu tun, als seien die Benutzer dieser Technologien von vornherein der Propaganda hilflos ausgeliefert, unterschätzt die Fähigkeit zur Differenzierung doch sehr.

Die Kritiker dieser Entwicklungen sind ›Star Wars‹-Fans. Sie streuen gern Zitate aus diesen Filmen in ihre Bewertungen ein. Das kann manchmal sehr aufhellend wirken, in diesem Fall aber wird damit lediglich das manichäische Weltbild gestützt: »Is the dark side getting stronger?« Die beiden Reporter sind sich zusammen mit den von ihnen Interviewten sicher: »Aber die Mächte des Guten müssen sich niemals verloren geben«. Etwas Heroismus muß es schon sein, und zugleich wird damit doch auch bewiesen, daß der Kampf gegen das Böse auch einen sportlichen Reiz haben kann.

Für einen Moment nüchtern geworden, erwähnen die beiden Reporter Jonathan Swift und seinen 1710 erschienen Essay ›Die Kunst der politischen Lüge‹. Es ist alles schon einmal dagewesen, nichts Neues unter der Sonne, aber dann wird diese Sicht gleich wieder aktualisiert, mit einem nicht ganz gelungenen Vergleich: »Nur hat man heute das Gefühl, die Lüge habe Raketentreibstoff getankt.« Und schon sind wir wieder in einer Episode von ›Star Wars‹, der Art von Unterhaltung, die sowohl Reporter wie die Kämpfer gegen die Desinformation als private Entspannungsübung bevorzugen.

ACHTUNG! Der Fließtext wird aufgelockert durch eine aufgeblähte Zwischenüberschrift:

»Der ›Volksverpetzer‹, mit der auffälligste Faktenchecker und Anti-AfD-Blogger in Deutschland, hat heute 700 000 Follower auf Instagram.«

Dieser dem allgemeinen Informationswohl verpflichtete junge Mann, der so typisiert wird: »Cargopants, Sneaker, Typ fröhlicher Student« — Was will er? »›Werbung für die Wahrheit‹ will er machen, so heißt das Buch, mit dem er es vergangenes Jahr auf die Bestsellerlisten schaffte.« Mit dieser erfrischend direkten wahren Information wenden sich die beiden Reporter an die Leser der ›Süddeutschen Zeitung‹, damit sie im Bilde sind und sich das Buch kaufen, das ihnen bei der Bewältigung der bedrohlichen Lage helfen wird. Wie bereits oben ausgeführt, ist ›Die Wahrheit‹ der natürliche Antagonist von ›Die Lüge‹, so daß man mithilfe der Lektüre dieses Bestsellers gleichermaßen der Wahrheit wie der Lüge auf die Schliche kommen kann. »700 000 Follower auf Instagram.« Ja, Wahnsinn. »La vérité est en marche et rien ne l’arrêtera.« (Die Wahrheit ist auf dem Vormarsch und nichts kann sie aufhalten) schrieb Emile Zola in seinem berühmten Aufruf ›J’accuse‹ (1898). Damit nicht genug, der »Typ fröhlicher Student« schaut mal schnell auf das stets bereitliegende Smartphone und ruft begeistert aus: »21 Millionen Aufrufe in den letzten 30 Tagen.« Es kann also doch nicht ganz so schlimm um unsere Welt bestellt sein. 

Quelle:

Roman Deininger und Kai Strittmatter: Gar nicht wahr. Die Lüge ist zurück. Mit Macht. Als Macht. Wie sie die Demokratie zerstört – und wer sich dagegenstemmt. Eine Reise an die Front. In Süddeutsche Zeitung, 03.10.2025

Es ist nur ein Übergang

Als ich ein kleiner Knabe war, da sagte zu mir mein Großvater: »Du bist in eine schwere Zeit hineingeboren. Sie ist nur ein Übergang vom Alten zum Neuen.« Schön, dachte ich, also wird das Neue wohl noch kommen. Als ich in die Welt hinaus fuhr, da sagte zu mir mein Vater: »Unsere Zeit, mein Sohn, ist nur eine Übergangszeit. Wir stehen mit einem Fuße im 19., mit dem anderen schon im 20. Jahrhundert.« Ich dachte: Herrlich! Da werde ich also das Eigentliche noch erleben. […] Da floh ich nach Rußland; aber Rußland befand sich gerade in einem Übergang. »Teufel«, dachte ich, »wo finde ich denn nun das Wesentliche?« Immer sagen die Leute: »Wir befinden uns grade im Übergang.« […] Die Menschen glaubten eben jederzeit: ihre Zeit sei nur ein Übergang. (Theodor Lessing: Es ist nur ein Übergang. In: Prager Tagblatt, 28.5.1926)

A: Der Kanzler hat einen bedeutsamen Satz von sich gegeben.

B: Schon faul. Aufhören! Verschonen Sie mich mit Verlautbarungen von Regierungsmitgliedern.

A: Ich glaube, Sie sollten sich den Satz ruhig anhören. Er lautet nämlich: »Wir sind nicht im Krieg, aber wir  sind auch nicht im Frieden.«

B: Na großartig, jetzt geriert sich der Kanzler schon als Aphoristiker. Was will er denn damit aber eigentlich sagen?

A: Nie sollst du mich befragen. Tja, der Satz hat es schon in sich, er ist vielsagend und sagt doch zugleich nichts.

B: Was soll das nun wieder heißen?

A: Sehen Sie, seitdem ein Regierungsmitglied den Satz äußerte, Deutschland müsse »kriegstüchtig« werden, und seitdem  der Herrscher von Rußland ständig unfreundliche Akte gegen seine Nachbarn unternimmt, ist man in deutschen Regierungskreisen bemüht, sehr viel Geld für die militärische Aufrüstung des Landes auszugeben, weil man meint, mit noch mehr Waffen sei die Sicherheit des Landes garantiert.

B: Da hat sich in der Vergangenheit schon mancher Machthaber gründlich verrechnet.

A: Aus der Geschichte wird generell nichts gelernt, das steht als Grundsatz so fest wie der Eiffelturm.

B: Ja, und was lernen wir nun aus diesem Kanzler-Satz?

A: Man muß den Satz auseinandernehmen, um den eigentlichen Sinn freizulegen. Vielleicht so: Wir leben in einer Übergangszeit, die sich dadurch auszeichnet, daß wir nicht im Krieg, aber auch nicht mehr im Frieden leben.

B: Das ist aber doch nur die banale Wiederholung dessen, was der Kanzler gesagt hat.

A: Sie verkennen die langsame rhetorische Vorbereitung einer gründlichen Analyse. Lesen Sie mal Karl Kraus, der hat immer Sätze wiederholt, um dann nach und nach den Sinn und den Unsinn solcher Sätze zu zeigen. Der Kanzler hätte auch sagen können: »Liebe Landsleute! Schwere Zeiten stehen euch bevor. Ich kann Ihnen aber versichern, daß durch die enormen militärischen Ausgaben der letzten Monate dieses Land bestens darauf vorbereitet ist, in einen Krieg mit Rußland zu gehen!«

B: Das würde der Kanzler niemals sagen, das wäre auch durch die Geschichte nicht gedeckt, wenn man nur an die Feldzüge Napoleons gegen Moskau denkt, von dem Hitlerschen Vormarsch in russische Gefilde ganz zu schweigen. Das waren von vornherein Pleiteunternehmen.

A: Allerdings, aber nachdem durch die Politiker in diesem Lande und die ihnen wohlgesonnenen Medien in den letzten zwei Jahren allmählich eine Stimmung für einen Krieg vorbereitet worden ist, kommt dann der Zeitpunkt, wo ein Kanzler dem Volk, das nun auch noch wieder in die Wehrpflicht hineingedrängt werden soll, einen Zwischenbericht zur Lage der Nation vorlegen muß. Das glaubte er jedenfalls, als er sein Kanzler-Selbst befragte.

B: Nun gut, wie lösen Sie denn aber nun den Kanzler-Satz vom Nicht-Krieg und Nicht-Mehr-Frieden analytisch auf?

A: Wie ich schon sagte, will der Satz auf ein Übergangsstadium hindeuten, so wie auch der alte Satz, der sagt: Si vis pacem para bellum. Auf deutsch: Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor.

B: Oho! Das klingt aber ausnehmend kriegerisch.

A: Das ist es auch, nur wird es durch diese Konstruktion des Kanzler-Satzes ein wenig verdeckt, denn der Kanzler will seinem Volk ja keine Angst einjagen, sondern eben nur sagen, daß es sich auf andere Zeiten vorzubereiten hat, ja, daß diese anderen Zeiten bereits angebrochen sind: Der nichtkriegerische Frieden, die Vorstufe oder der Übergang zum friedlichen Einsatz von Waffen für einen guten Zweck: den Frieden.

B: Nun versteigen Sie sich aber in die Art von Kasuistik, die ich bei Rechtsanwälten immer gehaßt habe.

A: Aber darum geht es doch in dieser Sache! Niemand ist bereit, offen auszusprechen, was man plant und vorhat, aber zugleich muß man aus Gründen der politischen Legitimität etwas dazu sagen. Und so sagt man eben: »Wir befinden uns nicht im Krieg, aber auch nicht mehr im Frieden.« Es bleibt offen, ob man bald wieder zum Frieden zurückkehren will, aber es wird dem äußeren Feind deutlich gemacht, daß man nicht vor einem Krieg zurückschrecken wird.

B: Und die Kriegserklärung geht natürlich nicht von uns aus, sondern v0n den anderen.

A: Wie bei jedem Krieg, selbstverständlich. Keiner will der Aggressor sein, deshalb sagt man dann: »Seit fünf Uhr fünfundvierzig wird jetzt zurückgeschossen!«

B: Ja, mir ist dieser Satz wohlbekannt. Aber auch in der Vorkriegsphase des Ersten Weltkriegs gab es Bestrebungen innerhalb der deutschen politischen Elite, den Beginn eines Krieges mit Rußland so aussehen zu lassen, als ob die Russen mit dem Krieg begonnen hätten und man sich nun tapfer zu wehren habe.

A: In unserem heutigen Fall ist tatsächlich Rußland das kriegführende Land, seit es die Ukraine überfallen hat. Mittlerweile aber werden Unmengen an Geld in die militärische Aufrüstung gepumpt und in diesem Zusammenhang fiel dem Kanzler dann plötzlich ein, daß das eigentlich ein Zustand sein könnte, der nicht mehr eindeutig zu bestimmen ist und deshalb hat er ihn zwischen Krieg und Frieden plaziert. Also das ist ungefähr der Zustand, den man zu beschreiben versucht, wenn man von »ein bißchen schwanger« spricht. 1982 hat die Schlagersängerin Nicole das Lied ›Ein bißchen Frieden‹ populär gemacht. Aber wir haben es heute mit einem Zustand zu tun, bei der führende Politiker dieses Landes singen: ›Ein bißchen Frieden, ein bißchen Krieg‹, und so wie es aussieht, läuft es auf ein ›Ein bißchen Krieg‹ hinaus.

B: Sie wissen aber schon, daß er den Satz: »Wir sind nicht im Krieg, aber wir sind auch nicht im Frieden« eingeleitet hat mit diesem Satz: »Ich will es mal mit einem Satz sagen, der vielleicht auf den ersten Blick ein bißchen schockierend ist.«

A: »Ein bißchen schockierend«! Da haben wir es ja, wie auf Stichwort. Es scheint keiner zu bemerken, daß mit diesem Geschwafel das mentale Gelände für Dinge präpariert wird, bei der die Bundesrepublik zum Aufmarschgelände und Schlachtfeld für einen Krieg werden wird.

B: Mir wird speiübel.

A: Ich kann es Ihnen nicht verdenken. Übrigens hat der Kanzler in einer privaten Unterhaltung, die für die Öffentlichkeit bestimmt war, verlauten lassen, er trinke jetzt gar keinen Alkohol mehr.

B: Aha! Nur im Zustand völliger Nüchternheit zieht man ins Feld. Wie sagt man? »Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient.« 

A: Das ist von Joseph de Maistre (1753—1821), einem katholischen Reaktionär.

B: Na bitte, und welcher Partei gehört dieser Kanzler an?

Polygynie in Venedig

Zum 99. Geburtstag am 28. Juni 2025, für einen der größten Komiker und Parodisten der Gegenwart: Melvin Kaminsky, besser bekannt als Mel Brooks

Der Hinrainer Rudi, der hat einen Stil. International Flair! Er kann zwar kein Englisch, aber er frisst einen Sushi. Er sauft einen Bardolino. Fährt einen Mitsubishi. Außerdem ist er sowieso international, weil, er ist ja mit einer Thailänderin verheiratet. Seine Frau ist eine Thaifrau! Und zwar schon die dritte. Warum? Das ist nämlich auch interessant. Das ist jetzt zwar ein anderes Kapitel, aber der Rudi sagt, die Thaifrauen sind zum Anschauen wirklich anmutig – aber, sagt er, haltbar sind sie nicht. Er sagt, er hätte jederzeit aus seiner Sicht auch eine europäische Frau geehelicht. Das wäre ihm wurscht gewesen. Polin, Ungarin – scheißegal, sagt er. Aber jetzt kommt es – er sagt: Die europäische Frau hat sich seiner Meinung nach mit ihrem enormen Selbstbewusstsein im Grunde selber sehr geschadet. Gell. Das sag nicht ich, das sagt der Hinrainer Rudi.
Gerhard Polt: Der Europäer. In: ders.: Drecksbagage. Anwürfe, Unterstellungen, aber auch Ehrabschneidungen, Zürich 2008, 31–39 (38).

A: Was für ein Sommer dieses Jahr, und dabei haben wir die Monate Juli und August noch vor uns!

B: Jaja, es ist ganz schön heiß und soll kommende Woche noch heißer werden. Bis zu 36 Grad! In New York sind schon 39 Grad erreicht worden. Global Warming!

A: Ach, hören Sie doch auf mit diesen klimakritischen Phrasen, ich kann es einfach nicht mehr hören.

B: Sie haben mit dem Thema angefangen, nicht ich.

A: Da haben Sie recht, Entschuldigung, aber diese Hitze steigt mir in den Kopf und nachts schwitze ich wie ein Schwein, muß immer wieder aufstehen und das Nachtzeug wechseln und wenn dann der Morgen naht, fühle ich mich wie zerschlagen. Das Schlimmste aber ist: seit einigen Tagen friere ich tagsüber, es ist so, als wäre unter meiner Haut eine Eisschicht eingewandert. Dazu kommt ein Gefühl der Übelkeit und des Schwindels. 

B: Wie bedauerlich. Dafür haben Sie draußen eine blühende Natur, wie man es im Sommer gewohnt ist. Wenn alles kalt und grau ist, können Sie zwar besser die Nacht überstehen, aber das ist dann auch schon alles. Die Aussicht darauf, daß bald schon wieder Weihnachten ist und in den Fußgängerzonen der Glühwein die Menschheit bedroht, ist ja auch keine schöne Aussicht.

A: Jetzt aber mal was Anderes. Haben Sie die sündhaft teure Hochzeit dieses Jeff Bozo mit dieser Schlauchbootlippenbraut in Venedig verfolgt? Das ist ja Kabarett live.

B: Es war schwer, diesem Pseudoereignis auszuweichen, die Medien haben sich darauf gestürzt wie eine Wespe auf das letzte Stück Zwetschgenkuchen in der Konditorei.

A: Allerdings! Es ging aber auch um viel Geld. Unglaublich, was diese Superreichen sich alles leisten können und wie sie das Geld aus dem Fenster schmeißen, als wären es Karamellen im Karneval.

B: Deshalb fand das Spektakel ja wohl auch in Venedig statt, wo in früheren Zeit wochenlang Karneval gefeiert wurde. Was müssen das für Zeiten gewesen sein! Wie schade, daß man das nicht miterleben konnte.

A: Venedig ist nicht mehr das, was es einmal war. Ein Doge hätte niemals diesem Bozo erlaubt, vier Tage die Serenissima zu okkupieren, auch nicht mit einer großen Geldspende an die Stadt, wie sie dieser Bozo getätigt hat.

B: Sie sprechen vom vielen Geld, das dieser Bozo, der übrigens richtig Bezos heißt und der Begründer des Versandwarenhauses ›amazon‹ ist, hat springen lassen. Eins verstehe ich dabei nicht: Wie kann ein Mann, der Milliarden Dollar flüssig zur Verfügung hat, am Ende eine Frau heiraten, die so aussieht? Eine Vogelscheuche allerersten Grades! Für so ein unansehnliches Wesen, das ja vielleicht innere Werte haben mag, gebe ich doch nicht das ganze schöne Geld aus. Und was noch schlimmer ist: Die hat der jetzt jahrelang am Hals. In diesen Kreisen halten solche Ehen möglicherweise nicht lange, aber ganz egal, wie lange er diese Person nun sein eigen nennen darf, es bleibt doch zu fragen: wieso ein so angejahrtes und aufgespritztes Modell, wo man für viel weniger Geld doch etwas weitaus Besseres bekommen kann?

A: Das sehe ich ganz genau so. Ich würde aber noch einen Schritt weiter gehen als Sie. Bei dem ergaunerten Reichtum dieses Herrn Bozo fragt man sich doch, wieso er sich auf eine Frau beschränkt hat. Wieso nicht zwei Frauen, drei Frauen, was sage ich?, einen ganzen Harem. Das Geld ist doch vorhanden und ich bin mir sicher, daß man auf der ganzen Welt ausreichend Frauenmaterial zusammenbringen kann, um einen netten Harem damit zusammenzustellen. Und vor allem junge, hübsche Frauen aus aller Herren Länder! Latinas, Muslimas, schwarze, weiße, gelbe Frauen, da bin ich ganz vorurteilslos. Alles zusammenkarren und dann vor die Weltmedien treten und sie mit ganzem Besitzerstolz den Kameras präsentieren. Das hätte Klasse und Stil. Aber das traut sich dieser kleine glatzköpfige Mann nicht. Er hat zwar viel Geld, ist aber völlig gefangen in einer kleinbürgerlichen Welt der Ein-Ehe. Pah!

B: So betrachtet, hat das viel für sich. Personen aus diesen Kreisen haben ohnehin keinen Ruf zu verlieren, können aber enorm hinzugewinnen, wenn es darum geht, etwas wirklich Aufregendes und Neues der Welt vorzuführen.

A: Da sind wir uns einig. Und im übrigen müßte dieser Bozo ja gar nicht die Ehe mit jeder der Frauen aus seinem Harem ›konsumieren‹, wie man das im US-amerikanischen Sprachgebrauch so nennt. Doch der ungeheure Neid, den alle Männer der Welt, ob nun Christen oder Moslems, empfinden würden, wenn sie wüßten, daß diesem Milliardär erlaubt ist, das zu tun, wovon diese auf eine Frau festgelegten Kleinbürger nur träumen können, das allein wäre ein maßloses Gefühl der Macht. Denn das ist doch wohl klar: es geht bei einem Harem nicht um Sex, sondern um die Darstellung von männlicher Macht.

B: Wenn es aber ganz stilgerecht sein soll, müßte dieser Herr Bozo vielleicht doch erwägen, wenn er sich so einen Harem einrichten läßt, daß er dann auch einen Haremswächter einstellt. Einen Eunuchen. 

A: Uii! Guter Gedanke, aber sicher schwierig in der Ausführung, denn wo immer diese Vielweiberei stattfinden soll, ob in den USA oder Europa, wird man auf ethische Vorbehalte stoßen. Denn Sie wollen doch nicht bloß einen Haremswächter engagieren, der nicht vollkommen echt daherkommt, oder?

B: Sie meinen: Kastriert?

A: In der Tat, das muß dann schon sein, wenn man den Anspruch erhebt, einen authentischen Harem zu präsentieren. Ich denke aber doch, es sollte sich eine Lösung dafür finden. Wissen Sie, ich bin ja gelegentlich bei diesen am Starnberger See stattfindenden Symposien eingeladen. Letztes Jahr waren Marquis de Sade-Tage angesetzt worden, und da war ein hochinteressanter Vortrag eines Professors der Münchner Universität über jüdische Beschneidungsrituale und orientalische Kastrationstechniken angesetzt, also der war schon sehr eindrucksvoll, muß ich sagen. Nachher hat man sich dann beim Champagner über den Vortrag unterhalten und da sagte mir ein Teilnehmer, er kenne Ärzte, die würden gegen Aufpreis solche Kastrationen fachgerecht an entsprechenden Subjekten vornehmen. Die Operation an sich ist eigentlich keine große Sache, das geht alles ganz klinisch vor sich, so wie die Ärzte in Saudi-Arabien ja auch versierte Techniker sind und es noch nie zu ärztlichen Kunstfehlern gekommen ist, wenn dort den verurteilten Verbrechern eine Hand abgetrennt wurde. Genauso geht es dann auch bei der Gonadektomie zu; einmal zack, und ab ist der Balkon. Sicher, es ist ein heikles Thema, aber man nimmt für solche Prozeduren ja auch keine Westeuropäer, ja nicht einmal Osteuropäer, obwohl der Markt dafür langsam heranwächst. Nein, Personen mit der Ambition, sich einen privaten Harem einzurichten, stützen sich voll und ganz auf den südostasiatischen Raum. So ein Bangladeshi ist schon für 1000 Dollar zu haben, natürlich ohne die Kosten der Operation, das kommt extra. Aber dann hat man einen wirklich authentischen Haremswächter, der zudem von ausgewiesenen medizinischen Fachärzten behandelt wird. Auch für die Nachsorge ist alles vorbereitet. Andererseits sollte man auch den gigantischen US-Markt nicht ganz außen vor lassen. Die Gefängnisse dort sind ja ohnehin seit Jahren überfüllt. Wieso sollte man da einzelnen Subjekten nicht die Chance bieten, sich gegen Hergabe der Hoden vom Strafvollzug freizukaufen? Natürlich müßte man eine strikte Vorauswahl treffen. Ordinäre Vergewaltiger kämen von vornherein schon einmal nicht in Frage. So ein Milliardärs-Harem muß schon auf einem gewissen zivilisatorischen Niveau gehalten werden. Also, ich würde sagen: wenn unter diesen Verurteilten in den amerikanischen Gefängnissen einmal ein Bilanzfälscher ist (die haben sie ja öfter da drüben), da würde ich sagen: Ja, weshalb denn nicht? Der bringt eine gewisse Bildung mit, denn ohne eine solche wäre man ja nicht Bilanzfälscher geworden, nicht wahr? Und so würde sich so eine Person auch ganz unauffällig in den Harems-Haushalt einfügen lassen, meinen Sie nicht?

B: Tja, für diesen Herrn Bozo ist der Zug in dieser Hinsicht abgefahren, aber es gibt ja noch andere reiche Leute auf dieser Welt. Man darf gespannt sein. Das werden sich die internationalen Medien nicht entgehen lassen.

A: Darauf können Sie wetten. Ach, es ist doch immer wieder nett, mit Ihnen so ganz zwanglos über interessante Themen der Welt zu plaudern.

B: Das denke ich auch, dann bis zum nächsten Mal, Frau A.

Fading Civilization. Part Five. Eine apokalyptische Serie

Die Apokalypse hat eine lange Geschichte. Nimmt man sich irgendein Ereignis der Gegenwart vor, so kann man meist ohne Mühe daran ablesen, daß, wie es in gängiger Alltagsrede heißt, »alles den Bach runtergeht«. In dieser Rubrik sollen solche Alltagserscheinungen beleuchtet und interpretiert werden, dabei prüfend, ob nicht doch ein Ende erreicht werden wird und welche Vorteile dies für die Erde dann doch hätte: »Eines ist auf jeden Fall gewiß: der Mensch ist nicht das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen Wissen gestellt hat. Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis diese Dispositionen ins Wanken gerieten, dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« (Michel Foucault: Les mots et les choses, 1966)

Ein Kakerlak sitzt in meinem  Salat!

In der Verwechslungskomödie ›Victor and Victoria‹ (Regie: Blake Edwards, USA 1982) sind zwei arbeitslose Künstler sehr hungrig, haben aber nicht genug Geld, um in einem erstklassigen Pariser Restaurant ihren Hunger zu stillen. Victoria Grant, gespielt von Julie Andrews, hat eine Idee. Sie betritt mit dem Chansonnier Toddy, gespielt von Robert Preston, das Lokal und verrät ihm, wie man auch ohne Geld sich satt essen kann. Sie bestellt einen gemischten Salat und, nachdem der hochnäsige Kellner verschwunden ist, öffnet sie ihre Handtasche, und schüttelt den Inhalt über der Salatschüssel aus. Aber es geschieht nicht das, was sie eigentlich damit bezweckt hatte, denn in der Handtasche hatte sie eine riesige Kakerlake (Cockroach) versteckt. Verstört sucht sie in dem Salat nach dem Insekt, doch sie findet es nicht. Der Kellner steht plötzlich neben Victoria und beugt sich über den Tisch. Toddy sagt mit bestimmtem Ton, daß sie noch eine weitere Flasche Wein haben möchten. Während der Kellner  die leere Flasche ergreift, läuft ein Kakerlak über seine Hand. Victoria erschrickt sich, springt auf und fängt an zu schreien. Sie fällt gegen den Kellner, der wiederum kopfüber auf einen Nebentisch stürzt. Toddy verlangt den Manager des Restaurants zu sprechen, doch der hat bereits den entsetzlichen Vorfall aus dem Hintergrund beobachtet. Mit scheinheiliger Höflichkeit entschuldigt er sich bei ›Madame‹ und erklärt, in den fünf Jahren, seitdem er das Restaurant leite, sei es nur zweimal vorgekommen, daß ein Kakerlak in den servierten Speisen gefunden wurde, dann nämlich, wenn die Gäste das Insekt selbst in ihr Essen placiert hatten, um die Restaurantleitung zu erpressen und damit um das Bezahlen der Rechnung herumzukommen. Während das Geplänkel seinen Fortgang nimmt, wird die Kamera in einer Großaufnahme auf eine übergewichtige Dame mit Hut und großer Perlenkette gerichtet, die skeptisch das Geschehen um sie herum verfolgt hat. Dann schwenkt die Kamera auf den Fußboden des Restaurants und man sieht einen der Schuhe der Dame. Dort, auf der Spitze des Schuhs hat der Kakerlak Platz genommen. Unternehmungslustig krabbelt er das Bein hoch, Richtung Norden, zu wärmeren Gefilden. Als der Kakerlak ungefähr in Höhe der Kniekehle angekommen ist, erfolgt ein scharfer Kameraschnitt auf Gesicht und Oberkörper der Dame, die unter einem entsetzten Aufschrei von ihrem Sitz auffährt. Und dann sieht man das Restaurant von außen, eine abendliche Szene mit vier matt erleuchteten, zu einem Drittel mit weißen Gardinen abgedeckten Fenstern. Es ist vollkommen still. Dann aber sieht man, ohne Ton, wie alle Gäste hochspringen, wild gestikulieren, auf die Tische springen und mit Gegenständen auf die Tische einschlagen. Und ein Paar, Victor und Toddy, verläßt, sich an den Händen haltend, mit schnellen Schritten das Restaurant. 

Oddio, che schifo! (Oh Gott, wie ekelig!) hörte man in den letzten Tagen in sämtlichen Restaurants der Stadt Rom die Gäste rufen. Doch nicht etwa ein Zechpreller hat einen Kakerlak in sein Essen getan, sondern die Kakerlaken selbst haben sich in Massen dazu entschlossen, die römischen Restaurants aufzusuchen. Periplaneta americana (Amerikanische Großschabe) nennt sie sich, oder wird fälschlicherweise so genannt, denn das Insekt ist asiatischen Ursprungs und hat sich per Schiff über den gesamten Mittelmeerraum ausgebreitet. Der XXL-Kakerlak hält sich tagsüber in der Kanalisation auf und ernährt sich, wenn er nicht gerade auf Restauranttischen sich bedient, von den auf Roms Straßen herumliegenden Speiseresten. Die Ewige Stadt hat es bis heute nicht erreicht, sich auch nur eine einzige Müllverbrennungsanlage anzuschaffen, weswegen denn auch anderes Getier wie die allezeit und überall präsente Ratte in Rom ihr Auskommen findet. Aber auch Möwen und Tausende von Wildschweinen halten sich an offenen Mülltonnen gütlich. Die Riesen-Kakerlake profitiert von der Klimaerwärmung und wandert aus den Mittelmeergebieten immer weiter nach Norden, denn dort findet sie Temperaturen vor, die ihr ein Überleben auch im Winter ermöglichen. Igitt! wird man denn wohl auch bald in den Restaurants Hannovers zu hören bekommen. Auf deutsch: Wie ekelig!

Der Maskenball des Ministers

Gibt es Geschäfte, in denen es eine Ausnahme von der Maskenpflicht gibt? Ja. Banken und Sparkassen. Hier gilt keine Maskenpflicht. Das Land möchte so offenbar gewährleisten, daß normale Kunden in den Filialen von Bankräubern zu unterscheiden sind. (Pressemitteilung aus dem Frühjahr 2020)

Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? (Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper, 1931)

Zwei CDU-Parteimitglieder unterhalten sich.

A: Wenn ich an manchen Tagen die Zeitung aufschlage, natürlich die ›Große Frankfurter‹, was sonst?, dann frage ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, sie nicht aufzuschlagen.

B: Ach, was ist denn passiert? Schon wieder ein Raubüberfall auf einen Juwelierladen? Wie gehen denn übrigens die Geschäfte in Ihrem Juwelierladen?

A: Lassen Sie uns gar nicht erst damit anfangen, über die Geschäftslage zu reden. Aber in gewisser Weise haben Sie ins Schwarze getroffen mit Ihrer Frage. Viel schlimmer kann es schon gar nicht mehr kommen. Hier (reicht Herrn B die Zeitung herüber). Da, ich habe die betreffende Seite schon aufgeschlagen. Wirtschaftsteil, Seite 17. 

B: (liest laut vor): »Nach Bekanntwerden interner Ermittlungsergebnisse aus dem Bundesgesundheitsministerium zur überteuerten Maskenbeschaffung in der frühen Corona-Zeit wächst der Druck auf das Haus von Nina Warken und auf ihren Vorvorgänger Jens Spahn (beide CDU). Hintergrund sind die Ergebnisse der Aufklärungsbeauftragten im Ministerium. Diese hatte Warkens Vorgänger Karl Lauterbach (SPD) eingesetzt, weil der Bundesrechnungshof Kritik an Spahns Maskeneinkauf geübt hatte und weil das Ministerium viele Klagen gegen Lieferanten verloren hatte, die sich geprellt sahen. Das Prozeßrisiko für die Steuerzahler beträgt bis heute 2,3 Milliarden Euro.« Donnerlüttchen, da liegt der Hund begraben. 

A: (nimmt Herrn B das Blatt aus der Hand und liest weiter): »Der Zeitung liegen exklusiv Teile der Arbeitsergebnisse der Aufklärungsbeauftragten vor. Demnach könnte der Schaden für die Steuerzahler noch viel höher sein als angenommen. Vermutlich hat das Gesundheitsministerium in der Anfangsphase der Pandemie im Frühjahr 2020 bis zu 623 Millionen Euro zu viel gezahlt, obgleich die Fachabteilung des Hauses zu wesentlich niedrigeren Preisen geraten hatte. Das wären noch einmal 156 Millionen Euro mehr als bisher bekannt. Wichtige Teile des öffentlichen Preisrechts hat das Ministerium entweder nicht gekannt oder ignoriert. Die Milliardengeschäfte könnten daher nichtig sein.«

B: Das ist ja furchtbar, ganz furchtbar. Der arme Jens Spahn, den habe ich immer für einen ordentlichen Politiker gehalten, der hat doch schon während der schrecklichen Pandemie in einer Rede im Bundestag gesagt: »Wir werden einander viel verzeihen müssen.« Und dann hat er nach dem Ende der Pandemie daraus ein ganzes Buch gemacht. Ob er es selbst geschrieben hat? Das weiß man bei Politikern aller Couleur nie so genau. Egal, das Buch hat auch einen Untertitel: ›Wie die Pandemie uns verändert hat – und was sie uns für die Zukunft lehrt. Innenansichten einer Krise‹. 

A: (mit grimmiger Miene) Sätze wie diese sind wie ein Bumerang, sie  kommen zurück und treffen den Sprecher. Denn jetzt kommt’s. Hören Sie zu (liest weiter aus dem Artikel vor): »Spahn hat gegen mehrfache, sehr ausdrückliche Hinweise seiner Mitarbeiter in der Abteilung 1 des Ministeriums einen sehr viel höheren Preis mit Gewalt durchgesetzt.« Mit Gewalt! Gegen die ausdrücklichen Hinweise der Mitarbeiter! 

B: Ogottogott, ogottogott! Das hätte ich dann doch nicht gedacht, daß dieser sympathische junge Mann zu sowas fähig ist. Was hat er sich dabei bloß gedacht. Wer gibt schon gern freiwillig mehr Geld aus als nötig ist? Ich sage doch auch im Kaufmannsladen um die Ecke nicht: Ach, berechnen Sie ruhig mehr als mein Einkauf eigentlich kosten würde, ich hab’s ja. Und warum sollte ich Ihnen nicht eine Freude machen und völlig überteuerte Waren kaufen.

A: Hier kommt die Pointe der Geschichte! Sind Sie bereit? 

B: Nun spannen Sie mich doch nicht so auf die Folter!

A: (liest): »Man könnte vermuten, daß Spahn das für seine CDU-Freunde unter den Maskenhändlern gemacht hat.«

B: (völlig entgeistert, schluckt und spricht dann nur stockend weiter): Aber…das…ist…doch…nicht…möglich. Das macht man doch nicht, und wenn man auch ein noch so loyales Parteimitglied ist. Als Minister ist er doch dem Staatswohl, dem Allgemeinwohl verpflichtet. Artikel 56 des Grundgesetzes! »Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.« 

A: Ja, die Papierfassung einer Eidesformel klingt immer sehr schön und erhaben, doch die Wirklichkeit sieht anders aus. (Macht eine Handbewegung nach unten, wie als schließe er den Deckel eines Sarges): Der Mann ist erledigt. Toast, wie man in den Vereinigten Staaten sagt. Und man muß ihn ganz, ganz schnell loswerden. Der ist das reinste Leichengift. Raus damit aus der Partei. Ein Parteiausschlußverfahren muß sofort ingang gesetzt werden. Der zieht uns alle in den Abgrund. Wie stehen wir als Partei denn jetzt da? Wir sind doch Christenmenschen und nicht Betrüger und Parasiten, die auf dem Rücken des Steuerzahlers sich zugunsten von Parteifreunden bereichern und wie die Made im Speck des Staatskörpers verhalten. Das sind doch die Gründe, weshalb so viele Leute diese AfD-er-Partei wählen. Ich kann förmlich die Wut riechen, die die Wähler ergreift, wenn Sie  solche Meldungen hören.

B: Ich bin fassungslos. Wer hätte das gedacht, daß so etwas möglich ist, und das zu einer Zeit, wo Millionen Menschen vom Tod durch das Virus bedroht waren. Und da kommt dieser Kerl daher und schustert seinen Parteikumpanen die völlig überteuerten Preise zu. Dieser Zynismus! Und dann stellt der sich auch noch im Bundestag hin und sagt: »Wir werden einander viel verzeihen müssen.« Ja, das schlägt doch dem Faß den Boden aus! So ein Schweinehund, so ein elendiger! Tut so, als sei er vom Allmächtigen dazu bevollmächtigt, sich selbst vorab zu entschuldigen und zu entschulden, wo er gerade krumme Dinger als Minister gedreht hat. In China würde man ihn nicht nur aus der kommunistischen Partei ausschließen, der würde im Schnellverfahren liquidiert werden, als chinesischer Volksschädling. 

A: Nun beruhigen Sie sich doch. Es wird ja sicher wohl weitere Konsequenzen geben. Das heißt: noch ein Untersuchungsausschuß mit weiteren Einzelheiten. Aber im Endergebnis, da können Sie Gift darauf nehmen, wird garantiert nichts dabei herauskommen. Man kennt das doch schon von den mit schöner Regelmäßigkeit publizierten Berichten des Bundesrechnungshofs. Jedesmal liest man darin die haarsträubendsten Dinge über sinnlose Steuergeldverschwendung. Aber haben Sie jemals gelesen, daß einer der Schuldigen dafür ins Gefängnis gewandert ist? Natürlich nicht, wir sind ja in Deutschland. Und erst recht Politiker sind absolut gefeit gegen diese Angelegenheiten. 

B: Diese Type ist seit kurzem Fraktionsvorsitzender der CDU-CSU-Bundestagsfraktion. Und ich sage: heraus mit ihm! Wie auch aus allen anderen Ämtern und Mitgliedschaften. Der ist auch Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung. Man denke! Was hat der Altbundeskanzler Ludwig Erhard alles für das deutsche Wirtschaftswunder getan, alles im Dienste des Allgemeinwohls. Friedlich hat er seine tägliche Zigarre geraucht, und nun haben Schakale Platz genommen am reichlich gedeckten Tisch der deutschen Nation. Selbst wenn man diesem Spahn sein Wohnhaus wegnehmen und sein Privatvermögen beschlagnahmen würde, die Summe aller Werte ergäbe auch nicht annähernd die Summe, die er durch sein betrügerisches Verhalten den deutschen Staat gekostet hat. Wir sollten eine Unterschriftenaktion starten und alle CDU-Mitglieder zum Austritt aus der Partei auffordern, wenn nicht unverzüglich dieser Spahn aus der CDU hinausgeworfen wird!

A: Nun, manchmal reicht die Maske eines Biedermanns eben aus, um einen Banküberfall durchzuführen.

Neue Gespräche im Elysium XXV

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 – um 180), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.

Shere Hite meets Stendhal

So ist für »Kristallisation« der Liebe bei Stendhal Kommunikation kaum noch nötig, und, wenn sie kommt, kann sie das Gebilde zerstören, weil sie das »nein« ermöglicht.
Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/M. 1982, 168

…dann zerriß er leise die Schnürbänder des Gewandes, das Mieder sprang auf, und die zwei weißen Köstlichkeiten zeigten sich in allen Prächten. Auf Silberschimmer dieses Busens blühte ein paradiesisch Rosenpaar. Er berührte sie leise mit den Lippen, ließ diese dann liebkosend dem Umriß der Brüste entlang gleiten. Rosalinde lächelte Gewährung in unerschöpflicher Güte und mühte sich, seine Zärtlichkeiten gleichwertig zu erwidern.
Théophile Gautier: Mademoiselle de Maupin – Doppelliebe [1834]. In: ders.: Romane und Erzählungen (Hg.) D. Oehler, Wiesbaden 2003, 29–220 (216)

Shere Hite: Der Wald war meine erste Liebe. Er schien mit mir zu sprechen, und ich hatte das Gefühl, daß auch die Bäume mich liebten und mir helfen wollten. Ich verspürte stets den Impuls, die Baumstämme mit den Armen zu umschlingen. Ich wollte ihre Kraft, ihre Festigkeit an meiner Brust fühlen.

Stendhal: Wenn ich während des Pariser Frühlings aus dem Fenster schaute und die knospenden Lindenbäume sah, überkam mich das Gefühl, in diesen Bäumen meine ersten Freunde in der großen Stadt gefunden zu haben.

Shere Hite: An einem jener Abende verspürte ich ein seltsames Begehren, ein tiefes Sehnen, das aus dem unerreichbaren Innern meines Körpers zu kommen schien. Bald entdeckte ich, daß ich das Gefühl verstärken konnte, indem ich den Körper gegen das Bett drückte und die Beine hin und her bewegte. Ich preßte den Körper gegen das Bett, bis das Gefühl, anstatt zu enden, immer heftiger und immer fordernder wurde. Eines Tages nahm ich dabei eine wunderbare Explosion tief in meinem Körper wahr. Der Genuß war wie ein elektrischer Schlag zwischen meinen heißen, sich krümmenden Beinen. Ich wollte es immer wieder tun, und ich tat es immer wieder. Dann tat ich es jeden Tag. 

Stendhal: Ja, liebe Madame Hite, das war eine schöne Beschreibung Ihres sexuellen Erwachens, die Sie mir da eben gegeben haben. Meine erste sexuelle Erfahrung machte ich mit einer Mailänder Hure. In meinem Roman ›Lamiel‹, der erst 1889 veröffentlicht wurde, beschreibe ich dieses angeblich so einschneidende Erlebnis und lasse eine meiner Figuren fragen: Comment, ce fameux amour ce n’est que ça! Ist die Liebe weiter nichts? Auch ich habe mich im Laufe meines Lebens mit dem Phänomen der Liebe immer wieder beschäftigt, allerdings durfte ich angesichts der damaligen Zeitverhältnisse nicht so offen schreiben und sprechen, wie Sie das soeben demonstriert haben. Die Liebe war mein Hauptthema, beim Schreiben und in meinem eigenen Leben. Sie kennen vielleicht den von mir entdeckten Vorgang der »Kristallisation«? Nein? Dann will ich Ihnen das einmal beschreiben. Die Kristallbildung hört in der Liebe fast nie auf. Ich verstehe unter Kristallbildung eine Art Fieber der Einbildungskraft, durch das ein meist ganz gewöhnlicher Gegenstand bis zur Unkenntlichkeit verändert und zu etwas Besonderem wird. Bildschöne Frauen machen schon am zweiten Tage nicht mehr den gleichen Eindruck. Das ist ein großes Unglück, denn es stört die Kristallbildung, es läßt ihr nicht genügend Raum. Da ihre Reize allgemein sichtbar und gleichsam ein Aushängeschild sind, müssen auf der Liste ihrer Liebhaber mehr Dummköpfe, Prinzen, Millionäre und so weiter stehen. Sie, verehrte Madame Hite, sind übrigens wirklich bildschön.

Shere Hite: Ja, ja, ich weiß, jetzt sind aber genug Süßholz geraspelt und versteckte Beleidigungen ausgesprochen worden. Ich warte immer noch auf die Beschreibung Ihrer Beobachtung, auf die Definition der Kristallbildung.

Stendhal: Oh, entschuldigen Sie. Eine sachlich-poetische Beschreibung des Vorgangs können Sie in einem Nachlaßtext von mir finden, betitelt ›Der Salzburger Zweig‹. Ich schrieb diese Reflexion, nachdem ich am 5. und 6. Januar 1810 im österreichischen Hallein das Salzbergwerk besucht hatte. Man verkaufte dort Zweiglein, die im Salzbad Kristalle angesetzt hatten. Hier, ich habe den Text bei mir. (Liest vor): Im Salzbergwerk von Hallein bei Salzburg werfen die Bergleute einen entlaubten Baumzweig in die Tiefe der verlassenen Schächte. Zwei bis drei Monate später finden sie ihn durch die Wirkung des salzhaltigen Wassers, das den Zweig benetzt und beim Ablaufen Niederschläge hinterläßt, ganz mit glitzernden Kristallen bedeckt. Die kleinsten Äste, nicht größer als die Füße einer Meise, sind mit einer Unzahl kleiner, lockerer, glitzernder Kristalle überzogen. Der eigentliche Zweig kommt nur noch hier und da zum Vorschein, die Salzkristalle haben ihn fast völlig verdeckt. Das ist die Metapher der Kristallbildung, und genau so verlieben sich die Menschen ineinander. Es gibt sieben Phasen der Liebe. 1. Bewunderung. 2. Verlangen. 3. Hoffnung. 4. Entstehung der Liebe. 5. Erste Kristallbildung. 6. Entstehung des Zweifels. 7. Zweite Kristallbildung. Zwischen 1 und 2 kann ein Jahr vergehen, zwischen 2 und 3 ein Monat. Zwischen 3 und 4 liegt ein Augenblick, 4 und 5 folgen unmittelbar. Zwischen 5 und 6 können ein paar Tage liegen, 6 und 7 folgen unmittelbar aufeinander. Sie sehen, es ist kein durchgehend linearer Prozeß, es gibt Verzögerungen, es braucht Zeit, um die Kristallisation zum Abschluß zu bringen. Mit all den Verhängnissen, die die dann beginnende Liebe mit sich bringt. Die Liebe gleicht dem Fieber. Sie entsteht und vergeht ohne den geringsten Einfluß des Willens. Damit unterscheidet sich meine Kristallisationstheorie der Liebe von Goethes Wahlverwandtschaft in seinem gleichnamigen Roman. Darin wird die leidenschaftliche Liebe als unausweichliche gegenseitige Anziehung zweier chemischer Elemente beschrieben, die beiden Paare finden zueinander in alles andere ausschließender Schicksalhaftigkeit.

Shere Hite: Sehr interessant. Mein Forschungsansatz bestand darin, daß ich vier Jahre lang Tausende von Fragebögen an Frauen in den Vereinigten Staaten von Amerika verschickte und sie bat, auf meine Liste an Fragen zu ihrer sexuellen Erfahrung offen zu antworten. Daraus entstand dann 1976 der ›The Hite-Report. A Nationwide Study of Female Sexuality‹. Das waren keine Multiple-choice-Fragebögen, die Frauen mußten handschriftliche Antworten auf meine Fragen geben, und das haben sie in großer Zahl dann auch getan. Das war ein quantitativer Ansatz, da ich der Meinung war, ich müßte herausfinden, was Frauen wirklich empfinden, wenn sie sexuelle Empfindungen haben, nicht das, was die Alltagsfolklore über die Frauen im allgemeinen bisher als bekannte Tatsachen vorausgesetzt hat. Es waren insgesamt dreiundsechzig Fragen, und wenn ich es mir recht überlege, wurden die Frauen im Grunde aufgefordert, ihre sexuelle Autobiographie zu schreiben, so detailliert waren die Fragen, und deshalb war es aber auch so schwierig, die Antworten zu quantifizieren. Aber immerhin haben fünfzehntausend Frauen bei meinen Untersuchungen mitgewirkt, während Freud nur drei Frauen der Wiener Oberschicht befragt hat, weshalb meine Theorien über das sexuelle Verhalten der Frauen in den USA viel fundierter sind als seine.

Stendhal: Ich habe meine Frauengestalten in meinen Romanen von den Stereotypen der Zeit freigehalten. Bei mir gibt es keine geduldig Leidende, kein sanftes Musterbeispiel der Tugend; meine Frauengestalten besitzen die gleichen Eigenschaften wie die meiner Männergestalten: Tatkraft, Eigenwille, Wagemut, Intelligenz. Sie sind äußerst energisch und entschlossen, vergleichen Sie das mal mit den Frauengestalten meines Kollegen Balzac! Auch Ratschläge habe ich gegeben, so, als mein Kollege Prosper Mérimée mich brieflich fragte, wie meine Romanfigur Armance denn in den kurzen Tagen ihrer Ehe mit Octave ein so ekstatisches Glück habe empfinden können. Ich habe ihm ausführlich geschildert, welche Mittel ein impotenter Mann anwenden könne, um einer noch unerfahrenen jungen Frau physische Befriedigung zu verschaffen.

Shere Hite: Sehr schön, sehr, sehr schön. Mein Buch ›Frauen & Liebe. Eine kulturelle Revolution‹ (1987) war mein bis dahin aufwendigstes Projekt. Schließlich beabsichtigte ich, Emotionen zu quantifizieren. Im Grunde versuche ich immer noch herauszufinden, was Sex ist. Ich glaube, daß sich in ihm vielerlei Gefühle vermischen.

Stendhal: Ich hatte als junger Mann eine Vorliebe für die Mathematik, ihre nüchterne Sprache bestach mich durch ihre kalte, klare Schönheit. Die Mathematik heuchelt nicht wie die Bourgeoisie, sie ist in ihrer Logik unbestechlich, ehrlich, klar. Der Erzählstil kann gar nicht klar, nicht schlicht genug sein. Als ich die ›Kartause von Parma‹ (1839) schrieb, las ich zur Einstimmung jeden Morgen zwei bis drei Seiten im Bürgerlichen Gesetzbuch. In meiner Prosa erfand ich einen Erzählstil, der kompromißlose Wahrhaftigkeit einschloß.  Dazu gehört als Vorbereitung das Verliebtsein, bei dem alles andere Interesse erlischt.  Aber die Momente höchster Leidenschaft sind nicht die besten fürs Schreiben. Als Romanschriftsteller muß man sich ganz auf die Beobachtungsgabe und die Beschreibungskunst verlassen. So habe ich Gefühle im Fluß ihres Erlebens dargestellt und innere Einstellungen zergliedert; das haben Henry James und Marcel Proust dann auf vorbildliche Weise fortgeführt.

Shere Hite: ›Frauen & Liebe‹ ist ein sehr komplexes Werk und stellt Fragen wie: Ist die Liebe etwas Reales, oder nur ein Instrument zur Manipulation der Frau? Sofern es sie gibt, welches sind die realen Aspekte der Liebe? Welche Art Liebe ist Frauen wichtig, oder an welchen Aspekten der Liebe haben sie Freude? Wie kommt es dazu, daß Liebe manchmal emotional oder physisch gewalttätig wird? Möchte die Frau von heute die Liebe, oder will sie lieber ohne Liebe leben? Meines Erachtens befähigt die Liebe die Frauen zu heroischen Leistungen. Die Frauen ›klammern‹ sich keineswegs an den Mann und sind auch nicht masochistisch, wie es oft heißt. Jedoch stellt sich die Frage, ob das Hegen und Pflegen, das Sorgen und Lieben für die Frauen selbst von Vorteil ist. Wußten Sie, daß 50% der Frauen ihre Ehe beenden und 50% erhalten sie aufrecht, obwohl sie emotional unbefriedigt sind? Die Ansprüche der Frauen an eine Partnerschaft sind drastisch gestiegen. Heute besitzen die Frauen durch ihre materielle und sexuelle Unabhängigkeit eine neue, beispiellose Macht. 

Stendhal: Jeder, der meinen Namen kennt, ist mit meiner Romanfigur Julien Sorel vertraut, dem Protagonisten von ›Le Rouge et le Noir. Chronique du XIXe Siècle (1831), aber wer kennt ›L’Amiel‹ (1889)? Da finden Sie die Vollendung meiner Frauengestalten, Frauen, die sich nicht um die gesellschaftlichen Normen scheren und gegen die männliche Dominanz aufbegehren. Amiel ist das weibliche Gegenstück zu Julien Sorel. Sie erreicht die Gleichberechtigung nicht durch Bitten, sondern durch selbstbewußten Kampf. Erst hier, im Elysium, habe ich die Zeit gehabt, weit über mein kurzes Leben hinweg, alle die Erfahrungen nachzuholen, die ich zu Lebzeiten niemals hätte sammeln können. Auch wenn mein Wahlspruch lautete: Immer für das 20. Jahrhundert arbeiten! Aber wenn Sie sich vorstellen: Ich bin 1783 geboren und starb 1842, Sie sind 1942 geboren und 2020 gestorben. Sie sind 100 Jahre nach meinem Tod geboren worden. Ich wäre heute, im Jahre 2025, 242 Jahre alt. Was ist nicht alles innerhalb dieser Zeitspanne auf der Welt geschehen! Wieviele Bücher sind geschrieben worden, wieviele Erkenntnisse sind zusammengetragen worden. Aber ist die Menschheit vorangeschritten? Wenn ich nur Ihre Forschungsergebnisse mir vor Augen führe, dann muß ich die Frage absolut bejahen. Wenn ich mir das tatsächliche Verhalten der Menschen ansehe, und wir werden hier im Elysium ja sehr gut mit Informationen über die andere Welt versorgt, so muß ich sagen: Nein, die Erkenntnisse laufen den Ereignissen und der unveränderlichen menschlichen Natur hinterher. 

Shere Hite: Das ist leider nur zu wahr. Das Buch ›Frauen & Liebe‹ wurde von reaktionären Kräften attackiert, die amerikanischen Medien hetzten unaufhörlich gegen meine Bücher, so daß ich irgendwann beschloß, das Land für immer zu verlassen. Ich lebte noch drei Jahre nach Verlassen der USA mit einem Restgefühl des Terrors. Ich habe dann auch meine amerikanische Staatsbürgerschaft aufgegeben und die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen.

Stendhal: Sie müssen meinen Roman ›Lucien Leuwen‹ lesen, darin schildere ich die französische Bourgeoisie und ihre Verfallenheit ans Geld, wie allein das Geld über alles entscheidet. Amerika war für mich immer die Diktatur des Mittelmaßes und ich bedauere sehr, daß Sie dort unter den Nachstellungen und Verleumdungen der amerikanischen Öffentlichkeit so zu leiden hatten.

Shere Hite: Das ist sehr freundlich von Ihnen, vielen Dank. ›Frauen & Liebe‹ wurde trotz der Hetzkampagne der amerikanischen Medien auf der ganzen Welt gut verkauft, allein in Deutschland wurden fast eine Million Exemplare abgesetzt. Man denke aber nicht, daß mir das Geld massenweise zufloß, denn die Kosten für die Forschung beliefen sich auf viele hunderttausend Dollar. Häufig saß ich vierzehn Stunden pro Tag am Schreibtisch. Von den ersten drei der vier Hite-Reports wurden in sechsunddreißig Ländern mehr als zwanzig Millionen Bücher verkauft.

Stendhal: Für mein erstes selbständiges Buch ›De l’Amour‹ (1822) haben sich in den ersten zehn Jahren seines Erscheinens siebzehn Käufer gefunden. To the happy few! Die Stendhal-Forschung, die es heute tatsächlich gibt, hat errechnet, daß ich mit meiner Literatur 75 Centimes pro Tag, und 270 Francs pro Jahr eingenommen habe. Ist es aufs Ganze gesehen wirklich die Mühe wert zu leben?

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