Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog

Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.

Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«

Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.

Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.

Menschheit im Klimakterium

»Alle reden vom Wetter. Wir nicht. Fahr lieber mit der Bundesbahn.« 1966 warb die deutsche Bundesbahn mit diesem Slogan, um ein gegenüber dem privaten Autoverkehr überlegenes Verkehrsmittel anzupreisen. Heute redet man vom Klima. Aber es wird schon seit langem darüber geredet, und irgendwann erregt ein anderes Thema die öffentliche Meinung. Theodor Lessing schrieb 1930:
»An unserem Erdglobus ändert sich etwas. Es kommt eine Verschiebung des Klimas, welches vielleicht die Lebensweise, den Beruf und die Arbeit vieler Menschen ändern wird. […] Erinnern wir uns aber, daß z. B. in Texas, in Kalifornien das Abholzen der Wälder das Klima verändert und daß jedes unrichtige Verhalten der Menschen zur Natur, etwa der Kohlendunst der Riesenstädte auch mit Sicherheit die außermenschliche Natur vernichtet […]. Heute ist uns die Erde unfreundlicher und doch pressen wir weit mehr aus ihr heraus, weil wir arbeiten und denken.« Theodor Lessing: Wie wird das Wetter im Winter? In: Prager Tagblatt, 55. Jg., Nr. 287, 7.12.1930, 3f.
Solche Sätze werden, wenn man sie als wahr einstuft, als prophetisch bezeichnet, dabei sind sie nur aus genauer Beobachtung der Natur und der Analyse der Gesellschaft gewonnen worden. Wie etwa diese Beobachtung:
»Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.« Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Buch 1: Der Produktionsprozeß des Kapitals. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 23, [zuerst 1867; 1970], 529f.

Ich ging im Walde so für mich hin

Viele einmal nützliche Berufe gibt es nicht mehr: der Gerber, der Besenbinder, der Kupferstecher. Heute gibt es dagegen Berufe, bei denen man sich fragt, wem sie eigentlich nützen: der ›Coach‹ und der ›Consultant‹ gehören ganz sicher dazu; dennoch begegnet man ihnen inzwischen überall, und jetzt sogar dort, wo man sie dann doch nicht vermutet hätte: im Wald. Sie nennen sich aber nicht, was vielleicht nahe liegen würde: Waldmeister, sondern: Ecotherapeuten. Sie erzählen uns, wie man gesund bleibt, wenn man im Wald spazieren geht. Um dem Ganzen mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, erwähnen sie Studien von Wissenschaftlern, die mit komplizierten Meßmethoden herausgefunden haben, wie gesund das Gehen und das Laufen für den Menschen ist.
Zu den ausgestorbenen Berufen zählt man heute den Hungerkünstler (was nicht ganz stimmen kann, denn der ›Welthunger-Index‹ von 2018 berichtet von 821 Millionen Menschen, die auf der ganzen Welt hungern), aber ganz sicher wird einmal eine Zeit kommen, wo man die ›Ecotherapeuten‹ zu einer ausgestorbenen Spezies wird zählen können, weil die Menschen mit Hilfe des gesunden Menschenverstands darauf gekommen sind, was diese Coaches und Consultants eigentlich sind: Gaukler.
»Ich ging im Walde / So für mich hin, / Und nichts zu suchen / Das war mein Sinn.« (Goethe, 1815)

Aufgeweckt

Niedersachsens Umweltminister Olaf Lies liebt Kinder und den Lärm, den sie machen, wenn sie sich auf den Spielplätzen »austoben«. Dagegen ist nichts einzuwenden, wir waren alle einmal jung und haben gespielt, mehr oder minder laut. Doch Lies geht weiter. Er behauptet, das Austoben sei Voraussetzung und Bedingung für »aufgeweckte Kinder«. Synonyme für »aufgeweckt« sind: geistig rege, schlau oder smart. Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich, um dies zu erreichen, Bücher gelesen und über ihren Inhalt nachgedacht. Doch Lies geht weiter. Er behauptet, durch Austoben auf dem Spielplatz würde die »Grundlage« dafür gelegt, dass »junge Leute« sich später »engagieren«: in Vereinen, der Gesellschaft und »auch in der Politik«. Das ist, wie mein alter Deutschlehrer einst sagte, eine weit hergeholte Vorstellung.

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