Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog
Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.
Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«
Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.
Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.
Baisers volés
Ein Kuß ist eine symbolische Handlung. Zu einem vollständigen Kuß ist erforderlich, daß die Handelnden ein Mädchen und ein Mann sind. (Søren Kierkegaard: Beiträge zur Theorie des Kusses, 1843)
A.: In Spanien ist der Teufel los.
B.: Ach, und ich dachte Franco ist 1975 gestorben.
A.: Nein, nein. Der spanische Fußball-Verbandspräsident Luis Rubiales hat nach dem Sieg der spanischen Fußballerinnen bei der Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen der Spielerin Jennifer Hermoso einen Kuß auf den Mund aufgedrückt, nachdem er sie zuvor schon auf die Wangen geküßt hatte.
B.: Und?
A.: Nun, die Fußballerin hat erklärt, daß das nicht abgesprochen war und daß sie es als Angriff wahrgenommen habe.
B.: Küssen sich Fußballspieler nicht sehr häufig, wenn sie ein Tor geschossen haben? Ich glaube mich zu erinnern, daß die männlichen Fußballer nach einem Tor sogar übereinander herfallen und sich auf dem Rasen wälzen, als wären sie dabei, sich zu begatten.
A.: Na ja, das ist doch nur die ganz harmlose Freude über einen gelungenen Spielzug. Fußball ist ein sehr körperlicher Sport und als Mannschaftssport auf das Interagieren der Beteiligten angewiesen. Niemand auf den Zuschauerrängen glaubt, es handele sich dabei um sexuelle Handlungen.
B.: Ah, so! Und was war nach dem Gewinn der Frauen-Fußball-Weltmeisterschaft in Australien anders gegenüber den von Ihnen eben berichteten normalen Vorgängen?
A.: Die Darstellungen gehen auseinander. Während der Fußballfunktionär sagt, die Spielerin habe ihn angefaßt und leicht in die Höhe gehoben und ihn dann durch gestische Zeichen praktisch zu dem Schmatzer eingeladen, sagt die Spielerin, er habe sie an sich gezogen und ihr einen Kuß auf die Lippen verabfolgt.
B.: Gibt es nicht Videoaufnahmen von der Szene?
A.: Doch, schon, aber so ganz deutlich wird der Vorgang dadurch auch nicht.
B.: Ist das Ganze nicht ein Sturm im Wasserglas? Könnte es nicht sein, daß der Verbandspräsident einfach überwältigt war von dem Sieg seiner Mannschaft, oder sollen wir sagen: Frauschaft?, nein, das klingt irgendwie falsch und erzwungen. So wie die männlichen Fußballspieler auf dem Feld sich spontan umarmen oder, was ich schon öfter gesehen habe, wenn der Siegespokal überreicht wird und dann alle Spieler dem Ding einen Kuß geben?
A.: Ja, so könnte man argumentieren. Doch in Spanien ist der Teufel los. Die Mitspielerinnen der unfreiwillig geküssten Spielerin haben damit gedroht, nicht mehr für Spanien aufs Feld zu gehen, wenn der Verbandspräsident nicht seines Postens enthoben wird.
B.: Könnten andere Gründe eine Rolle gespielt haben?
A.: In der Tat, es scheint, als würde dieser Vorfall dazu benutzt werden, alte Rechnungen zu begleichen. Die öffentlichen Erklärungen gehen alle in die Richtung, daß es im spanischen Frauenfußball in der Vergangenheit immer wieder zu sexuellen Übergriffen gekommen ist.
B.: Und der Kuß des Verbandspräsidenten ist nur der Anlaß, um über diese Vorfälle öffentlich zu sprechen.
A.: Das könnte man so sagen.
B.: Was mich daran noch interessiert wäre die Frage, ob der Kuß zu tonsil hockey geführt hat.
A.: Was ist los?
B.: French kissing. Ein Zungenkuß!
A.: Oh, das meinen Sie. Nein, es wäre alles um vieles leichter, wenn es zu diesem Akt gekommen wäre, denn das wäre ein glattes Überschreiten der Grenze des Schicklichen gewesen. Da wäre der Mann nicht zu retten gewesen.
B.: Dann verstehe ich die ganze Aufregung nicht. In einem Moment höchster Erregung über einen unerwarteten Sieg gibt der Verbandspräsident einer der siegreichen Spielerinnen einen Kuß. Das kann man auch damit erklären, daß man in einem Siegesrausch ist und in diesem Moment eine grenzenlose Verbundenheit mit den Trägerinnen des Sieges verspürt und dann seine Freude durch diese Geste zum Ausdruck bringt, so wie die männlichen Fußballspieler ja auch gelegentlich sich dadurch gratulieren, indem sie sich küssen, ohne damit auch nur irgendeine sexuelle Handlung einleiten zu wollen. Das ist einfach lächerlich.
A.: Die Gegenseite erklärt, es sei ein Akt der Aggression gewesen.
B.: Es hat sich doch nicht um den Todeskuß des Judas gehandelt.
A.: Ich weiß auch nicht, was sich die spanische Spielerin dabei gedacht hat. Der Verbandspräsident hat ausgesagt, es sei ein Dankeskuß gewesen, so wie er einen solchen auch seiner Tochter gegeben hätte, um ihr zu so etwas Großartigem zu gratulieren.
B.: Dann können wir den Fall ja zu den Akten legen.
A.: Nicht so schnell. Wir brauchen doch einen amüsanten Abschluß nach diesem tragikomischen Gespräch.
B.: Unterhalten Sie mich!
A.: Es gibt von Theodor Lessing einen Text, der heißt: ›Der Theaterkuß‹. Im Kommentar zu diesem Aufsatz hat der Herausgeber eine lustige Episode aus dem Wiener Theaterleben ausgegraben. Die Geschichte spielt im Jahre 1872 und handelt von einer Hofschauspielerin und ihrem männlichen Conterpart, der ihr auf der Bühne einen derben Kuß applizierte, statt ihn, wie sonst üblich, nur zu markieren. Und schon war ein ›Kuß-Conflict‹ entstanden. Die Hoftheater-Direktion verbreitete ein Papier, in dem Verhaltensmaßregeln niedergelegt waren, wie man auf der Bühne sich zu küssen habe, wenn das im jeweiligen Stück vorgeschrieben ist. »Der Kuß auf den Mund muß so ins Werk gesetzt werden, daß in demselben Augenblicke, als sich die Nasenspitzen der Liebenden berühren, zwei Theaterarbeiter hinter der Szene mit der Zunge schnalzen. Zuwiderhandelnde sollen mit Geldstrafen belegt werden.«
B.: Das ist doch reine Erfindung, oder?
A.: Oh nein, Sie können das in der Ausgabe einer Wiener Zeitung nachlesen. Es kommt aber noch besser. In einer Szene muß die Schauspielerin, nachdem der Kollege ihr bereits auf die rechte und die linke Hand geküßt hat, sagen: »Nun küsse Er mir auch den Mund.« Der Schauspieler folgte dieser Aufforderung, doch die Kollegin war über den Kuß so erbittert, daß sie sich bei der Theaterdirektion darüber beschwerte. Es half alles nichts, sie darauf hinzuweisen, daß der Kollege durchaus nicht als Mann ihr diesen Kuß gegeben hatte, sondern bloß dem Rollentext gefolgt und als Berufsschauspieler sie geküßt habe. Sie erklärte, sie fühle sich in ihrer weiblichen Ehre gekränkt und wenn ihr von Seiten der Theaterdirektion kein Recht widerführe, werde sie sich an die Gerichte wenden. Alles war in Aufruhr. Dann kam die nächste Vorstellung und man wartete gespannt darauf, wie die beiden die Szene über die Bühne bringen würden. Wieder küßte der Kollege zuerst die rechte und dann die linke Hand und als er dann auf den Satz der Kollegin wartete: »Nun küsse Er mir auch den Mund.«, sagte die Dame statt dessen: »Nun, den Kuß auf den Mund schenke ich euch.« Der Kollege erstarrte nicht lange über diesen im Stück nicht vorkommenden Satz, sondern erwiderte schlagfertig, wenn auch ein wenig boshaft: »Gott sei Dank, daß ich die alte Schachtel nicht zu küssen brauche.« Fräulein Gindele, so hieß die Schauspielerin mit der starken Aversion geküßt zu werden, geriet darüber derart in Aufregung, daß sie auf offener Bühne in Ohnmacht fiel und in ihre Garderobe getragen werden mußte. Abermals beklagte sie sich bei der Theaterdirektion. Die ›Neue Freie Presse‹, in der diese Geschichte berichtet wurde, beschloß ihren Artikel mit der Erwägung, die Theaterfreunde sähen dem Urteil in dieser Frage mit Spannung entgegen, da hier zum ersten Male die Frage zur Entscheidung kommen muß, ob ein Kuß auf der Bühne eine Beleidigung einer Dame involviere.
Vgl. Theodor Lessing: Der Theaterkuß. In: ders.: Kultur und Nerven. Kleine Schriften 1908–1909, herausgegeben und kommentiert von Rainer Marwedel, Göttingen: Wallstein Verlag, 2021, 2 Bde., Bd. 1 328–335 (Text); Bd. 2, 334–337 (Kommentar).
»Indien ist jetzt auf dem Mond«
Streets full of people, all alone
Roads full of houses, never home
Church full of singing, out of tune
Everyone’s gone to the moon
(Jonathan King: Everyone’s gone to the moon, 1965)
Der indische Staatspräsident schwenkte ein indisches Fähnchen und rief den versammelten Medien der Welt zu: »India is now on the Moon. We have reached where no other country could.« Die indische Raumsonde ›Chandrayaan-3‹ hatte kurz zuvor auf einer bisher wenig erforschten Gegend des Mondes sicher aufgesetzt. Weltraumflüge sind kostspielige Transaktionen des weltweiten Nationalismus. Vor Indien gelang es nur den USA, der UdSSR und China, auf dem Mond zu landen. Man spricht in Medienkreisen von einem ›Elite-Club‹. Natürlich sind weder Indien noch die anderen genannten Staaten wirklich auf dem Mond, sie erheben jedoch unmißverständlich kommerzielle und politische Ansprüche auf dieses extraterristrische Terrain. Die Lebensbedingungen in diesen Staaten zu verbessern, ist für die politischen Entscheidungsträger weniger wichtig als solche Prestigeprojekte, die zugleich dem nationalen Narzißmus huldigen. Ausgerechnet Indien, in dem es sehr viele Menschen und nicht so viele Möglichkeiten gibt, ein menschenwürdiges Dasein zu fristen, ist auf dem Mond. Im April 2021 las man, daß wohlhabende indische Familien fünfzigtausend Euro für ein Charterflugzeug bezahlten, nicht um bis zum Mond zu fliegen, aber um ihr Land schnellstens zu verlassen, auf der Flucht vor dem Corona-Virus. Die damals auf dem Markt angebotenen Impfstoffe überstiegen die 2000 Rupien (22,15 €), die ein Inder auf dem Land im Durchschnitt verdient, bei weitem.
Der indische Staatspräsident aber schwadroniert im August 2023 über Indiens Staatsziele: »The sky is not the limit.« Indien verfolgt damit das Konzept, anderen Staaten, die nicht die enormen Startkosten vorschießen können, Wege in den Weltraum zu bereiten. Der globale Markt für Weltraumstarts ist ein Milliardengeschäft. 2023 belief sich der Etat auf 9 Milliarden US-Dollar, im Jahr 2030 sollen es zwanzig Milliarden US-Dollar sein. Und alles zielt ab auf eine Rückkehr zum Mond.
1979 kam der elfte Film aus der James Bond-Serie, ›Moonraker‹, in die Kinos. Die Titelsequenz zeigt ein wiederkehrendes Bild des Mondes, davor schweben Silhouetten von Frauenkörpern schwerelos im Weltraum. Das war eine für sehr viel Geld produzierte Illusion, die durch den ganzen Film erhalten wurde und bei der man keinen special effect scheute: Für die Kulissen der Raumstation gab die Produktionsfirma fünfhunderttausend US-Dollar aus und für den Sprengstoff, der zu den dramatischen Explosionen im Film gebraucht wurde, zwanzigtausend US-Dollar. Winzige Beträge im Vergleich zu dem, was die sogenannten Weltraum-Nationen für ihre bisherigen Himmelfahrtskommandos verpulvert haben. Man kann sich den Film im Kino oder zuhause per Stream oder digitaler Kopie immer wieder ansehen und teilhaben an der elektronisch erzeugten Weltraum-Illusion, man sitzt selber im Raumschiff und schwebt durch einen imaginären Raum. Schwarzer Samt im Wert von sechzigtausend US-Dollar wurde verwendet, um die im Weltall spielenden Szenen aufzunehmen. So schön und sanft und resourcenschonend kann die Raumfahrt sein. Man erlebt einen Schiffbruch mit Zuschauer, und ganz unverletzt geht man aus dem Spielwerk der cinematographischen Illusionsbühne wieder hervor. Anders als der moderne Ikarus, der in seiner Rakete sitzt und damit rechnen muß, daß sie schon kurz nach dem Start explodiert (sieben Astronauten starben am 28. Januar 1986 kurz nach dem Start des ›Space Shuttle Challenger OV-099‹), hingegen ist man als Zuschauer von ›Moonraker‹ sicher. Kein Übermut verleitet uns dazu, höher der Sonne entgegenzufliegen, um das Risiko des Absturzes einzugehen, keine Strafe der Götter ereilt uns für den Griff nach den Sternen, nach Sonne und Mond.
1865 erschien der Science-Fiction-Roman ›De la Terre à la Lune‹ von Jules Verne, 1870 folgte die Fortsetzung ›Autour de la Lune‹. Statt einer Rakete wird eine Kanone eingesetzt. Ein ›Kanonenclub‹ in Baltimore, dessen Mitglieder den Club während des Sezessionskrieges gegründet hatten, fühlt sich nach dem Ende des Bürgerkrieges nicht ausgelastet und so plant man einen neuen Krieg, damit neu entwickelte Waffen zum Einsatz kommen können. Für die Finanzierung sammelt man Geld in der ganzen Welt. Das abgefeuerte Geschoß landet nicht auf dem Mond, es umkreist ihn in einer Umlaufbahn. Jules Verne schrieb diese Romane, die manche Details der hundert Jahre später (1969) erst stattfindenden Mondlandung vorwegnahmen, auch mit der Absicht, den damals in den USA grassierenden Kanonenwahn zu persiflieren. In ›Autour de la Lune‹ kreisen die in das Geschoß eingeschlossenen drei Personen um den Mond und können aufgrund technischen Versagens nicht auf dem Mond landen; da die Umlaufbahn die Form einer Ellipse angenommen hat, gelingt es ihnen aber schließlich, zur Erde zurückzukehren.
Am 20. Juli 1969 setzte eine Landesonde der ›Apollo 11‹-Rakete auf dem Mond auf. Die beiden amerikanischen Astronauten hißten ihre National-Flagge und legten einen Gedenkstein nieder, auf dem zu lesen ist: »Hier betraten Menschen vom Planeten Erde zum ersten Mal den Mond, 1969 A.D. Wir kamen in Frieden für die gesamte Menschheit.«
Nun ist die Zeit erreicht, daß man mit indischen Billigfliegern dem Mond die friedliche Absicht der Menschheit mit einer Unzahl von weiteren Mondflügen nachhaltig zur Kenntnis bringt.
»Damit rechnet niemand.«
Er betrachtet es als seine Pflicht, jeden zu hintergehen, der ihn für so dumm hält, daß man ihm vertrauen kann. Er glaubt, es gibt keinen Weg, um so schnell und so sicher Erfolg zu haben, als durch Betrug an der Öffentlichkeit reich zu werden: denn öffentliche Diebstähle sind sicherer und werden weniger verfolgt als private. Denn Unverfrorenheit ist keine zu unterschätzende Methode, um Größe und Autorität in der Meinung der Welt zu gewinnen. Unter allen Tugenden gibt es keine, die er so hoch schätzt wie die Unverfrorenheit: sie ist ihm nützlicher und nötiger als die Maske dem Straßenräuber. Wer unverfroren ist, ist kugelsicher. (Samuel Butler [1613–1680]: Ein zeitgemäßer Politiker, 1759)
Jedem Journalisten wird zu Anfang seiner Lehrzeit beigebracht, daß man einen Artikel mit einem interessanten, die Aufmerksamkeit des Lesers weckenden Satz beginnen soll. Das sollte schon die Überschrift besorgen, gewiß, aber da man in der Vorstellungswelt des Journalismus sehr unsicher ist, ob das auch ausreicht, muß der Artikel-Anfang, wie es im Branchenjargon heißt, den Leser »mitnehmen«. In der neuesten Ausgabe der Großen Frankfurter wird ein langer Artikel abgedruckt, der von den vier Gerichtsverfahren (und 91 Straftatbeständen) gegen einen ehemaligen US-Präsidenten berichtet. Doch schon im ersten Absatz, noch bevor die einzelnen Verfahren in peinlicher Ausführlichkeit dargestellt werden, steht da ein aus drei Worten bestehenden Satz: »Damit rechnet niemand.« Gemeint ist ein Haftaufenthalt des ehemaligen US-Präsidenten. Als Erklärung wird die Bemerkung nachgeschoben, der Angeklagte erreiche schon bald (in drei Jahren) das Alter von achtzig Jahren.
Viele, ja, eigentlich alle der noch bis in die Jetztzeit vor Gericht stehenden (oder, wegen Krankheit, sitzenden) Angeklagten, denen man Verbrechen vorwarf, die in deutschen Konzentrationslagern begangen wurden, waren in sehr hohem Alter. Würde ein deutscher Journalist noch vor Beginn solcher Prozesse schreiben, niemand rechne damit, daß sie die Haftstrafen, zu denen sie möglicherweise verurteilt werden, wirklich antreten müßten? Und in der Tat, viele, wenn nicht die meisten der 80 bis 90jährigen Mitglieder des KZ-Personals, mußten nicht ins Gefängnis, weil sie das Strafgericht viel zu spät einholte und sie als gebrechliche Greise wieder in ihren kleinbürgerlichen Haushalt zurückkehren durften, da man ihnen »Haftunfähigkeit« bescheinigte, aber erst, nachdem man ihnen in einem Gerichtsverfahren ausführlich nachgewiesen hatte, daß sie sich an Verbrechen mitschuldig gemacht hatten. Ein symbolischer Prozeß, der Gerechtigkeit konnte wegen der fortgeschrittenen Zeit nicht Genüge getan werden.
Der ehemalige US-Präsident geht zwar auf die achtzig zu, doch sein Auftreten in der Öffentlichkeit läßt nicht den Schluß zu, daß er sich nach einem Rollstuhl umsehen müßte, im Gegenteil, seit seinem Auftauchen in der politischen Öffentlichkeit demonstriert er mit unverhohlener Unverfrorenheit einen aggressiven Macht- und Herrschaftsdurst mit seinem fast gottgegebenen Anspruch auf das höchste politische Amt in den USA. Doch wer will eigentlich heute auch nur eine Zeile über diesen politischen Typus mehr lesen?
Dennoch hat es Fälle gegeben, wo angeklagte Politiker, ausschließlich in Großbritannien, nicht nur zu einer Haftstrafe verurteilt wurden, sondern diese auch antreten mußten. Der sicher berühmteste Fall ist der von Jeffrey Archer, der im Jahre 2000 wegen Meineids und Behinderung der Justiz zu vier Jahren Haft verurteilt wurde, die ihm nach Absitzen der Hälfte der Zeit erlassen wurde. In dieser Zeit schrieb er ein Tagebuch, das nach seiner frühzeitigen Entlassung in drei Bänden publiziert wurde, angelehnt an Dantes Divina Commedia. Archer war nicht nur ein bekannter Tory-Politiker, sondern hat bis heute über vierzig Bücher (mit Übersetzungen in 33 Sprachen und einer Gesamtverkaufszahl von mehr als 320 Millionen Exemplaren) veröffentlicht, allesamt aus dem Thriller- und Drama-Genre. Seine Schriftsteller-Karriere begann 1974, als er durch einen Finanzskandal, an dem er beteiligt war, für Bankrott erklärt wurde. Das Buch wurde ein Bestseller und er in der Folge ein reicher Mann.
Dann ist da Jonathan Aitken, auch er ein Tory, der wie Archer eine Menge Bücher geschrieben hat und wie Archer wegen Meineids und Behinderung der Justiz im Jahre 1999 in Haft genommen wurde, wo er sich zu einem vielschreibenden Christen entwickelte. Nach seiner Entlassung übertrug man ihm die Ehrenpräsidentschaft der ›Christian Solidarity Worldwide‹; auch wurde er, nachdem er ein Diakon der anglikanischen Kirche geworden war, zum Priester ordiniert.
Damit rechnet niemand, in der Bundesrepublik Deutschland, daß ein führender Politiker wegen begangener Straftaten ins Kittchen wandert. Ein ehemaliger deutscher Bundeskanzler war nahe daran, aber alles belastende Aktenmaterial (Spendenaffäre) wurde nicht zum Anlaß genommen, ihn wegen nachweislicher Straftaten zu einer Gefängnisstrafe zu verurteilen. Denn in Deutschland köpft man den König nicht. Der letzte deutsche Kaiser floh nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, 1918, bei Nacht und Nebel über die Grenze nach Holland, wo man ihm Asyl gewährte. Als es 1926 in der Öffentlichkeit darum ging, was mit dem beschlagnahmten Vermögen der deutschen Fürstenhäuser geschehen sollte, erreichte man mit einer Kampagne gegen die geplante Fürstenenteignung, daß in einem ›Volksentscheid‹ dies verhindert wurde.
In England wurde König Charles I. im Jahre 1649 enthauptet, Wochen später erklärte das Unterhaus England zur Republik.
In Deutschland kennt man nur die Redewendung, daß bald Köpfe rollen werden, wenn damit erfolglosen Führungskräften aus Wirtschaft und Politik die Entlassung angedroht werden soll. Danach tritt dann gern die segensreiche Wirkung des goldenen Handschlags in Kraft.
Und damit rechnet jedermann.
Eine gepfefferte Angelegenheit
Paradoxien treten in Graden auf – je nachdem, wie gut der Schein die Wirklichkeit verbirgt. Vagheit ist ein weit verbreiteter Zug unseres Denkens. Wir werden diese Frage verschieden beantworten, ja sie verschieden verstehen, je nachdem ob wir der epistemischen Auffassung von Vagheit (sie ist nichts als Unwissenheit) oder der semantischen Auffassung (sie beinhaltet ein spezielles Verhältnis Wort–Welt) zuneigen. Vagheit ist ein Zug unserer Wirklichkeit und nicht ein bloßes Merkmal unseres Denkens und Sprechens. (R. M. Sainsbury: Paradoxien. Erweiterte Ausgabe, 1995)
A.: In der Nacht vom 3. zum 4. Juni wurde der Hauptbahnhof Hannover zu einer ›Waffenverbotszone‹. Neben dem ohnehin schon verbotenen Mitführen von Schuß- u. Stichwaffen wurden auch verboten: Schraubenzieher, Hammer, Messer und Pfeffersprays. Die Bundespolizei hatte eine Allgemeinverfügung ausgesprochen, die den Vertretern der Polizei das Recht gab, ohne konkreten Grund Personenkontrollen durchzuführen. Es ist nicht das erste Mal, daß es eine solche Allgemeinverfügung gab. Als Grund wurde ein vermehrtes Aufkommen von Körperverletzungsdelikten angegeben.
B.: Aha, und ich habe gelesen, daß am 11. August und am 11. September auch solche Allgemeinverfügungen erlassen werden.
A.: Das ist richtig, und das Resultat der Allgemeinverfügung vom 11. August war, daß die Polizei bei insgesamt 155 Durchsuchungen zwei Einhandmesser, einen Teleskopschlagstock und ein Pfefferspray sichergestellt hat.
B.: Was ist daraus zu folgern? Daß die potentiellen Gewalttäter regelmäßig die Mitteilungen der hannoverschen Polizei lesen und sich darauf einstellen, an diesen speziellen Tagen die Handfeuerwaffen und scharfen Messer, mit denen man unliebsamen Mitmenschen Schaden zufügen könnte, zuhause zu lassen? Und daß sie sich dann gesagt haben: Na, warten wir den kommenden Tag ab, da gilt die Allgemeinverfügung nicht mehr, da bewaffnen wir uns wieder und, falls es sich ergibt, stechen wir im Hauptbahnhof jemanden, der uns komisch kommt, nieder?
A.: Wenn man den gesunden Menschenverstand hier einmal für kurze Zeit walten läßt, dann muß man sagen, daß dies höchst unwahrscheinlich ist. Gerade solche Vorkommnisse wie das Niederstechen eines Menschen geschehen meist im Affekt und ohne lange Planung, allerdings ist eben das Vorhandensein eines Messers ein Faktor, der zu solchen Taten leichter führen kann.
B.: Gut, aber wäre es dann nicht von Vorteil, wenn das ganze Jahr über ein Verbot solcher Schuß- und Stichwaffen gälte? So würde man den potentiellen Verbrechern das Signal geben, den Hauptbahnhof generell unbewaffnet zu passieren, wobei dann immer noch die Möglichkeit gegeben ist, jemanden auch durch körperliche Gewalt, einen Faustschlag beispielsweise, niederzustrecken. Die präventive Entfernung von Armen und Händen als potentiell gefährliche Waffen wird man nicht durchsetzen können. So bleibt immer ein gewisser Unsicherheitsfaktor bestehen, trotz aller bundespolizeilichen Verordnungen.
A.: Da haben Sie recht. Mir ist aufgefallen, daß Pfeffersprays ausdrücklich in die Allgemeinverfügung mit aufgenommen worden sind, wo doch jeder Kinobesucher oder Fernsehserien-Zuschauer vielfach Szenen vorgespielt bekommen hat, wo eine von einem Vergewaltiger bedrohte Frau sich mithilfe eines Pfeffersprays gewehrt hat.
B.: Das schon, nur spielt sich das in der Realität manchmal, wenn die Frau mit dem Pfefferspray die richtige Handhabung nicht geübt hat, nicht so ab wie im Film, und zwar immer dann, wenn man die Windverhältnisse nicht richtig einkalkuliert und der gesprühte Pfeffer der Frau ins Gesicht zurückgeweht wird. Aber davon einmal abgesehen, ist juristisch eindeutig geklärt, daß Pfeffersprays nicht unter das Waffengesetz fallen. Vorausgesetzt, auf der Spraydose ist der Aufdruck ›Zur Tierabwehr‹ gedruckt. Fehlt dieser Warnhinweis, fällt das Pfefferspray unter das Waffengesetz und Sie bekommen Schwierigkeiten, wenn Sie sich gegen einen Angreifer wehren und auf der Dose nicht vermerkt ist, daß diese Dose nur der Abwehr von Tieren dient.
A.: Man könnte argumentieren, daß der Vergewaltiger eine tierische Handlung begehen will, und er so gesehen unter die Kategorie ›Tier‹ fällt.
B.: Mmhh, ja, aber das ist eher eine kulturkritische Floskel, die das deutsche Waffengesetz nicht akzeptiert. Interessanterweise erlaubt das Gesetz auch den Gebrauch von Pfeffersprays gegen Menschen, aber nur, wenn eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben besteht. Wogegen der Einsatz von Pfeffersprays gegen einen unliebsamen Nachbarn verboten ist, denn damit begehen Sie eine vorsätzliche Handlung, bei der Sie gegen einen Menschen aktiv vorgehen und damit sich wegen gefährlicher Körperverletzung strafbar machen.
A.: Nun ist aber bei der Polizeiaktion in Hannover auch ein Pfefferspray beschlagnahmt worden. Es wird in dem Bericht darüber nicht verraten, ob es sich bei dem Besitzer um eine Frau oder einen Mann gehandelt hat. Aber unterstellen wir einmal, daß eine Frau dieses Pfefferspray besessen hätte, und unterstellen wir des weiteren, daß diese Frau nach dem Verlassen des Hauptbahnhofs von einem Angreifer überwältigt worden ist. Hätte sie das Pfefferspray zu diesem Zeitpunkt noch bei sich gehabt, hätten sich die Chancen einer erfolgreichen Abwehr doch beträchtlich erhöht, natürlich immer unter der Voraussetzung, daß sie es richtig gehandhabt hätte. Könnte man daraus nicht folgern, daß die Polizei mit der Entnahme ihres Pfeffersprays sich schuldig gemacht hat an der kurz danach erfolgten Straftat?
B.: Das könnte man sagen. Für einen Rechtsanwalt ein schöner Fang. Stellen Sie sich nur die Schlagzeilen vor: ›Polizei beschlagnahmt das Pfefferspray einer Frau – 5 Minuten später wird sie in der Nähe des Hauptbahnhofs vergewaltigt‹ Das wäre ein PR-Desaster ersten Ranges für die hannoversche Polizei. Da könnte sogar der Kopf der Polizeipräsidentin rollen. Der Hauptkommissar und Zugführer der letzten Durchsuchungsaktion der Polizei hat über den Einsatz gesagt: »Die meisten Menschen hatten keine Waffen dabei. Das ist für uns natürlich ein Erfolg.« Dasselbe würde er ganz sicher sagen, wenn sehr viele Waffen beschlagnahmt worden wären, denn dann wäre nachträglich der Erfolg des polizeilichen Einsatzes gerechtfertigt, weil man vielleicht die Benutzung mancher dieser Waffen verhindert hätte. Aber wenn zum Schutz von Frauen mitgeführte Pfeffersprays in hoher Zahl von diesen eingezogen worden wären, und wenn es im Anschluß daran zu einer Vergewaltigung gekommen wäre und die Frau sich nicht mit einem Pfefferspray hätte wehren können, dann wäre das kein Erfolg, sondern ein Zeichen dafür, wie unverhältnismäßig diese Präventivmaßnahmen sind und wenn man jetzt zwei Einhandmesser, einen Teleskopschlagstock und ein Pfefferspray als Ausbeute der nächtlichen Aktion als Erfolg wertet, so ist das eher ein Indiz dafür, wie die Polizei jedes Resultat zu ihren Gunsten auslegt. Aber das ist noch nicht alles. Hören Sie sich einmal an, was der Sprecher der Bundespolizeidirektion Hannover über die Art der Ermittlungstechnik gesagt hat: »Erfahrungs- und Gefühlswerte zeigen uns, daß Menschen mit Migrationshintergrund eher Waffen mit sich tragen.«
A.: Ich kenne diese Argumentation, und die Polizei hat dann auch betont, daß man ihr immer wieder den Vorwurf gemacht hat, einseitig zu ermitteln und bei Personenkontrollen darauf zu achten, sich auf das äußere Erscheinungsbild zu konzentrieren, womit natürlich eine gewisse Stereotypenbildung einhergeht.
B.: Da kann ich Ihnen eine Geschichte vom Frankfurter Flughafen erzählen. Ich unterhielt mich mit einem Drogenfahnder und er sagte mir, seine Leute seien darauf angewiesen, auf besonders schick gekleidete Herren ein Augenmerk zu werfen, denn entgegen der landläufigen Meinung, wonach man Dealer eher mit hippiemäßigen Figuren, mit langen Haaren und schlampigem Äußeren assoziiert, sind die wirklichen Drogenkuriere vom besten Herrenausstatter ausstaffiert und treten wie Personen aus dem Bankenviertel auf.
A.: Im Falle des Messerbesitzes sind es nach Aussagen der Polizei im überwiegenden Maße junge Männer, die nicht ›deutsch‹ aussehen. So hat man sich dann auch über dieses ›Racial Profiling‹ beschwert, also daß man Haar- und Hautfarbe als Entscheidungsgrundlage für Kontrollen herangezogen hat. Ein Beamter hat das wie auch sein Chef von der Bundespolizeidirektion damit begründet, daß man »ziemlich genau wisse, bei wem wir bei einer Kontrolle mit größerer Wahrscheinlichkeit fündig werden«.
B.: Das mag durchaus zutreffen, es ist aber eine paradoxe Angelegenheit, »Erfahrungs- und Gefühlswerte« zur Entscheidungsgrundlage zu nehmen. Das wird auch nicht dadurch entkräftet, daß der Polizeisprecher beschwichtigend hinzugefügt hat, »deutschstämmige Personen können genauso kriminell sein wie Menschen aus anderen Kulturen«. Das ist für die Galerie gesprochen, man will sich natürlich nicht den Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit zuziehen, aber wenn dann betont wird, wie sich die Entscheidungen vor Ort abspielen, dann wird offen eingestanden, daß »Menschen mit Migrationshintergrund« es sind, die ins Fadenkreuz der Ermittler geraten. Aber jetzt kommt’s: Der Polizeisprecher hat hinzugefügt, »statistisch belegen« lasse es sich nicht, »daß eine bestimmte Bevölkerungsgruppe mehr Waffen mit sich führe.«
A.: Auch dieser Zusatz ist nicht mehr als eine vordergründige Entlastungsstrategie, denn es wurde ja vorher die Art der Methode bekanntgegeben, mit der die Polizei ihre Kontrollen vornimmt: »Erfahrungs- und Gefühlswerte« seien es, die ihr polizeiliches Handeln bestimmen.
B.: Damit sind wir wieder bei dem Drogenfahnder, der mir versicherte, daß man die nachlässig gekleideten Personen im Frankfurter Hauptbahnhof weniger beachten müsse als die Herren im Maßanzug, die in ihren teuren Lederköfferchen die kostbaren Drogen herumtransportieren.
A.: Wenn nun aber die Drogenbosse sich zu einer paradoxen Strategie entschließen und auf das Wahrnehmungsraster der Drogenfahnder reagieren und ihre Drogenkuriere künftig weder als Dressmen noch als Hippies herumlaufen lassen, sondern als ganz unauffällige, durchschnittlich gekleidete Personen, die aber vielleicht nicht zu orientalisch ausschauen, was dann?
B.: Dann sind alle Kategorien aufgehoben. Dann führen auch die »Erfahrungs- und Gefühlswerte« in die Irre. Dann sind alle verdächtig. Dann müssen demzufolge auch alle Personen, die den hannoverschen Hauptbahnhof passieren, angehalten, abgetastet und verhört werden.
A.: Da wird bei der hannoverschen Polizei wohl bald eine massive Stellenausschreibung erforderlich sein.
B.: Ja, aber was mich ganz besonders irritiert, das ist die bizarre Tatsache, daß die Polizei die genannten Waffen an vorher bekanntgegebenen Tagen zu suchen sich anschickt, an den anderen Tagen aber der normale Passant den Übergriffen möglicher Attentäter schutzlos ausgeliefert ist. Das hört sich so an, als wäre es eine Lösung des Problems, wenn an ausgewählten Tagen die Polizei, wie sie selber sagt, »eine besondere Präsenz« zeige, an den restlichen anderen Tagen aber der durch den Hauptbahnhof schlendernde Bürger auf sich selbst angewiesen ist.
A.: Und sich vorsorglich mit einer Waffe versieht.
B.: Das wäre dann die ironische Schlußpointe.
Wenn ich nicht so blond wäre …
Wer will unter die Soldaten / der muß haben ein Gewehr, / das muß er mit Pulver laden / und mit einer Kugel schwer. / Büblein, wirst du ein Rekrut / merk dir dieses Liedlein gut / Pferdchen munter, immer munter / lauf Galopp, hopp, hopp, hopp.(Friedrich Güll: Wer will unter die Soldaten, 1868)
Am Gartenzaun
Frau Hebestreit und Frau Pannemeyer unterhalten sich.
Frau Pannemeyer: Ja, guten Morgen, Frau Hebestreit, auch schon auf, na, das ist heute aber ein Wetterchen, nüch?
Frau Hebestreit: Das können Sie so sagen, ja, nach dem vielen Regen freut man sich doch, daß die Sonne den ganzen Tag wieder scheint. Sie sollten deshalb aber auch einen Sonnenhut tragen, wie leicht bekommt man einen Sonnenstich.
Frau Pannemeyer: Da haben Sie recht, aber im Moment geht es noch ganz gut ohne. Ach, es ist doch schön, wenn man ein Stückchen Garten sein eigen nennen darf, auch wenn es viel Arbeit macht und das Wetter doch sehr launisch ist. Nicht zu reden von den vielen Schädlingen, die an meinen Pflanzen herumkauen.
Frau Hebestreit: Wie ich gehört habe, ist Ihre Tochter am Wochenende in Eckernförde gewesen.
Frau Pannemeyer: Ach Gott, ja, leider, muß man sagen. Sie ist ja als Kind schon ein Wildfang gewesen, hat sich immer gern mit den Jungs geprügelt, und manch einer von denen ist heulend zu mir gekommen und hat sich bitter beklagt, wie unsere Jasmin ihn mit den Fäusten behandelt hat. Ich hatte dann immer schon ein Stück Kuchen in Bereitschaft, damit der arme Junge über den Schmerz hinwegkommt. Süßes schließt alle Wunden, nüch? Aber nun ist unsere Jasmin doch tatsächlich in Eckernförde gewesen, bei der Bundeswehr, wo man den jungen Leuten das Leben beim Militär schmackhaft machen will. Die haben da, warten Sie, wie schimpft sich das jetzt gleich? … richtig: Marine …stütz … punkt. Also Unterwasserboote sind da zu sehen, und Jasmin ist dann auch gleich in so eins geklettert, also mutig ist sie ja schon, die Kleine. Für mich wäre das nichts, in so ein enges U-Boot zu steigen, wo man dann die Aussicht hat, für die nächsten Monate mit ein paar Dutzend Menschen zusammenzuhocken. Da hört das Leben doch eigentlich auf, wenn man keinen Moment mehr für sich allein verbringen kann. Gehen Sie mir los, ich bin doch nicht als Kieler Sprotte auf die Welt gekommen. Und nun will Jasmin doch tatsächlich nach dem Abitur zur Marine gehen. Was soll das nur werden, frage ich Sie?!
Frau Hebestreit: Es kann aber auch eine gute Charakterschulung sein, gerade wenn Ihre Jasmin immer ein wenig zur Gewalttätigkeit geneigt hat. Das Militär ist doch kein Prügelverein, da wird Disziplin und Kameradschaftsgeist gelernt, da bekommt man was fürs Leben mit. Na ja, dennoch, was wollen junge Mädchen beim Militär? Es gibt doch genügend schöne zivile Berufe, die sie ergreifen können. Unsere Biggi ist als Ärztin im Krankenhaus in Celle gut aufgenommen worden, sie hat dort eine schöne Position und es ist doch täglich immer von neuem eine Freude, wenn man kranken Menschen helfen kann.
Frau Pannemeyer: Wie recht Sie haben, ach!, aber leider hat Jasmin an so einem Beruf nicht das geringste Interesse, sie ist eine unruhige Hummel, die ständig etwas Aufregendes erleben will, und sie meint, da käme die Bundeswehr gerade recht. Da stand ein Bundeswehr-Bus in Eckernförde, sagt Jasmin, darauf stand geschrieben: »Mach, was wirklich zählt!« Ich traue solchen Sprüchen ja nicht, das kann man doch leicht auf andere Berufe übertragen, aber sagen Sie das mal diesem Gör. Ausgeschlossen, die hat sich regelrecht verbohrt in dieses Militärische, und ganz besonders die Schiffe und Unterseeboote haben es ihr angetan. Dabei habe ich sie als Kind kaum einmal zum Schwimmen ins Wasser bekommen, man mußte sie geradezu hineintreiben. Sie ist schon ein sehr eigensinniges Mädchen.
Frau Hebestreit: Immer noch besser, als wenn sie den ganzen Tag am Computer herumhängt und womöglich noch eine eigene Seite im Internet hat. Es gibt da ja ganz junge Mädchen, die mit Schminktips Millionen von Anhängern haben, oder solche, die überzuckerte kleine Kuchen vor der Kamera backen. An der frischen Luft sich aufzuhalten ist dagegen doch die bessere Entscheidung.
Frau Pannemeyer: Auf engsten Raum unter Wasser monatelang mit vielen Menschen zusammengepfercht zu leben, wie man das in einem U-Boot doch wohl muß, ist aber nicht sehr gesund. Man hat mir auch gesagt, das Tauchen geht auf die Nebenhöhlen und das Trommelfell. Und dann hat Jasmin mir von einer Schülerin erzählt, Alyssa-Lea heißt sie, die hat gegenüber dem Mann von der Bundeswehr gesagt, sie sei auch bereit, ihr Leben einzusetzen. Bedenken Sie mal, so ein junger Mensch, der solche Sachen sagt, also, ich glaube, die macht sich gar keine Vorstellung, was das bedeutet, das ist nur so dahingesagt, schrecklich. Man ist gerade einmal ein paar Jahre auf der Welt und schon ist man bereit, auch wieder zu sterben. Bei den vielen Unruhen auf der ganzen Welt stehen die Chancen, daß man wirklich nicht mehr lebend von einem Einsatz zurückkommt, recht hoch.
Frau Hebestreit: Ich habe immer schon ein Faible für Geschichte gehabt und habe Bücher über den Ersten Weltkrieg gelesen, und ich kann Ihnen sagen, das ist kein schöner Tod, wenn man in einem U-Boot sitzt und keine Hoffnung mehr besteht, gerettet zu werden. Sie sitzen praktisch in Ihrem eigenen Sarg und ersticken langsam.
Frau Pannemeyer: Hören Sie auf, solche Bilder zu malen! Es ist schon schlimm genug, daß ich meiner eigenen Tochter das nicht ausreden kann. Wozu hat man all diese Schmerzen der Geburt auf sich genommen, wenn dann das eigene Kind wenige Jahre später sich bereit erklärt, für das Vaterland zu sterben.
Frau Hebestreit: Die Torpedos, übrigens, die sich an Bord befinden, kosten pro Stück eine Million Euro, wußten Sie das? Das allein wäre für mich ein Grund, da nicht mitzumachen. So eine Geldverschwendung! Und es ist nicht einmal garantiert, daß der Abschuß dieses Torpedos dann auch ans Ziel gelangt oder, auch das hat es schon gegeben, daß das Torpedo ein ziviles Schiff, das an den Kampfhandlungen überhaupt nicht beteiligt war, getroffen wurde.
Frau Pannemeyer: Ich verstehe davon zu wenig, aber Sie haben recht, das ist teuer und sinnlos. Wozu reden die Menschen nicht miteinander, das unterscheidet uns doch von allen anderen Tieren, wozu haben wir die Sprache, mit der sich doch alles sagen und regeln läßt? Ich habe Jasmin, als sie noch ganz klein war, dieses Kinderbuch von Erich Kästner gekauft, ›Die Konferenz der Tiere‹, das hat sie sehr geliebt, da war sie sogar bereit, einen Nachmittag auf das Prügeln mit den Nachbarkindern zu verzichten. Besonders gefallen hat ihr der Satz, den der Löwe immer wieder gesprochen hat, wenn die Menschen wieder einen neuen Krieg vorbereitet hatten: »Wenn ich nicht so blond wäre, könnte ich mich auf der Stelle schwarz ärgern!«
Frau Hebestreit: Ein wunderbares Buch! Und da steht auch der Satz darin, daß die Konferenz der Tiere abgehalten werden soll »wegen der Kinder«. Die Zeichnungen von Walter Trier passen auch so gut zu der Erzählung von Erich Kästner, der ja weit mehr als ein Kinderbuchautor war. »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.« Na! Kann man noch kürzer sagen, was gut und richtig ist? Er war ein Genie, ganz im Gegensatz zu diesen Wissenschaftlern, die tausend Seiten über Moral und Ethik vollschmieren, und am Ende ist man genauso schlau als wie zuvor.
Frau Pannemeyer: Ja, das kann ich nicht beurteilen, aber ich wills Ihnen glauben. Ich verstehe auch nicht, wieso man überhaupt noch Menschen für das Militär braucht, wo doch die heutigen Kriege alle mit Waffen ausgeführt werden, die nicht einmal mehr direkt an der Front liegen, sondern die aus tausenden von Kilometern entfernten Orten abgeschossen werden und wo der Computer eigentlich den Krieg führt. Wozu muß mein Mädchen da ihr Leben einsetzen, für nichts und wieder nichts?
Frau Hebestreit: Es scheint immer noch Dinge zu geben, die nur von Menschenhand erledigt werden können. Nun beruhigen Sie sich aber mal, liebe Frau Pannemeyer, es ist ja noch Zeit bis Ihre Tochter sich zu entscheiden hat. Und wer weiß, vielleicht lernt sie einen hübschen jungen Mann kennen, den heiratet sie dann und vergißt ihre Unterwasserträume. Das Leben steckt voller Überraschungen.
Leinen los!
Wir haben uns einem schwimmenden Palast eingebaut und in ihm alle Herrlichkeit aufgespeichert, die der Geist zu schaffen vermag. So hausen wir, bis Sturm das Element aufbäumt und die Welt verschlingt. Unser Schiff ist die Welt und alle Ordnung der Welt läßt sich am Schiff studieren. Es gibt drei Schiffs-Etagen und drei Menschenklassen. Diejenige, die bezahlen kann, diejenige, die eben noch bezahlen kann, diejenige, die nicht bezahlen kann. Götter, Bürger und Lumpe. (Theodor Lessing: Leben auf dem Schiff, 1931)
Der schweizerische Waffenhändler Kuno Raeber steht auf seiner Super-Yacht in Monaco und empfängt einen Journalisten, der eine ›Home-Story‹ über ihn schreiben will:
Ja, Gruezi, mein Verehrtester! Willkommen auf meinem bescheidenen Anwesen. Oder wie Gert ›Goldfinger‹ Fröbe zu Sean ›007‹ Connery einst sagte: ›Willkommen auf meinem Gestüt, Mr. Bond‹. Haha, Spaß muß sein. Bitte, setzen Sie sich doch, aber entledigen Sie sich vorher Ihrer Straßenschuhe, wir haben hier eine Auswahl an rutschfesten Bootsschuhen in allen Größen, selbstverständlich fabrikneu. (Aus dem Schiffsinneren dröhnt ›I’m your Boogie Man‹. Herr Raeber verzieht das Gesicht und schreit nach unten:) Jean-Claude, nun gib a mal a Ruh, sei stad, der Papa hat Besuch und will sich unterhalten. (Augenblicklich verstummt das Disco-Gedröhne.) Sehen Sie, das ist mein Sohn aus dritter Ehe. Meine Frau ist Münchnerin und wir haben mit Jean-Claude vereinbart, daß, wenn ich auf bayerisch einen Befehl gebe, unbedingter Gehorsam erwartet wird, denn sonst kracht es ganz gewaltig. Aber nun greifen Sie nur zu, meine Küchenmannschaft hat Shepard’s Pie vorbereitet, und hier kommt auch schon eine Flasche Krug! Ich habe darauf geachtet, daß nicht die billige Version, der ›Grande Cuvée 170ème Édition‹ auf den Tisch kommt, der kommt mich schließlich 270 € pro Flasche, nein, wir haben es hier mit einem Krug Grande Cuvée 171ème Édition‹ zu tun, der mit 1.550.00 € zu Buche schlägt. Ich hätte ihnen natürlich auch einen Krug ›Clos du Mesnil 2008‹ servieren können, aber mit 4. 550. 00 € die Flasche wäre das doch dem Anlaß nicht ganz angemessen gewesen. Denn wenn ich Ihnen den eingeschenkt hätte, da können Sie Gift drauf nehmen, würde sich das ganz schnell herumsprechen, und solche Leute wie David Geffen wären dann beleidigt, daß ein Herr von der Presse so einen Spitzenchampagner bekommt und er, Geffen, vielleicht beim nächsten Empfang bemerkt, daß ich ihm nur den Krug ›Clos d’Ambonnay 2002‹ zum Preis von 3.790.00 € die Flasche offeriert hätte. Meine Yacht-Freunde sind da sehr empfindlich und schätzen es gar nicht, wenn man die Klassenunterschiede so einebnet. Na, nichts für ungut! Cheerio! (Hebt ein Champagnerglas und nimmt einen Schluck.) Warum erwähnte ich die Preise? Natürlich nicht, um als Angeber zu gelten, wo denken Sie hin. Doch wenn man aus Versehen manchmal die falschen Gäste an Bord hat, und das ist schon vorgekommen, dann ist man doch immer wieder entsetzt, wie selbst Mitglieder der ›Happy Few‹ sich daneben benehmen und zum Beispiel ein Glas Krug in einem Zug hinunterstürzen als handele es sich um ein Glas Wasser. Solche Figuren wie dieser Neureiche aus den USA, der vor kurzem diesen ›Twitter‹ käuflich erworben hat, der trinkt doch tatsächlich am liebsten eine Cola aus der Flasche. Da muß man dann vom Untergang des Abendlandes auch nicht weiter sprechen. Den werden Sie hier niemals sehen, das werde ich nicht zulassen, daß solche Typen unser mühsam erschaffenes kulturelles Niveau mit einem Schlag kaputtmachen. Hingegen habe ich nur gute Erinnerungen an Tom Wolfe, kennen Sie den? ja?, mit seinem berühmten Roman ›The Bonfire of the Vanities‹, 1987 erschienen. Wie er sich schon immer elegant gekleidet hat, ganz in Weiß, und wie er sich ausdrücken konnte, und wie witzig er sein konnte, er ist ja bedauerlicherweise im Jahre 2018 von uns gegangen. Selbst die ägyptischen Huren mit ihren beschränkten Englischkenntnissen, die ich damals habe einfliegen lassen, haben sich ausgeschüttet vor Lachen, wenn er seinen urbanen New Yorker Humor hat spielen lassen. Großartig! Meine Gäste damals haben das nicht durchweg geschätzt, aber sie waren ja auch meistenteils wegen der eingeflogenen Huren gekommen, das bekommt man, muß ich auch zugeben, nicht alle Tage geboten. Das war ein tolles Sonderangebot (zwanzig Frauen zum Preis von fünfzehn) eines menschlichen Waffenhändlers aus Kairo, also menschlich insofern, als er auch mit Menschen gehandelt hat. Es waren auch welche aus dem Libanon und Syrien dabei, also diese hellbraune zarte Haut, die diese Mädchen hatten, unbeschreiblich. Selbst das zarteste Carpaccio konnte dagegen nicht ankommen. Da hat es dann aber einige Gäste gegeben, die wollten wissen: Woher kommt das Fleisch? Nein, nicht das vom Carpaccio, die Mädels aus Kairo waren gemeint. Wissen Sie, das war die Zeit, wo der Rinderwahnsinn wütete und es gab einige ganz Ängstliche, die wollten sich mit unseren kostenlosen Huren nicht einlassen, bevor man ihnen nicht ein Zertifikat vorgelegt hat, in dem bestätigt wird, daß sie alle dreifach geimpft und durchgecheckt worden sind. Ein Theater, kann ich ihnen sagen, am liebsten hätte ich diese Feinschmecker über Bord geworfen. Ja, und dann hat auch mein alter Freund Adnan Khashoggi immer wieder mal vorbeigeschaut, er lag damals mit seinen beiden Yachten ›Nabila‹ und ›Khalidia‹ in der Marina von Marbella. Das waren noch Zeiten, diese achtziger Jahre, die kommen nicht wieder. Was haben wir da für Partys gefeiert. Enorm! Geld spielte keine Rolle. Bei Khashoggi ohnehin nicht und niemals. Der wußte zu leben. Der nahm viel Geld ein, gab aber auch viel Geld aus. Man kann es ja nicht mitnehmen, wenn man abgeht. Man sprach damals von ihm als dem ›Großen Gatsby des mittleren Ostens‹. So attraktiv wie die männliche Hauptfigur in dem Roman (und der Verfilmung) von Fitzgerald war er sicher nicht, aber das kümmerte niemanden, denn Geld, vor allem sehr viel Geld ist ein Aphrodisiakum. Das können Sie mir glauben. Der gab eine zeitlang täglich 250.000 amerikanische Dollar aus. Das kann Otto Normalverbraucher nicht verstehen, aber das ist eben das Schöne an der grenzenlosen Verschwendung, man nimmt auf sein Geld keine Rücksicht. Money to burn, sagen die Amerikaner. Das war seine Lebenseinstellung. Was sagen Sie? Ich soll etwas über meine Yacht erzählen? Ja, dann also: Die Durchschnittsgröße einer heute gängigen Yacht beträgt 500 feet, das sind zirka 152,5 Meter. Meine ist in etwa so groß wie die von David Geffen, also 454 feet lang, aber Jeff Bezos hatte mal eine Yacht in Auftrag gegeben, die so mächtig wurde, daß die Stadt Rotterdam eine Brücke hätte auseinandernehmen müssen, damit die Yacht ins offene Meer hätte passieren können. Wie Sie sich vorstellen können, gab es in Holland ein riesiges Geschrei. Aber so ist das mit einer Yacht, oder besser sollte man solche Schiffe, die so lang und so gewaltig aussehen, Super-Yachten oder Giga-Yachten nennen. L. O. A. ist das Codewort — Length Over All. Sie glauben gar nicht, wie aufmerksam die Besitzer solcher Yachten darauf schauen, wie lang die neu vom Stapel gelaufene Yacht ist und wer der neue Besitzer ist. Früher konkurrierten die Milliardäre der Welt dadurch, daß sie immer größere Anwesen kauften und immer größere und luxuriösere Bauten darauf errichten ließen. Einigen Exzentrikern war das nicht genug, die wollten hoch hinaus, und ließen sich kleine Raumschiffe bauen, mit denen sie ins All flogen. Seit der Pandemie ist die Super-Yacht das Non Plus Ultra, wenn es darum geht, zwischen den Super-Reichen zu entscheiden, wer das längste Boot hat. You ain’t seen nothing yet. Ein Evolutionsbiologe hat mir einmal erzählt, das sei doch wie bei den Grünen Meerkatzen. Die verfügen über einen intensiv roten Penis, der sich von einem leuchtend blauen Hodensack abhebt. Wenn eine Gruppe von Grünen Meerkatzen zusammensitzt und etwas verzehrt, setzen sich einige der Männchen etwas abseits mit gespreizten Beinen auf den Boden. Sobald ein fremder Affe auftaucht, bekommen die Wächter eine Erektion und schauen den Fremden dabei drohend an. Wenn ich diese Geschichte auf unseren Yacht-Partys manchmal erzähle, biegen sich die Leute vor Lachen, aber natürlich sind sie von diesem Vergleich nur peinlich berührt, denn sie erkennen die Parallele nicht, wollen es auch nicht. Selbsterkenntnis ist reichen Leuten meistens vollständig verwehrt. Aber wozu auch, brauchen sie das denn, wo sie doch so viel Geld haben? Es gibt doch diesen Spruch: ›The rich are different. Yes, they have more money‹. Und wissen Sie, was mein alter Kumpel Truman Capote darauf erwidert hat, als ich ihm das zitierte? »Nein, nein. Der wahre Unterschied zwischen reichen Leuten und normalen Leuten ist, daß die Reichen so phantastisches Gemüse servieren lassen. Köstliche, winzig kleine Feldfrüchte. Frischgeborene Kleinigkeiten, kaum eben aus der Erde. Winziger Baby-Mais, winzige Erbsen-Babys, winzige Lämmchen, eben aus dem Mutterleib gerissen. Das ist der wahre Unterschied. All ihr Gemüse und ihre Fleischspeisen, die sind so unglaublich frisch und noch ungeboren.« Tja, das war unser Truman, wie schade, daß er so früh gestorben ist, und wie schade, daß ich nicht an seinem ›Black & White‹-Ball‹, 1965, im New Yorker ›Plaza‹ teilnehmen konnte, dazu war ich damals noch zu jung. Was sagen Sie? Sie wollen wissen, ob ich schon einmal von Veblen gehört habe? Vom demonstrativen Konsum? Ein alter Hut. Das lesen nur Leute, die neidisch sind und eigentlich selbst gern viel Geld hätten. Sehen Sie, David Geffen ist schon lange aus dem Musikgeschäft heraus, er müßte eigentlich nicht mehr mit seiner Yacht herumkurven, aber er macht es, um weiter mit den Machteliten der Welt in Kontakt zu bleiben, und das erreicht man nur, wenn man Zugang zu ihnen bekommt. Und wie bekommt man Zugang zu ihnen? Nun, indem man beispielsweise Leute aus Politik und Showbusiness auf einen Cruise einlädt und so auch verschiedene Leute aus unterschiedlichen Gesellschaftssphären zusammenbringt. Only connect, heißt es bei E. M. Forster. Der reiche Landedelmann, der auf seinen weitläufigen Besitzungen tagein tagaus sitzt, sommers wie winters, das mag es vereinzelt noch geben, aber so sieht nicht die Zukunft aus. Am besten lebt es sich immer noch in Monaco. Wußten Sie daß man, um ein Konto bei einer monegassischen Bank zu eröffnen, eine Mindesteinlage von 100.000 US-Dollar einzahlen muß? Ich muß sagen, das beruhigt mich doch sehr, denn so werden auf ganz sanfte Weise Menschengruppen aus dem Staat herausgehalten, die hier einfach nicht hingehören. Man muß mobil sein und das geht am besten und vor allem komfortabelsten mit einer schönen Yacht, die in der Marina von Monaco vor Anker liegt. Wenn es einem irgendwo nicht gefällt oder man Sylvester Stallone zum Nachbarn hat, der jede Woche eine laute Party schmeißt und nachts sein Anwesen mit einer Flutlichtanlage taghell bestrahlen läßt, so daß man kein Auge zubekommt, ja, dann heißt es einfach: Leinen los! Und schon segelt man mit Volldampf voraus neuen Ländern und Taten entgegen. So! Die Zeit ist um. Ich muß mich unter Deck begeben und nach dem rechten sehen und hoffen, daß mein Sohn nicht alles kurz und klein geschlagen hat. Er bekommt an Deck manchmal einen See-Koller. Aber das legt sich wieder. Es ist alles nur eine Frage der Gewöhnung. Merci vielmals for your attention! Bon soir, ciao ciao, auf Wiedersehen!
Frau Pannemeyer will es wissen
»Was mag wohl der zureichende Grund für diese Naturkatastrophe sein?« fragte Pangloß. »Das Weltende ist gekommen!« schrie Candide voll Grauen. (Voltaire: Candide oder Der Glaube an die Beste der Welten, 1759)
Am Gartenzaun
Frau Pannemeyer und Prof. Friedrich Lensing unterhalten sich.
Frau Pannemeyer: Ach, guten Morgen Herr Professor, na, was macht ihr Gärtchen? Der viele Regen versaut uns noch unsere ganze Ernte. Alles versäuft, nüch?
Prof. Friedrich Lensing: Ja, liebe Frau Pannemeyer, das ist die Natur, die macht, was sie will, obwohl natürlich durch die klimatischen Veränderungen in den letzten Jahrzehnten da auch der Mensch mit seinen vielen chemischen Treibstoffen hineinspukt.
Frau Pannemeyer: Die Natur spielt verrückt. Vor ein paar Wochen war es schrecklich heiß und die Sonne brannte auf mein Gärtchen herunter. Nun haben wir Dauerregen. Ich frage Sie, wie soll das nur weitergehen?
Prof. Friedrich Lensing: Ja, die Natur wird immer unzuverlässiger, aber sie lügt auch nicht wie die Menschen es tun. Am ganzen Globus ändert sich was. Das Klima verschiebt sich. Das Abholzen der Wälder in vielen Teilen der Welt hat dazu beigetragen.
Frau Pannemeyer: Da sagen Sie was, man liest es ja jetzt fast jeden Tag. Schrecklich! Was soll noch aus der Erde werden? Müssen wir uns einen neuen Planeten suchen? Die Tochter von Frau Hebestreit, die Biggi, redet davon jetzt ständig, sie ist ja Ärztin, also muß sie wohl etwas vom Leben wissen, obwohl für solche Sachen doch irgendwie andere zuständig sind, meinen Sie nicht?
Prof. Friedrich Lensing: Nun ja, die Menschen haben inzwischen einen allgemeinen Wissensstand erreicht, da spielt es keine Rolle mehr, ob man studiert hat oder nicht. Das war in meiner Jugendzeit noch anders. Die jungen Menschen sind durch das Internet doch sehr gut informiert, auch wenn natürlich viel Quatsch sich dort tummelt. Aber sie haben gelernt, zu unterscheiden, und nur darauf kommt es an.
Frau Pannemeyer: Der Jüngste von meiner Nachbarin hat sich neulich mit einer Tube Klebstoff auf einer Autobahn festgeklebt. Dann kam die Polizei und hat ihn mit einem besonderen Klebstofflöser wieder vom Erdboden abgezogen. Ach, daß diese Kinder zu solchen Mitteln greifen müssen, es sind doch Kinder oder zumindest halbe Kinder, die sich zu solchen Sachen hinreißen lassen.
Prof. Friedrich Lensing: Es ist auf jeden Fall besser, als wenn die Jugend zuhause hocken würde und vor dem Computer sich dem Blödsinn der ganzen Welt ausliefert. Ich bewundere diese Kinder, es gehört Mut dazu, aber auch wahre Erkenntnis in das Getriebe der Welt. Und sie haben auch Phantasie gehabt, als sie sich Namen für ihre Sache ausgedacht haben: ›Fridays for Future‹ und ›Letzte Generation‹, auch wenn solche Bezeichnungen melancholisch machen, weil in diesen Namen ja auch eine gewisse Verzweiflung enthalten ist. Dennoch auf die Straße zu gehen und den passiven Zeitgenossen zu demonstrieren, daß man angesichts der bestehenden Klimakatastrophe sich rühren muß um den gewählten Politikern Dampf zu machen, das ist allemal jede Anerkennung wert.
Frau Pannemeyer: Ach, Herr Professor, Sie finden aber auch immer die richtigen Worte. Ich glaube, Sie sind selber noch so ein halbes Kind geblieben, womit ich nichts Schlechtes gesagt haben will. Sie haben etwas bewundernswert Kindliches in ihrer Art, über die Welt nachzudenken.
Prof. Friedrich Lensing (spricht jetzt sotto voce und beugt sich zu Frau Pannemeyer hinunter): Im Vertrauen, es gibt mich eigentlich gar nicht. Ich bin eine Erfindung meines Biographen, der für mich spricht und sich Zitate aus meinem Gesamtwerk heraussucht. Mein Name ist auch eine Fiktion. Der Vorname geht auf Friedrich Hebbel zurück und der Nachname auf Hebbels junge Geliebte, Elise Lensing, und als ich ein ganz junger Mann war, habe ich mein erstes Buch unter dem Namen Theodor Lensing herausgebracht, das war im Jahre 1893. ›Comödie‹ hieß das Werk. Mein wahrer Name ist Theodor Lessing. Am 31. August 1933 hat man mich in Marienbad erschossen.
Frau Pannemeyer: Ogottogott! Herr Professor, versündigen Sie sich mal nicht. Wie können Sie einer alten Frau einen solchen Schreck einjagen?!
Prof. Friedrich Lensing: Tun wir einfach so, als hätten Sie das jetzt eben gar nicht gehört. (Seufzt.) Wir stehen hier am Gartenzaun und freuen uns über unser begrüntes Stückchen Erde. Und was grünt und blüht hier nicht alles! Man braucht nur in die blanken lachenden Augen der Küchenkräuter zu blicken: Basilikum, Petersilie, Eiskraut, Majoran, man glaubt, unter gesunden Bürgerkindern zu sein. Liebliche Mittelstandsgesichter, in all ihrer Sauberkeit, aber auch so nüchtern wie gute Hausfrauen es nun mal sind. Nicht zu vergessen, die nur wegen ihrer Schönheit angepflanzten Blumen! Die leichten Iris in ihrer dahinzwitschernden Munterkeit sind kaltherzige Tanzmädel. Die Betunien und Winden, all die lieben Schlankdinger, Hübschdinger, Liebdinger sind Geishas, kleine holde Bajaderen. Die dicken Cinerarien sind Mädels aus dem Volk, ›die’s zu was gebracht haben‹. Opuntien haben völlig bankdirektoriale Gesichter. Georginen, Hortensien sind Tiller-Girls, amerikanisch schön und seelenlos. Aber die geliebtesten, die liebsten sind doch die Kinder aus dem untersten Volk. All die frechen kleinen Hybriden: Teufelsabbiß, Margareten, Feuerbällchen. Das alles blüht in meinem kleinen Garten, bewacht von den riesigen Sonnenblumen, welche aussehen wie treue, tappsige, zuverlässige Bärenmütter, und doch sich selber verzehren in zarter Sehnsucht zum Licht.
Frau Pannemeyer: Och, das haben Sie aber schön gesagt, fast wie gedruckt. Unsereiner ist da doch behindert in seiner Wortwahl.
Prof. Friedrich Lensing: Aber nein, machen Sie sich doch nicht klein! Sie müssen sich nur ganz dem Gefühl hingeben und beim Anblick der Pflanzen und Blumen herausfühlen, was sie ihnen sagen. Dann kommen die Worte von ganz allein. Das Schönste an der frei wachsenden Natur ist, daß sie nicht lügt. Sie ist auch unser bester Wetterprophet. Die wahren Propheten der Erde sind die Pflanzen und Tiere. Sie lügen niemals. Am Wachstum der Pflanzen und Bäume kann man manches ablesen, und leider hat sich doch auch manches verschoben. Es gibt keine ganz richtigen Sommer und keine ganz richtigen Winter mehr. So gibt es mittlerweile ein europäisch-amerikanisches Normalwetter: dauernder Alltagsmatsch mit gelegentlichen Hitze- und Sonnenferien und nicht allzu zahlreichen Kälteperioden.
Frau Pannemeyer: Das sage ich ja, das habe ich doch anfangs gesagt. Die Natur spielt verrückt. Und wenn ich Ihnen glauben soll, dann sind es die Menschen mit ihren verrückten Entscheidungen, die dazu beigetragen haben, daß wir in diesen Schlamassel hineingeraten sind.
Prof. Friedrich Lensing: Die Jahreszeiten verlieren das klare Gesicht. Alles vereinheitlicht sich. Die Landschaften verschleifen sich. Überall siegt zuletzt eine freudlose und labile Mitte. Für das ganze Jahr kann man prophezeien: miseriges Mickelwetter, viel Matsch, trüber Himmel, mißmutige Laune der Natur. Und dem passen die Pflanzen sich an und die Tiere sind wie die Menschen Opportunisten geworden. Sie werden immer menschlicher und unklarer. Die vielen Überschwemmungen und Erdrutsche der letzten Jahre sind ein deutliches Signal dafür. Daß dies Vorgänge sind, die durch falsche Bebauung ihr Vorspiel hatten, wäre wohl nicht ganz abzuweisen. Jedes unrichtige Verhalten der Menschen, etwa die Verschlechterung der Atemluft, trägt mit dazu bei, daß die Erde sich insgesamt vergiftet. Das wird sich alles rächen, denn gesundes Leben wehrt sich. Gesundes Leben, wenn man es schlägt, schlägt zurück. Mit Verleugnung dieser unbezweifelbaren Tatsachen kommt man nicht weiter, man verschlimmert den Zustand, bis ein Punkt erreicht ist, an dem es keinen Weg zurück mehr geben wird. Man darf ruhig von Wetter- und Klimaerkrankungen sprechen, darüber müßte eine weltweite Statistik geführt werden. Die Temperaturkrankheiten sind im Vormarsch. Heute pressen wir aus der Erde weit mehr heraus als ihr zuträglich ist, und so wird die Erde dann auch unfreundlicher zu uns.
Frau Pannemeyer: Wir können froh sein, daß wir hier unser Gärtchen haben, wo man dann doch noch alles unter Kontrolle hat und sich am Wachsen und Gedeihen erfreuen kann, nüch?
Prof. Friedrich Lensing: Ich wollte Sie mit meinen Worten nicht beunruhigen, liebe Frau Pannemeyer. Als Philosoph und Naturbeobachter aus Leidenschaft kann ich mich manchmal, wenn ich so zu reden anfange, nicht bremsen. Ach, ich wollte ihnen doch ein Körbchen mit frisch gepflückten Himbeeren schenken, aber nun sehen Sie sich das an: alles am Strauch ist wegen des vielen Regens der letzten Tage verfault. Wie schade!
Frau Pannemeyer: Ach Gott, ja, und all die Mühe, die man sich gibt, alles umsonst. Wie traurig das ist. Und nichts kann man tun, damit das nicht passiert. Aber deshalb werde ich meinen Garten dennoch nicht zubetonieren, wie das mein Bekannter mir neulich vorgeschlagen hat. Da hätte ich dann keine Sorgen mehr! Es gibt Menschen, da steht einem der Verstand still. Wir werden weiter unseren Garten bestellen, trotz der Verluste, die uns schon so mancher Sommer beschert hat.
Prof. Friedrich Lensing: Liebe Frau Pannemeyer! Da haben Sie aber etwas gesagt. Das ist ja fast wörtlich der Schlußsatz von Voltaires berühmten Roman ›Candide oder Der Glaube an die Beste der Welten‹ aus dem Jahre 1759. »Wohl gesprochen«, erwiderte Candide. »Nun aber müssen wir unsern Garten bestellen«.
Auf der Jagd nach den ›Stellen‹
Im Bezirk der unanständigen Welt-Literatur sind in den letzten hundertundfünfzig Jahren nur Werke angeklagt worden, die zur Zeit der Anklage noch nicht klassisch waren. Platon ist mutiger gewesen; er warf dem klassischen Homer die pornographischen Zeus-Hera-Stellen vor. In unsern Zeiten aber ist man zu gebildet, um Ovid, Apulejus, Petronius, Shakespeare, Rabelais vor Gericht zu ziehn. […] Die Zoll-Behörde, die in Amerika zensiert, hat in ihren Regulationen auch ein Ausnahme-Recht für die »sogenannten Klassiker«. (Ludwig Marcuse: Obszön. Die Geschichte einer Entrüstung, 1962)
Die Schulbehörde in Hillsborough County im US-Bundesstaat Florida hat entschieden, daß Schüler nur noch Auszüge aus Shakespeares Werken im Unterricht zu lesen bekommen. Dies begründet sie erstens damit, daß die Schüler viele Werke kennen müßten, und deshalb sei es einfacher, Auszüge zu lesen als mehrere ganze Bücher. Zweitens bezieht sich die Schulbehörde darauf, daß es in Florida ein Gesetz gibt, wonach Themen wie Homo- oder Transsexualität im Schulunterricht nicht behandelt werden dürfen. »Es ist etwas Obszönes in Shakespeare« zitiert die ›Tampa Bay Times‹ einen Lehrer. Die Schulbehörde legt Wert auf die Tatsache, daß selbstverständlich alle Werke Shakespeares den Schülern zur Ausleihe in den Schulbüchereien weiterhin zur Verfügung stehen.
Ein Traum wird wahr. Welcher Schüler hatte schon jemals einen Überblick über die obszöne Literatur? (Wenn er oder sie nicht ohnehin die frei zugängliche reale Pornographie kostenlos im Internet konsumieren wollte, statt sich mit zu vielem Lesen die Augen zu verderben.) Dank der Schulbehörde in Hillsborough County bekommen alle Schüler nun wertvolle Hinweise auf die Literatur, die es in sich hat, und man kann nach der Ausleihe sich auf die Suche nach den ›Stellen‹ begeben, die die Weltliteratur bereithält. Alle amerikanischen Schulbehörden sollten es sich zur Aufgabe machen, sämtliche Texte der Weltliteratur auf obszöne Stellen zu durchforschen und dann den Schülern als Leselisten aushändigen. Bibliothekare, macht euch auf einen gewaltigen Ansturm gefaßt!
Zurück in die Steinzeit
Wenn diese Politiker der Gewalt noch davon sprechen, daß dem Gegner »das Messer an die Kehle zu setzen«, »der Mund zu stopfen« sei, oder »die Faust zu zeigen«; wenn sie überall »mit harter Faust durchgreifen« wollen oder mit »Aktionen auf eigene Faust« drohen: so bleibt nur erstaunlich, daß sie noch Redensarten gebrauchen, die sie nicht mehr machen. Die Regierung, die »mit aller Brutalität jeden niederschlagen will, der sich ihr entgegenstellt« — tut es. […] »Salz in offene Wunden streuen«. Einmal muß es geschehen sein, aber man hatte es vergessen bis zum Verzicht auf jede Vorstellung eines Tätlichen, bis zur völligen Unmöglichkeit des Bewußtwerdens. […] ›Als sich der alte Genosse beim Kartoffelschälen einen tiefen Schnitt in die Hand zufügte, zwang ihn eine hohnlachende Gesellschaft von Nazis, die stark blutende Hand in einen Sack mit Salz hineinzuhalten. Das Jammergeschrei des alten Mannes machte ihnen großen Spaß.‹ Es bleibt unvorstellbar; doch da es geschah, ist das Wort nicht mehr brauchbar. Oder: »mit einem blauen Auge davonkommen«. Nicht allen ist es jetzt im uneigentlichen Sinne gelungen; manchen im eigentlichen. Es war eine Metapher gewesen. Es ist nur noch dann eine, wenn das andere Auge verloren ging; oder auch dann nicht mehr. […] Die Floskel belebt sich und stirbt ab. In allen Gebieten sozialer und kultureller Erneuerung gewahren wir diesen Aufbruch der Phrase zur Tat. (Karl Kraus: Warum die Fackel nicht erscheint. In: Die Fackel, 36. Jg., H. 890–905 (Ende Juli 1923), 95f.)
Der israelische Verteidigungsminister hat jetzt damit gedroht, das Nachbarland Libanon »in die Steinzeit« zurückzuversetzen, sollte es abermals zu einem Krieg mit der dort tätigen Hisbollah-Miliz kommen. Der US-amerikanische General Curtis E. LeMay soll während des Vietnam-Krieges gesagt haben, man solle Vietnam »in die Steinzeit zurückbomben«. Im Jahre 1982 beschloß das israelische Kabinett die militärische Operation ›Schalom Hagalil‹ (Frieden für Galiläa), mit dem Ziel der physischen Zerstörung der ›Palästinensischen Befreiungsorganisation‹ (PLO). ›Krieg ist Frieden‹ heißt es in George Orwells Roman ›1984‹. Ein norwegischer Offizier der ›United Nations Interim Force in Lebanon‹ sagte dazu, dies sei der Versuch, »die PLO ins Steinzeitalter zurückzubomben«. Der Satz von Karl Kraus über den »Aufbruch der Phrase zur Tat« ist von nicht veraltender Aktualität. Verwandt mit der Phrase von der Steinzeit ist die Redewendung »dem Erdboden gleichmachen«. Hier bleibt man in der Kategorie des Raums, während es sich bei der Steinzeit um eine Kategorie der Zeit handelt. Das Resultat bleibt das gleiche. Und tatsächlich werden auch heute noch, wie jetzt mit der ukrainischen Stadt Marjinka (9.400 Einwohner) geschehen, Städte dem Erdboden gleichgemacht, also vollkommen zerstört. 1942 brannten NS-Truppen Lidice und Ležáky nieder, als Vergeltungsmaßnahme für das Attentat auf den SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich. In dem Film ›Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb‹ von Stanley Kubrik (1964) malen die US-Soldaten auf die Bomben, die sie über Rußland abwerfen sollen, Sprüche wie ›Hi There!‹ oder ›Dear John‹; vor wenigen Tagen signierte der ukrainische Präsident Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj den französischen Marschflugkörper ›Scalp‹ mit der Zeile: »Ruhm der Ukraine«, eine gängige Grußform in diesem Staat und der offizielle Gruß des ukrainischen Militärs. Und so setzen die Menschen auf der ganzen Welt und in allen Zeiten und Räumen fleißig die Sinngebung des Sinnlosen fort, jedesmal fest davon überzeugt, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen und deshalb auch bereit, jeden nur erdenklichen Unsinn zu sagen und zu schreiben, und wenn das nicht hilft, mit der ungeheuren Macht der militärischen Destruktionskräfte alles dem Erdboden gleichzumachen.
Hannovers Seelensuche
In Heinrich Heines ›Religion und Philosophie in Deutschland‹ (1834) wird von einer Sage berichtet, worin ein englischer Mechaniker einen künstlichen Menschen hergestellt hat, und dieser Maschinenmensch konnte sich wie ein Mensch gebärden, ja, er trug in sich »sogar eine Art menschlichen Gefühls«, womit dieser Maschinenmensch den bis heute produzierten Robotern weit überlegen war. Ja, er konnte darüber hinaus »in artikulierten Tönen seine Empfindungen mitteilen«, wozu auch der mit der neuesten künstlichen Intelligenz ausgestattete Roboter nicht und ganz sicher niemals fähig sein wird — aber wir bewegen uns im Bereich der Sage und da ist alles möglich. Der Maschinenmensch verfügt deshalb auch über etwas, worüber nur menschliche Wesen verfügen können: Selbstbewußtsein. Da er so etwas hat, leidet er, und er leidet, weil ihm doch eine Sache fehlt, für die ihm merkwürdigerweise ein Sinn gegeben ist: eine Seele. Und so wendet sich der Maschinenmensch an seinen Schöpfer und ruft unablässig und flehentlich: »Give me a soul!« Heine kommentiert dies mit den Worten, dies sei »eine grauenhafte Geschichte«.
Die Stadt Hannover ruft, seit das Stadtmarketing ihr diese Vorstellung eingegeben hat, ebenfalls nach einer Seele, die sie aber nicht Seele nennt, sondern: Slogan. Wieso tut sie das und weshalb ist die Lokalzeitung bereit, mehrere Seiten damit zu füllen und den Lesern und damit Teilen der hannoverschen Öffentlichkeit weiszumachen, daß hier das besteht, was man in der Sprache der Bürokratie ›Handlungsbedarf‹ nennt? Die Lokalzeitung titelt: »Hannover – wer bist du?« Die Worte »Identität« und »Image« fallen, und ein Appell ergeht an die Leser, sich zu diesem künstlichen Thema zu äußern.
›Stadtluft macht frei!‹ hieß es zu mittelalterlichen Zeiten, als man von Marketingstrategien und Werbekommandos noch verschont wurde, denn es bedeutete, daß ein seinem Grundherrn entlaufener Bauer ein Jahr lang sich innerhalb der schützenden Mauern einer Stadt aufhalten und dort arbeiten mußte, um das Bürgerrecht auf ständigen Aufenthalt in der Stadt zu erhalten und so vor den Nachstellungen seines Grundherrn, der den Bauern als sein persönliches Eigentum betrachtete, sicher war. Man darf vermuten, daß der so Freigewordene der Stadt dankbar war, dankbar dafür, daß es sie gab und daß er sich dort ein neues Leben aufbauen konnte. Aber niemals hätte die mittelalterliche Stadt von ihm verlangt, sich einen Slogan für diese Stadt auszudenken und Werbung für den Fremdenverkehr zu betreiben. Es gab zwar Handel zwischen den Städten, aber der moderne Tourist war noch nicht erfunden und es gab auch kein Bedürfnis danach. Daher war es den Bewohnern auch völlig gleichgültig, wie die Stadt, in der sie lebten und arbeiteten, im Vergleich mit anderen Städten ›abschnitt‹. Erst das Aufkommen der kapitalistischen Produktionsweise, der Zerfall des traditionellen Handwerks und der Manufakturbetriebe führten dazu, daß die Städte unterschiedliche Erkennungsmerkmale aufzuweisen begannen, aber auch dann dauerte es noch lange, bis endlich die Stadt als Ware auftrat und man anfing, diese Ware zu vermarkten. »Diese unbeirrbare Großstadtsucht, die noch aus einem Hotelmord Hoffnungen auf Hebung des Fremdenverkehrs schöpft« kommentierte 1918 Karl Kraus die Neigung der Stadt Wien, sich größer zu machen als sie ist und jede Gelegenheit auszuschöpfen, um Reklame für Wien zu machen. Doch damals war man noch weit vom heute bekannten Stadtmarketing entfernt, die Bemühungen, Fremde (das Wort wird heute vermieden, man spricht lieber von ›Gästen‹ oder auch von ›Touristen‹), die man in die Stadt locken (dieses Wort allerdings schämt man sich nicht, offen zu gebrauchen, auch das Wort ›Claim‹ geht dem lokalen Journalisten locker von der Zunge) will, unter Ausnutzung aller Mittel und Methoden. So bewarb sich Hannover, allerdings vergeblich, um den Titel einer ›Kulturhauptstadt‹. Ja, die Städte in aller Welt glauben an den Fetisch Kultur und wollen Kulturhauptstädte werden. Kultur ist eine Ware, sie wird zum Verkauf in Ausstellungen präsentiert. Die Ausstellung ist die Stadt mit all ihren kommerziellen Interessen. Auch das wußte Karl Kraus schon, als er in einem berühmten Aufsatz mit dem Titel ›Die Kultur im Dienste des Kaufmanns‹ ein ganzes Fackel-Heft (34. Jg., Nr. 873–875, Mitte April 1932) damit füllte. Kultur wird zum Lockvogel, zum Anhängsel der Gastwirte und Hoteliers. Aber um die Fremden anzulocken, braucht man ein Schlagwort, einen Slogan, so die Vorstellung von Politikern und Wirtschaftsleuten, der so zündend ist, daß alle Welt sich von dem unbezwingbaren Drang erfüllt fühlt, eine Fahrkarte nach Hannover zu lösen oder mit dem eigenen Wagen sofort hierher zu fahren.
Bei Pop- und Rock-Konzerten ist es üblich geworden, das Publikum in das Bühnengeschehen einzubeziehen, und deshalb kommt im Laufe des Abends irgendwann der Moment, wo eines der Bandmitglieder die Arme hochwirft und rhythmisch in die Hände zu klatschen beginnt. Dann ist die Stunde der ›audience participation‹ gekommen. Und alle klatschen mit. Das dachte sich auch das Lokalblatt und sagte sich: wieso vergibt die Stadt für teures Geld Werbeaufträge an Agenturen, wenn man das Ganze kostenlos haben kann, wenn man die Leser zu unbezahlten Werbeschmieden macht und sie dazu auffordert, Sprüche zu erfinden, die für die Stadt Hannover werben.
Selbstverständlich gab es die zu erwartenden Reaktionen und das Blatt druckte eine Auswahl der Slogans ab. Sie unterscheiden sich nicht von den durch professionelle Werbetexter erdachten Sätzen. Sie gleichen ihnen sogar, was nicht überrascht, da auch die Sprache der Leserbriefe in den meisten Fällen dem Stil der Zeitung entspricht, die man liest. Es gab sogar Leser, die sich die Mühe machten, in ganzen Sätzen die Vorzüge Hannovers zu beschreiben. Die Beziehung zwischen Wort und Gegenstand ist ein schwieriges Problem. Ludwig Wittgenstein hat sein ganzes Leben dieser Beziehung gewidmet. Das Problem bei Werbesprüchen für eine Stadt besteht darin, daß der Aussagegehalt in allen Fällen notwendigerweise willkürlich und sinnfrei sein muß. Nicht nur, daß man die Aussagen auf jede beliebige andere Stadt anwenden kann, nein, der Vorsatz, für eine Stadt einen Satz zu finden, der sie beschreibt, ist von vornherein zwecklos, es sei denn, man ist bereit, das zu glauben, was in dem Satz ausgesagt wird. In allen Fällen ist es heiße Luft, oder wie man jetzt auch gern sagt: Bullshit. Den Vogel hat die Industrie- und Handelskammer mit dem Satz ›Zukunft ist Programm‹ abgeschossen. Nicht einmal eine politische Partei, die das Wort Zukunft schon häufig auf Wahlplakaten hat pinseln lassen, würde diesen Satz, der ohne irgendeinen Bezug zu einer Wahrheit oder einer Wirklichkeit ist, übernehmen. Bullshit ist auch der Satz: ›Hannover, überraschend anders‹. Dem steht auch der Satz ›Hannover? Richtig gut!‹ nicht nach. Man braucht zur Probe nur statt Hannover einen anderen Stadtnamen einzusetzen, und schon wird die völlige Sinnleere deutlich.
Theodor Lessing hatte recht. Da er als kleiner Junge nicht die von der Mutter zubereitete Erbsensuppe essen wollte, brachte sie die Suppe unter anderen Namen auf den Tisch. So nannte sie die Erbsensuppe nun Schillersuppe, Lenausuppe, und als sie herausfand, daß ihr Kind für Johannes Scherr schwärmte, hieß die Suppe immer gelbe Scherrsuppe, und »dann aß ich alles in Begeisterung«. Als es mit der Verdauung nicht klappte, mußte das Kind einen aus Sennesblättern zubereiteten Tee trinken, aber die Mutter nannte das Abführmittel ›Blumentee‹. Der altgewordene Theodor Lessing zog daraus seine Lebensbilanz. »Man hat mir stets Sennesblätter vorgesetzt unter dem Namen Blumentee, Dummköpfe unter dem Namen Professor, Bösewichter unter dem Namen Landgerichtsdirektor, Menschenmörder unter dem Namen Medizinalrat. Ja, die Verblödung nannte sich immer Logik und die Entsinnlichung kam immer im Namen der Ethik. Und ich habe gläubig meine Sennesblätter getrunken, denn der Zweck heiligt die Mittel, und habe immer an die Blumen geglaubt, unten im Grunde der Tasse. Erst jetzt sehe ich allmählich ein: Es ist doch eigentlich alles nur der Zauber der Worte.« (Theodor Lessing: Zauber der Worte, 1929).