Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog
Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.
Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«
Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.
Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.
Auf der Jagd nach den ›Stellen‹
Im Bezirk der unanständigen Welt-Literatur sind in den letzten hundertundfünfzig Jahren nur Werke angeklagt worden, die zur Zeit der Anklage noch nicht klassisch waren. Platon ist mutiger gewesen; er warf dem klassischen Homer die pornographischen Zeus-Hera-Stellen vor. In unsern Zeiten aber ist man zu gebildet, um Ovid, Apulejus, Petronius, Shakespeare, Rabelais vor Gericht zu ziehn. […] Die Zoll-Behörde, die in Amerika zensiert, hat in ihren Regulationen auch ein Ausnahme-Recht für die »sogenannten Klassiker«. (Ludwig Marcuse: Obszön. Die Geschichte einer Entrüstung, 1962)
Die Schulbehörde in Hillsborough County im US-Bundesstaat Florida hat entschieden, daß Schüler nur noch Auszüge aus Shakespeares Werken im Unterricht zu lesen bekommen. Dies begründet sie erstens damit, daß die Schüler viele Werke kennen müßten, und deshalb sei es einfacher, Auszüge zu lesen als mehrere ganze Bücher. Zweitens bezieht sich die Schulbehörde darauf, daß es in Florida ein Gesetz gibt, wonach Themen wie Homo- oder Transsexualität im Schulunterricht nicht behandelt werden dürfen. »Es ist etwas Obszönes in Shakespeare« zitiert die ›Tampa Bay Times‹ einen Lehrer. Die Schulbehörde legt Wert auf die Tatsache, daß selbstverständlich alle Werke Shakespeares den Schülern zur Ausleihe in den Schulbüchereien weiterhin zur Verfügung stehen.
Ein Traum wird wahr. Welcher Schüler hatte schon jemals einen Überblick über die obszöne Literatur? (Wenn er oder sie nicht ohnehin die frei zugängliche reale Pornographie kostenlos im Internet konsumieren wollte, statt sich mit zu vielem Lesen die Augen zu verderben.) Dank der Schulbehörde in Hillsborough County bekommen alle Schüler nun wertvolle Hinweise auf die Literatur, die es in sich hat, und man kann nach der Ausleihe sich auf die Suche nach den ›Stellen‹ begeben, die die Weltliteratur bereithält. Alle amerikanischen Schulbehörden sollten es sich zur Aufgabe machen, sämtliche Texte der Weltliteratur auf obszöne Stellen zu durchforschen und dann den Schülern als Leselisten aushändigen. Bibliothekare, macht euch auf einen gewaltigen Ansturm gefaßt!
Zurück in die Steinzeit
Wenn diese Politiker der Gewalt noch davon sprechen, daß dem Gegner »das Messer an die Kehle zu setzen«, »der Mund zu stopfen« sei, oder »die Faust zu zeigen«; wenn sie überall »mit harter Faust durchgreifen« wollen oder mit »Aktionen auf eigene Faust« drohen: so bleibt nur erstaunlich, daß sie noch Redensarten gebrauchen, die sie nicht mehr machen. Die Regierung, die »mit aller Brutalität jeden niederschlagen will, der sich ihr entgegenstellt« — tut es. […] »Salz in offene Wunden streuen«. Einmal muß es geschehen sein, aber man hatte es vergessen bis zum Verzicht auf jede Vorstellung eines Tätlichen, bis zur völligen Unmöglichkeit des Bewußtwerdens. […] ›Als sich der alte Genosse beim Kartoffelschälen einen tiefen Schnitt in die Hand zufügte, zwang ihn eine hohnlachende Gesellschaft von Nazis, die stark blutende Hand in einen Sack mit Salz hineinzuhalten. Das Jammergeschrei des alten Mannes machte ihnen großen Spaß.‹ Es bleibt unvorstellbar; doch da es geschah, ist das Wort nicht mehr brauchbar. Oder: »mit einem blauen Auge davonkommen«. Nicht allen ist es jetzt im uneigentlichen Sinne gelungen; manchen im eigentlichen. Es war eine Metapher gewesen. Es ist nur noch dann eine, wenn das andere Auge verloren ging; oder auch dann nicht mehr. […] Die Floskel belebt sich und stirbt ab. In allen Gebieten sozialer und kultureller Erneuerung gewahren wir diesen Aufbruch der Phrase zur Tat. (Karl Kraus: Warum die Fackel nicht erscheint. In: Die Fackel, 36. Jg., H. 890–905 (Ende Juli 1923), 95f.)
Der israelische Verteidigungsminister hat jetzt damit gedroht, das Nachbarland Libanon »in die Steinzeit« zurückzuversetzen, sollte es abermals zu einem Krieg mit der dort tätigen Hisbollah-Miliz kommen. Der US-amerikanische General Curtis E. LeMay soll während des Vietnam-Krieges gesagt haben, man solle Vietnam »in die Steinzeit zurückbomben«. Im Jahre 1982 beschloß das israelische Kabinett die militärische Operation ›Schalom Hagalil‹ (Frieden für Galiläa), mit dem Ziel der physischen Zerstörung der ›Palästinensischen Befreiungsorganisation‹ (PLO). ›Krieg ist Frieden‹ heißt es in George Orwells Roman ›1984‹. Ein norwegischer Offizier der ›United Nations Interim Force in Lebanon‹ sagte dazu, dies sei der Versuch, »die PLO ins Steinzeitalter zurückzubomben«. Der Satz von Karl Kraus über den »Aufbruch der Phrase zur Tat« ist von nicht veraltender Aktualität. Verwandt mit der Phrase von der Steinzeit ist die Redewendung »dem Erdboden gleichmachen«. Hier bleibt man in der Kategorie des Raums, während es sich bei der Steinzeit um eine Kategorie der Zeit handelt. Das Resultat bleibt das gleiche. Und tatsächlich werden auch heute noch, wie jetzt mit der ukrainischen Stadt Marjinka (9.400 Einwohner) geschehen, Städte dem Erdboden gleichgemacht, also vollkommen zerstört. 1942 brannten NS-Truppen Lidice und Ležáky nieder, als Vergeltungsmaßnahme für das Attentat auf den SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich. In dem Film ›Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb‹ von Stanley Kubrik (1964) malen die US-Soldaten auf die Bomben, die sie über Rußland abwerfen sollen, Sprüche wie ›Hi There!‹ oder ›Dear John‹; vor wenigen Tagen signierte der ukrainische Präsident Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj den französischen Marschflugkörper ›Scalp‹ mit der Zeile: »Ruhm der Ukraine«, eine gängige Grußform in diesem Staat und der offizielle Gruß des ukrainischen Militärs. Und so setzen die Menschen auf der ganzen Welt und in allen Zeiten und Räumen fleißig die Sinngebung des Sinnlosen fort, jedesmal fest davon überzeugt, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen und deshalb auch bereit, jeden nur erdenklichen Unsinn zu sagen und zu schreiben, und wenn das nicht hilft, mit der ungeheuren Macht der militärischen Destruktionskräfte alles dem Erdboden gleichzumachen.
Hannovers Seelensuche
In Heinrich Heines ›Religion und Philosophie in Deutschland‹ (1834) wird von einer Sage berichtet, worin ein englischer Mechaniker einen künstlichen Menschen hergestellt hat, und dieser Maschinenmensch konnte sich wie ein Mensch gebärden, ja, er trug in sich »sogar eine Art menschlichen Gefühls«, womit dieser Maschinenmensch den bis heute produzierten Robotern weit überlegen war. Ja, er konnte darüber hinaus »in artikulierten Tönen seine Empfindungen mitteilen«, wozu auch der mit der neuesten künstlichen Intelligenz ausgestattete Roboter nicht und ganz sicher niemals fähig sein wird — aber wir bewegen uns im Bereich der Sage und da ist alles möglich. Der Maschinenmensch verfügt deshalb auch über etwas, worüber nur menschliche Wesen verfügen können: Selbstbewußtsein. Da er so etwas hat, leidet er, und er leidet, weil ihm doch eine Sache fehlt, für die ihm merkwürdigerweise ein Sinn gegeben ist: eine Seele. Und so wendet sich der Maschinenmensch an seinen Schöpfer und ruft unablässig und flehentlich: »Give me a soul!« Heine kommentiert dies mit den Worten, dies sei »eine grauenhafte Geschichte«.
Die Stadt Hannover ruft, seit das Stadtmarketing ihr diese Vorstellung eingegeben hat, ebenfalls nach einer Seele, die sie aber nicht Seele nennt, sondern: Slogan. Wieso tut sie das und weshalb ist die Lokalzeitung bereit, mehrere Seiten damit zu füllen und den Lesern und damit Teilen der hannoverschen Öffentlichkeit weiszumachen, daß hier das besteht, was man in der Sprache der Bürokratie ›Handlungsbedarf‹ nennt? Die Lokalzeitung titelt: »Hannover – wer bist du?« Die Worte »Identität« und »Image« fallen, und ein Appell ergeht an die Leser, sich zu diesem künstlichen Thema zu äußern.
›Stadtluft macht frei!‹ hieß es zu mittelalterlichen Zeiten, als man von Marketingstrategien und Werbekommandos noch verschont wurde, denn es bedeutete, daß ein seinem Grundherrn entlaufener Bauer ein Jahr lang sich innerhalb der schützenden Mauern einer Stadt aufhalten und dort arbeiten mußte, um das Bürgerrecht auf ständigen Aufenthalt in der Stadt zu erhalten und so vor den Nachstellungen seines Grundherrn, der den Bauern als sein persönliches Eigentum betrachtete, sicher war. Man darf vermuten, daß der so Freigewordene der Stadt dankbar war, dankbar dafür, daß es sie gab und daß er sich dort ein neues Leben aufbauen konnte. Aber niemals hätte die mittelalterliche Stadt von ihm verlangt, sich einen Slogan für diese Stadt auszudenken und Werbung für den Fremdenverkehr zu betreiben. Es gab zwar Handel zwischen den Städten, aber der moderne Tourist war noch nicht erfunden und es gab auch kein Bedürfnis danach. Daher war es den Bewohnern auch völlig gleichgültig, wie die Stadt, in der sie lebten und arbeiteten, im Vergleich mit anderen Städten ›abschnitt‹. Erst das Aufkommen der kapitalistischen Produktionsweise, der Zerfall des traditionellen Handwerks und der Manufakturbetriebe führten dazu, daß die Städte unterschiedliche Erkennungsmerkmale aufzuweisen begannen, aber auch dann dauerte es noch lange, bis endlich die Stadt als Ware auftrat und man anfing, diese Ware zu vermarkten. »Diese unbeirrbare Großstadtsucht, die noch aus einem Hotelmord Hoffnungen auf Hebung des Fremdenverkehrs schöpft« kommentierte 1918 Karl Kraus die Neigung der Stadt Wien, sich größer zu machen als sie ist und jede Gelegenheit auszuschöpfen, um Reklame für Wien zu machen. Doch damals war man noch weit vom heute bekannten Stadtmarketing entfernt, die Bemühungen, Fremde (das Wort wird heute vermieden, man spricht lieber von ›Gästen‹ oder auch von ›Touristen‹), die man in die Stadt locken (dieses Wort allerdings schämt man sich nicht, offen zu gebrauchen, auch das Wort ›Claim‹ geht dem lokalen Journalisten locker von der Zunge) will, unter Ausnutzung aller Mittel und Methoden. So bewarb sich Hannover, allerdings vergeblich, um den Titel einer ›Kulturhauptstadt‹. Ja, die Städte in aller Welt glauben an den Fetisch Kultur und wollen Kulturhauptstädte werden. Kultur ist eine Ware, sie wird zum Verkauf in Ausstellungen präsentiert. Die Ausstellung ist die Stadt mit all ihren kommerziellen Interessen. Auch das wußte Karl Kraus schon, als er in einem berühmten Aufsatz mit dem Titel ›Die Kultur im Dienste des Kaufmanns‹ ein ganzes Fackel-Heft (34. Jg., Nr. 873–875, Mitte April 1932) damit füllte. Kultur wird zum Lockvogel, zum Anhängsel der Gastwirte und Hoteliers. Aber um die Fremden anzulocken, braucht man ein Schlagwort, einen Slogan, so die Vorstellung von Politikern und Wirtschaftsleuten, der so zündend ist, daß alle Welt sich von dem unbezwingbaren Drang erfüllt fühlt, eine Fahrkarte nach Hannover zu lösen oder mit dem eigenen Wagen sofort hierher zu fahren.
Bei Pop- und Rock-Konzerten ist es üblich geworden, das Publikum in das Bühnengeschehen einzubeziehen, und deshalb kommt im Laufe des Abends irgendwann der Moment, wo eines der Bandmitglieder die Arme hochwirft und rhythmisch in die Hände zu klatschen beginnt. Dann ist die Stunde der ›audience participation‹ gekommen. Und alle klatschen mit. Das dachte sich auch das Lokalblatt und sagte sich: wieso vergibt die Stadt für teures Geld Werbeaufträge an Agenturen, wenn man das Ganze kostenlos haben kann, wenn man die Leser zu unbezahlten Werbeschmieden macht und sie dazu auffordert, Sprüche zu erfinden, die für die Stadt Hannover werben.
Selbstverständlich gab es die zu erwartenden Reaktionen und das Blatt druckte eine Auswahl der Slogans ab. Sie unterscheiden sich nicht von den durch professionelle Werbetexter erdachten Sätzen. Sie gleichen ihnen sogar, was nicht überrascht, da auch die Sprache der Leserbriefe in den meisten Fällen dem Stil der Zeitung entspricht, die man liest. Es gab sogar Leser, die sich die Mühe machten, in ganzen Sätzen die Vorzüge Hannovers zu beschreiben. Die Beziehung zwischen Wort und Gegenstand ist ein schwieriges Problem. Ludwig Wittgenstein hat sein ganzes Leben dieser Beziehung gewidmet. Das Problem bei Werbesprüchen für eine Stadt besteht darin, daß der Aussagegehalt in allen Fällen notwendigerweise willkürlich und sinnfrei sein muß. Nicht nur, daß man die Aussagen auf jede beliebige andere Stadt anwenden kann, nein, der Vorsatz, für eine Stadt einen Satz zu finden, der sie beschreibt, ist von vornherein zwecklos, es sei denn, man ist bereit, das zu glauben, was in dem Satz ausgesagt wird. In allen Fällen ist es heiße Luft, oder wie man jetzt auch gern sagt: Bullshit. Den Vogel hat die Industrie- und Handelskammer mit dem Satz ›Zukunft ist Programm‹ abgeschossen. Nicht einmal eine politische Partei, die das Wort Zukunft schon häufig auf Wahlplakaten hat pinseln lassen, würde diesen Satz, der ohne irgendeinen Bezug zu einer Wahrheit oder einer Wirklichkeit ist, übernehmen. Bullshit ist auch der Satz: ›Hannover, überraschend anders‹. Dem steht auch der Satz ›Hannover? Richtig gut!‹ nicht nach. Man braucht zur Probe nur statt Hannover einen anderen Stadtnamen einzusetzen, und schon wird die völlige Sinnleere deutlich.
Theodor Lessing hatte recht. Da er als kleiner Junge nicht die von der Mutter zubereitete Erbsensuppe essen wollte, brachte sie die Suppe unter anderen Namen auf den Tisch. So nannte sie die Erbsensuppe nun Schillersuppe, Lenausuppe, und als sie herausfand, daß ihr Kind für Johannes Scherr schwärmte, hieß die Suppe immer gelbe Scherrsuppe, und »dann aß ich alles in Begeisterung«. Als es mit der Verdauung nicht klappte, mußte das Kind einen aus Sennesblättern zubereiteten Tee trinken, aber die Mutter nannte das Abführmittel ›Blumentee‹. Der altgewordene Theodor Lessing zog daraus seine Lebensbilanz. »Man hat mir stets Sennesblätter vorgesetzt unter dem Namen Blumentee, Dummköpfe unter dem Namen Professor, Bösewichter unter dem Namen Landgerichtsdirektor, Menschenmörder unter dem Namen Medizinalrat. Ja, die Verblödung nannte sich immer Logik und die Entsinnlichung kam immer im Namen der Ethik. Und ich habe gläubig meine Sennesblätter getrunken, denn der Zweck heiligt die Mittel, und habe immer an die Blumen geglaubt, unten im Grunde der Tasse. Erst jetzt sehe ich allmählich ein: Es ist doch eigentlich alles nur der Zauber der Worte.« (Theodor Lessing: Zauber der Worte, 1929).
Einer geht noch
Hat ein Mann übermächtige Muskeln, dann ist er: ›Rudi der Eisenkönig‹. Hat man Muskelschwund, so macht man die Nummer: ›Das lebende Skelett‹. Einer ist ganz Magen (kann Glas schlucken, kann Nägel verdauen). Kurz: irgendeine gewinnbringende Entartung der Natur hat ein jeder und kann sie verstärken, ausbilden, unterstreichen. Dann ist man immerhin Etwas und macht im Leben eine Nummer. (Theodor Lessing: Schmerzensruf eines Normalen, 1927)
Denn das gewöhnliche Leben ist für manche ein Grauen. Kommt man jedoch mit einer besonderen Begabung auf die Welt, zum Beispiel einem stapazierfähigen Magen, dann ist die Versuchung groß oder liegt es nahe, etwas daraus zu machen, vielleicht sogar einen lebenslänglich ausgeübten Beruf. In früheren Zeiten, als man das Marketing noch nicht kannte, traten solche Leute auf Jahrmärkten auf und zeigten dort ihre einzigartigen Fähigkeiten. So Nicolas Wood, der ein ganzes Schaf aß, bei einer anderen Gelegenheit vierundachtzig Kaninchen, und wieder ein anderes Mal vierhundert Tauben. In John Taylors Buch ›The great eater, of Kent, or Part of the admirable teeth and stomacks exploits of Nicholas Wood‹ (1630) wird dies behauptet und beschrieben. Über dreihundert Jahre später tritt ein französischer Schausteller auf, der sich ›Monsieur Mangetout‹ nennt und verzehrt, mit einer Elektrosäge kleingeschnitten, in den Jahren 1966 bis 1997 achtzehn Fahrräder, fünfzehn Supermarktwagen, sieben Fernseher, sechs Leuchter, zwei Betten, ein Paar Ski, ein Leichtflugzeug, einen Computer und einen Sarg. In einen solchen wurde er im Alter von siebenundfünfzig Jahren gebettet. Man nennt solche Menschen heute Freaks, weil sie ganz offensichtlich zwar zur menschlichen Rasse hinzugezählt werden können, aber doch so weit vom Normalmaß abweichen, daß sie nur als eine Laune der Natur von der Gesellschaft Anerkennung erfahren. So bewundert man den Feuerschlucker und zollt seiner Kunst Beifall, aber man selbst möchte doch bei der Erledigung solcher Kunststückchen ein bloßer Zuschauer bleiben.
Aber nicht nur die Kirche hat einen großen Magen, wie Mephistopheles im Goethes ›Faust‹ sagt (»Die Kirche hat einen guten Magen, / Hat ganze Länder aufgefressen, / Und doch noch nie sich übergessen; / Die Kirch’ allein, meine liebe Frauen, / Kann ungerechtes Gut verdauen.«), im 19. Jahrhundert in Paris füllte der wohlhabende Bourgeois seinen Magen mit beträchtlichen Portionen. »Der erste Akt dieses eines Pantagruel würdigen Mahls dauert von sechs Uhr abends bis Mitternacht: Suppe à la Crécy, zuvor mehrere Gläser herber Wein; Steinbutt in Kapernsauce, Rinderfilet, geschmorte Lammkeule, Poularde im Kasten, Kalbszunge im Sud, Sorbets in Maraschino, gebratenes Huhn, Cremes, Torten und Teilchen, alles begossen mit sechs Flaschen altem Burgunder pro Kopf. Von Mitternacht bis sechs Uhr morgens dauert der zweite Akt. Es werden serviert: eine oder mehrere Tassen Tee, Schildkrötensuppe, indischer Kari aus sechs Hühnern, Lachs mit Schnittlauch, Rehschnitzel mit spanischem Pfeffer, Schollenfilet mit Trüffelsauce, Artischocken mit Javapfeffer, Sorbets mit Rum, schottisches Haselhuhn mit Whisky, englische Puddings mit Rum, stark gewürzte englische Kuchen, alles begossen mit drei Flaschen Burgunder und drei Flaschen Bordeaux pro Kopf. Der dritte Akt dauert schließlich von sechs Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags: Man reicht eine äußerst stark gepfefferte Zwiebelsuppe und eine Unmenge nicht gesüßter Backwaren, dazu vier Flaschen Champagner pro Kopf. Dann geht man zum Kaffee über, begleitet von einer ganzen Flasche Cognac, Kirsch oder Rum.« (Alfred Delvau: Les plaisirs de Paris, 1867, 126f., zit. n. Jean-Paul Aron: Le mangeur du XIXe siècle, Paris [1973; ²1989]; dt. Der Club der Bäuche. Ein gastronomischer Führer durch das Paris des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1993, 85). Allein bei der Vorstellung, diese Unmengen auf einen Sitz verschlingen zu müssen, denn von Genießen kann man bei diesem Überangebot wohl nicht sprechen, wird einem übel. Diese Passage könnte auch einem der Romane des Marquis de Sade entnommen sein, einer der Folterszenen, mit der die armen Opfer zu Tode gequält werden. Aber das ist unsere heutige Sicht, manche Menschen des 19. Jahrhunderts empfanden nichts dabei, auf einmal hundert Austern zu verspeisen (Aron 1993, 137) oder, kaum daß sie zwölf Dutzend Austern verputzt hatten, noch einmal soviel nachbestellten (Aron 1993, 195) und dann erst das nachfolgende Diner beginnen ließen. Was diese Vielfraße dazu brachte, solche Mengen zu essen, war der Wunsch nach einer nicht endenwollenden Geschmacksorgie.
Darin unterschieden sie sich von den heutigen Wettessern, die für ein Preisgeld bei einem ›Hot Dog Eating Contest‹ innerhalb von zehn Minuten die größte Zahl an Brötchen mit heißer Wurst zu verdrücken. Ließen sich die Gourmets und Gourmands der Pariser Bourgeoisie noch einzig und allein vom allerdings übermäßigen Genuß der köstlich zubereiteten Speisen leiten, so schert es die Heiße Wurst-Verschlinger nicht mehr, wie diese schmecken, da es nur darauf ankommt, ein Höchstmaß an Quantität zu erreichen innerhalb eines knapp bemessenen Zeitraums. Effizienz steht im Vordergrund ihres Schauessen vor Publikum, nicht das Schwelgen in vielen, von Meisterköchen zubereiteten Köstlichkeiten. Ein ›competitive eater‹ tritt an, der zuvor ein langes Training absolviert haben muß, um sich überhaupt Chancen für den Titelgewinn ausrechnen zu dürfen. Dem momentanen Titelträger Joey Chestnut aus den USA hat man den Spitznamen ›Jaws‹ beigegeben, was nicht nur an den Weißen Hai (der berühmte Film aus dem Jahre 1975 hieß im Original ›Jaws‹) erinnert, sondern eben auch darauf hinweist, wie wichtig ein großes Maul, ein kräftiger Kiefer, ein aufnahmefähiger Rachen ist. Dazu wird ein Übungsgerät für den Mund eingesetzt, das dabei helfen soll, die Kaumuskulatur zu straffen. Auch wird der erfolgsorientierte ›competitive eater‹ vor dem Wettbewerb täglich Gewichtheben mit dem Kiefer üben. 2018 brach Joey Chestnut den Weltrekord mit vierundsiebzig Hotdogs, dieses Jahr gewann er, indem er innerhalb von zehn Minuten zweiundsechzig Hotdogs hinunterstopfte. Wenn auf dem Tisch zuviel heruntergefallene Brösel und Wurstreste von den Preisrichtern registriert werden, gibt es Punkteabzug. Sauberkeit wird hier großgeschrieben, es soll zwar so schnell wie möglich eine möglichst hohe Zahl von Hotdogs verspeist werden, aber Unordnung auf der Tafel verstößt gegen die puritanischen Tischsitten. Wie man sich vorstellen kann, ist das Ganze eine sehr ungesunde Angelegenheit, doch die Wahrscheinlichkeit, an verdorbenem Magen zu sterben, ist viel geringer als die Tatsache, daß die meisten Todesfälle beim ›competitive eating‹ durch Ersticken erfolgt sind. Was dem Vielesser seine Austern waren, »die besten Truppen, die Sie vorschicken können, um die gastronomische Schlacht in Gang zu bringen« (Horace Raisson: Code gourmand, Paris 1827, 88; zit. n. Jean-Paul Aron: Le mangeur du XIXe siècle, Paris [1973; ²1989]; dt. Der Club der Bäuche. Ein gastronomischer Führer durch das Paris des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1993, 345), das sind heute die Hotdogs als mundgerechte Waffen, mit denen man sich gegen die Kontrahenten durchsetzt. Aber Achtung! Wir sind alle längst zu solchen Wettsportessern geworden. Der Besuch in einem Fast Food-›Restaurant‹ bedeutet, sich auf einen schnellen Eintritt, einen schnellen Verzehr und einen schnellen Abgang einzustellen. (Vgl. George Ritzer: The McDonaldization of Society, Newbury Park, Calif. 1993; dt. Die McDonaldisierung der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997). Und so sind wir genauso vulgär geworden wie der Schriftsteller und Milliadär Raymond Roussel, der um 1920 von zwölf Uhr mittags bis fünf Uhr morgens sechzehn Gerichte auf einmal verzehrte. (Vgl. Jean-Paul Aron: Le mangeur du XIXe siècle, Paris [1973; ²1989]; dt. Der Club der Bäuche. Ein gastronomischer Führer durch das Paris des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1993, 355). Oder sind wir alle Exzentriker geworden?
Ästhetik des Häßlichen oder Und warum nicht?
Im Sommer kann man auf den Straßen das anschauen, was Karl Rosenkranz 1853 in seinem Buch ›Ästhetik des Häßlichen‹ weitausgreifend philosophisch-psychologisch zu begründen versucht hat. Schon die Einleitung ist für die Mitte des 19. Jahrhunderts ganz schön flott: »Eine Ästhetik des Häßlichen. Und warum nicht?« Hier kündigt sich die allerneueste Zeit an, es wird modisch im Stil und in der Kleidung. Was sieht man auf den sommerlichen Straßen jeder Stadt, ob groß, mittel oder klein? Sehr viel Häßliches. Und warum nicht? sagen sich viele Bürger und Bürgerinnen, und holen ihre Sommerkleider aus dem Schrank. Mal sehen, da haben wir die Hawaiihemd-Abteilung, daraus bedient man sich immer gern. Lassen Sie mich gar nicht erst auf die verschiedenen Oberhemden eingehen, die die heutige Mannheit in der Gegend herumspazieren führt. Selbstverständlich ist eine kurze Hose für Männer ein Muß. Zeigt her eure Beine, zeigt her eure Schuh. Gürtel sind wichtig, weil sie den das kurze Hemd und die kurze Hose tragenden deutschen Mann zusammenhalten, an der Stelle zusammenhalten, wo die Wölbung des ganzen Körpers sich am deutlichsten zeigt. Natürlich steckt er das kurze Hemd in die kurze Hose, nur so kann man dann den Passanten auch präsentieren, was man mit ganzem Stolz vor sich herträgt wie eine Monstranz: den Schmerbauch, die Wampe, oder, wenn wir uns vornehmer und etwas antiquiert ausdrücken wollen: den Embonpoint. Man könnte ein langes Hemd über dem Gürtel und der Hose tragen, ein weit geschnittenes Hemd, das gnädig die deutlich hervor ragende Mitte des Gesamtkörpers bedeckt, doch nein, im Sommer muß alles herausquellen, vor allem das nicht erst im vergangenen Winter angesammelte Bauchfett. »Der dicke Bauch, der so viel Inconvenienzen mit sich bringt, vor welchem der Inhaber seine eigenen Füße nicht mehr sehen kann, der so boshaft den Dichtern das Ätherische, den Priestern das Geistliche nimmt, der dicke Bauch, den man vor sich hertragen muß und der an einer Straßenecke eher, als sein Träger, sichtbar wird.« (Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen, Königsberg 1853, 232)
Auch manche Frauen stehen dem in nichts nach, und oft schon ist es vorgekommen, daß man einer Dame in aller Freundlichkeit alles Gute für die bevorstehende Niederkunft gewünscht oder gefragt hat, wann es denn soweit sei. »Wann ist was soweit?« wurde einem dann entgegnet, zusammen mit erdolchenden Blicken, die den eigentlich nur das Beste wünschenden Gratulanten trafen. Es ist sogar schon vorgekommen, daß man einem Mann Segenswünsche für das zu erwartende neue Erdenkind gewünscht hat, weil im Zuge der Angleichung der Geschlechter man nicht in jedem Falle sicher sein kann, mit wem man es gerade zu tun hat und manche Bauchwölbungen einem Schwangerschaftsbäuchlein doch sehr ähnlich sehen. Shocking! Wie barmherzig ist doch dagegen ein Wintermantel, wie hat er doch Verständnis und Mitgefühl für unseren verletzten ästhetischen Sinn, indem er alles das verhüllt, was man nicht zu sehen wünscht. Aber die kurze Hose ist auch nicht ohne. Nicht jeder Mann verfügt über solche Beine, wie sie Tony Curtis in den Filmrollen vorgeführt hat, in denen er kurze Hosen (oder ein Kostüm) hat tragen müssen. Ganz im Gegenteil, hier wird die ganze Tragweite der Ästhetik des Häßlichen erfaßbar. Das Grauen kommt einem entgegen, entweder in der kurzen Hose oder in Cargo Shorts. Der Winter war wie immer lang, sehr lang, und wer geht schon zum Bräunen der Beine während dieser Zeit ins Sonnenstudio? Ein fahler gelblichweißlicher Farbton zeichnet diese Sommerbeine aus, sie sehen aus wie gerade aus dem Riesen-Ei einer urzeitlichen Echse geschlüpft. Das ist noch nicht alles. Während jede westliche Frau wie selbstverständlich sich der Prozedur der Enthaarung unterzieht, da weder nackte Beine noch bestrumpfte gut aussehen, wenn sie von einem Haargeflecht überzogen sind oder durchscheinen, meinen Männer, daß es Teil ihrer ›Männlichkeit‹ sei, wenn sie alles so belassen, wie es ihnen die Natur mitgegeben hat. Das gilt dann auch für die grauenerregende Brustbehaarung, wo die Geschmacklosigkeit noch gesteigert wird, wenn ein Goldkettchen sich in diesem Dickicht verfängt. Da helfen auch die jetzt gerade als modisch erklärten ›Transparenz-Tops‹ (für Männer) nichts, es geht doch zu sehr in Richtung Zuhälter-Ästhetik.
Männerbeine sind häßlich, sie dienen der Fortbewegung, aber das ist auch schon alles. Diese Säbelbeine und ihre Eigentümer, diese stachligen, wie von dem Wilhelm Busch’schen Elephanten in einen Kaktus geworfenen Kreaturen, die nicht merken, wie häßlich sie aussehen. Da werden auf der Welt Frauen mit wunderschönem langen Haar verfolgt, weil sie kein Kopftuch tragen, aber nackte Männerbeine läßt man unbehelligt von Staat und Polizei frei herumlaufen. Es wird stets das Falsche verboten. Oder es wird etwas erlaubt, wovon dann keiner mit Recht einen Gebrauch macht. So dürfen seit neuestem Frauen in Hannover in den Schwimmbädern ›oben ohne‹ herumlaufen, doch bisher war die Ingebrauchnahme dieses neu installierten Rechts auf Nacktheit mäßig. Und wen haben sich die für dieses Recht sich öffentlich rührenden Frauen zum Vorbild genommen? Männer mit freiem Oberkörper! Als wenn man den männlichen Körper in all seinen bedauernswerten Einzelteilen mit dem weiblichen vergleichen kann. Der nackte Mann ist kein schöner Anblick, ein Funktionsgestell, das als sexuelles Gegenstück zum weiblichen Körper notwendig für den Fortbestand der menschlichen Rasse ist, mehr aber auch nicht. Man kann sagen: ja, aber die Muskeln! Doch wer hat die schon und wer hat die Gelegenheit, sie öffentlich zur Schau zu tragen? Höchstens professionelle Boxer, die sich dann aber im Ring grün und blau schlagen lassen und die deformierte Boxernase ist nur ein Moment in der im ganzen abstoßenden Erscheinung dieses widerlichen Sports. Hingegen sieht eine Frau auch mit einer nicht nach klassischen Schönheitsidealen geformten Figur immer noch tausendmal besser aus als jeder Mann. Der weibliche Körper ist ein von der Evolution geschaffenes Kunstwerk. Die von Michelangelo geschaffene David-Figur in Florenz, über fünf Meter hoch und fast sechs Tonnen schwer, bildet da keine Ausnahme. Sicher ist sie formvollendet in ihrer Art, kaum ein lebender Mann wird diese Wohlproportioniertheit erreichen, aber verglichen mit weiblichen Statuen ist sie doch ästhetisch unbefriedigend. In den sommerlichen Straßen und Fußgängerzonen wird man einem solchen David nicht begegnen. Weder nackt, gottlob nicht, und auch nicht in Shorts. Die Fernbedienung ist noch nicht erfunden, mit der man den überwiegend häßlichen Teil der spazierenden Menschheit einfach wegzappen könnte. Obwohl … kennen Sie den australischen Schauspieler Simon Baker? Nein? Vielleicht doch, falls Sie die Fernsehserie ›The Mentalist‹ gesehen haben sollten. Sehen Sie, der sieht wirklich gut aus in seinem lässigen Anzug und seinen locker gekämmten blonden Haaren. Aber der ist auch ordentlich gekleidet und läuft nicht unten ohne herum. Na ja, eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Nein, heute werde ich wohl zuhause bleiben.
Trojanisches Pferd vor Lemberg
Während der Krieg des russischen Staates gegen seinen Nachbarstaat, die Ukraine, täglich fortgesetzt wird und beide Seiten zuversichtlich in die nähere Zukunft blicken, in der Annahme, daß die jeweils andere Seite den Krieg ›gewinnen‹ wird, auch wenn es seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte noch niemals einen Krieg gegeben hat, den eine der beteiligten Parteien wirklich gewonnen hätte, denn Krieg bedeutet im Gegensatz zu dieser Wahnvorstellung immer die Niederlage und den Verlust beider Kriegsparteien, hat sich an den Grenzen der Ukraine ein aus der griechischen Mythologie bekanntes Pferd aufgestellt, ein Trojanisches Pferd. Bekanntlich saßen im Bauch dieses hölzernen Giganten griechische Soldaten, die, nachdem die Einwohner von Troja unbedacht das Gestell in ihre Stadt gezogen hatten, ausbrachen, die Stadttore öffneten, damit das vor den Toren stehende Heer eindringen und die Stadt und ihre Bewohner überwältigen konnte.
Das Trojanische Pferd trägt heute den Namen Philip Morris, sein Ziel und Auftrag ist die Produktion von zehn Milliarden Zigaretten auf dem Gebiet der Ukraine. In der Nähe von Lemberg, das bisher von den Angriffen der russischen Armee verschont geblieben ist, soll eine Fertigungsanlage errichtet werden. Der Marktanteil des größten Zigarettenherstellers der Welt war seit dem Beginn des Überfalls auf die Ukraine auf zwanzig Prozent heruntergegangen, vor dem Krieg betrug er noch zehn Prozent mehr. Heute stammt jede dritte verkaufte Zigarettenpackung aus illegalen Quellen. Das durfte man nicht weiter hinnehmen, und so werden von außen wohl noch lange Raketen und Drohnen als rauchende Todesbringer ins Land geschossen werden, während im Inneren des Landes die rauchende Bevölkerung mit jährlich zehn Milliarden Zigaretten täglich kleine trojanische Pferde in ihre Lungen einlassen wird. Langfristig gesehen, ist das gewiß die bessere Kriegsführung. Aber der Konzern Philip Morris ist nicht Partei, seine Zigaretten finden auch in Rußland großen Zuspruch und Nachfrage. Für den freien Westen ist indes eine andere Zukunft angebrochen. Philip Morris präsentiert sich dort als Vorkämpfer gegen die herkömmlichen Zigaretten, die aus Tabak hergestellt werden, und wirbt für Tabakerhitzer und E-Zigaretten. Der osteuropäische und auch der asiatische Raum hingegen soll erst einmal weiter die traditionellen Zigaretten verbrauchen, zumal es in diesen Gebieten auch mehr als genug Menschen gibt und es bei einem frühen Rauchertod doch schnell nachwachsende Generationen gibt, die den Ausfall der bisherigen Konsumenten ausgleichen werden.
Vgl. den Blog vom 31.05.2023 (Ein Laster kommt selten allein)
»Si comprehendis, non est Deus«
A.: Das Bayerische Verwaltungsgericht hat im September 2022 zwei Klagen gegen den ›Kreuzerlaß‹ der Bayerischen Staatsregierung für zulässig, aber unbegründet erklärt.
B.: Was sagen Sie? Zulässig, aber unbegründet? Wie ist so etwas möglich und wie kann man sich so etwas überhaupt vorstellen?
A.: Ganz einfach. Es gibt einen Paragraphen der ›Allgemeinen Geschäftsordnung für die Behörden des Freistaates Bayern‹ (AGO), der das Anbringen von Kreuzen, mit dem objektiv-rechtlichen Neutralitätsgebot des Staates in Konflikt bringt.
B.: Was ist los? Haben Sie etwas genommen?
A.: Beruhigen Sie sich. Das Kreuz sei als Symbol christlich-religiöser Überzeugung anzusehen, nicht aber nur als Ausdruck der vom Christentum mitgeprägten abendländischen Kultur, wie das die Bayerische Staatsregierung durch einen ihrer rechtlichen Vertreter vorgebracht hat.
B.: Ja, und?
A.. Nun, daraus folgt für das Gericht, daß dies noch keine einklagbaren subjektiven Rechte begründet.
B.: Ich verstehe gar nichts.
A.: Lassen Sie mich Ihnen auf die Sprünge helfen.
B.: Ich bitte darum.
A.: Einen Abwehranspruch könnten die Kläger nur dann geltend machen, wenn eines der Grundrechte verletzt sei, aus denen sich die staatliche Neutralitätspflicht herleite. Eine Verletzung der Kläger in ihrem Grundrecht auf Religions- und Weltanschaungsfreiheit läge aber nicht vor. Nach Paragraph 28 AGO würden die Kreuze im Eingangsbereich der Dienstgebäude angebracht. Dies sei aber lediglich ein Durchgangsbereich.
B.: Ich fürchte, ich weiß schon, was Sie jetzt gleich sagen werden.
A.: Da könnten Sie recht haben. Behördenbesucher seien, so das Gericht in seinem Urteil, mit dem Kreuz »nur flüchtig« konfrontiert. Und dies unterscheide den vorliegenden Sachverhalt von Kreuzen, die in einem Schulklassenzimmer an der Wand angebracht seien.
B.: Aha, wenn also eine Nonne mit einem Kreuz auf ihrer Brust im Eingangsbereich staatlicher Dienststellen an mir vorbeischlendert, handelt es sich dann auch nur um eine flüchtige Begegnung und daher werde ich durch die Nonne und ihr Kreuz noch nicht weltanschaulich beeinflußt. Es sei denn, es handelt sich vielleicht, und solche Fälle sollen ja schon vorgekommen sein, um eine ausgesprochen hübsche Nonne, und dann würde der Einfluß doch weit eher von ihrer körperlichen Attraktivität als von dem Kreuz auf ihrer Brust herrühren. Von jungen Nonnen kann ein ganz zauberischer Reiz ausgehen, denken Sie nur an die Fellini-Filme, und schon als junger Mann habe ich mir gelegentlich in katholischen Gegenden, vornehmlich in Italien, ausgemalt, wie es wäre, eine Nonne aufs Kreuz zu legen.
A.: Unterlassen Sie doch bitte diese Frivolitäten! Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Urteil des weiteren ausgeführt, daß ein im Eingangsbereich staatlicher Dienststellen angebrachtes Kreuz »ein im wesentlichen passives Symbol« sei. Es gehe daher von ihm weder eine missionierende noch eine indoktrinierende Wirkung aus. Auch eine den christlichen Glauben fördernde Wirkung sei durch dieses »passive Symbol« ausgeschlossen.
B.: Wenn man dieser Logik folgt, würde dann ein Hakenkreuz, das im Durchgangsbereich bayerischer Dienststellen angebracht wäre, auch als »passives Symbol« erscheinen?
A.: Natürlich nicht, denn das Hakenkreuz ist nach § 86 StGB (Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger und terroristischer Organisationen) verboten.
B.: Aber was soll man sich unter einem »passiven Symbol« vorstellen. Ist denn nicht jedes Symbol in sich bereits darauf gerichtet, einen Aufforderungscharakter zu haben?
A.: Oho! Da hat wohl jemand in seiner Jugend ein paar Semester Semiotik studiert?!
B.: Ihren herablassenden Ton können Sie sich sonstwo hinstecken!
A.: Nicht für ungut, Sie haben ja recht. Natürlich ist jedes Symbol nicht bloß ein Erkennungszeichen, das so tut, als verweise es nur auf sich selbst. Mit dem Wort Aufforderungscharakter haben Sie schon den Kern des Problems getroffen. Nationalflaggen werden gern von Demonstranten verbrannt, das Tragen von Kopftüchern von Staaten verboten, und das Kreuz war während der so genannten Kreuzzüge ganz sicher kein »passives Symbol«, es war das stolze Wahrzeichen des brutale Gewalt ausübenden Christentums, und das in der langen Zeit zwischen ungefähr den Jahren 1095/99 bis ins 13. Jahrhundert hinein.
B.: Zwischen einer und drei Millionen Menschen, Muslime, Juden, orientalische Christen wurden durch die insgesamt sieben Kreuzzüge ermordet. Alle im Namen des Kreuzes, das ein Bayerischer Verwaltungsgerichtshof im Jahre 2023 als »passives Symbol« benennt, ein Oxymoron, und so tut, als ginge von diesem grausamen Symbol keine missionierende Wirkung aus.
A.: Na ja, weil die heutigen christlichen Kirchen sich von der Gewaltanwendung abgewandt haben und zum Beispiel die ›Ökumenische FriedensDekade‹ sich für »Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung« einsetzt.
B.: Alles schön und gut, aber das dispensiert sie noch lange nicht von der in der Vergangenheit begangenen Verbrechen, die im Namen des christlichen Kreuzes ungestraft begangen worden sind.
A.: Da stimme ich Ihnen zu, aber was soll man machen, die Kirchen haben es verstanden, anders als viele Nationalstaaten, alle ihre Untaten zu überstehen und heute sind sie eben ein, wenn auch an Einfluß verlierender Teil der menschlichen Zivilisation.
B.: Um auf das postulierte »passive Symbol« zurückzukommen: Das ist doch ein hölzernes Eisen, ein Oxymoron, das nur geprägt wurde, um so zu tun, als handele es sich bei dem Kreuz um einen ästhetischen Wandschmuck, wo doch selbst der Ungebildetste intuitiv spürt, daß es ein kirchlich aufgeladenes Zeichen ist, das etwas repräsentiert, mit dem nicht jeder der Vorübergehenden sympathisiert.
A.: Da es sich um eine Verwaltungsvorschrift und nicht um ein Gesetz handelt, so das Gericht, entfalte diese keine unmittelbare Außenwirkung. Erst durch den behördlichen Umsetzungsakt der Anbringung eines Kreuzes könne es zu einer Konfrontation mit dem Glaubenssymbol und damit zu einem möglichen Eingriff in das Grundrecht auf Religions- und Weltanschaungsfreiheit kommen.
B.: Dazu fällt mir nur noch Augustinus ein, der in seinen Predigten an einer Stelle gesagt hat: »Si comprehendis, non est Deus« (Wenn du es verstehst, ist es nicht Gott).
Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei
In der Sommerzeit fühlen sich die Massenmedien verpflichtet, dem lesenden und wählenden Volk über die Psychologie ihrer politischen Herrscher detaillierte Auskunft zu geben. Die Große Frankfurter hat das jetzt getan, indem sie auf einer ganzen Seite ihres kostbaren Anzeigen- und Nachrichtenraumes dem derzeitigen Bundeskanzler nähergerückt ist. Die Überschrift des Porträts ist in erheblichem Maße anmaßend: »So funktioniert Olaf Scholz«. Ohne Ausrufezeichen zwar, aber dennoch, die Große Frankfurter traut sich allerhand zu und das in jeder ihrer Ausgaben. Während man in der Regel eine Bedienungsanleitung unter dem Begriff der Funktion zu subsumieren gewöhnt ist, wird hier der Anspruch erhoben, auf einer Zeitungsseite eine ganze Person zu verstehen und zu erklären. Ja, wir sind alle nur Rädchen im großen Weltgetriebe und so mag man vielleicht auch vom Funktionieren eines Menschen sprechen dürfen, analog zu der im 18. Jahrhundert recht beliebten Metapher vom Menschen als einer Maschine. Wer die Große Frankfurter aus früheren Jahren kennt, wird sich jedoch gewiß wundern über die weiteren Untertitel: »Wir erklären schon mal: Wie spricht er? Wie führt er? Und: Steht er eigentlich auf Autos?« Bordelljargon, und dann noch falsch, ruft Kommerzienrat Treibel nach der Lektüre der Morgenzeitung (so gesprochen in der von Walter Jens bearbeiteten Fernsehfassung von Fontanes Roman ›Frau Jenny Treibel‹). Man sieht aber, wie auch ein seit seiner Gründung, 1949, auf hohem Kulturbewußtsein sich etwas zugute haltendes Blatt, gezwungen ist — die Zeiten für Zeitungen sind schlecht, und das schon seit etlichen Jahren — sich einen Zeitgeist-Jargon zuzulegen, der dem Leser, und wir bedienen uns jetzt einmal kurz dieses Jargons, auf die Pelle rückt.
Als erstes Merkmal fällt der Großen Frankfurter die Lautstärke des Kanzlers beim Sprechen auf. Er hat eine leise Stimme. Was aber daran bemerkenswert ist, das ist nicht so sehr die leise Stimme an sich, sondern daß er auf Zurufe, doch etwas lauter zu sprechen, nicht reagiert. Die Große Frankfurter enthält sich einer Wertung dieses Vorgangs, doch darf man bei diesem Verhalten ein Machtinstrument vermuten, denn wer konstant leise spricht und weiß, daß die Zuhörenden am Kabinettstisch aufgrund ihrer berufsmäßigen Anwesenheitspflicht genau verstehen müssen, was der Kanzler zu sagen hat, der übt subtile Macht über seine Kollegen aus. Wenn ich rede, dann haben alle still zu sein und auf meine Worte zu lauschen. Wer nicht die Ohren spitzt und etwas nicht mitbekommt, ist später selber schuld, wenn eine Information bei ihm nicht angekommen ist, und für alle darauf beruhenden Fehlentscheidungen ist der jeweilige Minister selbst schuld, denn er hat dann eben nicht aufgepaßt. Zu diesem autoritären Stil paßt das Credo, das der Kanzler mit dem britischen Könighauses teilt: Never complain, never explain. Wie die Große Frankfurter aus dem Umfeld des Kanzlers hat erfahren können, wird über ihn eine Geschichte kolportiert, die einst Bismarck zugeschrieben worden ist. Gesetze seien wie Würste, man solle besser nicht dabei sein, wenn sie gemacht werden. Am Ende zähle doch nur dir schmackhafte Wurst. Bekanntlich war Bismarck kein ausgesprochener Freund des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens, und so ist die Wurstmetapher eher eine Erinnerung daran, wie lange ein demokratisches Prozedere in der deutschen Politik von der Obrigkeit verhindert worden ist, und weniger ein amüsantes Beispiel dafür, daß »entscheidend ist, was hinten rauskommt«, wie es ein früherer Kanzler auf einer Pressekonferenz 1984 erläuterte, ohne damit auf die Wurstmetapher wörtlich, aber doch sachlich zurückgegriffen zu haben. Aus der Philosophiegeschichte wird ein Satz von Schelling überliefert, daß man über dem Produkt den Prozeß nicht vergessen dürfe, aber solche Unterscheidungen haben für den derzeitigen Kanzler keinerlei Bedeutung, wie er auch sich erst kürzlich von Karl Marx »distanziert« hat, wie die Große Frankfurter weiß. Nun ist allein ein solcher Vorgang, wo ein Politiker sich von einem Philosophen distanziert, komisch zu nennen, denn dieser Politiker hat absolut nichts vorzuweisen, mit dem er mit dem Philosophen in eine theoretische Erörterung eintreten könnte. Ja, der Kanzler glaubt sogar zu wissen, was das Wesentliche des Marxschen Werkes, immerhin vierzig Bände der ›Marx-Engels-Werke‹ (MEW), und viele weitere in der ›Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), ausmacht: Mit seiner Theorie, daß »erst alles gut sei«, wenn die Menschen nicht mehr entfremdet arbeiteten und sich ihre Arbeit komplett aussuchen könnten, habe der Philosoph »danebengelegen«. »Das ist ja Quatsch, das darf uns auch nie wieder reinrutschen ins Denken.« wird der Kanzler von der Großen Frankfurter zitiert. Sehen wir davon ab, ob der Kanzler damit dem Marxschen Gesamtwerk auch nur im entferntesten gerecht geworden ist, so ist ein Wort wie »Quatsch« kein Argument, sondern das, was man in der Rhetorik als Widersprechen bezeichnet. Quatsch versteht jeder als Wort und man ist beruhigt, daß die Obrigkeit damit ein für alle Mal geklärt hat, in welchem Verhältnis sie zur Theorie steht. Quatsch klingt volkstümlich, und so kann die Große Frankfurter dann auch erfreut berichten, daß der Kanzler, wiewohl kinderlos, auch mit Kindern so reden kann, »daß es nicht zu sehr nach Bundeskanzler klingt.« Vor Kindern einer Grundschule hat der Kanzler unlängst das Wort »bekloppt« gebraucht, ein Wort, daß in einem deutschen Aufsatz nichts zu suchen hat, es sei denn, die Schüler zitieren damit den derzeitigen Kanzler. Als der Kanzler noch jung war, war er politisch »bei den ganz Harten«, womit der damals so genannte ›Stamokap‹-Flügel innerhalb der Jungsozialisten gemeint ist. Von der »kommunistischen Ideologie« habe sich der Kanzler gleich nach dem »Zusammenbruch des Kommunismus« getrennt, woraus hervorgeht, daß die dem Kanzler nachgesagte pragmatische Haltung vollauf zutreffend ist, denn wenn die Staaten, die man bisher als Vorbilder gesehen hat, nicht mehr existieren, so ist das der beste Anlaß, sich von diesen loszusagen. Der Kanzler, der sich von Marx distanziert, kann sich auch vom Sowjetkommunismus distanzieren, wenn er verschwunden ist, während es natürlich viel glaubwürdiger gewesen wäre, wenn er es schon vor dem Fall der Mauer getan hätte. »Aber aus Anarchisten werden Sozialdemokraten, aus Sozialdemokraten Redakteure, aus Redakteuren Theaterdirektoren.« hat Karl Kraus 1912 über Stefan Großmann gesagt. Im Falle des derzeitigen Kanzlers kann man sagen, daß er immer schon darauf geachtet hat, den Zug der Zeit nicht zu verpassen. In einer schärferen Version des kolportierten Bismarck-Spruchs über das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren heißt es, »das Volk solle besser nicht dabei sein, wenn Gesetze oder Würste gemacht würden, sonst werde ihm schlecht.« Es reicht manchmal aber schon die Lektüre der Großen Frankfurter dafür aus.
Wikipedia als biographischer Ort
Wie bei einer Pflanze, an der die Blüten zu verschiedener Zeit zu Früchten reifen, sah ich am Strande von Balbec bereits die alten Damen, die harten Fruchtschoten, die schwammigen Wurzelknollen vor Augen, zu denen meine Freundinnen eines Tages zwangsläufig werden mußten. Aber was tat das? Noch war Blütezeit. (Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit / Im Schatten junger Mädchenblüte 2, Bd. 3, Frankfurt/M. 1977 [1958], 612)
Seit es Wikipedia gibt, kann man im Nu wissen, ob die Person, die man sucht, noch am Leben ist oder vielleicht schon vor Jahren gestorben ist. Biographische Informationen gibt es in Hülle und Fülle. Doch die Art der biographischen Darstellung ist großen Schwankungen unterworfen. Das beginnt schon damit, daß man sich vorab entscheiden muß, über welche Art von Personen man etwas mehr wissen will. Gilt das Interesse einer Person der Zeitgeschichte, einer Person der lange zurückliegenden Vergangenheit oder will man mehr über eine Person der Gegenwart erfahren. Außerdem gilt es, sich zu entscheiden, welchen Beruf diese Person ausgeübt hat oder noch ausübt. Die Wikipedianer stellen in vielen Sprachen der Welt, wir beschränken uns hier auf die englische und deutsche Sprache, dazu durchaus verläßliche Informationen bereit. Will man eine Phänomenologie des biographischen Wikipedia-Eintrags schreiben, sollte man auch ein Gespür dafür haben, ob vielleicht im Hintergrund die zu biographierende Person selbst Hand an den Text gelegt hat oder ob es ihr völlig gleichgültig ist, was man über sie geschrieben hat. So bemerkt man bei Wissenschaftlern der geisteswissenschaftlichen Richtungen immer wieder, wie die manchmal etwas zu ausführlich geratene Darstellung der eigenen ›Philosophie‹ aus deren Feder stammt und das Ganze wie ein Referat der von ihnen publizierten Bücher aussieht. Entsprechend wächst die Hochachtung vor der Person und ihrem Werk, jedenfalls bei unbedarften Lesern, die alles glauben, was man ihnen weitschweifig darlegt. Im Gegensatz dazu gibt es aber auch Wissenschaftler, zumeist in fortschrittenem Alter, die weder auf die Erweiterung der Bibliographie Wert legen noch bereit sind, etwas mehr zu ihrer persönlichen Biographie beizutragen. Und es gibt dann auch in solchen Fällen meist kein Foto der betreffenden Person. Hier sind wir an einer entscheidenden Stelle des Wikipedia-Eintrags angekommen. Das Foto oder sogar die über den Eintrag verstreuten Fotos aus unterschiedlichen Lebensabschnitten markiert einen wesentlichen Differenzpunkt, der nicht unbedingt unter Eitelkeitsverdacht zu stellen ist. Man darf mit Recht vermuten, daß ›Fans‹, vornehmlich von Schauspielerinnen, sehr genau darauf achten, daß ihre Heldin ausschließlich mit sehr vorteilhaften Fotos abgebildet wird und man bei der Auswahl auch bedenkt, daß, sollte die Schauspielerin noch am Leben, aber doch schon die Siebzig oder Achtzig erreicht haben, man geschmackvolle Schnappschüsse von ihr der Öffentlichkeit präsentiert. Das geht in manchen Fällen durchaus bis hin zu der Entscheidung, nur ein Foto auszuwählen und das ist dann aus der frühen Phase der Schauspielkarriere entnommen worden. In Fällen, wo die mehr oder weniger berühmte Darstellerin verstorben ist, wird gern ein Foto aus der Zeit genommen, als sie in den Zwanziger oder Dreißigern war, und das bleibt dann für immer die Ikone, unter der man sich die Person vorzustellen hat. Doch gibt es auch Fälle, wo die Schauspielerinnen sich nicht scheuen, eine falsche Entscheidung in ihrem Leben zu dokumentieren, zum Beispiel eine mißglückte Schönheitsoperation, wobei dann neben anklagenden Fotos (nach der Operation) die Belege (vor der Operation) angeführt werden, begleitet von Worten, die den Operateur angreifen, und, wenn man das Ergebnis betrachtet, mit Recht. Doch auch in den Fällen, wo die Schauspielerinnen sich einer kosmetischen Operation unterzogen haben, kann es vorkommen, daß ganz und gar nicht diese Tatsache als Skandal (wegen eines mißlungenen Eingriffs nämlich) empfunden wird, sondern recht selbstbewußt das allerneueste Foto nach der Gesichts-Straffung auf der Wikipedia-Seite präsentieren, obwohl das Ergebnis zu großen Zweifeln an dem erzielten Erfolg berechtigt. Unterschwellig könnte man vermuten, daß diese Darstellerinnen insgeheim mit ihrem neuen Gesicht auch nicht zufrieden sind und vielleicht den Gang zum kosmetischen Chirurgen zutiefst bereuen, aber nach dem Motto: Was geschehen ist, ist geschehen, nun so tun, als seien sie glücklich mit dem Ausgang und deshalb auch keine Scham empfinden, das verunstaltete Gesicht vorzuzeigen. Wir alle wissen, daß ein Entschluß zu einer Gesichtsoperation in Hollywood nicht auf einer freien Entscheidung der um ihre Karriere fürchtenden Darstellerinnen beruht. Aber die manchmal grotesk verschnittenen Gesichtszüge, die falsche Glattheit der Wangen, zeigen ganz offensichtlich, daß man besser bei dem alten Gesicht geblieben wäre, als sich auf diese grauenerregenden und schmerzhaftes Mitgefühl hervorrufenden Operationen eingelassen zu haben. Dagegen ist der Satz vom Altern mit Würde ebenso mit Vorsicht zu genießen. Ja, wir alle sind dem Zahn der Zeit unterworfen und würden auf unserem Wikipedia-Eintrag lieber ein Foto aus unserer Jugendzeit sehen als ein Bild, das uns als einen gebeugten Alten zeigt, mit schütterem Haar und eingefallenen Zügen. Nur wer jung stirbt, bleibt von diesem Unbehagen freigestellt. Die anderen müssen entweder auf Fotos ganz verzichten oder, wenn sie berühmt und weiblich sind, das beste Foto aus der Jugend auswählen und so zu tun, als würden sie immer noch so aussehen. Doch gibt es auch Schauspielerinnen, die sich keiner Schönheitsoperationen unterziehen und einfach so bleiben wie sie gerade sind, und der Anblick ist nicht in allen Fällen der gleiche. Manche sind kaum wiederzuerkennen, so sehr hat das Alter an ihnen sich vergangen, sie strahlen zwar unverändert in die Kamera, aber unser inneres Auge rekonstruiert das Gesicht aus fernen Tagen, als man die Darstellerin aus der Ferne verehrte, bewunderte, liebte, und wird nun mit einer ganz anderen Person konfrontiert, die man besser nicht mehr sehen möchte, so sehr hat sie sich zum Schlechteren verändert. Das alles wußte nur eine, die sich rechtzeitig aus dem Leben der Öffentlichkeit zurückzog und keine aktuellen Fotos von ihrer Erscheinung mehr erlaubte: Greta Garbo. Nicht jeder weiß eben, wann es Zeit ist, abzutreten und der ewigen Schönheit zu opfern, indem man sich von der grausamen Gegenwart verabschiedet.
Optimismus ist Pflicht!
– Und wie überschreiben wir die Rede des Reichskanzlers? Los, Herrschaften. Zehn Pfennige für eine gute Schlagzeile.
– Der Kanzler fordert Vertrauen.
– Mäßig.
– Deutschland oder die Trägheit des Herzens.
– Reden Sie keinen Unsinn! rief der politische Redakteur. Dann schrieb er eine Zeile groß mit Bleistift über das Manuskript.
– Was haben Sie denn geschrieben?
– Optimismus ist Pflicht, sagt der Kanzler!
(Erich Kästner: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten, 1931)
Dr. Anneliese Sendler: Ja, willkommen bei unserer heutigen Talkrunde, die diesmal unter der Überschrift steht: ›Optimismus und Pessimismus in unserer heutigen Welt‹. Wie jedesmal haben wir fachkundige Gäste zu uns eingeladen, die uns beim Verständnis dieses Themas helfen sollen. Ich begrüße zunächst einmal ganz herzlich Herrn Prof. Dr. Ernest Cassoulet, er ist Philosophiehistoriker an der University of East Anglia.
Prof. Dr. Ernest Cassoulet: Guten Abend, Frau Doktor Sendler, vielen Dank für Ihre Einladung.
Dr. Anneliese Sendler: Ja, gern geschehen. und vielen Dank, Herr Professor, daß Sie sich von so weit her hierher bemüht haben. So! Unser nächster Gast ist eigentlich gar nicht anwesend. Dafür dürfen wir von uns stolz behaupten, daß wir mit diesem Gast etwas bisher im deutschen Fernsehen nicht Gezeigtes präsentieren dürfen. Wie Sie sicherlich wissen, gibt es seit letztem Jahr ›ChatGTP‹. Unter diesem schwer auszusprechenden Kürzel verbirgt sich ein ungeheuer potentes Medium, man könnte es als Wahrscheinlichkeitsmaschine bezeichnen. Jeder Nutzer des Internets kann es seit einem halben Jahr verwenden und es hat auch schon besorgte Stimmen gegeben, die vor ChatGPT warnen und den Untergang des schriftlichen Abendlandes vorhersagen. Wir hier, das heißt unsere fleißigen Techniker im Hintergrund haben ChatGPT installiert und mit sämtlichen Schriften von Ludwig Marcuse gefüttert. Ludwig Marcuse, das darf ich für die nicht philosophiehistorisch Gebildeten unter unseren Zuschauer sagen, lebte von 1894 bis 1971 und war ein ungemein produktiver philosophischer Schriftsteller, der auch als Biograph sich hervorgetan hat. 1953 hat er ein Buch veröffentlicht, das den Titel trägt: ›Pessimismus – ein Stadium der Reife‹. Und damit sind wir schon wieder bei unserem heutigen Thema, ›Optimismus und Pessimismus in unserer heutigen Welt‹. Ludwig Marcuse wird heute Abend unter uns weilen in Gestalt seiner sämtlichen Gedanken, die unsere Techniker in den ChatGPT eingespeist haben. Das war das. Ähem, damit kommen wir gleich zu unserem nächsten Gast, der hier ganz lebendig und leibhaftig mir gegenüber sitzt. Ich begrüße Herrn Dr. Torben Fasolt, Leiter der Studie ›Future Government‹, die im Auftrag der Stiftung ›Neues Europa‹ erstellt wurde. Vielleicht können Sie unser Gespräch damit in Gang bringen, indem Sie die wesentlichen Punkte Ihrer Studie kurz darlegen?
Dr. Torben Fasolt: Ja, das kann ich gerne tun. Die Jugend verliert ihren Optimismus, so könnte man plakativ die Ergebnisse unserer Studie zusammenfassen. Und das liegt nicht an Corona oder dem Ukraine-Krieg, wie man vielleicht vordergründig schließen könnte. Ganz und gar nicht. Das Lebensgefühl junger Europäer und Europäerinnen trübt sich längerfristig und kontinuierlicher ein. Wir haben junge Leute im Alter zwischen 16 und 26 Jahren befragt, wie Sie die Zukunft sehen. Mehr als die Hälfte der Befragten war der Meinung, daß es ihnen schlechter gehen werde als ihren Eltern. Selbst in den Ländern Europas, wo eigentlich immer eine deutlich optimistischere Stimmung vorherrschte, wie in Polen, ist diese positive Grundstimmung vorüber.
Dr. Anneliese Sendler: Das sind betrübliche Daten, die Sie uns hier präsentieren.
Prof. Dr. Ernest Cassoulet: Wenn ich mich hier gleich zu Wort melden darf? So verständlich solche Umfragen aus der Sicht von Wirtschaft und Politik sind, und man darf doch annehmen, daß solche Umfragen auch gemacht werden, um die Konsummärkte zu erforschen und um das politische Verhalten der jungen Generation berechenbarer zu machen, so ist mit diesem Wort Optimismus doch sehr vorsichtig umzugehen. Was wissen 16 bis 26 Jährige über die Herkunft dieses Wortes und wie verbinden sie dieses mit ihrem Lebensgefühl? Das scheinen mir doch wesentliche Vorfragen zu sein, wenn man zu zuverlässigen Aussagen kommen will.
Dr. Anneliese Sendler: Das wäre jetzt wohl der Zeitpunkt, wo wir unseren hochgenerierten Ludwig Marcuse als Spezialist für Pessimismus zuschalten sollten. Wir haben hier im unserem Studio einen riesengroßen Plasma an der Wand anbringen lassen, wobei ich mich bei dieser Gelegenheit bei unseren Kollegen vom Sport herzlich bedanken möchte, denn dieser Riesenbildschirm wird sonst nur für aktuelle Sportübertragungen genutzt. So, dann wollen wir mal. Vorab darf ich noch sagen, daß ChatGPT für jeden neuen Lernvorgang eine gewisse Eingewöhnungszeit braucht, das ist wie beim Menschen, der mit neuen Freunden auch erst einmal langsam warm werden muß. So auch hier, ChatGPT ist zunächst vom ersten Ergebnis her betrachtet nicht sehr überzeugend, aber je mehr Wiederholungsschritte gegangen werden, um so besser wird er. Dann darf ich die Technik dann bitten, ChatGPT zu starten.
(Auf dem Monitor erscheint:) Ludwig Marcuse ChatGPT: Pessimismus ist Reife und Resignation, Optimismus ist Jugend und Hoffnung.
Prof. Dr. Ernest Cassoulet: Haha, großartig, das ist nicht von Ludwig Marcuse, sondern von Johannes Scherr. Ich erspare Ihren Zuschauern die Antwort auf die nicht gestellte Frage, wer das ist. Sie sehen hier aber schon, wie wir mit Festlegungen und Definitionen nicht viel weiterkommen werden.
Ludwig Marcuse ChatGPT: Aber aus welchen Motiven der Pessimismus auch erwachsen mag, er ist in allen Formen das Vorrecht und die Entwicklungskrankheit der Jugend, die im Mannesalter als Antrieb zur praktischen Verbesserungsarbeit dienen muß und im Greisenalter abgelöst wird durch eine heroische Resignation, die nicht mehr anklagt und verzweifelt, sondern begreift und Schmerz und Untergang klaglos annimmt als das natürliche und unvermeidliche Ende der Reifen.
Prof. Dr. Ernest Cassoulet: Zu komisch, das ist nicht von Marcuse, sondern aus Theodor Lessings philosophischem Erstling ›Schopenhauer, Wagner, Nietzsche. Einführung in moderne Philosophie‹ aus dem Jahr 1906. Sie sehen hier aber auch, daß die optimistische Grundhaltung nicht so ohne weiteres der Jugend zugerechnet wird, im Gegenteil, hier wird umgekehrt ein Schuh daraus, hier wird der Jugend eine ihr inhärente Tendenz zur pessimistischen Sicht der Welt konzediert.
Dr. Torben Fasolt: Überfrachten Sie mit solchen Differenzierungen nicht das Problem? Es geht hier doch um etwas ganz Anderes, um die Zukunftshoffnungen der europäischen Jugend, und der ist es, glaube ich, völlig egal, wie welche Philosophen auch immer diese Wörter mit Sinn beladen.
Ludwig Marcuse ChatGPT: Kant katalogisiert die Metaphern der Verdammung. Die Welt, ein Wirtshaus, ein Tollhaus, ein Zuchthaus, eine Kloake. Kant und sein Schüler Schopenhauer (der in der Welt eine Kollektion von Karikaturen sah, ein Asyl von Narren, eine Spitzbuben-Herberge sahen vor allem die moralische Kloake. Der Mensch ist aus krummen Holz gemacht, klagte Kant. Er war der Vater des modernen moralischen Pessimismus.
Prof. Dr. Ernst Cassoulet: Bingo! Bingo! Das ist Ludwig Marcuse im Originalton. Da hat Ihr ChatGPT dann doch noch die Kurve gekriegt. Na ja, es versteht ja überhaupt nicht, was es von sich gibt und sagt. Es ist eben eine Wahrscheinlichkeitsmaschine, die nur reproduzieren kann, was man in sie eingibt. Ein hochgerüsteter High Tech Papagei.
Dr. Anneliese Sendler: Verehrter Herr Professor, das mag ja alles sein, aber ich erhalte gerade von der Regie die Mitteilung, daß unsere Techniker, die das ChatGPT für unseren heutigen Abend installiert und gewartet haben, ein bißchen enttäuscht über ihre sarkastischen Bemerkungen sind. Man versucht doch das Beste, damit man den Zuschauern diese neue faszinierende Technologie vorzuführen.
Prof. Dr. Ernest Cassoulet: Dann entschuldige ich mich in aller Form bei ihren Technikern, es war nicht meine Absicht, sie zu beleidigen oder anzugreifen, aber man muß doch Fehler, die eine Maschine begeht, auch als Fehler benennen dürfen, sonst leben wir ja in einer Scheinwelt und überlassen den Apparaten die Herrschaft über den Diskurs.
Dr. Torben Fasolt: Völlig d’accord, Herr Professor Cassoulet! Dennoch bin ich unglücklich über den bisherigen Verlauf unserer Debatte. Wie kann man diesem Trend gegensteuern, das scheint mir doch die Frage zu sein, die man sich stellen muß. Da sind die europäischen Regierungen aufgefordert, aber auch die jeweilige heimische Wirtschaft, Abhilfe zu schaffen und den jungen Leuten nicht nur mit allgemeinen Phrasen über den Mund zu fahren, sondern wirkliche Strukturreformen in Gang zu bringen, die dann langfristig auch zu einer Tendenzwende bezüglich der optimistischen beziehungsweise pessimistischen Stimmung führen können.
Prof. Dr. Ernest Cassoulet: Ich glaube, daß der Grund für meine Einladung aber darin liegt, über die Tagespolitik hinaus grundlegende Einsichten in die Wortgeschichte von Optimismus und Pessimismus zu bieten. Dazu fühle ich mich jedenfalls verpflichtet. Uns deshalb lassen Sie mich sagen: Nur wenn man die Herkunft und den Inhalt solcher in der öffentlichen Meinung häufig unbedacht verwendeten Begriffe hinreichend klärt, kann man anschließend auch sich zu politischen Prognosen aufschwingen. Der Philosophiehistoriker und Sprachphilosoph Fritz Mauthner, hat gesagt: »Optimismus und als ein danach gebildetes Witzwort Pessimismus sind von den superlativischen Adjektiven optimus und pessimus abgeleitet. Damit mag sich ein Kinderbuch begnügen. Der Optimismus als System ist ein einziges großes Mißverständnis. Weltverachtung ist das Wesen des Christentums. Und nur die Hoffnung auf die Freuden des Jenseits bildet für lebensfreudige Geister eine Inkonsequenz. Die Theodicee von Leibniz erschien 1710, 1758 machte Voltaires ›Candide‹ dem Optimismus für das gebildete Europa den Garaus. Wir verstehen die Sprache von Leibniz’ Buch nicht mehr. Gott ist allweise: also weiß er auch, wie die beste Welt beschaffen zu sein habe. Gott ist allgütig: also ist es seine Absicht, unter allen möglichen Welten just die beste zu schaffen. Gott ist allmächtig: also hat er seine Absicht auch ausgeführt. Darüber mögen Lehrer und Schüler im Konfirmationsunterricht sich unterhalten.«
Dr. Anneliese Sendler: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann ging also der Begriff Optimismus dem Begriff Pessimismus philosophiehistorisch gesehen, voraus.
Prof. Dr. Ernest Cassoulet: So ist es, und ganz am Anfang der Begriffsbildung steht eigentlich ein Scherz, den die französischen Jesuiten sich machen wollten. Es ist eine ironische Wendung gegen Leibniz, weil er einen theologischen Gegenstand mit einer geometrischen Beweisführung behandelte. Die Epigonen des Optimismus haben den bis heute aufrechterhaltenen Fortschrittsglauben fortgeführt, der am verwerflichsten und irreführendsten in den heutigen politischen Parteiprogrammen weiterwuchert. Es ist von trauriger Ironie, wenn 1939 ein Herr namens Johannes Neumann ein 154 Seiten umfassendes Büchlein schreibt, das den Titel trägt: ›Optimismus macht lebenstüchtig! Ein praktischer Führer zum Optimismus für Jung und Alt‹. 1942 singt dann Zarah Leander: »Davon geht die Welt nicht unter / Sieht man sie manchmal auch grau / Einmal wird sie wieder bunter / Einmal wird sie wieder himmelblau.« Im selben Jahr singt sie dann noch ›Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n‹, aber das Jahr 1942 war der Wendepunkt im Kriegsglück des NS-Regimes, Stalingrad und die Folgen. Optimismus wurde wie schon im Ersten Weltkrieg zur Durchhalteideologie.
Dr. Torben Fasolt: Ich kann nicht verstehen, was so falsch daran sein soll, den Menschen Mut zur Zukunft zu machen. Wenn die Meinungsführer in unserer Gesellschaft alles grau in grau malen, dann haben wir keine moralischen Reserven mehr, auf die wir in Krisensituationen zurückgreifen könnnen.
Prof. Dr. Ernest Cassoulet: Aber sehen Sie denn nicht, daß die Form von Optimismus in eine Sackgasse führt, wenn man die Menschen mit leeren Phrasen abspeist und vorgibt, es seien inhaltsreiche Beschreibungen der Welt und Orientierungspunkte für das eigene Leben?! Insofern muß ich Schopenhauer zustimmen, der den Optimismus »eine ruchlose Weltanschauung« genannt hat und sich damit an Voltaire anlehnt. Unter den Positionen von Leibniz, sagt Fritz Mauthner, war keine so schwach wie sein Lehrgebäude des Optimismus.
Dr. Anneliese Sendler: Ich glaube, wir werden heute abend diese Frage nicht lösen können, aber immerhin haben wir doch die Gegensätzlichkeiten deutlich herausgestellt. Als ich mich für diese Sendung vorbereitet habe, bin ich auf eine kleine Schrift von Kant gestoßen, die er 1759 als Vorlesung ankündigte: ›Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus‹. Er beginnt damit, zu sagen, daß der geläufige Begriff von Gott der eines Wählers ist, der, »wenn er wählt, nur das Beste wählt.« …
Dr. Torben Fasolt: Gott als Konsument! Ist ja toll!
Dr. Anneliese Sendler: … und er führt weiter aus, daß Leibniz nichts Neues vorzutragen geglaubt hat, wenn er sagte: Diese Welt sei unter allen möglichen die beste.
Prof. Dr. Ernest Cassoulet: Das war damals auch ein vorsichtiger Schachzug, auch wenn Leibniz den Gottesbegriff allein schon weil er eben auch ein Kind der Zeit war, nicht fallenlassen konnte, dagegen standen objektive Gründe, die ihm das verwehrten. Erstaunlich ist nur, wie das Erdbeben von Lissabon, 1755, in der damaligen öffentlichen Meinung eine solche Wirkung hatte, denn die Jahre und Jahrhunderte davor waren nicht weniger geprägt durch Unglück und Zerstörung. Ein vernünftiger Grund lag, so Fritz Mauthner, nicht vor, »gerade dieses furchtbare Unglück zu einer Gegeninstanz gegen Gott und den Optimismus zu machen. Das Mittelalter war durch Pest und Krieg nur noch frommer geworden.« Außerordentlich interessant ist Kants Reaktion. Er konzediert den kirchenlichen Mächte die Gelegenheit, dieses Erdbeben für ihre theologischen Zwecke auszubeuten, wäre er in ihrer Lage, würde er es auch tun. Aber er ist eben kein Theologe, er ist ein moderner bürgerlicher Denker. Und der sagt, er wolle als Naturwissenschaftler nur der Natur ihre Geheimnisse ablauschen, und das geht nur durch strenge Forschung. »Die Natur entdeckt sich nur nach und nach.« schreibt Kant. Der Optimismus einer noch zu entwickelnden Erdbebenforschung kündigt sich damit an. Nur durch die Verwissenschaftlichung des Schreckens kann man zu den Gründen für die Naturkatastrophe vorstoßen. Es ist Voltaire, der die moralischen Konsequenzen für die Menschheit untersucht in seinem berühmten ›Candide‹ von 1759. Das Axiom ›Alles ist gut‹ wird einer scharfen Analyse unterzogen und das Resultat ist dann eben der uns heute bekannte Gedanke, daß keineswegs alles zum Besten bestellt ist und daß daran nicht nur die Natur beteiligt ist, sondern auch der Mensch mit seinen vielen unberechenbaren und grausamen Taten. Die Glanzleistung Voltaires bestand darin, daß er das Grauen und Entsetzen über das Erdbeben in ein nicht endenwollendes Lachen über die naiven Annahmen des Menschen über die Welt verwandelte. Als Folge davon entstand der Pessimismus als Dogma. In dem Artikel ›Optimismus (Pessimismus)‹, der Teil eines dreibändigen Werkes namens ›Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache‹ (1901–1902. 2. überarb. Auflage 1906–1913, 3. Auflage 1923, Neuauflage 1982) ist, hat Mauthner dann noch weitere höchst bemerkenswerte Ausführungen zum weiteren Schicksal des Optimismus gemacht, die ich hier natürlich nicht alle referieren kann. Ich empfehle unseren Zuschauern unbedingt die Lektüre dieses sehr originellen Werkes, das ich im übrigen den Schriften von Ludwig Marcuse vorziehe, die alle doch immer ein bißchen ins Feuilletonistische und Schwafelnde abgleiten.
Dr. Anneliese Sendler: Tja, dann wollen wir aber doch zum Abschluß unserer Sendung noch einmal dem ChatGTP ›Ludwig Marcuse‹ um ein Abschlußwort bitten. Wenn die Technik so freundlich wäre …
Während der Abspann läuft, erscheint auf dem Riesenplasma-Bildschirm:
🤔😱🖕
Aus dem Hintergrund stürmt eine Gruppe von Technikern ins Studio und ruft: »Es lebt!«, »Es lebt!«