Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog
Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.
Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«
Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.
Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.
Wenn ich nicht so blond wäre …
Wer will unter die Soldaten / der muß haben ein Gewehr, / das muß er mit Pulver laden / und mit einer Kugel schwer. / Büblein, wirst du ein Rekrut / merk dir dieses Liedlein gut / Pferdchen munter, immer munter / lauf Galopp, hopp, hopp, hopp.(Friedrich Güll: Wer will unter die Soldaten, 1868)
Am Gartenzaun
Frau Hebestreit und Frau Pannemeyer unterhalten sich.
Frau Pannemeyer: Ja, guten Morgen, Frau Hebestreit, auch schon auf, na, das ist heute aber ein Wetterchen, nüch?
Frau Hebestreit: Das können Sie so sagen, ja, nach dem vielen Regen freut man sich doch, daß die Sonne den ganzen Tag wieder scheint. Sie sollten deshalb aber auch einen Sonnenhut tragen, wie leicht bekommt man einen Sonnenstich.
Frau Pannemeyer: Da haben Sie recht, aber im Moment geht es noch ganz gut ohne. Ach, es ist doch schön, wenn man ein Stückchen Garten sein eigen nennen darf, auch wenn es viel Arbeit macht und das Wetter doch sehr launisch ist. Nicht zu reden von den vielen Schädlingen, die an meinen Pflanzen herumkauen.
Frau Hebestreit: Wie ich gehört habe, ist Ihre Tochter am Wochenende in Eckernförde gewesen.
Frau Pannemeyer: Ach Gott, ja, leider, muß man sagen. Sie ist ja als Kind schon ein Wildfang gewesen, hat sich immer gern mit den Jungs geprügelt, und manch einer von denen ist heulend zu mir gekommen und hat sich bitter beklagt, wie unsere Jasmin ihn mit den Fäusten behandelt hat. Ich hatte dann immer schon ein Stück Kuchen in Bereitschaft, damit der arme Junge über den Schmerz hinwegkommt. Süßes schließt alle Wunden, nüch? Aber nun ist unsere Jasmin doch tatsächlich in Eckernförde gewesen, bei der Bundeswehr, wo man den jungen Leuten das Leben beim Militär schmackhaft machen will. Die haben da, warten Sie, wie schimpft sich das jetzt gleich? … richtig: Marine …stütz … punkt. Also Unterwasserboote sind da zu sehen, und Jasmin ist dann auch gleich in so eins geklettert, also mutig ist sie ja schon, die Kleine. Für mich wäre das nichts, in so ein enges U-Boot zu steigen, wo man dann die Aussicht hat, für die nächsten Monate mit ein paar Dutzend Menschen zusammenzuhocken. Da hört das Leben doch eigentlich auf, wenn man keinen Moment mehr für sich allein verbringen kann. Gehen Sie mir los, ich bin doch nicht als Kieler Sprotte auf die Welt gekommen. Und nun will Jasmin doch tatsächlich nach dem Abitur zur Marine gehen. Was soll das nur werden, frage ich Sie?!
Frau Hebestreit: Es kann aber auch eine gute Charakterschulung sein, gerade wenn Ihre Jasmin immer ein wenig zur Gewalttätigkeit geneigt hat. Das Militär ist doch kein Prügelverein, da wird Disziplin und Kameradschaftsgeist gelernt, da bekommt man was fürs Leben mit. Na ja, dennoch, was wollen junge Mädchen beim Militär? Es gibt doch genügend schöne zivile Berufe, die sie ergreifen können. Unsere Biggi ist als Ärztin im Krankenhaus in Celle gut aufgenommen worden, sie hat dort eine schöne Position und es ist doch täglich immer von neuem eine Freude, wenn man kranken Menschen helfen kann.
Frau Pannemeyer: Wie recht Sie haben, ach!, aber leider hat Jasmin an so einem Beruf nicht das geringste Interesse, sie ist eine unruhige Hummel, die ständig etwas Aufregendes erleben will, und sie meint, da käme die Bundeswehr gerade recht. Da stand ein Bundeswehr-Bus in Eckernförde, sagt Jasmin, darauf stand geschrieben: »Mach, was wirklich zählt!« Ich traue solchen Sprüchen ja nicht, das kann man doch leicht auf andere Berufe übertragen, aber sagen Sie das mal diesem Gör. Ausgeschlossen, die hat sich regelrecht verbohrt in dieses Militärische, und ganz besonders die Schiffe und Unterseeboote haben es ihr angetan. Dabei habe ich sie als Kind kaum einmal zum Schwimmen ins Wasser bekommen, man mußte sie geradezu hineintreiben. Sie ist schon ein sehr eigensinniges Mädchen.
Frau Hebestreit: Immer noch besser, als wenn sie den ganzen Tag am Computer herumhängt und womöglich noch eine eigene Seite im Internet hat. Es gibt da ja ganz junge Mädchen, die mit Schminktips Millionen von Anhängern haben, oder solche, die überzuckerte kleine Kuchen vor der Kamera backen. An der frischen Luft sich aufzuhalten ist dagegen doch die bessere Entscheidung.
Frau Pannemeyer: Auf engsten Raum unter Wasser monatelang mit vielen Menschen zusammengepfercht zu leben, wie man das in einem U-Boot doch wohl muß, ist aber nicht sehr gesund. Man hat mir auch gesagt, das Tauchen geht auf die Nebenhöhlen und das Trommelfell. Und dann hat Jasmin mir von einer Schülerin erzählt, Alyssa-Lea heißt sie, die hat gegenüber dem Mann von der Bundeswehr gesagt, sie sei auch bereit, ihr Leben einzusetzen. Bedenken Sie mal, so ein junger Mensch, der solche Sachen sagt, also, ich glaube, die macht sich gar keine Vorstellung, was das bedeutet, das ist nur so dahingesagt, schrecklich. Man ist gerade einmal ein paar Jahre auf der Welt und schon ist man bereit, auch wieder zu sterben. Bei den vielen Unruhen auf der ganzen Welt stehen die Chancen, daß man wirklich nicht mehr lebend von einem Einsatz zurückkommt, recht hoch.
Frau Hebestreit: Ich habe immer schon ein Faible für Geschichte gehabt und habe Bücher über den Ersten Weltkrieg gelesen, und ich kann Ihnen sagen, das ist kein schöner Tod, wenn man in einem U-Boot sitzt und keine Hoffnung mehr besteht, gerettet zu werden. Sie sitzen praktisch in Ihrem eigenen Sarg und ersticken langsam.
Frau Pannemeyer: Hören Sie auf, solche Bilder zu malen! Es ist schon schlimm genug, daß ich meiner eigenen Tochter das nicht ausreden kann. Wozu hat man all diese Schmerzen der Geburt auf sich genommen, wenn dann das eigene Kind wenige Jahre später sich bereit erklärt, für das Vaterland zu sterben.
Frau Hebestreit: Die Torpedos, übrigens, die sich an Bord befinden, kosten pro Stück eine Million Euro, wußten Sie das? Das allein wäre für mich ein Grund, da nicht mitzumachen. So eine Geldverschwendung! Und es ist nicht einmal garantiert, daß der Abschuß dieses Torpedos dann auch ans Ziel gelangt oder, auch das hat es schon gegeben, daß das Torpedo ein ziviles Schiff, das an den Kampfhandlungen überhaupt nicht beteiligt war, getroffen wurde.
Frau Pannemeyer: Ich verstehe davon zu wenig, aber Sie haben recht, das ist teuer und sinnlos. Wozu reden die Menschen nicht miteinander, das unterscheidet uns doch von allen anderen Tieren, wozu haben wir die Sprache, mit der sich doch alles sagen und regeln läßt? Ich habe Jasmin, als sie noch ganz klein war, dieses Kinderbuch von Erich Kästner gekauft, ›Die Konferenz der Tiere‹, das hat sie sehr geliebt, da war sie sogar bereit, einen Nachmittag auf das Prügeln mit den Nachbarkindern zu verzichten. Besonders gefallen hat ihr der Satz, den der Löwe immer wieder gesprochen hat, wenn die Menschen wieder einen neuen Krieg vorbereitet hatten: »Wenn ich nicht so blond wäre, könnte ich mich auf der Stelle schwarz ärgern!«
Frau Hebestreit: Ein wunderbares Buch! Und da steht auch der Satz darin, daß die Konferenz der Tiere abgehalten werden soll »wegen der Kinder«. Die Zeichnungen von Walter Trier passen auch so gut zu der Erzählung von Erich Kästner, der ja weit mehr als ein Kinderbuchautor war. »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.« Na! Kann man noch kürzer sagen, was gut und richtig ist? Er war ein Genie, ganz im Gegensatz zu diesen Wissenschaftlern, die tausend Seiten über Moral und Ethik vollschmieren, und am Ende ist man genauso schlau als wie zuvor.
Frau Pannemeyer: Ja, das kann ich nicht beurteilen, aber ich wills Ihnen glauben. Ich verstehe auch nicht, wieso man überhaupt noch Menschen für das Militär braucht, wo doch die heutigen Kriege alle mit Waffen ausgeführt werden, die nicht einmal mehr direkt an der Front liegen, sondern die aus tausenden von Kilometern entfernten Orten abgeschossen werden und wo der Computer eigentlich den Krieg führt. Wozu muß mein Mädchen da ihr Leben einsetzen, für nichts und wieder nichts?
Frau Hebestreit: Es scheint immer noch Dinge zu geben, die nur von Menschenhand erledigt werden können. Nun beruhigen Sie sich aber mal, liebe Frau Pannemeyer, es ist ja noch Zeit bis Ihre Tochter sich zu entscheiden hat. Und wer weiß, vielleicht lernt sie einen hübschen jungen Mann kennen, den heiratet sie dann und vergißt ihre Unterwasserträume. Das Leben steckt voller Überraschungen.
Leinen los!
Wir haben uns einem schwimmenden Palast eingebaut und in ihm alle Herrlichkeit aufgespeichert, die der Geist zu schaffen vermag. So hausen wir, bis Sturm das Element aufbäumt und die Welt verschlingt. Unser Schiff ist die Welt und alle Ordnung der Welt läßt sich am Schiff studieren. Es gibt drei Schiffs-Etagen und drei Menschenklassen. Diejenige, die bezahlen kann, diejenige, die eben noch bezahlen kann, diejenige, die nicht bezahlen kann. Götter, Bürger und Lumpe. (Theodor Lessing: Leben auf dem Schiff, 1931)
Der schweizerische Waffenhändler Kuno Raeber steht auf seiner Super-Yacht in Monaco und empfängt einen Journalisten, der eine ›Home-Story‹ über ihn schreiben will:
Ja, Gruezi, mein Verehrtester! Willkommen auf meinem bescheidenen Anwesen. Oder wie Gert ›Goldfinger‹ Fröbe zu Sean ›007‹ Connery einst sagte: ›Willkommen auf meinem Gestüt, Mr. Bond‹. Haha, Spaß muß sein. Bitte, setzen Sie sich doch, aber entledigen Sie sich vorher Ihrer Straßenschuhe, wir haben hier eine Auswahl an rutschfesten Bootsschuhen in allen Größen, selbstverständlich fabrikneu. (Aus dem Schiffsinneren dröhnt ›I’m your Boogie Man‹. Herr Raeber verzieht das Gesicht und schreit nach unten:) Jean-Claude, nun gib a mal a Ruh, sei stad, der Papa hat Besuch und will sich unterhalten. (Augenblicklich verstummt das Disco-Gedröhne.) Sehen Sie, das ist mein Sohn aus dritter Ehe. Meine Frau ist Münchnerin und wir haben mit Jean-Claude vereinbart, daß, wenn ich auf bayerisch einen Befehl gebe, unbedingter Gehorsam erwartet wird, denn sonst kracht es ganz gewaltig. Aber nun greifen Sie nur zu, meine Küchenmannschaft hat Shepard’s Pie vorbereitet, und hier kommt auch schon eine Flasche Krug! Ich habe darauf geachtet, daß nicht die billige Version, der ›Grande Cuvée 170ème Édition‹ auf den Tisch kommt, der kommt mich schließlich 270 € pro Flasche, nein, wir haben es hier mit einem Krug Grande Cuvée 171ème Édition‹ zu tun, der mit 1.550.00 € zu Buche schlägt. Ich hätte ihnen natürlich auch einen Krug ›Clos du Mesnil 2008‹ servieren können, aber mit 4. 550. 00 € die Flasche wäre das doch dem Anlaß nicht ganz angemessen gewesen. Denn wenn ich Ihnen den eingeschenkt hätte, da können Sie Gift drauf nehmen, würde sich das ganz schnell herumsprechen, und solche Leute wie David Geffen wären dann beleidigt, daß ein Herr von der Presse so einen Spitzenchampagner bekommt und er, Geffen, vielleicht beim nächsten Empfang bemerkt, daß ich ihm nur den Krug ›Clos d’Ambonnay 2002‹ zum Preis von 3.790.00 € die Flasche offeriert hätte. Meine Yacht-Freunde sind da sehr empfindlich und schätzen es gar nicht, wenn man die Klassenunterschiede so einebnet. Na, nichts für ungut! Cheerio! (Hebt ein Champagnerglas und nimmt einen Schluck.) Warum erwähnte ich die Preise? Natürlich nicht, um als Angeber zu gelten, wo denken Sie hin. Doch wenn man aus Versehen manchmal die falschen Gäste an Bord hat, und das ist schon vorgekommen, dann ist man doch immer wieder entsetzt, wie selbst Mitglieder der ›Happy Few‹ sich daneben benehmen und zum Beispiel ein Glas Krug in einem Zug hinunterstürzen als handele es sich um ein Glas Wasser. Solche Figuren wie dieser Neureiche aus den USA, der vor kurzem diesen ›Twitter‹ käuflich erworben hat, der trinkt doch tatsächlich am liebsten eine Cola aus der Flasche. Da muß man dann vom Untergang des Abendlandes auch nicht weiter sprechen. Den werden Sie hier niemals sehen, das werde ich nicht zulassen, daß solche Typen unser mühsam erschaffenes kulturelles Niveau mit einem Schlag kaputtmachen. Hingegen habe ich nur gute Erinnerungen an Tom Wolfe, kennen Sie den? ja?, mit seinem berühmten Roman ›The Bonfire of the Vanities‹, 1987 erschienen. Wie er sich schon immer elegant gekleidet hat, ganz in Weiß, und wie er sich ausdrücken konnte, und wie witzig er sein konnte, er ist ja bedauerlicherweise im Jahre 2018 von uns gegangen. Selbst die ägyptischen Huren mit ihren beschränkten Englischkenntnissen, die ich damals habe einfliegen lassen, haben sich ausgeschüttet vor Lachen, wenn er seinen urbanen New Yorker Humor hat spielen lassen. Großartig! Meine Gäste damals haben das nicht durchweg geschätzt, aber sie waren ja auch meistenteils wegen der eingeflogenen Huren gekommen, das bekommt man, muß ich auch zugeben, nicht alle Tage geboten. Das war ein tolles Sonderangebot (zwanzig Frauen zum Preis von fünfzehn) eines menschlichen Waffenhändlers aus Kairo, also menschlich insofern, als er auch mit Menschen gehandelt hat. Es waren auch welche aus dem Libanon und Syrien dabei, also diese hellbraune zarte Haut, die diese Mädchen hatten, unbeschreiblich. Selbst das zarteste Carpaccio konnte dagegen nicht ankommen. Da hat es dann aber einige Gäste gegeben, die wollten wissen: Woher kommt das Fleisch? Nein, nicht das vom Carpaccio, die Mädels aus Kairo waren gemeint. Wissen Sie, das war die Zeit, wo der Rinderwahnsinn wütete und es gab einige ganz Ängstliche, die wollten sich mit unseren kostenlosen Huren nicht einlassen, bevor man ihnen nicht ein Zertifikat vorgelegt hat, in dem bestätigt wird, daß sie alle dreifach geimpft und durchgecheckt worden sind. Ein Theater, kann ich ihnen sagen, am liebsten hätte ich diese Feinschmecker über Bord geworfen. Ja, und dann hat auch mein alter Freund Adnan Khashoggi immer wieder mal vorbeigeschaut, er lag damals mit seinen beiden Yachten ›Nabila‹ und ›Khalidia‹ in der Marina von Marbella. Das waren noch Zeiten, diese achtziger Jahre, die kommen nicht wieder. Was haben wir da für Partys gefeiert. Enorm! Geld spielte keine Rolle. Bei Khashoggi ohnehin nicht und niemals. Der wußte zu leben. Der nahm viel Geld ein, gab aber auch viel Geld aus. Man kann es ja nicht mitnehmen, wenn man abgeht. Man sprach damals von ihm als dem ›Großen Gatsby des mittleren Ostens‹. So attraktiv wie die männliche Hauptfigur in dem Roman (und der Verfilmung) von Fitzgerald war er sicher nicht, aber das kümmerte niemanden, denn Geld, vor allem sehr viel Geld ist ein Aphrodisiakum. Das können Sie mir glauben. Der gab eine zeitlang täglich 250.000 amerikanische Dollar aus. Das kann Otto Normalverbraucher nicht verstehen, aber das ist eben das Schöne an der grenzenlosen Verschwendung, man nimmt auf sein Geld keine Rücksicht. Money to burn, sagen die Amerikaner. Das war seine Lebenseinstellung. Was sagen Sie? Ich soll etwas über meine Yacht erzählen? Ja, dann also: Die Durchschnittsgröße einer heute gängigen Yacht beträgt 500 feet, das sind zirka 152,5 Meter. Meine ist in etwa so groß wie die von David Geffen, also 454 feet lang, aber Jeff Bezos hatte mal eine Yacht in Auftrag gegeben, die so mächtig wurde, daß die Stadt Rotterdam eine Brücke hätte auseinandernehmen müssen, damit die Yacht ins offene Meer hätte passieren können. Wie Sie sich vorstellen können, gab es in Holland ein riesiges Geschrei. Aber so ist das mit einer Yacht, oder besser sollte man solche Schiffe, die so lang und so gewaltig aussehen, Super-Yachten oder Giga-Yachten nennen. L. O. A. ist das Codewort — Length Over All. Sie glauben gar nicht, wie aufmerksam die Besitzer solcher Yachten darauf schauen, wie lang die neu vom Stapel gelaufene Yacht ist und wer der neue Besitzer ist. Früher konkurrierten die Milliardäre der Welt dadurch, daß sie immer größere Anwesen kauften und immer größere und luxuriösere Bauten darauf errichten ließen. Einigen Exzentrikern war das nicht genug, die wollten hoch hinaus, und ließen sich kleine Raumschiffe bauen, mit denen sie ins All flogen. Seit der Pandemie ist die Super-Yacht das Non Plus Ultra, wenn es darum geht, zwischen den Super-Reichen zu entscheiden, wer das längste Boot hat. You ain’t seen nothing yet. Ein Evolutionsbiologe hat mir einmal erzählt, das sei doch wie bei den Grünen Meerkatzen. Die verfügen über einen intensiv roten Penis, der sich von einem leuchtend blauen Hodensack abhebt. Wenn eine Gruppe von Grünen Meerkatzen zusammensitzt und etwas verzehrt, setzen sich einige der Männchen etwas abseits mit gespreizten Beinen auf den Boden. Sobald ein fremder Affe auftaucht, bekommen die Wächter eine Erektion und schauen den Fremden dabei drohend an. Wenn ich diese Geschichte auf unseren Yacht-Partys manchmal erzähle, biegen sich die Leute vor Lachen, aber natürlich sind sie von diesem Vergleich nur peinlich berührt, denn sie erkennen die Parallele nicht, wollen es auch nicht. Selbsterkenntnis ist reichen Leuten meistens vollständig verwehrt. Aber wozu auch, brauchen sie das denn, wo sie doch so viel Geld haben? Es gibt doch diesen Spruch: ›The rich are different. Yes, they have more money‹. Und wissen Sie, was mein alter Kumpel Truman Capote darauf erwidert hat, als ich ihm das zitierte? »Nein, nein. Der wahre Unterschied zwischen reichen Leuten und normalen Leuten ist, daß die Reichen so phantastisches Gemüse servieren lassen. Köstliche, winzig kleine Feldfrüchte. Frischgeborene Kleinigkeiten, kaum eben aus der Erde. Winziger Baby-Mais, winzige Erbsen-Babys, winzige Lämmchen, eben aus dem Mutterleib gerissen. Das ist der wahre Unterschied. All ihr Gemüse und ihre Fleischspeisen, die sind so unglaublich frisch und noch ungeboren.« Tja, das war unser Truman, wie schade, daß er so früh gestorben ist, und wie schade, daß ich nicht an seinem ›Black & White‹-Ball‹, 1965, im New Yorker ›Plaza‹ teilnehmen konnte, dazu war ich damals noch zu jung. Was sagen Sie? Sie wollen wissen, ob ich schon einmal von Veblen gehört habe? Vom demonstrativen Konsum? Ein alter Hut. Das lesen nur Leute, die neidisch sind und eigentlich selbst gern viel Geld hätten. Sehen Sie, David Geffen ist schon lange aus dem Musikgeschäft heraus, er müßte eigentlich nicht mehr mit seiner Yacht herumkurven, aber er macht es, um weiter mit den Machteliten der Welt in Kontakt zu bleiben, und das erreicht man nur, wenn man Zugang zu ihnen bekommt. Und wie bekommt man Zugang zu ihnen? Nun, indem man beispielsweise Leute aus Politik und Showbusiness auf einen Cruise einlädt und so auch verschiedene Leute aus unterschiedlichen Gesellschaftssphären zusammenbringt. Only connect, heißt es bei E. M. Forster. Der reiche Landedelmann, der auf seinen weitläufigen Besitzungen tagein tagaus sitzt, sommers wie winters, das mag es vereinzelt noch geben, aber so sieht nicht die Zukunft aus. Am besten lebt es sich immer noch in Monaco. Wußten Sie daß man, um ein Konto bei einer monegassischen Bank zu eröffnen, eine Mindesteinlage von 100.000 US-Dollar einzahlen muß? Ich muß sagen, das beruhigt mich doch sehr, denn so werden auf ganz sanfte Weise Menschengruppen aus dem Staat herausgehalten, die hier einfach nicht hingehören. Man muß mobil sein und das geht am besten und vor allem komfortabelsten mit einer schönen Yacht, die in der Marina von Monaco vor Anker liegt. Wenn es einem irgendwo nicht gefällt oder man Sylvester Stallone zum Nachbarn hat, der jede Woche eine laute Party schmeißt und nachts sein Anwesen mit einer Flutlichtanlage taghell bestrahlen läßt, so daß man kein Auge zubekommt, ja, dann heißt es einfach: Leinen los! Und schon segelt man mit Volldampf voraus neuen Ländern und Taten entgegen. So! Die Zeit ist um. Ich muß mich unter Deck begeben und nach dem rechten sehen und hoffen, daß mein Sohn nicht alles kurz und klein geschlagen hat. Er bekommt an Deck manchmal einen See-Koller. Aber das legt sich wieder. Es ist alles nur eine Frage der Gewöhnung. Merci vielmals for your attention! Bon soir, ciao ciao, auf Wiedersehen!
Frau Pannemeyer will es wissen
»Was mag wohl der zureichende Grund für diese Naturkatastrophe sein?« fragte Pangloß. »Das Weltende ist gekommen!« schrie Candide voll Grauen. (Voltaire: Candide oder Der Glaube an die Beste der Welten, 1759)
Am Gartenzaun
Frau Pannemeyer und Prof. Friedrich Lensing unterhalten sich.
Frau Pannemeyer: Ach, guten Morgen Herr Professor, na, was macht ihr Gärtchen? Der viele Regen versaut uns noch unsere ganze Ernte. Alles versäuft, nüch?
Prof. Friedrich Lensing: Ja, liebe Frau Pannemeyer, das ist die Natur, die macht, was sie will, obwohl natürlich durch die klimatischen Veränderungen in den letzten Jahrzehnten da auch der Mensch mit seinen vielen chemischen Treibstoffen hineinspukt.
Frau Pannemeyer: Die Natur spielt verrückt. Vor ein paar Wochen war es schrecklich heiß und die Sonne brannte auf mein Gärtchen herunter. Nun haben wir Dauerregen. Ich frage Sie, wie soll das nur weitergehen?
Prof. Friedrich Lensing: Ja, die Natur wird immer unzuverlässiger, aber sie lügt auch nicht wie die Menschen es tun. Am ganzen Globus ändert sich was. Das Klima verschiebt sich. Das Abholzen der Wälder in vielen Teilen der Welt hat dazu beigetragen.
Frau Pannemeyer: Da sagen Sie was, man liest es ja jetzt fast jeden Tag. Schrecklich! Was soll noch aus der Erde werden? Müssen wir uns einen neuen Planeten suchen? Die Tochter von Frau Hebestreit, die Biggi, redet davon jetzt ständig, sie ist ja Ärztin, also muß sie wohl etwas vom Leben wissen, obwohl für solche Sachen doch irgendwie andere zuständig sind, meinen Sie nicht?
Prof. Friedrich Lensing: Nun ja, die Menschen haben inzwischen einen allgemeinen Wissensstand erreicht, da spielt es keine Rolle mehr, ob man studiert hat oder nicht. Das war in meiner Jugendzeit noch anders. Die jungen Menschen sind durch das Internet doch sehr gut informiert, auch wenn natürlich viel Quatsch sich dort tummelt. Aber sie haben gelernt, zu unterscheiden, und nur darauf kommt es an.
Frau Pannemeyer: Der Jüngste von meiner Nachbarin hat sich neulich mit einer Tube Klebstoff auf einer Autobahn festgeklebt. Dann kam die Polizei und hat ihn mit einem besonderen Klebstofflöser wieder vom Erdboden abgezogen. Ach, daß diese Kinder zu solchen Mitteln greifen müssen, es sind doch Kinder oder zumindest halbe Kinder, die sich zu solchen Sachen hinreißen lassen.
Prof. Friedrich Lensing: Es ist auf jeden Fall besser, als wenn die Jugend zuhause hocken würde und vor dem Computer sich dem Blödsinn der ganzen Welt ausliefert. Ich bewundere diese Kinder, es gehört Mut dazu, aber auch wahre Erkenntnis in das Getriebe der Welt. Und sie haben auch Phantasie gehabt, als sie sich Namen für ihre Sache ausgedacht haben: ›Fridays for Future‹ und ›Letzte Generation‹, auch wenn solche Bezeichnungen melancholisch machen, weil in diesen Namen ja auch eine gewisse Verzweiflung enthalten ist. Dennoch auf die Straße zu gehen und den passiven Zeitgenossen zu demonstrieren, daß man angesichts der bestehenden Klimakatastrophe sich rühren muß um den gewählten Politikern Dampf zu machen, das ist allemal jede Anerkennung wert.
Frau Pannemeyer: Ach, Herr Professor, Sie finden aber auch immer die richtigen Worte. Ich glaube, Sie sind selber noch so ein halbes Kind geblieben, womit ich nichts Schlechtes gesagt haben will. Sie haben etwas bewundernswert Kindliches in ihrer Art, über die Welt nachzudenken.
Prof. Friedrich Lensing (spricht jetzt sotto voce und beugt sich zu Frau Pannemeyer hinunter): Im Vertrauen, es gibt mich eigentlich gar nicht. Ich bin eine Erfindung meines Biographen, der für mich spricht und sich Zitate aus meinem Gesamtwerk heraussucht. Mein Name ist auch eine Fiktion. Der Vorname geht auf Friedrich Hebbel zurück und der Nachname auf Hebbels junge Geliebte, Elise Lensing, und als ich ein ganz junger Mann war, habe ich mein erstes Buch unter dem Namen Theodor Lensing herausgebracht, das war im Jahre 1893. ›Comödie‹ hieß das Werk. Mein wahrer Name ist Theodor Lessing. Am 31. August 1933 hat man mich in Marienbad erschossen.
Frau Pannemeyer: Ogottogott! Herr Professor, versündigen Sie sich mal nicht. Wie können Sie einer alten Frau einen solchen Schreck einjagen?!
Prof. Friedrich Lensing: Tun wir einfach so, als hätten Sie das jetzt eben gar nicht gehört. (Seufzt.) Wir stehen hier am Gartenzaun und freuen uns über unser begrüntes Stückchen Erde. Und was grünt und blüht hier nicht alles! Man braucht nur in die blanken lachenden Augen der Küchenkräuter zu blicken: Basilikum, Petersilie, Eiskraut, Majoran, man glaubt, unter gesunden Bürgerkindern zu sein. Liebliche Mittelstandsgesichter, in all ihrer Sauberkeit, aber auch so nüchtern wie gute Hausfrauen es nun mal sind. Nicht zu vergessen, die nur wegen ihrer Schönheit angepflanzten Blumen! Die leichten Iris in ihrer dahinzwitschernden Munterkeit sind kaltherzige Tanzmädel. Die Betunien und Winden, all die lieben Schlankdinger, Hübschdinger, Liebdinger sind Geishas, kleine holde Bajaderen. Die dicken Cinerarien sind Mädels aus dem Volk, ›die’s zu was gebracht haben‹. Opuntien haben völlig bankdirektoriale Gesichter. Georginen, Hortensien sind Tiller-Girls, amerikanisch schön und seelenlos. Aber die geliebtesten, die liebsten sind doch die Kinder aus dem untersten Volk. All die frechen kleinen Hybriden: Teufelsabbiß, Margareten, Feuerbällchen. Das alles blüht in meinem kleinen Garten, bewacht von den riesigen Sonnenblumen, welche aussehen wie treue, tappsige, zuverlässige Bärenmütter, und doch sich selber verzehren in zarter Sehnsucht zum Licht.
Frau Pannemeyer: Och, das haben Sie aber schön gesagt, fast wie gedruckt. Unsereiner ist da doch behindert in seiner Wortwahl.
Prof. Friedrich Lensing: Aber nein, machen Sie sich doch nicht klein! Sie müssen sich nur ganz dem Gefühl hingeben und beim Anblick der Pflanzen und Blumen herausfühlen, was sie ihnen sagen. Dann kommen die Worte von ganz allein. Das Schönste an der frei wachsenden Natur ist, daß sie nicht lügt. Sie ist auch unser bester Wetterprophet. Die wahren Propheten der Erde sind die Pflanzen und Tiere. Sie lügen niemals. Am Wachstum der Pflanzen und Bäume kann man manches ablesen, und leider hat sich doch auch manches verschoben. Es gibt keine ganz richtigen Sommer und keine ganz richtigen Winter mehr. So gibt es mittlerweile ein europäisch-amerikanisches Normalwetter: dauernder Alltagsmatsch mit gelegentlichen Hitze- und Sonnenferien und nicht allzu zahlreichen Kälteperioden.
Frau Pannemeyer: Das sage ich ja, das habe ich doch anfangs gesagt. Die Natur spielt verrückt. Und wenn ich Ihnen glauben soll, dann sind es die Menschen mit ihren verrückten Entscheidungen, die dazu beigetragen haben, daß wir in diesen Schlamassel hineingeraten sind.
Prof. Friedrich Lensing: Die Jahreszeiten verlieren das klare Gesicht. Alles vereinheitlicht sich. Die Landschaften verschleifen sich. Überall siegt zuletzt eine freudlose und labile Mitte. Für das ganze Jahr kann man prophezeien: miseriges Mickelwetter, viel Matsch, trüber Himmel, mißmutige Laune der Natur. Und dem passen die Pflanzen sich an und die Tiere sind wie die Menschen Opportunisten geworden. Sie werden immer menschlicher und unklarer. Die vielen Überschwemmungen und Erdrutsche der letzten Jahre sind ein deutliches Signal dafür. Daß dies Vorgänge sind, die durch falsche Bebauung ihr Vorspiel hatten, wäre wohl nicht ganz abzuweisen. Jedes unrichtige Verhalten der Menschen, etwa die Verschlechterung der Atemluft, trägt mit dazu bei, daß die Erde sich insgesamt vergiftet. Das wird sich alles rächen, denn gesundes Leben wehrt sich. Gesundes Leben, wenn man es schlägt, schlägt zurück. Mit Verleugnung dieser unbezweifelbaren Tatsachen kommt man nicht weiter, man verschlimmert den Zustand, bis ein Punkt erreicht ist, an dem es keinen Weg zurück mehr geben wird. Man darf ruhig von Wetter- und Klimaerkrankungen sprechen, darüber müßte eine weltweite Statistik geführt werden. Die Temperaturkrankheiten sind im Vormarsch. Heute pressen wir aus der Erde weit mehr heraus als ihr zuträglich ist, und so wird die Erde dann auch unfreundlicher zu uns.
Frau Pannemeyer: Wir können froh sein, daß wir hier unser Gärtchen haben, wo man dann doch noch alles unter Kontrolle hat und sich am Wachsen und Gedeihen erfreuen kann, nüch?
Prof. Friedrich Lensing: Ich wollte Sie mit meinen Worten nicht beunruhigen, liebe Frau Pannemeyer. Als Philosoph und Naturbeobachter aus Leidenschaft kann ich mich manchmal, wenn ich so zu reden anfange, nicht bremsen. Ach, ich wollte ihnen doch ein Körbchen mit frisch gepflückten Himbeeren schenken, aber nun sehen Sie sich das an: alles am Strauch ist wegen des vielen Regens der letzten Tage verfault. Wie schade!
Frau Pannemeyer: Ach Gott, ja, und all die Mühe, die man sich gibt, alles umsonst. Wie traurig das ist. Und nichts kann man tun, damit das nicht passiert. Aber deshalb werde ich meinen Garten dennoch nicht zubetonieren, wie das mein Bekannter mir neulich vorgeschlagen hat. Da hätte ich dann keine Sorgen mehr! Es gibt Menschen, da steht einem der Verstand still. Wir werden weiter unseren Garten bestellen, trotz der Verluste, die uns schon so mancher Sommer beschert hat.
Prof. Friedrich Lensing: Liebe Frau Pannemeyer! Da haben Sie aber etwas gesagt. Das ist ja fast wörtlich der Schlußsatz von Voltaires berühmten Roman ›Candide oder Der Glaube an die Beste der Welten‹ aus dem Jahre 1759. »Wohl gesprochen«, erwiderte Candide. »Nun aber müssen wir unsern Garten bestellen«.
Auf der Jagd nach den ›Stellen‹
Im Bezirk der unanständigen Welt-Literatur sind in den letzten hundertundfünfzig Jahren nur Werke angeklagt worden, die zur Zeit der Anklage noch nicht klassisch waren. Platon ist mutiger gewesen; er warf dem klassischen Homer die pornographischen Zeus-Hera-Stellen vor. In unsern Zeiten aber ist man zu gebildet, um Ovid, Apulejus, Petronius, Shakespeare, Rabelais vor Gericht zu ziehn. […] Die Zoll-Behörde, die in Amerika zensiert, hat in ihren Regulationen auch ein Ausnahme-Recht für die »sogenannten Klassiker«. (Ludwig Marcuse: Obszön. Die Geschichte einer Entrüstung, 1962)
Die Schulbehörde in Hillsborough County im US-Bundesstaat Florida hat entschieden, daß Schüler nur noch Auszüge aus Shakespeares Werken im Unterricht zu lesen bekommen. Dies begründet sie erstens damit, daß die Schüler viele Werke kennen müßten, und deshalb sei es einfacher, Auszüge zu lesen als mehrere ganze Bücher. Zweitens bezieht sich die Schulbehörde darauf, daß es in Florida ein Gesetz gibt, wonach Themen wie Homo- oder Transsexualität im Schulunterricht nicht behandelt werden dürfen. »Es ist etwas Obszönes in Shakespeare« zitiert die ›Tampa Bay Times‹ einen Lehrer. Die Schulbehörde legt Wert auf die Tatsache, daß selbstverständlich alle Werke Shakespeares den Schülern zur Ausleihe in den Schulbüchereien weiterhin zur Verfügung stehen.
Ein Traum wird wahr. Welcher Schüler hatte schon jemals einen Überblick über die obszöne Literatur? (Wenn er oder sie nicht ohnehin die frei zugängliche reale Pornographie kostenlos im Internet konsumieren wollte, statt sich mit zu vielem Lesen die Augen zu verderben.) Dank der Schulbehörde in Hillsborough County bekommen alle Schüler nun wertvolle Hinweise auf die Literatur, die es in sich hat, und man kann nach der Ausleihe sich auf die Suche nach den ›Stellen‹ begeben, die die Weltliteratur bereithält. Alle amerikanischen Schulbehörden sollten es sich zur Aufgabe machen, sämtliche Texte der Weltliteratur auf obszöne Stellen zu durchforschen und dann den Schülern als Leselisten aushändigen. Bibliothekare, macht euch auf einen gewaltigen Ansturm gefaßt!
Zurück in die Steinzeit
Wenn diese Politiker der Gewalt noch davon sprechen, daß dem Gegner »das Messer an die Kehle zu setzen«, »der Mund zu stopfen« sei, oder »die Faust zu zeigen«; wenn sie überall »mit harter Faust durchgreifen« wollen oder mit »Aktionen auf eigene Faust« drohen: so bleibt nur erstaunlich, daß sie noch Redensarten gebrauchen, die sie nicht mehr machen. Die Regierung, die »mit aller Brutalität jeden niederschlagen will, der sich ihr entgegenstellt« — tut es. […] »Salz in offene Wunden streuen«. Einmal muß es geschehen sein, aber man hatte es vergessen bis zum Verzicht auf jede Vorstellung eines Tätlichen, bis zur völligen Unmöglichkeit des Bewußtwerdens. […] ›Als sich der alte Genosse beim Kartoffelschälen einen tiefen Schnitt in die Hand zufügte, zwang ihn eine hohnlachende Gesellschaft von Nazis, die stark blutende Hand in einen Sack mit Salz hineinzuhalten. Das Jammergeschrei des alten Mannes machte ihnen großen Spaß.‹ Es bleibt unvorstellbar; doch da es geschah, ist das Wort nicht mehr brauchbar. Oder: »mit einem blauen Auge davonkommen«. Nicht allen ist es jetzt im uneigentlichen Sinne gelungen; manchen im eigentlichen. Es war eine Metapher gewesen. Es ist nur noch dann eine, wenn das andere Auge verloren ging; oder auch dann nicht mehr. […] Die Floskel belebt sich und stirbt ab. In allen Gebieten sozialer und kultureller Erneuerung gewahren wir diesen Aufbruch der Phrase zur Tat. (Karl Kraus: Warum die Fackel nicht erscheint. In: Die Fackel, 36. Jg., H. 890–905 (Ende Juli 1923), 95f.)
Der israelische Verteidigungsminister hat jetzt damit gedroht, das Nachbarland Libanon »in die Steinzeit« zurückzuversetzen, sollte es abermals zu einem Krieg mit der dort tätigen Hisbollah-Miliz kommen. Der US-amerikanische General Curtis E. LeMay soll während des Vietnam-Krieges gesagt haben, man solle Vietnam »in die Steinzeit zurückbomben«. Im Jahre 1982 beschloß das israelische Kabinett die militärische Operation ›Schalom Hagalil‹ (Frieden für Galiläa), mit dem Ziel der physischen Zerstörung der ›Palästinensischen Befreiungsorganisation‹ (PLO). ›Krieg ist Frieden‹ heißt es in George Orwells Roman ›1984‹. Ein norwegischer Offizier der ›United Nations Interim Force in Lebanon‹ sagte dazu, dies sei der Versuch, »die PLO ins Steinzeitalter zurückzubomben«. Der Satz von Karl Kraus über den »Aufbruch der Phrase zur Tat« ist von nicht veraltender Aktualität. Verwandt mit der Phrase von der Steinzeit ist die Redewendung »dem Erdboden gleichmachen«. Hier bleibt man in der Kategorie des Raums, während es sich bei der Steinzeit um eine Kategorie der Zeit handelt. Das Resultat bleibt das gleiche. Und tatsächlich werden auch heute noch, wie jetzt mit der ukrainischen Stadt Marjinka (9.400 Einwohner) geschehen, Städte dem Erdboden gleichgemacht, also vollkommen zerstört. 1942 brannten NS-Truppen Lidice und Ležáky nieder, als Vergeltungsmaßnahme für das Attentat auf den SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich. In dem Film ›Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb‹ von Stanley Kubrik (1964) malen die US-Soldaten auf die Bomben, die sie über Rußland abwerfen sollen, Sprüche wie ›Hi There!‹ oder ›Dear John‹; vor wenigen Tagen signierte der ukrainische Präsident Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj den französischen Marschflugkörper ›Scalp‹ mit der Zeile: »Ruhm der Ukraine«, eine gängige Grußform in diesem Staat und der offizielle Gruß des ukrainischen Militärs. Und so setzen die Menschen auf der ganzen Welt und in allen Zeiten und Räumen fleißig die Sinngebung des Sinnlosen fort, jedesmal fest davon überzeugt, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen und deshalb auch bereit, jeden nur erdenklichen Unsinn zu sagen und zu schreiben, und wenn das nicht hilft, mit der ungeheuren Macht der militärischen Destruktionskräfte alles dem Erdboden gleichzumachen.
Hannovers Seelensuche
In Heinrich Heines ›Religion und Philosophie in Deutschland‹ (1834) wird von einer Sage berichtet, worin ein englischer Mechaniker einen künstlichen Menschen hergestellt hat, und dieser Maschinenmensch konnte sich wie ein Mensch gebärden, ja, er trug in sich »sogar eine Art menschlichen Gefühls«, womit dieser Maschinenmensch den bis heute produzierten Robotern weit überlegen war. Ja, er konnte darüber hinaus »in artikulierten Tönen seine Empfindungen mitteilen«, wozu auch der mit der neuesten künstlichen Intelligenz ausgestattete Roboter nicht und ganz sicher niemals fähig sein wird — aber wir bewegen uns im Bereich der Sage und da ist alles möglich. Der Maschinenmensch verfügt deshalb auch über etwas, worüber nur menschliche Wesen verfügen können: Selbstbewußtsein. Da er so etwas hat, leidet er, und er leidet, weil ihm doch eine Sache fehlt, für die ihm merkwürdigerweise ein Sinn gegeben ist: eine Seele. Und so wendet sich der Maschinenmensch an seinen Schöpfer und ruft unablässig und flehentlich: »Give me a soul!« Heine kommentiert dies mit den Worten, dies sei »eine grauenhafte Geschichte«.
Die Stadt Hannover ruft, seit das Stadtmarketing ihr diese Vorstellung eingegeben hat, ebenfalls nach einer Seele, die sie aber nicht Seele nennt, sondern: Slogan. Wieso tut sie das und weshalb ist die Lokalzeitung bereit, mehrere Seiten damit zu füllen und den Lesern und damit Teilen der hannoverschen Öffentlichkeit weiszumachen, daß hier das besteht, was man in der Sprache der Bürokratie ›Handlungsbedarf‹ nennt? Die Lokalzeitung titelt: »Hannover – wer bist du?« Die Worte »Identität« und »Image« fallen, und ein Appell ergeht an die Leser, sich zu diesem künstlichen Thema zu äußern.
›Stadtluft macht frei!‹ hieß es zu mittelalterlichen Zeiten, als man von Marketingstrategien und Werbekommandos noch verschont wurde, denn es bedeutete, daß ein seinem Grundherrn entlaufener Bauer ein Jahr lang sich innerhalb der schützenden Mauern einer Stadt aufhalten und dort arbeiten mußte, um das Bürgerrecht auf ständigen Aufenthalt in der Stadt zu erhalten und so vor den Nachstellungen seines Grundherrn, der den Bauern als sein persönliches Eigentum betrachtete, sicher war. Man darf vermuten, daß der so Freigewordene der Stadt dankbar war, dankbar dafür, daß es sie gab und daß er sich dort ein neues Leben aufbauen konnte. Aber niemals hätte die mittelalterliche Stadt von ihm verlangt, sich einen Slogan für diese Stadt auszudenken und Werbung für den Fremdenverkehr zu betreiben. Es gab zwar Handel zwischen den Städten, aber der moderne Tourist war noch nicht erfunden und es gab auch kein Bedürfnis danach. Daher war es den Bewohnern auch völlig gleichgültig, wie die Stadt, in der sie lebten und arbeiteten, im Vergleich mit anderen Städten ›abschnitt‹. Erst das Aufkommen der kapitalistischen Produktionsweise, der Zerfall des traditionellen Handwerks und der Manufakturbetriebe führten dazu, daß die Städte unterschiedliche Erkennungsmerkmale aufzuweisen begannen, aber auch dann dauerte es noch lange, bis endlich die Stadt als Ware auftrat und man anfing, diese Ware zu vermarkten. »Diese unbeirrbare Großstadtsucht, die noch aus einem Hotelmord Hoffnungen auf Hebung des Fremdenverkehrs schöpft« kommentierte 1918 Karl Kraus die Neigung der Stadt Wien, sich größer zu machen als sie ist und jede Gelegenheit auszuschöpfen, um Reklame für Wien zu machen. Doch damals war man noch weit vom heute bekannten Stadtmarketing entfernt, die Bemühungen, Fremde (das Wort wird heute vermieden, man spricht lieber von ›Gästen‹ oder auch von ›Touristen‹), die man in die Stadt locken (dieses Wort allerdings schämt man sich nicht, offen zu gebrauchen, auch das Wort ›Claim‹ geht dem lokalen Journalisten locker von der Zunge) will, unter Ausnutzung aller Mittel und Methoden. So bewarb sich Hannover, allerdings vergeblich, um den Titel einer ›Kulturhauptstadt‹. Ja, die Städte in aller Welt glauben an den Fetisch Kultur und wollen Kulturhauptstädte werden. Kultur ist eine Ware, sie wird zum Verkauf in Ausstellungen präsentiert. Die Ausstellung ist die Stadt mit all ihren kommerziellen Interessen. Auch das wußte Karl Kraus schon, als er in einem berühmten Aufsatz mit dem Titel ›Die Kultur im Dienste des Kaufmanns‹ ein ganzes Fackel-Heft (34. Jg., Nr. 873–875, Mitte April 1932) damit füllte. Kultur wird zum Lockvogel, zum Anhängsel der Gastwirte und Hoteliers. Aber um die Fremden anzulocken, braucht man ein Schlagwort, einen Slogan, so die Vorstellung von Politikern und Wirtschaftsleuten, der so zündend ist, daß alle Welt sich von dem unbezwingbaren Drang erfüllt fühlt, eine Fahrkarte nach Hannover zu lösen oder mit dem eigenen Wagen sofort hierher zu fahren.
Bei Pop- und Rock-Konzerten ist es üblich geworden, das Publikum in das Bühnengeschehen einzubeziehen, und deshalb kommt im Laufe des Abends irgendwann der Moment, wo eines der Bandmitglieder die Arme hochwirft und rhythmisch in die Hände zu klatschen beginnt. Dann ist die Stunde der ›audience participation‹ gekommen. Und alle klatschen mit. Das dachte sich auch das Lokalblatt und sagte sich: wieso vergibt die Stadt für teures Geld Werbeaufträge an Agenturen, wenn man das Ganze kostenlos haben kann, wenn man die Leser zu unbezahlten Werbeschmieden macht und sie dazu auffordert, Sprüche zu erfinden, die für die Stadt Hannover werben.
Selbstverständlich gab es die zu erwartenden Reaktionen und das Blatt druckte eine Auswahl der Slogans ab. Sie unterscheiden sich nicht von den durch professionelle Werbetexter erdachten Sätzen. Sie gleichen ihnen sogar, was nicht überrascht, da auch die Sprache der Leserbriefe in den meisten Fällen dem Stil der Zeitung entspricht, die man liest. Es gab sogar Leser, die sich die Mühe machten, in ganzen Sätzen die Vorzüge Hannovers zu beschreiben. Die Beziehung zwischen Wort und Gegenstand ist ein schwieriges Problem. Ludwig Wittgenstein hat sein ganzes Leben dieser Beziehung gewidmet. Das Problem bei Werbesprüchen für eine Stadt besteht darin, daß der Aussagegehalt in allen Fällen notwendigerweise willkürlich und sinnfrei sein muß. Nicht nur, daß man die Aussagen auf jede beliebige andere Stadt anwenden kann, nein, der Vorsatz, für eine Stadt einen Satz zu finden, der sie beschreibt, ist von vornherein zwecklos, es sei denn, man ist bereit, das zu glauben, was in dem Satz ausgesagt wird. In allen Fällen ist es heiße Luft, oder wie man jetzt auch gern sagt: Bullshit. Den Vogel hat die Industrie- und Handelskammer mit dem Satz ›Zukunft ist Programm‹ abgeschossen. Nicht einmal eine politische Partei, die das Wort Zukunft schon häufig auf Wahlplakaten hat pinseln lassen, würde diesen Satz, der ohne irgendeinen Bezug zu einer Wahrheit oder einer Wirklichkeit ist, übernehmen. Bullshit ist auch der Satz: ›Hannover, überraschend anders‹. Dem steht auch der Satz ›Hannover? Richtig gut!‹ nicht nach. Man braucht zur Probe nur statt Hannover einen anderen Stadtnamen einzusetzen, und schon wird die völlige Sinnleere deutlich.
Theodor Lessing hatte recht. Da er als kleiner Junge nicht die von der Mutter zubereitete Erbsensuppe essen wollte, brachte sie die Suppe unter anderen Namen auf den Tisch. So nannte sie die Erbsensuppe nun Schillersuppe, Lenausuppe, und als sie herausfand, daß ihr Kind für Johannes Scherr schwärmte, hieß die Suppe immer gelbe Scherrsuppe, und »dann aß ich alles in Begeisterung«. Als es mit der Verdauung nicht klappte, mußte das Kind einen aus Sennesblättern zubereiteten Tee trinken, aber die Mutter nannte das Abführmittel ›Blumentee‹. Der altgewordene Theodor Lessing zog daraus seine Lebensbilanz. »Man hat mir stets Sennesblätter vorgesetzt unter dem Namen Blumentee, Dummköpfe unter dem Namen Professor, Bösewichter unter dem Namen Landgerichtsdirektor, Menschenmörder unter dem Namen Medizinalrat. Ja, die Verblödung nannte sich immer Logik und die Entsinnlichung kam immer im Namen der Ethik. Und ich habe gläubig meine Sennesblätter getrunken, denn der Zweck heiligt die Mittel, und habe immer an die Blumen geglaubt, unten im Grunde der Tasse. Erst jetzt sehe ich allmählich ein: Es ist doch eigentlich alles nur der Zauber der Worte.« (Theodor Lessing: Zauber der Worte, 1929).
Einer geht noch
Hat ein Mann übermächtige Muskeln, dann ist er: ›Rudi der Eisenkönig‹. Hat man Muskelschwund, so macht man die Nummer: ›Das lebende Skelett‹. Einer ist ganz Magen (kann Glas schlucken, kann Nägel verdauen). Kurz: irgendeine gewinnbringende Entartung der Natur hat ein jeder und kann sie verstärken, ausbilden, unterstreichen. Dann ist man immerhin Etwas und macht im Leben eine Nummer. (Theodor Lessing: Schmerzensruf eines Normalen, 1927)
Denn das gewöhnliche Leben ist für manche ein Grauen. Kommt man jedoch mit einer besonderen Begabung auf die Welt, zum Beispiel einem stapazierfähigen Magen, dann ist die Versuchung groß oder liegt es nahe, etwas daraus zu machen, vielleicht sogar einen lebenslänglich ausgeübten Beruf. In früheren Zeiten, als man das Marketing noch nicht kannte, traten solche Leute auf Jahrmärkten auf und zeigten dort ihre einzigartigen Fähigkeiten. So Nicolas Wood, der ein ganzes Schaf aß, bei einer anderen Gelegenheit vierundachtzig Kaninchen, und wieder ein anderes Mal vierhundert Tauben. In John Taylors Buch ›The great eater, of Kent, or Part of the admirable teeth and stomacks exploits of Nicholas Wood‹ (1630) wird dies behauptet und beschrieben. Über dreihundert Jahre später tritt ein französischer Schausteller auf, der sich ›Monsieur Mangetout‹ nennt und verzehrt, mit einer Elektrosäge kleingeschnitten, in den Jahren 1966 bis 1997 achtzehn Fahrräder, fünfzehn Supermarktwagen, sieben Fernseher, sechs Leuchter, zwei Betten, ein Paar Ski, ein Leichtflugzeug, einen Computer und einen Sarg. In einen solchen wurde er im Alter von siebenundfünfzig Jahren gebettet. Man nennt solche Menschen heute Freaks, weil sie ganz offensichtlich zwar zur menschlichen Rasse hinzugezählt werden können, aber doch so weit vom Normalmaß abweichen, daß sie nur als eine Laune der Natur von der Gesellschaft Anerkennung erfahren. So bewundert man den Feuerschlucker und zollt seiner Kunst Beifall, aber man selbst möchte doch bei der Erledigung solcher Kunststückchen ein bloßer Zuschauer bleiben.
Aber nicht nur die Kirche hat einen großen Magen, wie Mephistopheles im Goethes ›Faust‹ sagt (»Die Kirche hat einen guten Magen, / Hat ganze Länder aufgefressen, / Und doch noch nie sich übergessen; / Die Kirch’ allein, meine liebe Frauen, / Kann ungerechtes Gut verdauen.«), im 19. Jahrhundert in Paris füllte der wohlhabende Bourgeois seinen Magen mit beträchtlichen Portionen. »Der erste Akt dieses eines Pantagruel würdigen Mahls dauert von sechs Uhr abends bis Mitternacht: Suppe à la Crécy, zuvor mehrere Gläser herber Wein; Steinbutt in Kapernsauce, Rinderfilet, geschmorte Lammkeule, Poularde im Kasten, Kalbszunge im Sud, Sorbets in Maraschino, gebratenes Huhn, Cremes, Torten und Teilchen, alles begossen mit sechs Flaschen altem Burgunder pro Kopf. Von Mitternacht bis sechs Uhr morgens dauert der zweite Akt. Es werden serviert: eine oder mehrere Tassen Tee, Schildkrötensuppe, indischer Kari aus sechs Hühnern, Lachs mit Schnittlauch, Rehschnitzel mit spanischem Pfeffer, Schollenfilet mit Trüffelsauce, Artischocken mit Javapfeffer, Sorbets mit Rum, schottisches Haselhuhn mit Whisky, englische Puddings mit Rum, stark gewürzte englische Kuchen, alles begossen mit drei Flaschen Burgunder und drei Flaschen Bordeaux pro Kopf. Der dritte Akt dauert schließlich von sechs Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags: Man reicht eine äußerst stark gepfefferte Zwiebelsuppe und eine Unmenge nicht gesüßter Backwaren, dazu vier Flaschen Champagner pro Kopf. Dann geht man zum Kaffee über, begleitet von einer ganzen Flasche Cognac, Kirsch oder Rum.« (Alfred Delvau: Les plaisirs de Paris, 1867, 126f., zit. n. Jean-Paul Aron: Le mangeur du XIXe siècle, Paris [1973; ²1989]; dt. Der Club der Bäuche. Ein gastronomischer Führer durch das Paris des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1993, 85). Allein bei der Vorstellung, diese Unmengen auf einen Sitz verschlingen zu müssen, denn von Genießen kann man bei diesem Überangebot wohl nicht sprechen, wird einem übel. Diese Passage könnte auch einem der Romane des Marquis de Sade entnommen sein, einer der Folterszenen, mit der die armen Opfer zu Tode gequält werden. Aber das ist unsere heutige Sicht, manche Menschen des 19. Jahrhunderts empfanden nichts dabei, auf einmal hundert Austern zu verspeisen (Aron 1993, 137) oder, kaum daß sie zwölf Dutzend Austern verputzt hatten, noch einmal soviel nachbestellten (Aron 1993, 195) und dann erst das nachfolgende Diner beginnen ließen. Was diese Vielfraße dazu brachte, solche Mengen zu essen, war der Wunsch nach einer nicht endenwollenden Geschmacksorgie.
Darin unterschieden sie sich von den heutigen Wettessern, die für ein Preisgeld bei einem ›Hot Dog Eating Contest‹ innerhalb von zehn Minuten die größte Zahl an Brötchen mit heißer Wurst zu verdrücken. Ließen sich die Gourmets und Gourmands der Pariser Bourgeoisie noch einzig und allein vom allerdings übermäßigen Genuß der köstlich zubereiteten Speisen leiten, so schert es die Heiße Wurst-Verschlinger nicht mehr, wie diese schmecken, da es nur darauf ankommt, ein Höchstmaß an Quantität zu erreichen innerhalb eines knapp bemessenen Zeitraums. Effizienz steht im Vordergrund ihres Schauessen vor Publikum, nicht das Schwelgen in vielen, von Meisterköchen zubereiteten Köstlichkeiten. Ein ›competitive eater‹ tritt an, der zuvor ein langes Training absolviert haben muß, um sich überhaupt Chancen für den Titelgewinn ausrechnen zu dürfen. Dem momentanen Titelträger Joey Chestnut aus den USA hat man den Spitznamen ›Jaws‹ beigegeben, was nicht nur an den Weißen Hai (der berühmte Film aus dem Jahre 1975 hieß im Original ›Jaws‹) erinnert, sondern eben auch darauf hinweist, wie wichtig ein großes Maul, ein kräftiger Kiefer, ein aufnahmefähiger Rachen ist. Dazu wird ein Übungsgerät für den Mund eingesetzt, das dabei helfen soll, die Kaumuskulatur zu straffen. Auch wird der erfolgsorientierte ›competitive eater‹ vor dem Wettbewerb täglich Gewichtheben mit dem Kiefer üben. 2018 brach Joey Chestnut den Weltrekord mit vierundsiebzig Hotdogs, dieses Jahr gewann er, indem er innerhalb von zehn Minuten zweiundsechzig Hotdogs hinunterstopfte. Wenn auf dem Tisch zuviel heruntergefallene Brösel und Wurstreste von den Preisrichtern registriert werden, gibt es Punkteabzug. Sauberkeit wird hier großgeschrieben, es soll zwar so schnell wie möglich eine möglichst hohe Zahl von Hotdogs verspeist werden, aber Unordnung auf der Tafel verstößt gegen die puritanischen Tischsitten. Wie man sich vorstellen kann, ist das Ganze eine sehr ungesunde Angelegenheit, doch die Wahrscheinlichkeit, an verdorbenem Magen zu sterben, ist viel geringer als die Tatsache, daß die meisten Todesfälle beim ›competitive eating‹ durch Ersticken erfolgt sind. Was dem Vielesser seine Austern waren, »die besten Truppen, die Sie vorschicken können, um die gastronomische Schlacht in Gang zu bringen« (Horace Raisson: Code gourmand, Paris 1827, 88; zit. n. Jean-Paul Aron: Le mangeur du XIXe siècle, Paris [1973; ²1989]; dt. Der Club der Bäuche. Ein gastronomischer Führer durch das Paris des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1993, 345), das sind heute die Hotdogs als mundgerechte Waffen, mit denen man sich gegen die Kontrahenten durchsetzt. Aber Achtung! Wir sind alle längst zu solchen Wettsportessern geworden. Der Besuch in einem Fast Food-›Restaurant‹ bedeutet, sich auf einen schnellen Eintritt, einen schnellen Verzehr und einen schnellen Abgang einzustellen. (Vgl. George Ritzer: The McDonaldization of Society, Newbury Park, Calif. 1993; dt. Die McDonaldisierung der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997). Und so sind wir genauso vulgär geworden wie der Schriftsteller und Milliadär Raymond Roussel, der um 1920 von zwölf Uhr mittags bis fünf Uhr morgens sechzehn Gerichte auf einmal verzehrte. (Vgl. Jean-Paul Aron: Le mangeur du XIXe siècle, Paris [1973; ²1989]; dt. Der Club der Bäuche. Ein gastronomischer Führer durch das Paris des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1993, 355). Oder sind wir alle Exzentriker geworden?
Ästhetik des Häßlichen oder Und warum nicht?
Im Sommer kann man auf den Straßen das anschauen, was Karl Rosenkranz 1853 in seinem Buch ›Ästhetik des Häßlichen‹ weitausgreifend philosophisch-psychologisch zu begründen versucht hat. Schon die Einleitung ist für die Mitte des 19. Jahrhunderts ganz schön flott: »Eine Ästhetik des Häßlichen. Und warum nicht?« Hier kündigt sich die allerneueste Zeit an, es wird modisch im Stil und in der Kleidung. Was sieht man auf den sommerlichen Straßen jeder Stadt, ob groß, mittel oder klein? Sehr viel Häßliches. Und warum nicht? sagen sich viele Bürger und Bürgerinnen, und holen ihre Sommerkleider aus dem Schrank. Mal sehen, da haben wir die Hawaiihemd-Abteilung, daraus bedient man sich immer gern. Lassen Sie mich gar nicht erst auf die verschiedenen Oberhemden eingehen, die die heutige Mannheit in der Gegend herumspazieren führt. Selbstverständlich ist eine kurze Hose für Männer ein Muß. Zeigt her eure Beine, zeigt her eure Schuh. Gürtel sind wichtig, weil sie den das kurze Hemd und die kurze Hose tragenden deutschen Mann zusammenhalten, an der Stelle zusammenhalten, wo die Wölbung des ganzen Körpers sich am deutlichsten zeigt. Natürlich steckt er das kurze Hemd in die kurze Hose, nur so kann man dann den Passanten auch präsentieren, was man mit ganzem Stolz vor sich herträgt wie eine Monstranz: den Schmerbauch, die Wampe, oder, wenn wir uns vornehmer und etwas antiquiert ausdrücken wollen: den Embonpoint. Man könnte ein langes Hemd über dem Gürtel und der Hose tragen, ein weit geschnittenes Hemd, das gnädig die deutlich hervor ragende Mitte des Gesamtkörpers bedeckt, doch nein, im Sommer muß alles herausquellen, vor allem das nicht erst im vergangenen Winter angesammelte Bauchfett. »Der dicke Bauch, der so viel Inconvenienzen mit sich bringt, vor welchem der Inhaber seine eigenen Füße nicht mehr sehen kann, der so boshaft den Dichtern das Ätherische, den Priestern das Geistliche nimmt, der dicke Bauch, den man vor sich hertragen muß und der an einer Straßenecke eher, als sein Träger, sichtbar wird.« (Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen, Königsberg 1853, 232)
Auch manche Frauen stehen dem in nichts nach, und oft schon ist es vorgekommen, daß man einer Dame in aller Freundlichkeit alles Gute für die bevorstehende Niederkunft gewünscht oder gefragt hat, wann es denn soweit sei. »Wann ist was soweit?« wurde einem dann entgegnet, zusammen mit erdolchenden Blicken, die den eigentlich nur das Beste wünschenden Gratulanten trafen. Es ist sogar schon vorgekommen, daß man einem Mann Segenswünsche für das zu erwartende neue Erdenkind gewünscht hat, weil im Zuge der Angleichung der Geschlechter man nicht in jedem Falle sicher sein kann, mit wem man es gerade zu tun hat und manche Bauchwölbungen einem Schwangerschaftsbäuchlein doch sehr ähnlich sehen. Shocking! Wie barmherzig ist doch dagegen ein Wintermantel, wie hat er doch Verständnis und Mitgefühl für unseren verletzten ästhetischen Sinn, indem er alles das verhüllt, was man nicht zu sehen wünscht. Aber die kurze Hose ist auch nicht ohne. Nicht jeder Mann verfügt über solche Beine, wie sie Tony Curtis in den Filmrollen vorgeführt hat, in denen er kurze Hosen (oder ein Kostüm) hat tragen müssen. Ganz im Gegenteil, hier wird die ganze Tragweite der Ästhetik des Häßlichen erfaßbar. Das Grauen kommt einem entgegen, entweder in der kurzen Hose oder in Cargo Shorts. Der Winter war wie immer lang, sehr lang, und wer geht schon zum Bräunen der Beine während dieser Zeit ins Sonnenstudio? Ein fahler gelblichweißlicher Farbton zeichnet diese Sommerbeine aus, sie sehen aus wie gerade aus dem Riesen-Ei einer urzeitlichen Echse geschlüpft. Das ist noch nicht alles. Während jede westliche Frau wie selbstverständlich sich der Prozedur der Enthaarung unterzieht, da weder nackte Beine noch bestrumpfte gut aussehen, wenn sie von einem Haargeflecht überzogen sind oder durchscheinen, meinen Männer, daß es Teil ihrer ›Männlichkeit‹ sei, wenn sie alles so belassen, wie es ihnen die Natur mitgegeben hat. Das gilt dann auch für die grauenerregende Brustbehaarung, wo die Geschmacklosigkeit noch gesteigert wird, wenn ein Goldkettchen sich in diesem Dickicht verfängt. Da helfen auch die jetzt gerade als modisch erklärten ›Transparenz-Tops‹ (für Männer) nichts, es geht doch zu sehr in Richtung Zuhälter-Ästhetik.
Männerbeine sind häßlich, sie dienen der Fortbewegung, aber das ist auch schon alles. Diese Säbelbeine und ihre Eigentümer, diese stachligen, wie von dem Wilhelm Busch’schen Elephanten in einen Kaktus geworfenen Kreaturen, die nicht merken, wie häßlich sie aussehen. Da werden auf der Welt Frauen mit wunderschönem langen Haar verfolgt, weil sie kein Kopftuch tragen, aber nackte Männerbeine läßt man unbehelligt von Staat und Polizei frei herumlaufen. Es wird stets das Falsche verboten. Oder es wird etwas erlaubt, wovon dann keiner mit Recht einen Gebrauch macht. So dürfen seit neuestem Frauen in Hannover in den Schwimmbädern ›oben ohne‹ herumlaufen, doch bisher war die Ingebrauchnahme dieses neu installierten Rechts auf Nacktheit mäßig. Und wen haben sich die für dieses Recht sich öffentlich rührenden Frauen zum Vorbild genommen? Männer mit freiem Oberkörper! Als wenn man den männlichen Körper in all seinen bedauernswerten Einzelteilen mit dem weiblichen vergleichen kann. Der nackte Mann ist kein schöner Anblick, ein Funktionsgestell, das als sexuelles Gegenstück zum weiblichen Körper notwendig für den Fortbestand der menschlichen Rasse ist, mehr aber auch nicht. Man kann sagen: ja, aber die Muskeln! Doch wer hat die schon und wer hat die Gelegenheit, sie öffentlich zur Schau zu tragen? Höchstens professionelle Boxer, die sich dann aber im Ring grün und blau schlagen lassen und die deformierte Boxernase ist nur ein Moment in der im ganzen abstoßenden Erscheinung dieses widerlichen Sports. Hingegen sieht eine Frau auch mit einer nicht nach klassischen Schönheitsidealen geformten Figur immer noch tausendmal besser aus als jeder Mann. Der weibliche Körper ist ein von der Evolution geschaffenes Kunstwerk. Die von Michelangelo geschaffene David-Figur in Florenz, über fünf Meter hoch und fast sechs Tonnen schwer, bildet da keine Ausnahme. Sicher ist sie formvollendet in ihrer Art, kaum ein lebender Mann wird diese Wohlproportioniertheit erreichen, aber verglichen mit weiblichen Statuen ist sie doch ästhetisch unbefriedigend. In den sommerlichen Straßen und Fußgängerzonen wird man einem solchen David nicht begegnen. Weder nackt, gottlob nicht, und auch nicht in Shorts. Die Fernbedienung ist noch nicht erfunden, mit der man den überwiegend häßlichen Teil der spazierenden Menschheit einfach wegzappen könnte. Obwohl … kennen Sie den australischen Schauspieler Simon Baker? Nein? Vielleicht doch, falls Sie die Fernsehserie ›The Mentalist‹ gesehen haben sollten. Sehen Sie, der sieht wirklich gut aus in seinem lässigen Anzug und seinen locker gekämmten blonden Haaren. Aber der ist auch ordentlich gekleidet und läuft nicht unten ohne herum. Na ja, eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Nein, heute werde ich wohl zuhause bleiben.
Trojanisches Pferd vor Lemberg
Während der Krieg des russischen Staates gegen seinen Nachbarstaat, die Ukraine, täglich fortgesetzt wird und beide Seiten zuversichtlich in die nähere Zukunft blicken, in der Annahme, daß die jeweils andere Seite den Krieg ›gewinnen‹ wird, auch wenn es seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte noch niemals einen Krieg gegeben hat, den eine der beteiligten Parteien wirklich gewonnen hätte, denn Krieg bedeutet im Gegensatz zu dieser Wahnvorstellung immer die Niederlage und den Verlust beider Kriegsparteien, hat sich an den Grenzen der Ukraine ein aus der griechischen Mythologie bekanntes Pferd aufgestellt, ein Trojanisches Pferd. Bekanntlich saßen im Bauch dieses hölzernen Giganten griechische Soldaten, die, nachdem die Einwohner von Troja unbedacht das Gestell in ihre Stadt gezogen hatten, ausbrachen, die Stadttore öffneten, damit das vor den Toren stehende Heer eindringen und die Stadt und ihre Bewohner überwältigen konnte.
Das Trojanische Pferd trägt heute den Namen Philip Morris, sein Ziel und Auftrag ist die Produktion von zehn Milliarden Zigaretten auf dem Gebiet der Ukraine. In der Nähe von Lemberg, das bisher von den Angriffen der russischen Armee verschont geblieben ist, soll eine Fertigungsanlage errichtet werden. Der Marktanteil des größten Zigarettenherstellers der Welt war seit dem Beginn des Überfalls auf die Ukraine auf zwanzig Prozent heruntergegangen, vor dem Krieg betrug er noch zehn Prozent mehr. Heute stammt jede dritte verkaufte Zigarettenpackung aus illegalen Quellen. Das durfte man nicht weiter hinnehmen, und so werden von außen wohl noch lange Raketen und Drohnen als rauchende Todesbringer ins Land geschossen werden, während im Inneren des Landes die rauchende Bevölkerung mit jährlich zehn Milliarden Zigaretten täglich kleine trojanische Pferde in ihre Lungen einlassen wird. Langfristig gesehen, ist das gewiß die bessere Kriegsführung. Aber der Konzern Philip Morris ist nicht Partei, seine Zigaretten finden auch in Rußland großen Zuspruch und Nachfrage. Für den freien Westen ist indes eine andere Zukunft angebrochen. Philip Morris präsentiert sich dort als Vorkämpfer gegen die herkömmlichen Zigaretten, die aus Tabak hergestellt werden, und wirbt für Tabakerhitzer und E-Zigaretten. Der osteuropäische und auch der asiatische Raum hingegen soll erst einmal weiter die traditionellen Zigaretten verbrauchen, zumal es in diesen Gebieten auch mehr als genug Menschen gibt und es bei einem frühen Rauchertod doch schnell nachwachsende Generationen gibt, die den Ausfall der bisherigen Konsumenten ausgleichen werden.
Vgl. den Blog vom 31.05.2023 (Ein Laster kommt selten allein)
»Si comprehendis, non est Deus«
A.: Das Bayerische Verwaltungsgericht hat im September 2022 zwei Klagen gegen den ›Kreuzerlaß‹ der Bayerischen Staatsregierung für zulässig, aber unbegründet erklärt.
B.: Was sagen Sie? Zulässig, aber unbegründet? Wie ist so etwas möglich und wie kann man sich so etwas überhaupt vorstellen?
A.: Ganz einfach. Es gibt einen Paragraphen der ›Allgemeinen Geschäftsordnung für die Behörden des Freistaates Bayern‹ (AGO), der das Anbringen von Kreuzen, mit dem objektiv-rechtlichen Neutralitätsgebot des Staates in Konflikt bringt.
B.: Was ist los? Haben Sie etwas genommen?
A.: Beruhigen Sie sich. Das Kreuz sei als Symbol christlich-religiöser Überzeugung anzusehen, nicht aber nur als Ausdruck der vom Christentum mitgeprägten abendländischen Kultur, wie das die Bayerische Staatsregierung durch einen ihrer rechtlichen Vertreter vorgebracht hat.
B.: Ja, und?
A.. Nun, daraus folgt für das Gericht, daß dies noch keine einklagbaren subjektiven Rechte begründet.
B.: Ich verstehe gar nichts.
A.: Lassen Sie mich Ihnen auf die Sprünge helfen.
B.: Ich bitte darum.
A.: Einen Abwehranspruch könnten die Kläger nur dann geltend machen, wenn eines der Grundrechte verletzt sei, aus denen sich die staatliche Neutralitätspflicht herleite. Eine Verletzung der Kläger in ihrem Grundrecht auf Religions- und Weltanschaungsfreiheit läge aber nicht vor. Nach Paragraph 28 AGO würden die Kreuze im Eingangsbereich der Dienstgebäude angebracht. Dies sei aber lediglich ein Durchgangsbereich.
B.: Ich fürchte, ich weiß schon, was Sie jetzt gleich sagen werden.
A.: Da könnten Sie recht haben. Behördenbesucher seien, so das Gericht in seinem Urteil, mit dem Kreuz »nur flüchtig« konfrontiert. Und dies unterscheide den vorliegenden Sachverhalt von Kreuzen, die in einem Schulklassenzimmer an der Wand angebracht seien.
B.: Aha, wenn also eine Nonne mit einem Kreuz auf ihrer Brust im Eingangsbereich staatlicher Dienststellen an mir vorbeischlendert, handelt es sich dann auch nur um eine flüchtige Begegnung und daher werde ich durch die Nonne und ihr Kreuz noch nicht weltanschaulich beeinflußt. Es sei denn, es handelt sich vielleicht, und solche Fälle sollen ja schon vorgekommen sein, um eine ausgesprochen hübsche Nonne, und dann würde der Einfluß doch weit eher von ihrer körperlichen Attraktivität als von dem Kreuz auf ihrer Brust herrühren. Von jungen Nonnen kann ein ganz zauberischer Reiz ausgehen, denken Sie nur an die Fellini-Filme, und schon als junger Mann habe ich mir gelegentlich in katholischen Gegenden, vornehmlich in Italien, ausgemalt, wie es wäre, eine Nonne aufs Kreuz zu legen.
A.: Unterlassen Sie doch bitte diese Frivolitäten! Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Urteil des weiteren ausgeführt, daß ein im Eingangsbereich staatlicher Dienststellen angebrachtes Kreuz »ein im wesentlichen passives Symbol« sei. Es gehe daher von ihm weder eine missionierende noch eine indoktrinierende Wirkung aus. Auch eine den christlichen Glauben fördernde Wirkung sei durch dieses »passive Symbol« ausgeschlossen.
B.: Wenn man dieser Logik folgt, würde dann ein Hakenkreuz, das im Durchgangsbereich bayerischer Dienststellen angebracht wäre, auch als »passives Symbol« erscheinen?
A.: Natürlich nicht, denn das Hakenkreuz ist nach § 86 StGB (Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger und terroristischer Organisationen) verboten.
B.: Aber was soll man sich unter einem »passiven Symbol« vorstellen. Ist denn nicht jedes Symbol in sich bereits darauf gerichtet, einen Aufforderungscharakter zu haben?
A.: Oho! Da hat wohl jemand in seiner Jugend ein paar Semester Semiotik studiert?!
B.: Ihren herablassenden Ton können Sie sich sonstwo hinstecken!
A.: Nicht für ungut, Sie haben ja recht. Natürlich ist jedes Symbol nicht bloß ein Erkennungszeichen, das so tut, als verweise es nur auf sich selbst. Mit dem Wort Aufforderungscharakter haben Sie schon den Kern des Problems getroffen. Nationalflaggen werden gern von Demonstranten verbrannt, das Tragen von Kopftüchern von Staaten verboten, und das Kreuz war während der so genannten Kreuzzüge ganz sicher kein »passives Symbol«, es war das stolze Wahrzeichen des brutale Gewalt ausübenden Christentums, und das in der langen Zeit zwischen ungefähr den Jahren 1095/99 bis ins 13. Jahrhundert hinein.
B.: Zwischen einer und drei Millionen Menschen, Muslime, Juden, orientalische Christen wurden durch die insgesamt sieben Kreuzzüge ermordet. Alle im Namen des Kreuzes, das ein Bayerischer Verwaltungsgerichtshof im Jahre 2023 als »passives Symbol« benennt, ein Oxymoron, und so tut, als ginge von diesem grausamen Symbol keine missionierende Wirkung aus.
A.: Na ja, weil die heutigen christlichen Kirchen sich von der Gewaltanwendung abgewandt haben und zum Beispiel die ›Ökumenische FriedensDekade‹ sich für »Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung« einsetzt.
B.: Alles schön und gut, aber das dispensiert sie noch lange nicht von der in der Vergangenheit begangenen Verbrechen, die im Namen des christlichen Kreuzes ungestraft begangen worden sind.
A.: Da stimme ich Ihnen zu, aber was soll man machen, die Kirchen haben es verstanden, anders als viele Nationalstaaten, alle ihre Untaten zu überstehen und heute sind sie eben ein, wenn auch an Einfluß verlierender Teil der menschlichen Zivilisation.
B.: Um auf das postulierte »passive Symbol« zurückzukommen: Das ist doch ein hölzernes Eisen, ein Oxymoron, das nur geprägt wurde, um so zu tun, als handele es sich bei dem Kreuz um einen ästhetischen Wandschmuck, wo doch selbst der Ungebildetste intuitiv spürt, daß es ein kirchlich aufgeladenes Zeichen ist, das etwas repräsentiert, mit dem nicht jeder der Vorübergehenden sympathisiert.
A.: Da es sich um eine Verwaltungsvorschrift und nicht um ein Gesetz handelt, so das Gericht, entfalte diese keine unmittelbare Außenwirkung. Erst durch den behördlichen Umsetzungsakt der Anbringung eines Kreuzes könne es zu einer Konfrontation mit dem Glaubenssymbol und damit zu einem möglichen Eingriff in das Grundrecht auf Religions- und Weltanschaungsfreiheit kommen.
B.: Dazu fällt mir nur noch Augustinus ein, der in seinen Predigten an einer Stelle gesagt hat: »Si comprehendis, non est Deus« (Wenn du es verstehst, ist es nicht Gott).