Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog
Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.
Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«
Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.
Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.
Setzen! Ungenügend!
»Es ist das alte Kulturproblem, daß der Mensch höher baut als er selber steigen kann. Wehe aber, wenn erst der ganze technische Meinungsapparat, wenn Radio, Kino, Zeitung dem Nutz- und Machtwillen einer herrschsüchtigen und selbstgerechten Gruppe ausgeliefert ist, dann muß eine Massenverblödung einsetzen, deren Kennzeichen gerade der technische, industrielle und kommerzielle Fortschritt ist: eine Art Verameisung«. (Theodor Lessing: Die Verblödung der Jugend. In: Illustrierte Reichsbanner-Zeitung, 2. Jg., Nr. 46 (11.11.1925), 722f.)
Eine Lehrerin in Baden-Württemberg hat sich geweigert, den Roman ›Tauben im Gras‹ (1951) in den Abiturklassen eines beruflichen Gymnasiums lesen zu lassen, weil darin das Wort ›Neger‹ auf 230 Seiten »etwa hundertmal« vorkommt. Die zuständige Ministerin entschied, daß eine zusätzliche Pflichtlektüre ausgewählt werden soll. Um ein Lehramt im Fach Deutsch ausüben zu dürfen, ist ein geisteswissenschaftliches Studium vorgesehen, in dem gelernt werden soll, Texte in ihrem historischen Kontext zu lesen. Dieser Mühsal hat sich die junge Lehrerin nicht unterzogen, sie sucht wie ein Inquisitor nach Wörtern, die in der Sprache der Heuchler in den Augen der Gesellschaft als ›anstößig‹ gelten. So wie zu Zeiten Flauberts oder zu Zeiten von James Joyce ihre Romane durch Gerichte geprüft wurden, ob darin ›unmoralische‹ Wörter oder Situationen vorkommen, also zum Beispiel das Wort ›fuck‹, so sucht man nun nach ›nicht korrekten‹ Wörtern, so als ob es Aufgabe der Gesellschaft und der Schule sein soll, der Literatur vorschreiben zu dürfen, welche Sprache zulässig ist, so als prüfe man die Schädlichkeit eines noch nicht zugelassenen Lebensmittels. Welche Funktion ein Wort hat, entscheiden der Kontext und die Rolle, die das Wort in einer Erzählung, in einem Roman oder in einer Rede spielt. Während der Zeit zwischen 1933 und 1945 diente das Wort ›Jude‹ dazu, eine ganze Bevölkerungsgruppe zunächst zu diskriminieren, als Vorbereitung für den Massenmord durch das NS-Regime. Wenn ein unter dem NS-Regime leidender Schriftsteller wie Wolfgang Koeppen nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes in einem Roman die politischen Verhältnisse im Nachkriegsdeutschland beschreibt und dabei das Wort ›Neger‹ verwendet, so hat er dies ganz gewiß nicht getan, um mit der häufigen Verwendung des Wortes zuerst die Diskriminierung und dann die Vernichtung der betreffenden ethnischen Gruppe zu bewirken. Er hat es getan, weil es Teil der gesellschaftlichen Realität war, weil die amerikanischen Besatzungstruppen heterogen zusammengesetzt waren und neben weißen auch schwarze US-Amerikaner darin vorkamen. Das Wort ›Neger‹ war damals ein gebräuchlicher Ausdruck für diese Bevölkerungsgruppe. Durch Léopold Sédar Senghor, Aimé Césaire und Léon-Gontran Damas in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde das kulturelle Befreiungskonzept der ›Négritude‹ begründet. In den USA wurde und wird das Wort ›Nigger‹ sowohl diffamierend wie auch selbstbewußt-stolz verwendet, das kommt auf den Gebrauch im Kontext einer Sprechhandlung an. So wie es Wortverwender gibt, die gezielt jemanden damit verletzen wollen, wie das mit Schimpfwörtern üblich ist, so gibt es auch Wortverwender, die damit nur dokumentieren wollen, daß ein bestimmtes Wort existiert und daß es legitim, ja sogar unerläßlich ist, daß es dann auch gebraucht wird. Zu dieser Erkenntnis ist in manchen Teilen dieses Landes weder eine Lehrerin noch eine Ministerin fähig. Setzen! Ungenügend!
Wir spritzen uns schlank
Am Gartenzaun
Frau Hebestreit und Frau Pannemeyer, zwei hannoversche Damen, unterhalten sich.
Frau Hebestreit: Haben Sie schon von Ozempic gehört?
Frau Pannemeyer: Ach, gehen Sie mir los mit diesen türkischen Badeorten, wir waren ja schon häufiger in der Türkei, aber die Preise, die da jetzt verlangt werden. Desaströs! Da können wir auch gleich wieder an den Gardasee fahren. Und solange dieser Erdal da an der Macht ist, wollen wir diesen Verbrecher auch nicht mit unserem Geld unterstützen, obwohl er ja kränkeln soll.
Frau Hebestreit: Nein, nein, Ozempic ist ein neues Heilmittel, das in den USA ganz groß herauskommt. Es ist ein Wunder, mit einer einzigen Spritze im Monat können Sie ganz leicht abnehmen. Es geht rasant. Ein Superschlankmittel! Und der Hersteller rechnet mit Milliarden!
Frau Pannemeyer: Ach so, na ja, FDH, hat man früher gesagt, aber das kümmert die jungen Leute auch nicht mehr. Unser Bubi kämpft täglich mit den Pfunden, es ist ein schwerer Kampf, aber bisher hat er ihn verloren.
Frau Hebestreit: Es ist halt noch ein wenig teuer, eintausend dreihundert Dollar muß man für eine Spritze bezahlen, das können sich nur die wenigsten leisten, aber die Hollywood-Schauspielerinnen haben das Geld übrig und lassen sich auch schon regelmäßig schlankspritzen.
Frau Pannemeyer: Der Amerikaner an sich ist gut beieinander, also, er ist dick bis fett, und, wie ich gehört habe, haben die Hälfte der Leute da Zucker, da wäre es schon gut, wenn man bei der anderen Hälfte mit einer Schlankmachspritze gleich ganz verhindert, daß es so weit gar nicht erst kommt, nüch?
Frau Hebestreit: Da haben sie recht, da müßten die Krankenkassen dann dafür sorgen, daß dieses Ozempic billig über die Ladentheke geht und jeder davon etwas abbekommt. Siebenunddreißig Millionen Amerikaner leiden an Diabetes, also praktisch jeder zehnte, das gibt es sonst nirgends auf der Welt. Und wissen Sie, ich habe mich informiert, bei uns in Europa sind es mittlerweile zwei Drittel aller Erwachsenen, die übergewichtig oder fettleibig sind, das sind dreiundsechzig Prozent der Männer und vierundfünfzig Prozent der Frauen.
Frau Pannemeyer: Du meine Güte, woher haben Sie denn alle diese Zahlen, und dann auch gleich noch parat, ohne nachzuschauen!
Frau Hebestreit: Ich habe in der Schule gelernt: Wir leben in einer Informationsgesellschaft, und ich informiere mich eben. Aber was ich Ihnen noch sagen wollte: Wußten Sie, daß es noch ein zweites Wundermittel gibt, daß man in Amerika erfunden hat und daß jetzt neben der Abnehmspritze auch noch als Heilmittel angeboten wird: Wegovy!
Frau Pannemeyer: Hören Sie auf, das klingt mir aber sehr russisch. Mit diesem Rasputin wollen wir erst recht nichts zu tun haben.
Frau Hebestreit: Medikamente haben immer komische Namen. Viagra! Botox! Doch Wegovy verringert den Appetit und verlangsamt die Verdauung und wird neben Ozempic als Ergänzung angeboten.
Frau Pannemeyer: Das geht aber ins Geld. Wunder gibt es immer wieder, aber wer kann zwei Wunder auf einmal bestellen und bezahlen?
Frau Hebestreit: Ja, das stimmt. Deshalb gibt es in Amerika auch die, ach Gott, wie schimpft sich das gleich, die ›Body positivity‹-Bewegung. Unser Jüngster hat es mir beigebracht. Die Sängerin Lizzo ist eines der Werbegesichter, oder sollte man besser sagen: Werbekörper? Sie ist ganz schön mollig, wenn nicht mehr, also unser Jüngster ist ganz hin von ihr. Er möchte sie am liebsten heiraten, aber er ist ja doch erst zwölf. Und man muß auch sagen, diese Negerdamen sehen auch wenn sie ordentlich dick sind immer noch besser aus als unsereins aus unseren Kreisen. Das liegt an der Haut, an der Farbe, und die ist auch nicht schwarz, die ist kaffeebraun, also großartig, das Fett verteilt sich da ganz anders und macht einen besseren Eindruck als bei uns Käsegesichtern. Na ja, jedenfalls sind die Fettpositiven stolz auf ihr Fett und sagen es auch vor allen Leuten. »Ihr seid gut, so wie ihr seid!« Das Wort Fett darf man in Amerika eigentlich gar nicht mehr sagen, wir haben hier in Deutschland früher vollschlank zu den Dicken gesagt. Oder nein, die Dicken haben es von sich selber gesagt, etwas verschämt waren sie schon. Aus den Kinderbüchern von Roald Dahl hat jetzt sein englischer Verlag das Wort fett gestrichen, auch das Wort häßlich wurde entfernt.
Frau Pannemeyer: Das ist ja wie beim Vogel Strauß, der den Kopf in den Sand steckt. Daraus kann nichts Gutes kommen.
Frau Hebestreit: Freilich, wenn man sich das Leben schönredet, da kann man sich das Leben auch schönfuttern, mit Pommes Fritz und Hackfleischbrötchen und einem halben Liter Cola. Aber da kommt nun Hilfe durch die Abnehmspritze Ozempic und den Appetitzügler Wegovy. So gleicht sich dann alles wieder aus, wo man auf der einen Seite gesündigt hat, wird man dann mit einer Spritze wieder auf den rechten Weg gebracht.
Frau Pannemeyer: Für uns kommt das alles zu spät, aber für unseren Bubi wird das wohl noch was werden, wenn nur die Krankenkassen mitspielen und es das dann auf Krankenschein gibt. Er gibt sich ja so viel Mühe, der Bubi, aber die Versuchung ist zu groß.
Frau Hebestreit: Ja, aber sagen Sie mal, warum schicken Sie ihren Bubi nicht in einen Turnverein, da kann er doch was für seine Figur tun?
Frau Pannemeyer: Schön wär’s. Wir kriegen ihn nicht einmal dazu, mit uns einen Waldspaziergang zu machen. Er bleibt lieber auf seinem Zimmer und spielt mit seinen elektronischen Geräten.
Frau Hebestreit: Also unsere Älteste, die Biggi, die erzählt mir immer von ihren Studien, sie studiert ja auf Arzt, und sie sagt, das mit dem Fett kommt daher, daß früher, also ganz früher, die Menschen kaum etwas zum Essen gefunden haben, und wenn sie dann etwas gesammelt und erjagt hatten, dann haben sie sich den Magen vollgeschlagen, weil man nie wußte, wann es wieder etwa zum Essen geben wird. Besonders alles Fette und Süße wurde gern genommen. Und nun, sagt die Biggi, steht der Mensch heute plötzlich in einem hellerleuchteten Supermarkt und rings um ihn herum liegen all die schönen Sachen, die man für wenig Geld kaufen kann. Unser Gehirn, sagt die Biggi, hat aber mit der Entwicklung nicht Schritt halten können, und so futtern wir wie die Steinzeitmenschen uns ein Bäuchlein an und glauben wie damals, daß man nie wissen kann, wann es wieder ausreichend Nahrung geben wird.
Frau Pannemeyer: Oh je, das habe ich schon so oft mit unserem Bubi erlebt, wenn wir einkaufen gegangen sind. Ständig diese Quengeleien und ich mußte ihm immer wieder die Tüten mit den Süßigkeiten aus der Hand reißen, manchmal hat er heimlich noch im Supermarkt die Tüte aufgerissen und sich das Zeug hineingestopft. Aber eine Möhre, wenn ich die ihm zuhause hinhalte, da beißt er nicht an, die läßt er glatt zurückgehen. Es ist ein Kreuz mit diese Kinder.
Frau Hebestreit: Trösten Sie sich damit, daß, wenn er groß geworden ist und eigene Kinder hat, dann wird er schon sehen, was das für ein Spaß ist, wenn man welche hat. Na ja, war wieder nett, mit Ihnen zu plaudern. Jetzt muß ich aber los, mein Mann erwartet das Mittagessen pünktlich um zwölf auf dem Tisch. Denn da sind die Kartoffeln am heißesten.
»Das haben natürlich Männer gemacht!«
»Bubi!« . . . dies Wort, aus dem Munde meiner Vaterschwester Fanni war meiner Jugend Qual. Sie war die Vorsitzende des Vereins Frauenwohl, kämpfte für aktives und passives Wahlrecht, für die Gleichberechtigung der Frau, verachtete die Männer und ließ ihre Verachtung an dem Jüngsten aus, ihrem heranwachsenden Neffen. »Das haben natürlich Männer gemacht«, sagte sie; und dann war die Angelegenheit abgelehnt. (Theodor Lessing: Bubi, 1929)
Das Telefon läutet für Politiker immer dann, wenn ein Journalist meint, er müsse etwas O-Ton in seinen Artikel bringen. Als ein berühmter Choreograf unlängst einer Kritikerin Hundekot ins Gesicht schmierte, lag der Ernstfall vor. Es klingelte bei allen Parteien des hannoverschen Raums. Auch zwei Damen aus zwei Parteien mußten ›Stellung nehmen‹. Da bleibt keine Zeit zum Überlegen, es muß schnell gehen und wie aus der Pistole geschossen eine Meinung zum Tagesthema hervorgebracht werden. Die Dame der SPD sagte: »Das ist entwürdigend, insbesondere für eine Frau«. Insbesondere? Es ist, als ob die Lokalpolitikerin aus dem Nichts eine dualistische Empfindsamkeitsideologie erfunden hätte. Man findet den Zugang zu einer solchen Äußerung nur, wenn man ein in der Dame unbewußt agierendes Axiom zugrunde legt. »Männer sind Schweine.« Das ist zwar schlicht gedacht, aber eingängig, und es hilft dabei, zu verstehen, weshalb es »insbesondere für eine Frau« entwürdigend sein soll, Fäkalien im Gesicht ertragen zu müssen. Denn Schweine mit ihren großen Schnauzen wühlen ja gewohnheitsmäßig im Schmutz, wo sie Eßbares suchen. Sie kennen es nicht anders, es ist ihr Lebensstil. Bei der Schweinepopulation unterscheidet man zwischen dem Eber und der Sau, die, wie man in Wildschweingehegen gut beobachten kann, wie ihr männliches Pendant mit der Schnauze im Schlamm wühlt und dort nach Eicheln gräbt. Doch wir Menschenschweine sehen uns als etwas Besseres an im Vergleich zu den ordinären Schweinen, und Frauen, die etwas auf sich halten, wollen sich heute auch dadurch von ihren konträren Geschlechtsgenossen unterscheiden, indem sie, wenn der Journalist bei ihnen anklingelt, sagen: »Das ist entwürdigend, insbesondere für eine Frau«.
Die Vorsitzende der grünen Partei war im Vorteil, denn sie hatte Zeit, um sich den Vorfall durch den Kopf gehen zu lassen, und so schrieb sie auf ›Facebook‹: »Leider müssen wir auch hier wieder über das Patriarchat und toxische Männlichkeit sprechen.« Wie man sieht, ist die Zeitverzögerung nicht immer ein Vorteil bei der Urteilsbildung, denn hier behilft man sich mit dem Einschnappen eines Mechanismus, der bereits vorhanden ist und bei passender Gelegenheit ausgelöst wird. Wir wissen seit Adam Smiths ›Theorie der ethischen Gefühle‹ (1759), daß der Mensch zwar als egoistisch gilt, aber nicht ausschließlich, »es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen«. Ein Prinzip dieser Anteilnahme ist das Mitleid, also das Gefühl, »das wir für das Elend anderer empfinden, sobald wir dieses entweder selbst sehen, oder sobald es uns so lebhaft geschildert wird, daß wir es nachfühlen können.« Wer die Würde des Menschen auf die eine Hälfte des Menschengeschlechts einschränkt, indem er der anderen Hälfte gewissermaßen eine reduzierte Empfindsamkeit unterstellt, dokumentiert zwar das Mitleid mit der geschädigten Person, aber nur auf Kosten einer inhumanen Attitüde. Wer bei einen Einzelfall, der individuell zu bewerten ist, sogleich mit einem schematischen Aburteilungsmechanismus reagiert (Patriarchat, toxische Männlichkeit), läßt das Individuum verschwinden in einem soziologischen Phantom in dem alle Vorurteile Platz haben, die man im Laufe seiner eigenen ideologischen Mentalitätsgeschichte angehäuft hat. »Das haben natürlich Männer gemacht!«
Den Text ›Bubi‹ können Sie vollständig hören, gelesen von Ernst-August Schepmann, auf dieser Website unter der Rubrik:
›Audio – »Hallo, hier spricht Theodor Lessing«
Eins in die Fresse, mein Herzblatt!
Einer der »erfolgreichsten Choreografen der Welt und seiner Generation« (Hannoversche Allgemeine Zeitung, 14.02.2023) entnimmt seiner Tasche einen Papierbeutel mit dem Kot seines Dackels Gustav und drückt diesen einer Ballettkritikerin der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹ ins Gesicht. So geschehen in den Räumen der hannoverschen Staatsoper. Die letzten Kritiken waren durchweg negativ ausgefallen, der Künstler fühlte sich davon dermaßen gekränkt und verletzt, daß er, wie er später eingestand, »eine schändliche Handlung im Affekt und eine Überreaktion« ausführte. In der Öffentlichkeit ist man sich einig, daß diese Tat nur Ekelreaktionen auslösen kann, und man könnte einfach abschließend sagen: So etwas tut man einfach nicht. »Die meisten Leute auf der Welt essen für kein Geld der Welt Gebäck, das die Form von Hundehäufchen hat« (Steven Pinker: Wie das Denken im Kopf entsteht, München 1998, 468). Stimmen aus der Lokalpolitik bewerteten den Angriff als entwürdigend, »insbesondere für eine Frau« (SPD), so als würde einem Mann die von der Natur eingebauten Abwehrinstinkte davor bewahren, sich vor Hundekot nicht zu ekeln, und das Urteil einer grünen Politikerin begnügte sich damit, zu konstatieren, daß es sich hierbei um das »Patriarchat und toxische Männlichkeit« gehandelt habe. Für den Feuilletonchef der ›Hannoverschen Allgemeinen Zeitung‹ gab es daher nur eine Lösung: Berufsverbot, und das gleich »überall«, also weltweit. Es kam, wie es kommen mußte: der Choreograf wurde mit sofortiger Wirkung suspendiert und die Staatsoper löste sodann seinen Vertrag, behielt sich aber das Recht vor, seine Inszenierungen weiter auf die Bühne zu bringen.
Es gibt seit vielen Jahren die Tradition des Tortenwerfens. Die gerechte Strafe für den Übeltäter wäre die: auf seine Kosten werden Sahnetorten hergestellt, die im übrigen nicht aus Mehl und Sahne bestehen, sondern aus Sägemehl und Seife, da der Flug einer geworfenen konventionellen Torte wesentlich ungünstiger verläuft als der aus Sägemehl und Seifenschaum. Und dann, vor Vorstellungsbeginn, stellt sich der Choreograf vor den Vorhang und ein per Computer ausgewähltes Mitglied des Publikums betritt die Bühne und wirft ihm die Torte ins Gesicht. Mit dem vorweg garantierten Tortenwurf wird das Haus immer voll sein, und darum ging es ja auch eigentlich, und gleich nach dem Eklat raunte die Lokalzeitung denn auch: »Man sollte sich beeilen, die Vorstellung ist fast ausverkauft.« (HAZ, 14.02.2023). Der Stanley Kubrik-Film ›Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb‹ sollte mit einer zehnminütigen Tortenschlacht enden, und diese wurde auch innerhalb von zwei Wochen abgedreht, aber bei der Endmontage entschied der Regisseur, diese Sequenz wegzulassen, weil es die Balance des Film gestört hätte. Wie schade! Man hätte diese Szene als Kurzfilm herausbringen sollen. Man sieht darin (so Georg Seeßlen und Ferdinand Jung in ihrem Buch ›Stanley Kubrik und seine Filme‹, Marburg 2008, 156), wie der russische Botschafter, der amerikanische Präsident und andere Anwesende im ›War Room‹ sich mit Torten bewerfen. Das gestörte Rechtsempfinden wird durch nichts friedlicher wiederhergestellt als durch einen herzhaften Tortenwurf. Niemand wird verletzt und gekränkt und der Sünder dokumentiert vor allen Leuten, daß er nicht nur seine Tat bereut und damit als ganze Person in aller Öffentlichkeit Reue empfindet, sondern der Tortenwurf versöhnt auch alle Beteiligten im Medium des Humors.
Seien wir mehr als nur Menschen
Der Mensch wird, wenn die Erde keine Möglichkeiten der Ausbeute mehr bietet, wohl auch fremde Sterne erobern und besiedeln. Man muß wie von einem fernen Stern mit Augen eines Überirdischen auf die Erde blicken und dann sagen: Seien wir mehr als nur Menschen. Wir erreichen das Seiende niemals, so lange wir nur Menschen sind. (Theodor Lessing)
Die ›Kathmandu Post‹ berichtet in ihrer neuesten Ausgabe, daß es in dieser Bergsteigersaison zu langen Warteschlangen auf dem Everest-Südgrat kommen könne, da dieses Jahr mit einer weiteren »Rekordsaison« an Aufstiegen gerechnet werden muß. Das nepalesische Tourismus-Ministerium vergibt jährlich so genannte Permits, die zum Aufstieg auf den Mount Everest (mit 8. 848 Metern der höchste Berg der Welt) oder in die Annapurna-Gebirgskette (8091 Meter) berechtigen. Während jedes Jahr auf dem gefährlichen Weg in die Höhe auch erfahrene Bergsteiger dabei ihr Leben verloren haben, ist die jetzt während des Aufstiegs explodierte ›Starship‹-Rakete des Multi-Milliardärs Elon Musk ohne Menschenverluste verglüht. Eine funktionstüchtige Version dieser bisher größte jemals gebauten Rakete soll einmal bis zu 100 Personen und bis zu 150 Tonnen Fracht in Richtung Mond und Mars transportieren. Auch ›Weltraumtouristen‹ sollen Platz in dieser Rakete finden. Das Bergsteigen oder die Weltraumfahrt sind bisher nur für wenige Menschen auf dieser Erde bevorzugte Fortbewegungsarten, um über die bescheidene anthropologische Grundausstattung hinauszugelangen und sich etwas anzumaßen, was im genetischen Programm nicht vorgesehen ist. Dafür gibt es einen aus dem militärischen Bereich stammenden Begriff: das Himmelfahrtskommando. Soldaten stellten sich während einer Kampfhandlung zur Verfügung, um in einer schwierigen Lage zu einem erfolgreichen Durchbruch zu kommen und den nachfolgenden Truppen den militärischen Sieg zu ermöglichen. Dafür opferten sie sich, mehr oder weniger freiwillig, auf. Mit dem Besteigen von lebensgefährlichen Berg-Giganten und der organisierten Weltraumfahrt hat die menschliche Kultur die ihr einbeschriebene Hybris anschaulich dokumentiert. Voltaire ließ in seiner satirischen Erzählung ›Mikomégas‹ (1752) einen außerirdischen Besucher vom Stern Sirius die Erde aufsuchen. Mikomégas ist vierundzwanzig Meilen groß und von überragender Intelligenz. Er kommt mit den winzig kleinen Menschen in Kontakt und verspricht ihnen, ein philosophisches Handbuch zur Orientierung zu schreiben. Er übergibt später dieses Buch dem Sekretär der Akademie der Wissenschaften, aber als der es aufschlägt, sieht er nur weiße Seiten.
»Du bist ja eine richtige Drecksau!«
Wenn man auf YouTube amerikanische Serien im Original mit englischen Untertiteln anschaut, erscheint manchmal dieses Zeichen: [ _ ]. Dann hat der Schauspieler gerade wieder die automatisch eingebaute Heuchelei-Löschtaste ausgelöst, denn Wörter wie Slut dürfen als Buchstabenfolge auf dem amerikanischen Musik- und Videokanal nicht erscheinen. Doch manches entgeht der voreingestellten Lösch- und Sprachkastriermaschine. So darf wanker passieren.
Weit gefehlt, wenn man dies nur auf die amerikanischen Produktionen bezieht, denn wenn man auf deutsch die deutsche Serie ›Kir Royal‹ (1986) ansieht und Baby Schimmerlos zu seinem Freund und Konsul Hubert Dürckheimer sagt: »Ja, du bist ja eine richtige Drecksau!«, dann springt an die Stelle dieses schönsten aller deutschen (und bayerischen) Schimpfworte das Auslassungs-Zeichen: [ _ ], das eigentlich korrekt so aussehen müßte: […]. Im Englischen gibt es dafür das Wort: Cant. Lord Byron brachte es mit dem gleichlautenden Wort cunt in einen Zusammenhang in einem Brief. »But the Cant is so much stronger than Cunt – nowadays« G. G. Byron to Douglas Kinnaird, 26.10.1819. Cant heißt auf deutsch: Heuchelei.
Osterfeuer aus fachlicher Sicht
Rüdiger Gropengießer, Leiter der Freiwilligen Feuerwehr, steht am Rande eines heruntergebrannten Scheiterhaufens, der aus Anlaß des alljährlichen Osterfeuers aufgeschichtet wurde. Er hält einen langen Wasserschlauch in der Hand, aus dem noch ein letzter Strahl hervorschießt.
Ja, das war für dieses Jahr wieder ein schönes Feuer. Es hat schon anständig gebrannt, und damit daraus kein Flächenbrand wird, stehen wir als Freiwillige Feuerwehr jedes Jahr Gewehr bei Fuß. Nach diesen schweren letzten Jahren, wo durch dieses Rona, dieses Verona-Virus alles brachlag und wir tatenlos im Spritzenhaus auf der Lauer gelegen waren, und hofften, daß die Stadtverwaltung doch noch ein Einsehen haben könnte wegen des Osterfeuers, das eine lange Tradition hat und von der Bevölkerung immer gern angenommen worden ist, konnten wir diese Ostern endlich wieder ausfahren und dabei helfen, die mitgebrachten Holzscheite und anderes Geäst aufzuschichten. Wir sind ja die Experten in solchen Dingen, da kann uns keiner was vormachen, wenns ums Zündeln und fachgerechte Löschen geht, da sind wir an erster Stelle dabei, da sind wir Spitze. Und das lassen wir uns auch von niemanden nehmen, schon gar nicht von diesen Feinstaubfanatiker, die sich jetzt immer mehr hervortun und ja auch schon unser Silvester abschaffen wollen, weil die explodierenden Knallkörper angeblich so viel feinen Staub in der Atmosphäre verteilen, daß man in der Folge mit schweren Erkrankungen zu rechnen habe. Also daß manche, die schwach auf der Brust sind, nach Luft schnappen müssen, und solche Sachen. Hören Sie mir doch auf, das geht doch zu weit, nicht wahr? Für wie lange hat es denn schon Feuerwehrkörper … Feuerwerkskörper gegeben, und es ist nie jemand daran gestorben, und wenn doch, dann muß der doch vorher schon was gehabt haben. Und wen so eine Rakete praktisch direkt getroffen hat, also es geradezu ein Volltreffer war, aber ohne jede Absicht, ja, der hat halt sich am falschen Ort aufgehalten, nicht wahr, der hätte eben gleich zuhause bleiben sollen, statt auf einem öffentlichen Platz der Rakete praktisch im Weg zu stehen. Aber da reißen sie dann das Maul auf und schreien Verbot, wo sie doch selber schuld sind und bei raketengerechten Verhalten das auch hätten von sich aus verhindern können. Ja, dann erst zu Ostern. Diese Tierschützer sind uns auf die Pelle gerückt und haben Eingaben gemacht bei der Stadtverwaltung, von wegen des Kleingetiers, das sich angeblich unter dem aufgeschichteten Brennholz versteckt hat und dann, wenn wir mithilfe eines Gasbrenners den bis zu vier Meter hohen Berg von trockenem Geäst im Nu in Flammen setzen, darunter bei lebendigem Leibe verbrennen. Also wirklich, jetzt müssen wir also diese Auflagen erfüllen und die Hölzer kurz vor dem Inbrandsetzen immer wieder umschichten, damit auch noch die letzte Feldmaus Reißaus nehmen kann und sie nicht zum Bratgut wird. Ja, sollen wir denn noch die letzte Feuerameise, die zufällig am Boden herumkrabbelt, auf einem Silbertablett wieder in den Wald befördern? Da hört sich doch alles auf. Da wird doch der Tierschutz menschenfeindlich. Als 1986 der hiesige SPD-Ortsverein mit dieser schönen Tradition des Osterfeuers anfing, weil man meinte, damit die etwas apathischen Parteimitglieder, aber auch die übrige Bevölkerung wieder an die Politik heranzuführen, da waren wir als Freiwillige Feuerwehr sogleich Feuer und Flamme und haben uns sofort in den Dienst dieser guten Sache gestellt. Aber ob sie es glauben oder nicht, da kamen doch gleich Beschwerden über den Rauch, der durch das Osterfeuer sich in der ganzen Stadt verbreitete. Dieser kleinen Minderheit hat dann aber die Stadtverwaltung durch ein behördliches Schreiben gleich einen Riegel vorgeschoben. Das Osterfeuer sei eine »der Gemeinschaftspflege dienende Veranstaltung«, bei der die Bürgerinnen und Bürger der Geselligkeit nachkommen könnten. Und das hat uns als Freiwillige Feuerwehr doch sehr befriedigt. Ja, freilich, da fließt der Alkohol. Und nicht zu knapp. Aber wie sonst soll denn auch eine Stimmung aufkommen. Das Bier führt die Menschen zusammen. Und wer dann ein wenig über die Stränge schlägt, der wird dann halt vom Sanitäterwagen abgeholt und in der Notaufnahme bestens versorgt. Ich sage immer: Leben und leben lassen, nicht wahr? Es soll ja eine Freude aufkommen, und das geht halt nicht ganz von allein, da braucht es schon gewisser Stimulantien. Die Einnahme von Alkohol garantiert immer noch am besten das Entstehen von Geselligkeit. Mir kann doch keiner erzählen, daß das Osterfeuer nicht der schönste Osterspaß ist. Flamme empor! hat man in früheren Zeiten dazu gesagt, aber Hakenkreuze haben heute bei unseren Osterfeuern nichts mehr zu suchen. Wir sind da ganz zivil und unpolitisch. Wir freuen uns einfach am Feuer, deshalb bin ich auch schon in jungen Jahren zur Freiwilligen Feuerwehr gegangen. Wir leisten Dienst am Bürger. Wir verstehen auch Spaß. So haben die Kollegen von der Feuerwehr Dormagen ein Plakat vertrieben, auf dem ein Feuerwehrmann neben einem lodernden Feuer steht und als Überschrift ist zu lesen: »Geh mit uns durchs Feuer!« Das zieht, was? Das ist aber noch nicht alles. Es heißt dann weiter: »Wir haben die dicksten Hupen… die längsten Schläuche… und wollen mehr als nur ein kurzes Abenteuer! Ruf uns an! Schreib uns!« Also Humor haben sie, das muß man ihnen lassen. Und auch für schwer Kontaktgeschädigte bietet diese Feuerwehr Möglichkeiten, die man außerhalb der Feuerwehr nicht mehr findet. So, das war der letzte Strahl, das diesjährige Osterfeuer ist aus, alles gelöscht und ordnungsgemäß abgewickelt. Dann bis zum nächsten Jahr!
Life imitates Art
In Erich Kästners Roman ›Fabian. Die Geschichte eines Moralisten‹ (1931) betreten der Protagonist und sein Freund Labude einen Berliner Nachtklub. »Unten im Saal wurde die schönste Figur prämiert. Die Frauen drehten sich mit ihren knappen Badeanzügen im Kreis, spreizten die Arme und die Finger und lächelten verführerisch. Die Männer standen wie auf dem Viehmarkt. ›Der erste Preis ist eine große Bonbonniere‹, erklärte die kauende Paula, ›und wer sie gekriegt hat, muß sie dann beim Geschäftsführer wieder abliefern.‹«
In seinem 1891 erschienenen Essay ›The Decay of Lying. An Observation‹ schreibt Oscar Wilde: »Life imitates Art far more than Art imitates Life.«
In Rußland erhalten Kriegerwitwen vom Staat Pelzmäntel geschenkt, vor laufenden Kameras, aber nach Abschluß der Aufnahme wurden einigen der Frauen die Pelzmäntel wieder weggenommen. Vgl. Alexey Tikhomirov: Die Kriegerwitwe als Aufstiegsmodell. In: FAZ, 3.4.2023.
Kriegsfanatiker, Staatsstreichbefürworter, Antisemit
In dem Artikel von Bert Strebe über Straßenumbenennungen und Denkmäler (HAZ v. 11.3.2023) werden Waldersee, Wagner und Kant als Beispiele »umstrittener« Namensgeber behandelt. Damit werden Äpfel mit Birnen verglichen. Es ist zunächst einmal nicht »umstritten«, daß Waldersee das war, was der britische Historiker John C. Röhl über ihn gesagt hat: Waldersee war ein »reiner Militarist und Reaktionär, ein Präventivkriegsfanatiker, ein Staatsstreichbefürworter, ein bigotter orthodox-protestantischer Katholikenhasser und nicht zuletzt ein ›christlich-sozialer‹ Antisemit« John C. Röhl: Wilhelm II. Bd. 1 (Die Jugend des Kaisers, 1859–1888), München 1993, 600. Aus gutem Grund hat man gleich nach 1945 alle Straßen und Plätze, die nach Adolf Hitler benannt waren, geändert. Würde heute noch ein Denkmal für Hitler in einer deutschen Stadt stehen, würde man ganz gewiß nicht eine Erläuterungstafel anbringen, damit die Erinnerung an Hitler nicht verloren geht. Eine Stadt ist kein Museum für historische Lernprozesse, dazu sind Bibliotheken und Universitäten da. Die Namen der Straßen dokumentieren immer die gerade dominierende Gegenwart. So hieß in Wien die 1865 angelegte Ringstraße von 1870 bis 1919 ›Franzensring‹, von 1919 bis 1934 ›Ring des 12. November‹, von 1934 bis 2012 ›Dr. Karl Lueger-Ring‹ und seit 2012 ›Universitätsring‹. Je nach der politischen Machtkonstellation wurde also die Straße anders benannt und damit eine programmatische Richtung vorgegeben.
Antisemitischer Vogelanschlag
»Taube hat Synagogenfenster zerstört« liest man in der HAZ v. 16. November 2022, nachdem das Blatt über die vergangenen Wochen hinweg mehrfach über den angeblichen antisemitischen Anschlag auf die hannoversche Synagoge mit Artikeln, Kommentaren und vielen Fotos berichtet hat. Die Berichte aber waren das Ereignis, und wenn man gleich zu Anfang in einer knappen sachlichen Notiz von diesem Vorfall die Öffentlichkeit in Kenntnis gesetzt hätte, mit dem perspektivischen Vermerk, daß die Polizei nach allen Richtungen ermittele und es noch zu früh sei, einen Verdacht zu äußern, wäre die HAZ ihrer journalistischen Sorgfaltspflicht nachgekommen. So aber hat man überflüssigerweise eine alarmistische Stimmung erzeugt und spricht sich am Ende des absurden Theaters auch noch frei und gibt sich als Wachsamkeitswächter aus. Die Taube hat den Anschlag wohl überlebt, am Tatort wurde sie nicht gefunden, aber die HAZ berichtet aus diesem Anlaß nicht darüber, wie viele Vögel aufgrund mangelnder Schutztarnung auf den Glasflächen der vielen Fenster einer Stadt aufprallen und sterben. Dafür macht man die Entwarnungsmeldung mit der Schlagzeile auf, wonach eine Taube das Synagogenfenster »zerstört« hat, womit dem armen Vogel auch noch eine Intention unterschoben wird, aber nicht, daß er das Opfer menschlicher Behausungen wurde.