Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog
Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.
Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«
Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.
Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.
Eins in die Fresse, mein Herzblatt!
Einer der »erfolgreichsten Choreografen der Welt und seiner Generation« (Hannoversche Allgemeine Zeitung, 14.02.2023) entnimmt seiner Tasche einen Papierbeutel mit dem Kot seines Dackels Gustav und drückt diesen einer Ballettkritikerin der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹ ins Gesicht. So geschehen in den Räumen der hannoverschen Staatsoper. Die letzten Kritiken waren durchweg negativ ausgefallen, der Künstler fühlte sich davon dermaßen gekränkt und verletzt, daß er, wie er später eingestand, »eine schändliche Handlung im Affekt und eine Überreaktion« ausführte. In der Öffentlichkeit ist man sich einig, daß diese Tat nur Ekelreaktionen auslösen kann, und man könnte einfach abschließend sagen: So etwas tut man einfach nicht. »Die meisten Leute auf der Welt essen für kein Geld der Welt Gebäck, das die Form von Hundehäufchen hat« (Steven Pinker: Wie das Denken im Kopf entsteht, München 1998, 468). Stimmen aus der Lokalpolitik bewerteten den Angriff als entwürdigend, »insbesondere für eine Frau« (SPD), so als würde einem Mann die von der Natur eingebauten Abwehrinstinkte davor bewahren, sich vor Hundekot nicht zu ekeln, und das Urteil einer grünen Politikerin begnügte sich damit, zu konstatieren, daß es sich hierbei um das »Patriarchat und toxische Männlichkeit« gehandelt habe. Für den Feuilletonchef der ›Hannoverschen Allgemeinen Zeitung‹ gab es daher nur eine Lösung: Berufsverbot, und das gleich »überall«, also weltweit. Es kam, wie es kommen mußte: der Choreograf wurde mit sofortiger Wirkung suspendiert und die Staatsoper löste sodann seinen Vertrag, behielt sich aber das Recht vor, seine Inszenierungen weiter auf die Bühne zu bringen.
Es gibt seit vielen Jahren die Tradition des Tortenwerfens. Die gerechte Strafe für den Übeltäter wäre die: auf seine Kosten werden Sahnetorten hergestellt, die im übrigen nicht aus Mehl und Sahne bestehen, sondern aus Sägemehl und Seife, da der Flug einer geworfenen konventionellen Torte wesentlich ungünstiger verläuft als der aus Sägemehl und Seifenschaum. Und dann, vor Vorstellungsbeginn, stellt sich der Choreograf vor den Vorhang und ein per Computer ausgewähltes Mitglied des Publikums betritt die Bühne und wirft ihm die Torte ins Gesicht. Mit dem vorweg garantierten Tortenwurf wird das Haus immer voll sein, und darum ging es ja auch eigentlich, und gleich nach dem Eklat raunte die Lokalzeitung denn auch: »Man sollte sich beeilen, die Vorstellung ist fast ausverkauft.« (HAZ, 14.02.2023). Der Stanley Kubrik-Film ›Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb‹ sollte mit einer zehnminütigen Tortenschlacht enden, und diese wurde auch innerhalb von zwei Wochen abgedreht, aber bei der Endmontage entschied der Regisseur, diese Sequenz wegzulassen, weil es die Balance des Film gestört hätte. Wie schade! Man hätte diese Szene als Kurzfilm herausbringen sollen. Man sieht darin (so Georg Seeßlen und Ferdinand Jung in ihrem Buch ›Stanley Kubrik und seine Filme‹, Marburg 2008, 156), wie der russische Botschafter, der amerikanische Präsident und andere Anwesende im ›War Room‹ sich mit Torten bewerfen. Das gestörte Rechtsempfinden wird durch nichts friedlicher wiederhergestellt als durch einen herzhaften Tortenwurf. Niemand wird verletzt und gekränkt und der Sünder dokumentiert vor allen Leuten, daß er nicht nur seine Tat bereut und damit als ganze Person in aller Öffentlichkeit Reue empfindet, sondern der Tortenwurf versöhnt auch alle Beteiligten im Medium des Humors.
Seien wir mehr als nur Menschen
Der Mensch wird, wenn die Erde keine Möglichkeiten der Ausbeute mehr bietet, wohl auch fremde Sterne erobern und besiedeln. Man muß wie von einem fernen Stern mit Augen eines Überirdischen auf die Erde blicken und dann sagen: Seien wir mehr als nur Menschen. Wir erreichen das Seiende niemals, so lange wir nur Menschen sind. (Theodor Lessing)
Die ›Kathmandu Post‹ berichtet in ihrer neuesten Ausgabe, daß es in dieser Bergsteigersaison zu langen Warteschlangen auf dem Everest-Südgrat kommen könne, da dieses Jahr mit einer weiteren »Rekordsaison« an Aufstiegen gerechnet werden muß. Das nepalesische Tourismus-Ministerium vergibt jährlich so genannte Permits, die zum Aufstieg auf den Mount Everest (mit 8. 848 Metern der höchste Berg der Welt) oder in die Annapurna-Gebirgskette (8091 Meter) berechtigen. Während jedes Jahr auf dem gefährlichen Weg in die Höhe auch erfahrene Bergsteiger dabei ihr Leben verloren haben, ist die jetzt während des Aufstiegs explodierte ›Starship‹-Rakete des Multi-Milliardärs Elon Musk ohne Menschenverluste verglüht. Eine funktionstüchtige Version dieser bisher größte jemals gebauten Rakete soll einmal bis zu 100 Personen und bis zu 150 Tonnen Fracht in Richtung Mond und Mars transportieren. Auch ›Weltraumtouristen‹ sollen Platz in dieser Rakete finden. Das Bergsteigen oder die Weltraumfahrt sind bisher nur für wenige Menschen auf dieser Erde bevorzugte Fortbewegungsarten, um über die bescheidene anthropologische Grundausstattung hinauszugelangen und sich etwas anzumaßen, was im genetischen Programm nicht vorgesehen ist. Dafür gibt es einen aus dem militärischen Bereich stammenden Begriff: das Himmelfahrtskommando. Soldaten stellten sich während einer Kampfhandlung zur Verfügung, um in einer schwierigen Lage zu einem erfolgreichen Durchbruch zu kommen und den nachfolgenden Truppen den militärischen Sieg zu ermöglichen. Dafür opferten sie sich, mehr oder weniger freiwillig, auf. Mit dem Besteigen von lebensgefährlichen Berg-Giganten und der organisierten Weltraumfahrt hat die menschliche Kultur die ihr einbeschriebene Hybris anschaulich dokumentiert. Voltaire ließ in seiner satirischen Erzählung ›Mikomégas‹ (1752) einen außerirdischen Besucher vom Stern Sirius die Erde aufsuchen. Mikomégas ist vierundzwanzig Meilen groß und von überragender Intelligenz. Er kommt mit den winzig kleinen Menschen in Kontakt und verspricht ihnen, ein philosophisches Handbuch zur Orientierung zu schreiben. Er übergibt später dieses Buch dem Sekretär der Akademie der Wissenschaften, aber als der es aufschlägt, sieht er nur weiße Seiten.
»Du bist ja eine richtige Drecksau!«
Wenn man auf YouTube amerikanische Serien im Original mit englischen Untertiteln anschaut, erscheint manchmal dieses Zeichen: [ _ ]. Dann hat der Schauspieler gerade wieder die automatisch eingebaute Heuchelei-Löschtaste ausgelöst, denn Wörter wie Slut dürfen als Buchstabenfolge auf dem amerikanischen Musik- und Videokanal nicht erscheinen. Doch manches entgeht der voreingestellten Lösch- und Sprachkastriermaschine. So darf wanker passieren.
Weit gefehlt, wenn man dies nur auf die amerikanischen Produktionen bezieht, denn wenn man auf deutsch die deutsche Serie ›Kir Royal‹ (1986) ansieht und Baby Schimmerlos zu seinem Freund und Konsul Hubert Dürckheimer sagt: »Ja, du bist ja eine richtige Drecksau!«, dann springt an die Stelle dieses schönsten aller deutschen (und bayerischen) Schimpfworte das Auslassungs-Zeichen: [ _ ], das eigentlich korrekt so aussehen müßte: […]. Im Englischen gibt es dafür das Wort: Cant. Lord Byron brachte es mit dem gleichlautenden Wort cunt in einen Zusammenhang in einem Brief. »But the Cant is so much stronger than Cunt – nowadays« G. G. Byron to Douglas Kinnaird, 26.10.1819. Cant heißt auf deutsch: Heuchelei.
Osterfeuer aus fachlicher Sicht
Rüdiger Gropengießer, Leiter der Freiwilligen Feuerwehr, steht am Rande eines heruntergebrannten Scheiterhaufens, der aus Anlaß des alljährlichen Osterfeuers aufgeschichtet wurde. Er hält einen langen Wasserschlauch in der Hand, aus dem noch ein letzter Strahl hervorschießt.
Ja, das war für dieses Jahr wieder ein schönes Feuer. Es hat schon anständig gebrannt, und damit daraus kein Flächenbrand wird, stehen wir als Freiwillige Feuerwehr jedes Jahr Gewehr bei Fuß. Nach diesen schweren letzten Jahren, wo durch dieses Rona, dieses Verona-Virus alles brachlag und wir tatenlos im Spritzenhaus auf der Lauer gelegen waren, und hofften, daß die Stadtverwaltung doch noch ein Einsehen haben könnte wegen des Osterfeuers, das eine lange Tradition hat und von der Bevölkerung immer gern angenommen worden ist, konnten wir diese Ostern endlich wieder ausfahren und dabei helfen, die mitgebrachten Holzscheite und anderes Geäst aufzuschichten. Wir sind ja die Experten in solchen Dingen, da kann uns keiner was vormachen, wenns ums Zündeln und fachgerechte Löschen geht, da sind wir an erster Stelle dabei, da sind wir Spitze. Und das lassen wir uns auch von niemanden nehmen, schon gar nicht von diesen Feinstaubfanatiker, die sich jetzt immer mehr hervortun und ja auch schon unser Silvester abschaffen wollen, weil die explodierenden Knallkörper angeblich so viel feinen Staub in der Atmosphäre verteilen, daß man in der Folge mit schweren Erkrankungen zu rechnen habe. Also daß manche, die schwach auf der Brust sind, nach Luft schnappen müssen, und solche Sachen. Hören Sie mir doch auf, das geht doch zu weit, nicht wahr? Für wie lange hat es denn schon Feuerwehrkörper … Feuerwerkskörper gegeben, und es ist nie jemand daran gestorben, und wenn doch, dann muß der doch vorher schon was gehabt haben. Und wen so eine Rakete praktisch direkt getroffen hat, also es geradezu ein Volltreffer war, aber ohne jede Absicht, ja, der hat halt sich am falschen Ort aufgehalten, nicht wahr, der hätte eben gleich zuhause bleiben sollen, statt auf einem öffentlichen Platz der Rakete praktisch im Weg zu stehen. Aber da reißen sie dann das Maul auf und schreien Verbot, wo sie doch selber schuld sind und bei raketengerechten Verhalten das auch hätten von sich aus verhindern können. Ja, dann erst zu Ostern. Diese Tierschützer sind uns auf die Pelle gerückt und haben Eingaben gemacht bei der Stadtverwaltung, von wegen des Kleingetiers, das sich angeblich unter dem aufgeschichteten Brennholz versteckt hat und dann, wenn wir mithilfe eines Gasbrenners den bis zu vier Meter hohen Berg von trockenem Geäst im Nu in Flammen setzen, darunter bei lebendigem Leibe verbrennen. Also wirklich, jetzt müssen wir also diese Auflagen erfüllen und die Hölzer kurz vor dem Inbrandsetzen immer wieder umschichten, damit auch noch die letzte Feldmaus Reißaus nehmen kann und sie nicht zum Bratgut wird. Ja, sollen wir denn noch die letzte Feuerameise, die zufällig am Boden herumkrabbelt, auf einem Silbertablett wieder in den Wald befördern? Da hört sich doch alles auf. Da wird doch der Tierschutz menschenfeindlich. Als 1986 der hiesige SPD-Ortsverein mit dieser schönen Tradition des Osterfeuers anfing, weil man meinte, damit die etwas apathischen Parteimitglieder, aber auch die übrige Bevölkerung wieder an die Politik heranzuführen, da waren wir als Freiwillige Feuerwehr sogleich Feuer und Flamme und haben uns sofort in den Dienst dieser guten Sache gestellt. Aber ob sie es glauben oder nicht, da kamen doch gleich Beschwerden über den Rauch, der durch das Osterfeuer sich in der ganzen Stadt verbreitete. Dieser kleinen Minderheit hat dann aber die Stadtverwaltung durch ein behördliches Schreiben gleich einen Riegel vorgeschoben. Das Osterfeuer sei eine »der Gemeinschaftspflege dienende Veranstaltung«, bei der die Bürgerinnen und Bürger der Geselligkeit nachkommen könnten. Und das hat uns als Freiwillige Feuerwehr doch sehr befriedigt. Ja, freilich, da fließt der Alkohol. Und nicht zu knapp. Aber wie sonst soll denn auch eine Stimmung aufkommen. Das Bier führt die Menschen zusammen. Und wer dann ein wenig über die Stränge schlägt, der wird dann halt vom Sanitäterwagen abgeholt und in der Notaufnahme bestens versorgt. Ich sage immer: Leben und leben lassen, nicht wahr? Es soll ja eine Freude aufkommen, und das geht halt nicht ganz von allein, da braucht es schon gewisser Stimulantien. Die Einnahme von Alkohol garantiert immer noch am besten das Entstehen von Geselligkeit. Mir kann doch keiner erzählen, daß das Osterfeuer nicht der schönste Osterspaß ist. Flamme empor! hat man in früheren Zeiten dazu gesagt, aber Hakenkreuze haben heute bei unseren Osterfeuern nichts mehr zu suchen. Wir sind da ganz zivil und unpolitisch. Wir freuen uns einfach am Feuer, deshalb bin ich auch schon in jungen Jahren zur Freiwilligen Feuerwehr gegangen. Wir leisten Dienst am Bürger. Wir verstehen auch Spaß. So haben die Kollegen von der Feuerwehr Dormagen ein Plakat vertrieben, auf dem ein Feuerwehrmann neben einem lodernden Feuer steht und als Überschrift ist zu lesen: »Geh mit uns durchs Feuer!« Das zieht, was? Das ist aber noch nicht alles. Es heißt dann weiter: »Wir haben die dicksten Hupen… die längsten Schläuche… und wollen mehr als nur ein kurzes Abenteuer! Ruf uns an! Schreib uns!« Also Humor haben sie, das muß man ihnen lassen. Und auch für schwer Kontaktgeschädigte bietet diese Feuerwehr Möglichkeiten, die man außerhalb der Feuerwehr nicht mehr findet. So, das war der letzte Strahl, das diesjährige Osterfeuer ist aus, alles gelöscht und ordnungsgemäß abgewickelt. Dann bis zum nächsten Jahr!
Life imitates Art
In Erich Kästners Roman ›Fabian. Die Geschichte eines Moralisten‹ (1931) betreten der Protagonist und sein Freund Labude einen Berliner Nachtklub. »Unten im Saal wurde die schönste Figur prämiert. Die Frauen drehten sich mit ihren knappen Badeanzügen im Kreis, spreizten die Arme und die Finger und lächelten verführerisch. Die Männer standen wie auf dem Viehmarkt. ›Der erste Preis ist eine große Bonbonniere‹, erklärte die kauende Paula, ›und wer sie gekriegt hat, muß sie dann beim Geschäftsführer wieder abliefern.‹«
In seinem 1891 erschienenen Essay ›The Decay of Lying. An Observation‹ schreibt Oscar Wilde: »Life imitates Art far more than Art imitates Life.«
In Rußland erhalten Kriegerwitwen vom Staat Pelzmäntel geschenkt, vor laufenden Kameras, aber nach Abschluß der Aufnahme wurden einigen der Frauen die Pelzmäntel wieder weggenommen. Vgl. Alexey Tikhomirov: Die Kriegerwitwe als Aufstiegsmodell. In: FAZ, 3.4.2023.
Kriegsfanatiker, Staatsstreichbefürworter, Antisemit
In dem Artikel von Bert Strebe über Straßenumbenennungen und Denkmäler (HAZ v. 11.3.2023) werden Waldersee, Wagner und Kant als Beispiele »umstrittener« Namensgeber behandelt. Damit werden Äpfel mit Birnen verglichen. Es ist zunächst einmal nicht »umstritten«, daß Waldersee das war, was der britische Historiker John C. Röhl über ihn gesagt hat: Waldersee war ein »reiner Militarist und Reaktionär, ein Präventivkriegsfanatiker, ein Staatsstreichbefürworter, ein bigotter orthodox-protestantischer Katholikenhasser und nicht zuletzt ein ›christlich-sozialer‹ Antisemit« John C. Röhl: Wilhelm II. Bd. 1 (Die Jugend des Kaisers, 1859–1888), München 1993, 600. Aus gutem Grund hat man gleich nach 1945 alle Straßen und Plätze, die nach Adolf Hitler benannt waren, geändert. Würde heute noch ein Denkmal für Hitler in einer deutschen Stadt stehen, würde man ganz gewiß nicht eine Erläuterungstafel anbringen, damit die Erinnerung an Hitler nicht verloren geht. Eine Stadt ist kein Museum für historische Lernprozesse, dazu sind Bibliotheken und Universitäten da. Die Namen der Straßen dokumentieren immer die gerade dominierende Gegenwart. So hieß in Wien die 1865 angelegte Ringstraße von 1870 bis 1919 ›Franzensring‹, von 1919 bis 1934 ›Ring des 12. November‹, von 1934 bis 2012 ›Dr. Karl Lueger-Ring‹ und seit 2012 ›Universitätsring‹. Je nach der politischen Machtkonstellation wurde also die Straße anders benannt und damit eine programmatische Richtung vorgegeben.
Antisemitischer Vogelanschlag
»Taube hat Synagogenfenster zerstört« liest man in der HAZ v. 16. November 2022, nachdem das Blatt über die vergangenen Wochen hinweg mehrfach über den angeblichen antisemitischen Anschlag auf die hannoversche Synagoge mit Artikeln, Kommentaren und vielen Fotos berichtet hat. Die Berichte aber waren das Ereignis, und wenn man gleich zu Anfang in einer knappen sachlichen Notiz von diesem Vorfall die Öffentlichkeit in Kenntnis gesetzt hätte, mit dem perspektivischen Vermerk, daß die Polizei nach allen Richtungen ermittele und es noch zu früh sei, einen Verdacht zu äußern, wäre die HAZ ihrer journalistischen Sorgfaltspflicht nachgekommen. So aber hat man überflüssigerweise eine alarmistische Stimmung erzeugt und spricht sich am Ende des absurden Theaters auch noch frei und gibt sich als Wachsamkeitswächter aus. Die Taube hat den Anschlag wohl überlebt, am Tatort wurde sie nicht gefunden, aber die HAZ berichtet aus diesem Anlaß nicht darüber, wie viele Vögel aufgrund mangelnder Schutztarnung auf den Glasflächen der vielen Fenster einer Stadt aufprallen und sterben. Dafür macht man die Entwarnungsmeldung mit der Schlagzeile auf, wonach eine Taube das Synagogenfenster »zerstört« hat, womit dem armen Vogel auch noch eine Intention unterschoben wird, aber nicht, daß er das Opfer menschlicher Behausungen wurde.
Unsterbliches Plastik
Die Kontroverse um die richtige Verteilung der gelben Tonnen in Hannover wird nichtig angesichts des neuesten Plastikberichts der Umwelt-Organisation Greenpeace, wonach in den USA lediglich 5% des anfallenden Plastikmülls tatsächlich recycled werden, während der gigantische Rest auf Dauer die Umwelt belastet. Es gibt sieben Sorten von Plastik, aber nur die beiden ersten Kategorien (Polyethylenterephthalat, PET und Polyethylen hoher Dichte, HDPE) sind recyclebar (und auch da ist der Prozentsatz sehr gering), die anderen Plastiksorten (darunter Kaffeebecher oder Kinderspielzeug) gelten nach der Klassifizierung der Federal Trade Commission als nicht wiederverwertbar. Selbst wenn jeder Haushalt jedes einzelne Stück Plastik separat sammeln und zu den sogenannten Wertstoffhöfen bringen würde, könnte dieses mühsam zusammengetragene Material nicht in den Wiederverwertungskreislauf eingespeist werden. Nun kann man sagen: Ja, die Amerikaner, das sind eben keine umweltliebenden Menschen, aber wir hier in der Bundesrepublik und ganz besonders in Hannover sammeln getreulich alle anfallenden Plastikverpackungen. Der Greenpeace-Report aber sagt nun eindeutig: Einen rationalen Grund für das Sammeln von Plastik gibt es nicht, es ist das Vorhandensein von Plastikverpackungen an sich, das sich zu einem unlösbaren Problem ausgewachsen hat.
Das arme Schwein
In den sechziger Jahren war es in der amerikanischen Gegenkultur üblich, die Polizei als Schweine (pigs) zu bezeichnen, die damals von vielen Karikaturisten gezeichneten Cops wurde mit Schweinegesichtern ausgestattet (Head Comix), Robert Crump gehörte zu den noch heute bekannten Künstlern, die diese Vertreter der Ordnungsmacht als Pig-Cops porträtierten.
Nun hat man auf der jetzigen Dokumenta ein Bildnis eines Mossads-Spions aufgehängt (und nach den Reaktionen der öffentlichen Meinung wieder abgehängt), das ein Schweinegesicht zeigt. Wozu die Aufregung?
Die öffentliche Meinung hat, weil gerade die ›Wittenberger Judensau‹-Darstellung vom Bundesgerichtshof als Teil eines Erinnerungsdenkmals (mit historischen Erläuterungen) anerkannt wurde, sogleich die Analogie Judensau und Mossad-Pig konstuiert, und es gilt in diesem Land bekanntlich das »Bekenntnis zum Staat Israel«, und so hatte die Kunst das Nachsehen. Dabei ist die Kunstsphäre noch die einzige Sphäre, wo es nicht um den Nachweis der Wahrheit geht, sondern der freie Ausdruck gilt und ohne diesen man solche Ausstellungen auch gleich ganz einstellen kann.
Ganz abgesehen davon, daß man bisher sich nicht um die armen Schweine gekümmert hat, die als Karikatur und Haßbild durch die Geschichte weitergereicht werden. Alles, was man ihnen nachsagt, hat sich als nicht richtig erwiesen. Aber der Mensch braucht ein Tier als Vergleichsmaßstab für seine Untaten, und so gibt es denn auch eine menschliche Sau. Schopenhauer hat seinen Pudel, wenn er nicht parierte, als »Du Mensch!« angeschnauzt. Vgl. Gerhard Polt: Eine menschliche Sau (CD, 2006).
»No question, now, what had happend to the faces of the pigs. the creatures outside looked from pig to man, and from man to pig, and from pig to man again; but already it was impossible to say which was which.« George Orwell: Animal Farm (1945).
Nachtrag 1.5.2023
Am 18. April 2023 brachte die FAZ eine einunddreißig Zeilen umfassende Meldung, wonach die Staatsanwaltschaft Kassel die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens im Zusammenhang mit den auf der Documenta ausgestellten Kunstwerken eingestellt hat. Das Blatt hatte zuvor in einer Serie von langen Artikeln die Künstler des Antisemitismus bezichtigt und Maßnahmen gegen die Ausstellungsleitung verlangt. Nach dieser knappen Meldung erschien kein Artikel, in dem die Zeitung sich mit der Hetze gegen die Künstler und die Documenta-Ausstellungsleitung auseinandersetzt. Man hatte seine öffentliche Macht demonstriert und damit war der künstliche geschürte Skandal für die Presse erledigt.
Wkusno i totschka
Seitdem der russische Staat mit dem Überfall auf die Ukraine in seinem eigenen Selbstverständnis damit begonnen hat, zu Großrussland zu werden, haben ausländische Konzerne, um ihr Ansehen in der Welt bedacht, sich aus Russland zurückgezogen. So auch der amerikanische Konzern, der sich ›McDonalds‹ nennt, und der seit 1990 mit seinen Produkten die russischen Konsumenten mit Schnellfraß versorgt hatte. Wenn ein Staat gegen einen anderen Staat Krieg führt, weiß er natürlich auch, daß er das begründen muß — soviel Neuzeit muß sein — und im Falle der Schnellfraß-Restaurants mußte ein Ersatz her, der aber nicht nur die Konsumenten mit dem gleichen Produkt abspeist, sondern zusätzlich einen symbolischen Wert haben muß. Deshalb sollte statt McDonald die neue Abfütterungsstätte ›Bei Onkel Wanja‹ heißen, in Anlehnung an Anton Tschechows Theaterstück ›Onkel Wanja‹. Zwar ist der Protagonist Onkel Wanja ein russisches Kosewort für Wojnízkij, was Krieger bedeutet, was also durchaus zeitgemäß gewesen wäre. Doch muß es dann wohl Bedenken gegeben haben, daß diese Verneigung vor Tschechow zum vaterländischen Nachteil gerinnen könnte, denn ›Onkel Wanja‹ spielt in einer Endzeitstimmung, die Jahreszeiten geben nicht das her, was man von ihnen verlangt, die Ernte fällt aus und das Stück endet im tiefen Winter. Schließlich verfielen die neuen russischen Pommes Fritz-Produzenten auf den Namen Wkusno i totschka, was auf deutsch heißt: Lecker und Punkt. Was für eine Offenbarung! Lecker und Punkt müßte in einer anderen deutschen Übersetzung heißen: Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt! Das klingt denn schon vertrauter und entspricht vollkommen dem russischen Obrigkeitsgeist, der seine Konsumenten durchaus verköstigen will, aber nach der Art: Mäkeln ist nicht gestattet, Friß Vogel oder stirb!