Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog
Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.
Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«
Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.
Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.
Frau Fanto trägt ein Ecru-Creme-Crepe-Souplekleid
Wann entsteht in Wien ›ein fast beängstigendes Gedränge‹? Auf dem Concordiaball. Wo ist es unmöglich, alle die aufzuzählen, die anwesend waren? Auf dem Concordiaball. Was entwickelte sich alsbald? Die anregendste Conversation. Wieder mischte sich das vornehme Wiener Bürgertum unter das temperamentvolle Theatervölkchen. Wieder gab es ein beängstigendes Gedränge. Wieder walzte der Übermut mit der Lebensweisheit, wieder plauderte die hohe Politik mit der heiteren Muse. Mit einem Wort: wieder übertraf der Concordiaball alle seine Vorgänger. Denn das haben sie alle gemeinsam, die Concordiabälle, daß sie einander an Glanz übertreffen. Er übertrifft ganz gewiß seine Vorgänger weit. (Karl Kraus, 1923)
Der Presseclub ›Concordia‹ wurde 1859 als Verein gegründet. Alljährlich gab er sogenannte ›Concordiabälle‹, zu denen die »Vertreter aller Gesellschaftskreise« erschienen. Den Reportern der Wiener Zeitungen war es beschieden, in ihren Berichten über den Ball alle bekannten ›Persönlichkeiten‹ aufzuzählen und dem Leser zu versichern, daß sich alle »glänzend unterhalten« hätten. Da es ein Ball war, wurde auf die Garderobe insbesondere der Damen der Gesellschaft ein besonderes Augenmerk geworfen. Dies führte zu detailgenauen Beschreibungen der extra für diesen Ball angefertigten Kleider, deren Besitzerinnen darauf bedacht waren, ihre mitanwesenden Konkurrentinnen auszustechen. In dem 1923 in der ›Fackel‹ erschienen Aufsatz ›Frau Fanto trägt ein Ecru-Creme-Crepe-Souplekleid‹ hat Karl Kraus diese Beschreibetechnik dokumentiert. »Frau Präsident Goldstein wirkt in amethystfarbigem Crèpe de Chine mit weißen Perlstifteln ungemein distinguiert«. Es folgen viele weitere detaillierte Beschreibungen der allerneuesten Modekleider. Dann zieht Kraus die Bilanz: »Einem ehrlosen Staat bleibt nichts übrig als der Zuhälter einer ehrlosen Presse zu werden, die als ein Aussatz der ehrlosesten Zunft die Sprache zum Handwerk des Toilettendienstes prostituiert.« Was die ›Neue Freie Presse‹ für Karl Kraus war, der wichtigste Gegenstand seiner Presse- und Sprachkritik in den Jahren zwischen 1899 und 1936, das ist die Große Frankfurter für uns heute. Sie gibt alljährlich zwar keinen Presseball, aber lädt die ›Spitzen der Gesellschaft‹ in Berlin ins altehrwürdige ›Borchardt‹ ein, wo schon die ›Spitzen‹ der wilhelminischen Gesellschaft sich zu Speis und Trank eingefunden haben. »Je mehr sich verändert, desto wichtiger wird, was bleibt.« stellt die Gesellschaftsreporterin der Großen Frankfurter als Eingangsmotto vor ihren Bericht. Und da sie die journalistische Manier der Alliteration auch lange nach ihren Lehrjahren als entscheidendes Mittel bei der Überschriften-Findung nicht vergessen hat, schreibt sie: »Beschwingt, beschleunigt, beschwipst« — um in der nächsten Zeile, fast ein wenig erschrocken über ihren Wagemut, gleich wieder normalbürgerliche einschränkende Bedingungen zu setzen: »… aber alles in Maßen!« Das entschiedene Ausrufezeichen soll alle diejenigen Leser, die schon empört die Hände in die Hüften gestemmt hatten, davor bewahren, einen Leserbrief an die Redaktion zu senden, des Inhalts, wie denn in der renommiertesten Zeitung der Bundesrepublik solcherart Ausschweifungen überhaupt denkbar, ja durchführbar seien. Aber das ist eben das Charakteristische an Gesellschaftsberichten: Sie kommen mit einem Zwinkern in einem Auge daher und wollen in erster Linie unterhalten. Aber es soll auch die Zeitung selbst im Mittelpunkt des Interesses verbleiben, weswegen der Satz »Je mehr sich verändert, desto wichtiger wird, was bleibt.« denn auch die Concordiaballberichte widerspiegelt, insofern auch damals immer wieder betont wurde, daß der diesjährige Ball seinen Vorgänger übertroffen habe. Die Große Frankfurter hält sich ganz an die vorgegebenen Traditionen der Berichterstattung. »Manche Männer in Sakkos schielen neidisch zu denen, die die Sakkos schon abgelegt haben.« Wir werden zwar nicht mit einer detaillierten Beschreibung der jeweiligen Sakkos versorgt, dafür aber sogleich entschädigt durch die Versicherung, daß alle Gäste, an die fünfhundert waren erschienen, »geübt losplaudern«. Der Leser ist dankbar für diese Information, und wenn er auch selbst nicht eingeladen war, so ist es ihm doch eine Beruhigung, daß die anwesenden fünfhundert geladenen Gäste allesamt nicht nur ungezwungen miteinander plaudern konnten, sondern dies sogar »geübt« taten. Was nun den Inhalt der Gespräche betrifft, so hat die Berichterstatterin sich ganz nahe an die Gäste gedrängt, um dem Abonnenten der Großen Frankfurter nicht nur mit nichtssagenden Allgemeinplätzen zu versorgen, sondern ganz konkret zu werden. Schon hat sie einen Satz aufgeschnappt. Eine Ministerin, frisch aus Tunesien eingeflogen, berichtet ihrem Gesprächspartner, dort sei es »noch heißer« gewesen als hier im überfüllten ›Borchardt‹. Ein weiterer Minister sucht gezielt das Gespräch der Berichterstatterin und schenkt ihr und ihrer Zeitung den Satz, daß er schon deshalb gern komme, »weil das die erste Zeitung gewesen ist, die er als Oberstufenschüler las.« Eine beistehende Dame läßt sich nicht lumpen und vertraut der Berichterstatterin ganz im Vertrauen, hier vor allen Leuten an, daß auch sie eine andere Party »sausen« gelassen habe, um mit der Großen Frankfurterin zu feiern, die sie jeden Morgen als erste Zeitung lese. Um diese Schmeicheleien noch etwas mehr zu objektivieren, zitiert die Berichterstatterin einen hohen Herrn, der für den Schutz der Verfassung zuständig ist, und er sagt ihr ganz ungeniert, er habe gestern auf der Sommerparty des großen Nachrichtenmagazins aus Hamburg gesagt, er werde morgen zur Großen Frankfurterin sich hinbegeben, weil das »meine Lieblingsparty« sei. So wie die Damen auf den Concordiabällen einander mit noch schöneren und vor allem teureren Kleider auszustechen versuchten, so ist man als Gesellschaftsreporterin natürlich dankbar für solche qualitätsbewußten Vergleiche, und man unterläßt es denn auch nicht, sie drucken zu lassen, damit der weder da noch dort eingeladene Leser wenigstens von ferne aus in den Stand versetzt wird, sich durch Vergleich ein Urteil bilden zu können. Dann ist der Augenblick da, wo der Vorsitzende der ›Herausgeberkonferenz‹ das Wort ergreift. Das Wort ›Transformation‹ fällt. Stille im Saal. Der Herausgeber der Großen Frankfurter beruhigt seine Gäste und fügt hinzu, daß wir uns alle »in irgendeiner Transformation« befinden. Dann folgt der schwere, aber nicht zu unterdrückende Satz: »Der Zeitung werde auch nichts geschenkt.« Man hört förmlich die Eiswürfel in den Whiskygläsern schmelzen. Doch dann, nach dieser Sekunde der Besinnlichkeit und eingedenk der schweren wirtschaftlichen Lage der Großen Frankfurterin, schwingt sich der Herausgeber zu frohgemuten Optimismus auf und ruft in den Saal, daß man ungeachtet aller Schwierigkeiten die Lage beherrschen werde. »Yes, we can. And we will.« Mancher unter den Gästen mag sich dabei an die von einem damals gerade gewählten amerikanischen Präsidenten gesprochenen Sätze aus dem Jahr 2008 erinnert haben, aber was damals schon für viele zündend geklungen haben mag, kann auch wiederverwendet werden, vor allem, wenn einem Herausgeber nichts Besseres einzufallen scheint.
Im alten Wien legte man noch besonderen Wert auf eine feine Garderobe, das ist im Berlin dieser Jahre kein so großer Faktor mehr, auch wenn man natürlich einen Presseball nicht mit einer Sommerparty vergleichen darf. Aber halt, da stimmt was nicht. Und richtig, da fällt es dann doch auf. Eine Dame »im apricotfarbenen Kleid aus Italien, wie gemacht für diese Sommernacht«. Dagegen fällt der »hemdsärmelige« Minister dann doch merklich ab. Aber die Männer sollen ja auch, so war es jedenfalls noch im alten Wien, vor allem dazu da sein, die kostspielige Abendkleidung ihrer Damen zu bezahlen, selbst aber unauffällig bleiben. Frau Fanto trägt ein Ecru-Creme-Crepe-Souplekleid.
Triumph im Tode
›Nient’altro che la verità‹ — Nichts als die Wahrheit (2023) — so nennt sich ein Buch der Erinnerung von Erzbischof Georg Gänswein. ›Der Wahrheit eine Gasse‹ (1952), so nannte Franz von Papen (1879–1969) seine Autobiographie. Man hat ihm von Historikerseite aus bescheinigt, daß sein Buch weder einen Quellenwert besitzt noch die Wahrheitsliebe enthält, die im Titel so plakativ erscheint. Das haben natürlich alle Autobiographien an sich, daß sie zwar von der Hingebung zur reinen Wahrheit motiviert sein können, am Ende aber doch diesen Anspruch nicht einzulösen vermögen, weil die Kategorie der Wahrheit überhaupt keinen Platz in einer Autobiographie finden kann. Nun aber gar noch die Wahrheit als allein dominierendes und das Buch prägendes Erkenntnisziel im Titel (Nient’altro) auszugeben, grenzt an einen autobiographischen Wahnglauben. Gemeint ist allenfalls, daß man sich ehrlich bemüht hat, die Wahrheit über bestimmte Vorgänge auszusprechen, aber damit ist nicht ausgeschlossen, daß sich nicht nur flüchtige Irrtümer in die Darstellung einschleichen, sondern auch, daß man gar nicht vor sich selber so aufrichtig und rein und wahr sein kann, wie man das dem zahlenden Publikum weismachen will. Seit den ›Konfessionen‹ von Rousseau hat das Genre der Autobiographie immer wieder versucht, sich auf diesen Pfad der Wahrheit zu begeben, meist mit dem Resultat, daß daraus ein Elaborat der Selbstlegitimation geworden ist.
Als Joseph Ratzinger zum Papst gewählt war, erlebte Gänswein diesen Vorgang nach seiner Erinnerung folgendermaßen: »In einer Mischung aus Ergriffenheit und Angst wurde mir plötzlich ganz schwarz vor den Augen.« In all den Jahren hatte Gänswein als sein zweiter Schatten Ratzinger auf seinem Weg nach oben innerhalb der weltkatholischen Hierarchie begleitet. Nun war der Gipfel des Möglichen erreicht. Gänswein attestiert Ratzinger einen »heroischen Tugendgrad«.
Der neue Papst selbst beschrieb sich in seiner ersten Ansprache als »einen einfachen und bescheidenen Arbeiter im Weinberg des Herrn«. Und dazu wolle er »auf Wort und Wille des Herrn lauschen«. Das ist das Fabelhafte an der katholischen Kirche, daß man mit dem Verweis auf eine höchste, unsichtbare Instanz sich Legitimation gegenüber den Gläubigen verschafft und anschließend nach Gutdünken seine eigenen Pläne verfolgt, stets abgesichert durch die imaginäre überirdische Instanz.
Ohne Frage müssen, es geht schließlich um die reine Wahrheit, die letzten Tage des sterbenden Papstes ausführlich beschrieben werden, denn, wie Theodor Lessing einmal sagte: »Von jeher knüpft die Religion an die gebrechlichen Momente des Daseins. Die Kirche feiert ihre Triumphe im Tode«. Und so werden wir, wenn wir denn weiterlesen wollen, Zeuge des Todeskampfes des alten Mannes, der bis in die letzte Sekunde dem ›Herrn‹ sich verpflichtet fühlt. Lange vorher schon galt die Treue zu diesem imaginären Herrn alle Aufmerksamkeit. »Bleiben Sie als Bischof immer dem Herrn treu.« flüsterte Ratzinger nach dessen Bischofsweihe Gänswein zu. Für einen Außenstehenden ist das mehr als verwunderlich, es könnte als Beleg dafür dienen, daß solche Glaubensdiener tief gestörte Individuen sind, die einem erdachten Herrn ihr Leben weihen, unter Zuhilfenahme vieler alter Schriften, die alle vom selben ›Glauben‹ beherrscht sind. Glaube ist Aberglaube, die Unterscheidung, die die Kirchen gegenüber ihren Konkurrenten machen, dient nur der Hervorhebung ihrer eigenen Glaubwürdigkeit, die wiederum bloße Fabrikation ist. Es ist eine geschlossene Wahnwelt. Man soll einem Herrn treu bleiben, den es gar nicht gibt. Die katholische Kirche ist eine Irrenanstalt, wo die Irren frei herumlaufen dürfen und für ihre sinnlosen Tätigkeiten gut bezahlt werden. Wenn kleine Mädchen mit Puppengeschirr ihre Freundinnen zu Tee und Gebäck einladen und so tun, als seien noch viele andere Gäste eingeladen, mit denen sie sich auch eifrig unterhalten während sie unausgesetzt Tee nachschenken, der in der bereitstehenden Teekanne nicht enthalten ist und sich am Gebäck gütlich tun, das nur in ihrer Imagination vorhanden ist, so ist das ›süß‹ und ein Zeichen dafür, daß diese kleinen Mädchen in der Lage sind, für eine Weile ohne Teile der Wirklichkeit auszukommen und am Spiel unendliche Freude haben, wohlwissend, daß alles nur ein Spiel der Einbildung ist, so verfahren die Angehörigen des Vatikans zwar nach einem oberflächlich betrachtet ähnlichen Muster, doch sind die Dinge, die sie täglich erledigen, eingewurzelt in einer Organisation, die diesem Betrieb den Anschein der Realität verleiht, dabei aber doch nur das müßige Treiben großgewordener Kinder darstellt, die um Plätze innerhalb der Kirchenhierarchie kämpfen und nebenbei ein heimliches Doppelleben führen, vor deren Öffentlichwerden sie sich mit Recht fürchten.
Gänswein berichtet auch über mit Gefängnisstrafe belegte Mitglieder der »Päpstlichen Familie«, und es liest sich, als wenn ein Mitglied einer italienischen Mafia-Familie darüber schreibt, wie die vor dem baldigen Ableben stehenden, straffällig gewordenen Mitglieder der Familie doch eben immer noch Mitglieder der Familie geblieben sind, und Gänswein und sein Papst dabei von Vergebung und Verzeihung erfüllt sind.
In seiner religionskritischen Schrift ›Die Zukunft einer Illusion‹ (1927) beschreibt Freud die infantile Hilflosigkeit der Menschheit, die sich einen schützenden Vater sucht. Religion ist eine kollektive Zwangsneurose, sagt er. Der italienische Kardinal Giacomo Biffi (1928–2015) hat diese religöse Obsession in einem Buchtitel zusammengefaßt: ›Die Frage, die wirklich zählt: Was kommt nach dem Tod?‹ (1993). Und so widmen sich die das Leben der Menschen verhindernden religiösen Fanatiker weiterhin der bewußtlosen Phase des Lebens, wenn alles Leben vorbei ist. Sie sind auf die Welt gekommen, um ihre Zeit damit zu verschwenden, die ewige Zeit zu besprechen, die mit dem Tod anfängt. Natürlich können sie nicht fündig werden, aber die Macht, die sie mit der Todesvorstellung auf ihre ›Herde‹ ausüben, ist beträchtlich.
In der Popularvorstellung wird Joseph Ratzinger wohl immer mit dieser im nationalistischen Darstellungwahn fußenden Schlagzeile in Erinnerung bleiben: ›Wir sind Papst‹; und kürzlich hat der Erfinder dieses Satzes in einer Autobiographie sich selbst in diese semantische Linie gestellt mit dem Buchtitel: ›Ich war BILD‹. Das auf solchen ›Büchern‹ abgebildete obligatorische Foto des Autors zeigt eine schmierig grinsende Visage, wie man es aus den klischeehaften Vorstellungen über einen typischen Zuhälter kennt.
Die katholische Kirche hat im Verlaufe ihrer schrecklich langen Geschichte Millionen Menschen das Leben genommen, entweder durch physische Vernichtung oder durch die alles Leben behindernde Glaubensideologie, aber im Gegensatz zu dem Staat Preußen, der 1945 durch Beschluß der Allierten aufgelöst wurde, bleibt sie bis heute bestehen. Dabei erfüllt sie alle Voraussetzungen einer zu verbietenden politischen Partei wie der NSDAP, die nach 1945 verboten wurde. Gänswein und Ratzinger beklagen den innerhalb der katholischen Kirche durch ihre Angehörigen begangenen sexuellen Mißbrauch, aber sie schweigen, wenn es darum geht, die Ursachen dieses Mißbrauchs zu erforschen. Der sexuelle Trieb ist ein machtvoller Trieb, der nicht durch Gebete abgewiesen werden kann. Indem man den Priestern und Funktionären der katholischen Kirche ihre naturgegebene Triebstruktur abspricht, stellt man die besten Bedingungen für sexuellen Mißbrauch her. Das Verbot des Gebrauchs der Genitalien bedingt den Mißbrauch dieser tabuisierten Genitalien. Der Vatikanstaat ist die Heimat der ›Invertierten‹, wie sie Marcel Proust unnachahmlich genau beschrieben hat, in der alle Beteiligten »nach allen Richtungen Blicke werfen, in denen sich Furcht und Begierde mit Stumpfsinn mischt«.
Heiratet nicht! Werdet Hetären!
Heiratet nicht! Werdet Hetären! (Theodor Lessing an seine Studentinnen während einer Vorlesung in den 1920er Jahren)
Dr. Anneliese Sendler: Ja, einen schönen guten Abend, meine lieben Zuschauer. Heute haben wir ein Thema für Sie vorbereitet, das sicher keinen von Ihnen kalt lassen wird: die Heirat. Auch wenn manche unter unseren Zuschauern vielleicht noch nicht verheiratet sind, oder durch eine Scheidung die Ehe hinter sich gelassen haben, so wird man gewiß davon ausgehen können, das dieses Thema niemanden gleichgültig sein läßt. Wir haben, um mehr über das Thema zu erfahren, wieder eine Reihe ausgewählter Experten und Zeugen eingeladen, die ich jetzt kurz vorstellen möchte. Da ist zunächst, unseren Sender regelmäßig einschaltenden Zuschauern ein wohlbekannter Gast, Professor Friedrich Lensing, der zum Thema Heirat mehrere hochinteressante Aufsätze veröffentlicht hat, darunter die sich ergänzenden Beiträge mit den Titeln ›Theater der Liebe‹ und ›Theater der Ehe‹.
Prof. Friedrich Lensing: Ja, guten Abend, Frau Doktor. Wenn ich gleich eine Eingangsthese aufstellen darf? »Liebe ist der Vorgang der Illusion einer Person bezüglich einer andern.« »Ehe ist ein Vorgang (nicht Zustand) der Desillusionierung einer Person bezüglich einer andern.« Dr. Anneliese Sendler: Hui, das wird aber eine kontrovers geführte Diskussion heute abend werden. Shocking! Aber nun gleich zu unserem nächsten Gast. Ich begrüße Herrn Tobias Knopp, der schon auf eine lange Reihe von Ehejahren zurückblicken kann und als Augenzeuge der ehelichen Gemeinschaft sicher einiges Wissenswertes dazu beitragen wird.
Tobias Knopp: Guten Abend, Frau Doktor Sendler! Vielen Dank für Ihre Einladung. Ja, ich kann mich noch recht genau an meinen Hochzeitstag erinnern. Ach Gott, wie lang ist das her! Meine Frau, Gott hab sie selig, weilt ja schon lange nicht mehr unter den Lebenden. Sie war meine einzige große Liebe.
Dr. Anneliese Sendler: Als nächsten Gast darf ich begrüßen Herrn Olaf Pfeiffer. Er ist Repräsentant der niedersächsischen Firma ›Wedding Event‹, die sich auf ungewöhnliche Hochzeiten spezialisiert hat. Herr Pfeiffer, nennen Sie uns doch einmal ein paar Beispiele!
Olaf Pfeiffer, Wedding Event KG: Sehr gerne, Frau Sendler! Wir wollen ja wegkommen von den langweiligen kirchlichen Trauungszeremonien, womit ich absolut nichts gegen unsere Kirchen gesagt haben will! Aber es ist doch all die Jahre ein bißchen dröge gewesen, dieser Gang zum Traualtar und die steifen Gesten des Pastors oder Pfarrers. Das wird zwar immer noch gemacht, aber es kommt bei unseren jüngeren Kundinnen und Kunden doch nicht mehr so gut an. Ein ganz großer Trendsetter war bekanntlich Mick Jagger, der schon 1971 seine damalige Freundin Jerry Hall auf Bali am Strand geheiratet hat. Das war damals das Privileg von Rockstars, aber heute kann das bei uns jede Frau und jeder Mann haben. Und man muß dazu auch gar nicht bis Bali fliegen, denn wir in Niedersachsen haben auch schöne Strände, und vielleicht sind die auch ein bißchen sauberer als die in Indonesien, naja, man weiß es nicht so genau. Was Mick und Jerry Bali war, das ist unseren Kunden die Insel Juist, wo das Standesamt Strandhochheiten anbietet und wo man unter freiem Himmel und in der untergehenden Abendsonne ja zueinander sagen kann.
Prof. Friedrich Lensing (ironisch zitierend): »In der untergehenden Abendsonne« … Ja, freilich, da ist schon das passende Vorzeichen gesetzt.
Dr. Anneliese Sendler: Na, lieber Herr Professor, Sie müssen doch nicht gleich zu Anfang hier die Saalstimmung herunterdrücken! Das ist doch romantisch, in der untergehenden Abendsonne den Bund fürs Leben zu schließen.
Prof. Friedrich Lensing: Bei Nestroy beruhigt sich ein verdachtschöpfender Bräutigam immer mit den Worten: »Sie hat mir ja ewige Liebe geschworen!« Dr. Anneliese Sendler: Nun geben Sie aber Ruhe, Herr Professor, wir haben Sie hier doch nicht als kaspernden Zwischenrufer engagiert. So! Dann wollen wir mal! Herr Knopp, Sie als erfahrener Ehemann können uns bestimmt einiges über ihre Heirat und Ehe mit ihrer Frau berichten.
Tobias Knopp: Ja, gerne. Ich will aber doch gleich sagen, daß mich die Äußerungen des Herrn Professors ein bißchen schmerzen, denn so negativ, wie er die Ehe darstellt, ist sie doch ganz gewiß nicht. Ich kann ja nur von mir erzählen, das ist ja naheliegend, aber was so alles in den Büchern steht, nicht nur von dem Herrn Professor, sondern auch in diesen Romanen, die die Ehe behandeln, also ich weiß nicht, das ist doch zum Großteil alles erfunden, nicht wahr? Vor allem diese Darstellung von diesem Wilhelm Busch, der diese Zeichnungen gemacht hat mit diesen witzig sein sollenden beigeschriebenen Versen und dessen Hauptfigur zufälligerweise meinen Namen trägt, nein, das ist doch eine grobe Entstellung des normalen ehelichen Zusammenlebens. Die Zeiten haben sich doch auch geändert, das waren doch ganz andere Verhältnisse um 1875, als dieser Busch diese Bildergeschichten gemacht hat.
Olaf Pfeiffer, Wedding Event KG: Darf ich darauf gleich antworten? Herr Knopp hat völlig recht, die Zeiten, sie haben sich geändert, wie Bob Dylan schon vor vielen Jahren gesungen hat. Das gilt jedenfalls insbesondere für Niedersachsen, wo unsere Wedding Event KG eine ganze Menge toller Sachen auf die Beine stellt. Das wäre für den Spießer der damaligen Gesellschaft, so um 1875, ganz bestimmt nichts gewesen. Man sagt heute auch nicht mehr militärisch ›Jawoll!‹, sondern ganz zivil ›Ja!‹. Und was gibt es Schöneres als das Bejahren. Das wußte schon Nietzsche, der sich damit gegen den pessimistelnden Schopenhauer absetzte. Sie sehen, unsere Wedding Event KG ist auch philosophisch unterfüttert und überhaupt immer auf dem letzten Stand der Dinge. Es darf auch ein klein bißchen verrückt sein. So haben wir in Osnabrück jetzt die Möglichkeit geschaffen, sich im Schimpansenhaus des hiesigen Zoos trauen zu lassen.
Prof. Friedrich Lensing: Der Kasus macht mich lachen, könnte man mit Goethes ›Faust‹ darauf erwidern. Aber Spaß beiseite, ich habe in einem Büchlein, benannt ›Jäö. Studienblätter. Humoristische hannoversche Sitten- u. Sprachstudien‹ eine Szene im Raubtierhause spielen lassen, wo ein kleiner französischer Junge namens Théodore die hiesige hannoversche junge Dame Helene trifft und unter vielen Qualen versucht, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Da ist eine Trauung im Schimpansenhaus nur die Fortsetzung meiner kleinen erdachten Geschichte, wenn auch mit einem kleine Schwenk ins Groteske. Aber Affen sind ja vielleicht die besseren Menschen. Kein Tier ist so sehr Affe als der Mensch, heißt es bei Nietzsche. Affen sind sehr empfindlich gegen das Lachen der Menschen. Sie haben ein genaues Wissen davon, ob sie ernst genommen werden. Sie gesellen sich nie zu Leuten, die über sie lachen. Der Schimpanse besonders wünscht fortwährend bewundert zu werden. Jedoch: Humor setzt eine größere und kühlere Distanz zu den Dingen voraus, und das geht dem Schimpansen doch ab. Man stelle sich die Menschenseele im Bilde eines riesenhaften botanisch-zoologischen Gartens vor.
Dr. Anneliese Sendler: Ja, vielen Dank, Herr Professor Lensing, ihr Wissen und ihre Einsicht in die komplexe Seele des Menschen ist immer wieder überwältigend und ganz enorm.
Olaf Pfeiffer, Wedding Event KG: Wenn ich hier noch kurz unsere anderen Angebote erwähnen darf. Hier kommt noch ein weiteres Highlight der ganz besonderen Art. Nicht jeder will sich eine frische Brise um die Nase wehen lassen und meidet daher den Strand und die Insel. Und der geht dann tiefer, im buchstäblichen Sinne. Es gibt nämlich auch die Möglichkeit, in einem Bergwerksstollen zu heiraten. Und zwar im Harz, genauer gesagt: Im Rammelsberg.
Tobias Knopp: Hoho, ähem, das ist aber … mpf … delikat.
Olaf Pfeiffer, Wedding Event KG: Wir können gegen historisch entstandene Namen keinen Widerstand aufbauen. So heißt er nun einmal: Rammelsberg.
Prof. Friedrich Lensing: Na ja, lassen wir Herrn Knopp diese kleine frivole Wortassoziation, das ist harmlos. Was aber passiert, wenn die Hoch-Zeit der Hochzeit vorüber ist, wenn der Ehealltag eingekehrt ist? Der französische Schriftsteller Guy de Maupassant hat es gewußt. Er sagt über die Ehe: »Am Tag der Austausch schlechter Launen, bei Nacht der Austausch schlechter Gerüche.« Nicht jede neugegründete Familie besitzt ein Schloß, wo die Ehepartner in einander gegenüberliegenden Flügeln wohnen und so die Distanz bewahren, die für das Funktionieren einer Ehe unabdingbar ist.
Tobias Knopp: Hören Sie doch auf, die Ehe schlecht zu machen. Diese gemeinen Geschichten, die dieser Wilhelm Busch geschrieben und gezeichnet hat, wie in seiner erfundenen Familie Knopp die Ehepartner sich gegenseitig quälen und daran auch noch eine besondere Freude haben, das ist doch erstunken und erlogen!
Prof. Friedrich Lensing: »Die Dichter lügen so viel« hat schon Platon gesagt. Aber beruhigen Sie sich doch, werter Herr Knopp, ich glaube nicht, daß hinter den Darstellungen der bürgerlichen Ehe eine gemeine und hinterhältige Absicht steckt. Im übrigen gilt der Grundsatz: Jeder Jeck ist anders. Was Sie als Herabsetzung empfinden, ist in vielen anderen gleichgelagerten Fällen die reine Wahrheit. Denken Sie an die berühmten Ehedramen, die Ibsen und Strindberg auf die Bühne gebracht haben. Wenn die Ehepartner nur mit etwas praktischer Phantasie ins Theater gehen würden, dann könnten Sie von diesen dramaturgischen Großmeistern eine Menge für ihren Ehealltag lernen und gewisse, beide anödende Gewohnheiten aufgeben.
Dr. Anneliese Sendler: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes haben im vergangenen Jahr rund 390.800 Paare geheiratet. Das sind fast zehn Prozent mehr als im Vorjahr. So gesehen, scheint die Heirat doch weiter eine Zukunft zu haben. Und ohne sie wären die daraus hervorgehenden Kinder auch gar nicht lebensfähig.
Prof. Friedrich Lensing: Dann müssen Sie aber daneben die Scheidungsraten stellen, sonst ergibt das ein falsches Bild.
Tobias Knopp: Bis daß der Tod uns scheidet! Das ist doch immer noch die beste Anleitung für eine glückliche Ehe!
Olaf Pfeiffer, Wedding Event KG: Habe ich schon erwähnt, daß wir auch Trauungen im Space planen?
Prof. Friedrich Lensing: Nach dem Moto: Ehen werden im Himmel geschlossen, aber auf Erden gelebt.
Dr. Anneliese Sendler: Ja, meine lieben Zuschauerinnen und Zuschauer. Und schon ist unsere Zeit wieder um. Oder, wie es bei Wilhelm Busch heißt: »Einszweidrei, im Sauseschritt, Läuft die Zeit; wir laufen mit.« Bis zum nächsten Mal. Allen verheirateten und noch nicht verheirateten Paaren wünsche ich eine gute Zeit!
Prof. Friedrich Lensing (in den Abspann hineinrufend): »Na, jetzt hat er seine Ruh! Ratsch! Man zieht den Vorgang zu.«
Tod eines Schmierenkomödianten
Ich habe Mussolini und Hitler erlebt, die faschistischen Götter meiner Tage; es waren geistig und seelisch völlig leere, unglückliche Menschen, vorangepeitscht vom Größenwahn. (Theodor Lessing, 1933)
Er war ein Schmierenkomödiant und ein Verbrecher. Das hielt die italienische Wählerschaft nicht davon ab, ihn in politische Ämter zu wählen. Er ging in die Politik, weil er wußte, daß man durch Gesetze, die man auf sich selbst zuschneidert, man beschützt ist vor der realistischen Möglichkeit, wegen kriminineller Geschäfte ins Gefängnis gehen zu müssen. Er war dreist in seinem Auftreten und scheute nicht vor wahnwitzigen Vergleichen zurück. »Ich bin der Jesus Christus der Politik« verkündete er ungeniert auf allen seinen Fernsehsendern. Und er zögerte auch nicht davor, denjenigen, die mit dem Namen Jesus Christus nichts anfangen konnten, zu erklären, wie das gemeint war. »Ich bin ein geduldiger Patient, ich ertrage alles, ich opfere mich für alle auf.« Während man in anderen Ländern gern ganz allgemein von ›den Medien‹ redet, wenn man das Konglomerat von Pressehäusern, Fernsehanstalten und Reklameagenturen meint, so zerschmolz das pauschale Gerede über die Macht der Medien in Italien zu einem einzigen Wort: Berlusconi. Er war nach Mussolini in Italien der Politiker, der alles auf Nichts setzte, eine Politik der leeren Worte und der theatralischen Gesten. Und so wie Mussolini seinem Land mit dem Faschismus schadete, so schadete Berlusconi Italien mit einer verheerend wirkenden ökonomischen Politik, mit Geldwäsche und der Komplizenschaft von Auftragsmördern, mit Verbindungen zur Mafia, Steuerhinterziehung und der schamlosen Bestechung von Politikern, Richtern und der Steuerbehörden. »Die Mehrheit der Italiener würde gern so sein wie ich.« sagte er. Und darin hatte er vielleicht sogar recht. Die Ohnmacht der allermeisten Menschen besteht ja gerade darin, eigentlich überhaupt nichts an einem politischen System ändern zu können, nur die ständig Reden schwingenden, wechselnden Politiker wollen ihnen weißmachen, daß das nicht so ist. Aber die Masse der Wähler ist nicht so dumm, und wenn sie nicht überhaupt das Wählen von politischem Führungspersonals sein läßt und zuhause bleibt, dann geht sie den Weg, den auch ihre verbrecherischen Führer gehen: den Weg des Individualismus. Was so ein Krimineller in großem Stil erreicht hat, das will man im kleinen Format auch für sich erreichen. Vielleicht nicht unbedingt mit einem Auftragskiller, aber ganz sicher mit Schwindelei bei der Steuererklärung, der Vorzugsbehandlung bei den städtischen Behörden, des ohne Arbeit erreichten Wohlstands. Das macht solche Figuren wie Berlusconi groß und mächtig. Sie sind die furchtbaren Vorbilder für einen beschränkten Egoismus und Parasitismus, der bei den ohnmächtigen Massen immer wieder ankommt, weil es für sie der einzige Ausweg aus ihrer eigenen Misere zu sein scheint. Für weiteren Nachschub ist gesorgt.
Die Bügelfalte als Kunstprinzip
Kürzlich ist eine weitere, eintausendfünfhundert Seiten umfassende Biographie über Thomas Mann erschienen. In den vergangenen fünfzig Jahren sind bereits vier ebenso umfängliche Biographien herausgekommen. Ich werde auch die neueste nicht lesen. Mir reicht das Diktum Alfred Döblins, das er anläßlich von Thomas Manns Tod geprägt hat: »Es gab diesen Thomas Mann, welcher die Bügelfalte zum Kunstprinzip erhob.« Wolfdietrich Schnurre hat in seinem Buch ›Der Schattenfotograf‹ (1978) eine selbsterfundene Anekdote über Thomas Mann eingefügt, die die Biographie Thomas Manns auf ebenso kurze wie zeitschonende Weise illustriert: »Thomas Mann wird von Marlene Dietrich um einen Songtext gebeten. Beleidigt schickt er ihr sein Gesamtwerk, um darauf hinzuweisen, wer er sei. Marlene Dietrich ruft daraufhin bei ihm an. An sich habe sie sich den Songtext lockerer vorgestellt.«
The American Taliban
Im Januar dieses Jahres, wenn die Temperaturen im Bundesstaat Missouri (USA) um den Gefrierpunkt liegen und man immer mit Schnee rechnen muß, hat die der Republikanischen Partei angehörende Abgeordnete Ann Kelley beantragt, in einem Gesetz zu verordnen, daß Frauen im ›Missouri House of Representatives‹ künftig bei den Beratungen ihre Schultern bedeckt halten müssen. Es war keine vorsorgliche Maßnahme gegen die vielleicht zu niedrigen Temperaturen in der parlamentarischen Kammer, es war ein todernst gemeinter politischer Vorstoß, der die Sittlichkeit im Bundesstaat Missouri fernerhin gewährleisten soll. Zwar gab es erwartungsgemäß empörte Reaktionen, zumal von seiten der Demokratischen Partei, und da vornehmlich von seiten der weiblichen Abgeordneten, dergestalt, daß die aufgebrachte Kollegin fragte, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn von nun an die männlichen Abgeordneten ihre weiblichen Counterparts tagtäglich daraufhin ins Fadenkreuz ihrer Aufmerksamkeit nähmen und insbesondere den oberen Teil ihres Körpers ganz genau studieren müßten, um feststellen zu können, ob dort eine nackte Schulter zu sehen ist oder nicht. Aus den Presseberichten geht nicht hervor, was die männlichen (aber auch weiblichen) Abgeordneten bei einer unzulässigen Offenlegung der Schultern zu tun hätten. Eine Anzahl von Wolldecken sollte zu diesem Zweck im Parlamentsgebäude ständig bereitliegen, mit der die ertappten schulterfreien Frauen dann unverzüglich eingehüllt werden könnten, um den hohen Standard der Sittlichkeit in Missouri gewährleisten zu können. Frau Kelley ist nicht nur republikanische Abgeordnete, sie ist auch Mitglied in der ›National Rifle Association‹, der größten Organisation der Vereinigten Staaten, in der das Recht zum Tragen von Waffen (the right to bear arms) mit allen Kräften am Leben erhalten wird. Nachdem in Missouri wie in den meisten anderen Bundesstaaten der USA durch Entscheid des Obersten Gerichtshof das Recht auf Abtreibung aufgehoben worden ist, wird mit diesem gewissermaßen ergänzenden juristischen Handstreich den Frauen des Landes unmißverständlich deutlich gemacht, daß nur bei einer ausreichenden textilen Bedeckung ihrer Schultern die Konsequenz, die aus solch libertären Verhalten in der Regel folgt — eine ungewollte Schwangerschaft — vermieden werden kann. Das als Gottesgesetz wahrgenommene ›right to bear arms‹ bleibt in den USA trotz weiterhin anhaltender Massaker in allen Teilen des Landes unberührt, hingegen wird es ein ›right to bare arms‹ (das Recht auf unbekleidete Arme [und Schultern]) nicht geben.
In einer Folge der amerikanischen Serie ›Newsroom‹ (2012–2014) hält der politische Moderator eine kleine Rede in Gegenwart des Fernsehpublikums dieses fiktiven Nachrichtensenders. Und er zählt die Dinge auf, die die vor über zehn Jahren virulente ›Tea Party‹ (eine rechtsextremistische Organisation) ganz besonders auszeichnen:
– Ideological purity
– Compromises as weakness
– A fundamentalist belief in scriptural literalism
– Denying science
– Unmoved by facts
– Undeterred by new information
– A hostile fear of progress
– A demonisation of education
– A need to control women’s bodies
– Severe xenophobia
– Tribal mentality
– Intolerance of dissent
– Pathological hatress of US government
They can call themselves ›The Tea Party‹. They can call themselves conservatives. And they can even call themselves Republicans, though Republicans certainly shouldn’t. But we should call them what they are: The American Taliban.
I should have the mucho macho
In Brooklyn hat jetzt das erste ›Robot-Café‹, die ›Bot-Bar‹ geöffnet. Hinter der Theke steht nicht mehr ein Barkeeper oder ein Barrista, auch keine Bardame, niemand mehr, bei dem man ein Getränk bestellen und sich auch ausführlich über sein miserables Leben unterhalten kann, wofür man sich dann mit einem großen Trinkgeld bedankt, nein, es ist ein sehr gelenkiger Roboter. Man bestellt nicht durch Ansprache, sondern berührt einen Touchscreen. Sexuelle Belästigung, die US- amerikanische Zwangsphantasie, ist damit für immer beendet. Aber der Bot-Keeper kann tanzen, was er in seinen imaginären Pausen auch tut, jedoch für sein Wohlbefinden keine Rolle spielt, denn als Automat ist er frei von allen menschlichen Schwächen, auch wenn die Café-Betreiber ihn mit menschlichen Züge zu versehen suchen, was aber nur in solch armseligen Beschreibungen wie der, daß er oder sie »ein leidenschaftlicher Dienstleister« sei, endet. Wo in seinem vollautomatisierten Körper die Leidenschaft verborgen ist, wird uns nicht mitgeteilt. Der Mensch generell neigt zum Anthropomorphismus. Aber lassen wir das, mit dem Bar-Bot haben seine Besitzer endlich keine Streitereien wegen der Arbeitszeiten mehr, denn er ist rund um die Uhr, 24 Stunden lang, verfügbar. Darin besteht wohl seine Leidenschaft, die den wirklich mit Leidenschaften begabten menschlichen Wesen völlig abgeht. Auf der Website der Bar stand bis vor kurzem noch der Satz »Menschen sind unberechenbar«, dann wurde er gelöscht, weil man sich vermutlich ganz menschlich für diese Gefühlskälte schämte, und ersetzte den Satz mit der Versicherung, man dürfe jederzeit »Konstanz in jeder Tasse« erwarten. Die robotgetriebenen Cafés rühmen ihrem dienstwilligen Helferlein nach, daß er die Menschen von der monotonen, repetitiven Arbeit befreie, auf der anderen Seite aber auch moralisch jedem Menschen überlegen sei, denn der Robot stiehlt nicht, verlangt kein Trinkgeld und muß niemals eine Toilettenpause einlegen. Das Flirten mit einer hübschen Bardame fällt allerdings weg, aber das ist auch gut so, denn man weiß, wozu das führt und das kann am Ende niemand wollen und gutheißen. Es wird indes niemals mehr solche Unterhaltungen geben wie die folgende, zwar fiktiv, aber nicht unwahrscheinlich, also ganz nach dem menschlichen Leben gezeichnet. In der amerikanischen Satire-Serie ›Frasier‹ (1993–2004) trifft sich der Radio-Psychologe Frasier Crane regelmäßig mit seinem Bruder Niles Crane, der als Psychiater tätig ist. Als das ›Café Nervosa‹ einem Musiker die Gelegenheit bietet, die Gäste des in Seattle gelegenen Cafés mit seiner Gitarre und seinem Gesang zu unterhalten, flüchten die beiden Brüder aus dem geliebten Stamm-Café. Bei seinen Versuchen, in Seattle ein anderes Café zu finden, stößt Frasier auf einen alternativen Coffee-Shop, in dem der Mann hinter der Kasse bereit ist, die vielen Differenzierungen, die man dort zur besseren Unterscheidung eingeführt hat, geduldig zu erklären:
– What size would you like?
– I think a large.
– I’m afraid we don’t have large, sir. We have piccolo, macho, mucho and mucho macho.
– I see. Do you happen to know what size would correspond to a ›Nervosa grande‹?
– No, but our mucho is about the same as the semi-colossal over at ›Don’t Spill the Beans‹.
– Ah. All right, I know that their colossal ist comparable to a ›Nervosa grande‹ so the semi-colossal would be three-quarters of a colossal. So the mucho and the semi-colossal would be equivalent, so I should have the mucho macho. But only fill it five-eights.
Geistesgegenwart
But, if it’s a raucous political debate you want, meet newlyweds Hank and Hannah Finch. He’s a right-wing Baptist preacher, she’s a fun-loving bisexual! Conflicts? You bet! (Bebe Glazer in: Frasier, Season 4, Episode 17)
Im amerikanischen Bundesstaat Utah ist man eifrig darum bemüht, Bücher aus den Bibliotheken zu entfernen, die, nach Ansicht der Eltern von Schulkindern, unanständige Inhalte bergen. Im vergangenen Jahr hat Utah ein Gesetz erlassen, wonach die Verbreitung oder Veröffentlichung von »sexueller Amoralität« als Ordnungswidrigkeit und mit mindestens 500 US-Dollar und einem Monat Gefängnis (nicht entweder-oder, sondern beides als Kombi-Strafe) geahndet wird. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, haben die utahischen Gesetzgeber genauestens beschrieben, welche Delikte unter die »sexuelle Amoralität« fallen: Die Darstellung oder Beschreibung von Masturbation, Sex ganz im allgemeinen, Sodomie, erregte Geschlechtsteile (beider Geschlechter) oder nackte oder teilweise nackte Figuren, was dann natürlich im Bereich der Kunst für große Ausfälle, also Aussonderungen von Kunstbüchern geführt hat.
Dieses Schauspiel bigotter, provinzieller Beschränktheit hat einen aufgeklärten US- Amerikaner nicht ruhen lassen. Er setzte sich an den Schreibtisch und verfaßte eine Eingabe an die Behörden, in der er beklagte, daß bei der täglichen Bücherjagd ein Buch völlig übersehen worden sei, das Buch, das in jedem amerikanischen Hotel und Motel im Nachtkästchen zur freien Verfügung liegt: die Bibel. Diese, so der Antragsteller, enthalte »Inzest, Masturbation, Sex mit Tieren, Prostitution, Dildos, Vergewaltigung und Kindermord«. Wer seine Heilige Schrift kennt, wird gern bestätigen, daß alle aufgeführten Sachverhalte in der Tat im ›Buch der Bücher‹ vorkommen, und das nicht nur einmal. In Utah scheint die Zahl der Bibelkundigen aber nicht in dem Maße hoch zu sein, wie man es für selbstverständlich angenommen hat, denn man gründete einen Ausschuß, der sich des Falles annehmen sollte. Nach Überprüfung der inkriminierten Schrift kam der Ausschuß zu dem Urteil, daß dem Antrag insofern stattgegeben wird, als man das Lesen der Bibel zwar nicht gänzlich verbieten werde, aber eine Altersbegrenzung für zweckdienlich halte, so daß von nun an erst Oberschülern ab der neunten Klasse die Bibel zugänglich gemacht werden dürfe. Woraus man entnehmen kann, daß alle an der Bücherentfernung beteiligten Personen sich zwar moralisch auf den höchsten Stand der Empörung gehoben hatten, aber das ganz ohne die Kenntnis der Bibel, wiewohl alle diese Personen unaufhörlich von der Heiligen Schrift als ihrem lebensanleitenden Buch reden, aber es entweder gar nicht oder nur in Auszügen gelesen haben; oder, was noch wahrscheinlicher ist, lediglich den jeweiligen sonntäglichen Predigttext ihres Pastors sich angehört haben. Dieser wird aber die inkriminierten Passagen wohlweislich niemals in seiner Predigt vorgetragen haben, denn er möchte natürlich seine Stelle als Seelsorger gern bis zu seiner Pensionierung behalten.
In seiner großen Abrechnung mit dem sich gerade etablierenden Nazi-Regime hat Karl Kraus in ›Die Dritte Walpurgisnacht‹ eine Episode vom Kurfürstendamm in Berlin wiedergegeben, bei der ein »unbekannter Zivilist«, der Sohn eines Ladenbesitzers, sich an die Polizei wandte, als ein Trupp SA-Schläger seinen Vater im Geschäft zu bedrohen begann. Der Sohn erklärte gegenüber der eintreffenden Polizeistreife, in den Laden seien Kommunisten eingedrungen, die nur zur Tarnung SA-Uniformen trügen, in Wirklichkeit aber verkleidete Kommunisten wären. Darin sei er sich sicher, denn in den amtlichen Berichten werde immer wieder betont, die SA benehme sich gesittet und gesetzmäßig. Der Polizei blieb schließlich nichts anders übrig als die SA-Schläger aufs Polizeirevier zu bringen. »Nie gab es bessere Geistesgegenwart.« kommentiert Karl Kraus diese denkwürdige Szene. »Hätten alle den Einfall gehabt, darauf zu bestehen, daß Lüge Wahrheit sei, die deutsche Welt sähe anders aus.« Der Kläger in Utah hat mit seiner Anklageschrift gegen die Bibel das bewiesen, was Karl Kraus in allen seinen Texten immer wieder aufs Neue bewiesen hat und was man angesichts des täglichen Wahnsinns immer aufs Neue beweisen muß: Geistesgegenwart.
Zauber der Worte
Wenn ich ein Wort benutze, sagte Humpty-Dumpty in eher höhnischem Tonfall, so bedeutet es genau das, was ich an Bedeutung auswähle, nicht mehr und nicht weniger. Die Frage ist, sagte Alice, ob Sie wirklich die Wörter so vielerlei Verschiedenes bedeuten lassen können. Die Frage ist, sagte Humpty-Dumpty, wer eigentlich die Begriffe bildet — darauf kommt es an. (Lewis Carroll: Alice im Wunderland, 1865)
Die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) hat ihren Namen geändert. Sie kandidiert nunmehr unter dem neuen Namen ›Die Heimat‹. Das ist verwirrend, zumal es schon lange Zeit eine Institution gab, die sich allerdings ›Neue Heimat‹ nannte, und wenn es auch dieses 1926 gegründete »gemeinnützige« deutsche Bau- und Wohnungsunternehmen seit 1990 nicht mehr gibt, weil Vorstandsmitglieder sich bereichert hatten, was nicht im Sinne der Gemeinnützigkeit, sondern weit eher des Eigennutzes war, so entstand aus der ›Neue-Heimat-Affäre‹ Anfang der 1980er Jahre dann der Zwang, das Unternehmen aufzulösen. Die NPD wurde schon mehrfach mit einem Verbot bedroht, aber politisches Kalkül hat es bisher verhindert, daß das Bundesverfassungsgericht diese politische Partei mit einem Verbotsbeschluß bedacht hat. Indem die Partei sich in das anheimelnde Terrain der Heimat begibt, wiewohl es Zeiten in der Bundesrepublik gab, wo das Wort unter NS-Verdacht stand, vollzieht diese Partei etwas, was sich auf anderen Gebieten bereits zugetragen hat. So hat sich der Medienkonzern ›Facebook‹ vor kurzem den Namen ›Meta‹ gegeben, ein Sammelbegriff für einen Dachverband, unter dem dieses weltbeherrschende Medienimperium neue Unterorganisationen ausbilden will. Aber ›Die Heimat‹ enthält einen ungeheuren Machtanspruch, so wie es schon seit vielen Jahren in der Buchbranche üblich geworden ist, eine Biographie (in neuer Rechtschreibung: Biografie) nicht als schlichten Untertitel zu verwenden, sondern zum Beispiel bei einem Buch über Henry Kissinger nicht mehr wie früher den Untertitel ›Eine Biographie‹ zu verwenden, dafür aber einen Absolutheitsanspruch anzumelden, der sich in dem Untertitel ›Die Biografie‹ bemerkbar macht. Das will sagen: Hier wird Ihnen nicht irgendeine Darstellung des Lebens von Henry Kissinger angeboten, nein, hier erhalten Sie die definitive (auch das ein Wort, das in diesem Zusammenhang gern gebraucht wird) Biographie, und alle anderen vorhandenen Biographien werden damit nicht nur ersetzt, sondern gänzlich überflüssig. Auf den Müllhaufen mit ihnen, das ist die unterschwellige Botschaft dieses Untertitels. So ist auch ›Die Heimat‹ eine absolutistische Wortprägung, hier wird alles ausgeschlossen, was man bisher unter dem Wort Heimat sich vorstellen durfte, hier wird ein Sammelbecken offeriert, in dem man sich geborgen und wohlfühlen (auch das ein Wort, das heute bis zum Überdruß verwendet wird) kann und soll. Man sagt heute nicht mehr Sammelbecken, man sagt ›Dienstleister‹, und tatsächlich hat ›Die Heimat‹ in einer Presseerklärung verlauten lassen, daß sie sich als »patriotischer Dienstleister« versteht. Mehr noch, um dem Ganzen eine weitere Spitze aufzusetzen, man verstehe sich als »Anti-Parteien-Bewegung«, was an die Ambitionen der NSDAP erinnert, die ebenfalls mit dem Anti-Parteien-Effekt wirtschaftete und alles auf den alleinseligmachenden ›Führer‹ zulaufen ließ.
Die NPD hat unter dem Buchstaben ›N‹ das Demokratische versteckt und verborgen, ein Lippenbekenntnis zur Demokratie, auch wenn hinlänglich bekannt ist, daß ihre Mitglieder sich vor allem deswegen zu der NPD hingezogen fühlen, weil sie in vielerlei Weise die Nachfolgeorganisation der NSDAP ist, die selbstverständlich in der Bundesrepublik mit gutem Grund verboten ist. Aber das Wort Demokratie ist ein Zauberwort, mit dem alle Dinge ein angenehmes Äußeres annehmen und man auch wegen dieses Wortes toleriert wird, auch wenn es in den Parteien, die sich so nennen, wenig demokratisch zugeht. Besonders lustig ist natürlich die Kombination von ›Volk‹ und ›Demokratie‹ und die Verschmelzung beider Wörter zur ›Volksdemokratie‹. Das ist ein klassischer Fall von Doppelt-Gemoppelt, aber wen kümmert das schon, die politischen Machthaber in den Staaten, die sich volksdemokratisch genannt haben, wußten schon, daß manchmal mehr auch mehr bedeutet und diese doppelte Betonung des Anteils des Volks an der Macht war dann der Grund dafür, daß es umso weniger Macht für das so hochgehobene Volk auszuüben gab. So hat der französische Diplomat Talleyrand recht behalten, als er 1807 den Satz prägte: »Die Sprache ist dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen.«
Alle Kindlein sind schon da, alle Kindlein, alle
Ich war schwanger / Mir ging’s zum Kotzen / Ich wollt’s nicht haben, mußte gar nicht erst nach fragen / Ick freß’ Tabletten / Und überhaupt, Mann / Ich schaff’ mir keine kleinen Kinder an. (Nina Hagen: Unbeschreiblich weiblich, 1978)
Dr. Anneliese Sendler: Ja, grüß Gott, meine Damen und Herren an ihren Fernsehgeräten. Heute haben wir ein ganz ernstes Thema gewählt, die Bevölkerungsexplosion. Wenn wir im Vorspann Nina Hagen als provokantes Punkmädchen ihr Lied vom Schwangersein haben singen lassen, dann ist das so zu erklären, daß wir Medienleute immer einen Aufmacher brauchen, wie wir das in der Fachsprache nennen, damit unsere Zuschauer am Ball, sprich am Bildschirm bleiben. Also, nicht ausschalten, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, wir werden jetzt gleich ganz seriös. Ich darf unsere heutigen Gäste kurz vorstellen. Da haben wir zu meiner Rechten eine Familie in Gestalt von Hubert und Birgit, Vater und Mutter, das ist die Familie Reichenhalt, und das ganz Besondere an ihr ist, daß sie aus neun Kinder besteht. Die sind heute aber alle zuhause und sitzen vor dem Fernsehapparat, nicht wahr, Frau Reichenhalt?
Birgit Reichenhalt: Ja, freilich, das wäre doch etwas viel hier in ihrem kleinen Fernsehstudio, Kinder brauchen Platz.
Dr. Anneliese Sendler: Ja, das ist schön, daß Sie heute bei uns sind, Frau und Herr Reichenhalt. Jetzt gleich zu unserem nächsten Gast. Das ist ein Fachwissenschaftler aus dem Bereich der Demographie, das ist ein Wort aus dem Griechischen und bedeutet: Bevölkerungswissenschaft. Herr Professor Birger Häusler lehrt an einer Universität und ist im Beirat im ›Verein für Kinderfreundlichkeit‹.
Prof. Birger Häusler: Guten Abend, Frau Doktor.
Dr. Anneliese Sendler: Als nächstes darf ich in unserer Gesprächsrunde willkommen heißen Herrn Professor Friedrich Lensing, der inzwischen schon zu einem Dauergast in unseren Sendungen geworden ist. Professor Lensing hat in seinen Veröffentlichungen immer wieder der Frage der Bevölkerungspolitik seine Aufmerksamkeit gewidmet, deshalb freue ich mich auch, ihn heute hier wieder bei uns zu haben.
Prof. Friedrich Lensing: Vielen Dank für ihre Einladung.
Dr. Anneliese Sendler: Schließlich möchte ich noch unseren letzten Gast vorstellen, er ist der jüngste in unserer Runde, Herr Tim Hummel. Er ist Student der Biologie und Mitglied in einer Musikband namens ›Wicked Witch‹.
Tim Hummel (trägt ein T-Shirt mit den Aufdruck: ›My father didn’t wear a condom!›): Ja, Hi.
Dr. Anneliese Sendler: Nun aber gleich zur ersten Frage, die ich an Herrn Professor Häusler richten will. Können Sie uns kurz einen Überblick über die derzeitige Bevölkerungslage geben?
Prof. Birger Häusler: Ja, Frau Sendler, das ist kein schönes Bild, das ich Ihnen und uns allen jetzt malen werde. Wir stehen vor dem Kollaps. Der Geburtenrückgang in den westeuropäischen Ländern, insbesondere aber Deutschland, ist bestürzend. Wenn wir die Menschen als natürliche Spezies erhalten wollen, muß es zu drastischen Veränderungen in der Bevölkerungspolitik kommen. Seit meinem 2005 in der ›Frankfurter Allgemeinen‹ publizierten ›Grundkurs Demographie‹, in dem ich eindringlich einen bevölkerungspolitischen Kurswechsel gefordert habe, ist die Entwicklung bis heute noch katastrophaler geworden. In meiner 2014 erschienen Studie ›Die alternde Republik und das Versagen der Politik‹ habe ich die Bilanz meiner bisherigen Bemühungen gezogen. Wir sind ein Land ohne Zukunft, und das sage nicht nur ich, sondern das sagen mir auch Statistiken aus Italien, wo 2019 ein neuer Negativrekord bezüglich der Geburtenrate erreicht wurde.
Dr. Anneliese Sendler: Ja, die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Nach den mir vorliegenden Erhebungen hat sich seit 1945 die Weltbevölkerung mehr als verdreifacht, von damals 2,5 Milliarden Menschen auf 7,9 Milliarden. Dabei hat sich der Anteil Afrikas an der Weltbevölkerung von 17 auf 39 Prozent mehr als verdoppelt, der Anteil Asiens hingegen wird von aktuell 60 Prozent auf 43 Prozent kräftig schrumpfen. Eine Frau in Afghanistan bringt knapp viermal so viel Kinder auf die Welt wie eine Japanerin.
Prof. Friedrich Lensing: Und dennoch will die japanische Regierung jetzt 23 Milliarden Euro ausgeben, mit der die Geburtenrate in Japan gesteigert werden soll. Das ist doch völliger Wahnsinn. Die sollten doch froh darüber sein, daß ein Geburtenrückgang zu verzeichnen ist. Die Verminderung der Geburtenziffer ist ein Wesensgesetz der Kultur. Nur so kann auch die Menschheit als Ganze noch etwas Hoffnung auf ihr Überleben haben. Stattdessen klagen diese kurzsichtigen Politiker über das Aussterben der Japaner, und nicht nur sie, auch in anderen Ländern wird so getan, als ob mit weniger Menschen der Untergang des Abendlandes beschlossene Sache ist. Es ist rassischer Nationalismus.
Prof. Birger Häusler: Da muß ich sowohl Ihnen, Frau Doktor, wie Ihnen, Herr Professor Lensing entschieden entgegentreten. Das stimmt so alles nicht. Sie können nicht mit der Weltbevölkerung kommen und so tun, als gäbe es eine Überbevölkerung unseres Planeten. Wir müssen uns doch stets an die eigene Nation wenden und überlegen, wie wir ihren Fortbestand sichern können. Sonst würden wir ja fordern, daß die ganze Welt ein Einwanderland wird, und, glauben Sie mir, das wollen die Japaner ganz sicher nicht. Die wollen die Identität ihrer nationalen Eigenheit erhalten, und das geht nur mit einer gezielt gesteuerten Bevölkerungspolitik.
Tim Hummel: Ey, also jetzt muß ich aber mal dazwischenfunken. Als Biologe studiere ich das Leben in allen seinen Formen und da muß ich feststellen, daß die Natur zwar ununterbrochen versucht, sich selbst zu reproduzieren — auf Masse legt sie Wert, nicht? — und das hat sich für viele Menschen als ein Weg ins Elend erwiesen. Viele Kinder bedeuten immer viele Münder, die man zu füttern hat. Woher das Geld nehmen und nicht stehlen? Der Evolutionsbiologe George Williams hat seinen berühmten Aufsatz aus dem Jahre 1993 betitelt: ›Mother Nature is a Wicked Old Witch‹. Damit will er sagen: Von wegen ›Kinderwunsch‹, das bilden sich die Menschen nur ein, daß es ihr persönlicher Wunsch ist, Kinder zu bekommen, das spielt sich doch alles hinter ihrem Rücken ab. Nichts davon ist gewünscht, man wird durch einen biochemischen Cocktail, der wie eine Droge wirkt, dazu gezwungen, mittels der persönlichen Illusion, daß das aus ›Liebe‹ geschieht, die Gattung fortzupflanzen. Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins hat das 1976 in dem Buch ›Das egoistische Gen‹ nachgewiesen.
Prof. Friedrich Lensing: Bravo, Herr Hummel. Damit bringen Sie die Problematik auf den Punkt. Schon mein großes philosophisches Vorbild Arthur Schopenhauer hat in seiner ›Metaphysik der Geschlechtsliebe‹ geschrieben, daß, sobald ein Paar sich gefunden hat und sich verliebt in die Augen schaut, das Werk der Gattungsvernunft vollendet wird. »Daß dieses bestimmte Kind erzeugt werde, ist der wahre, wenn gleich den Teilnehmern unbewußte Zweck des ganzen Liebesromans: die Art und Weise, wie er erreicht wird, ist Nebensache.« So Schopenhauer.
Dr. Anneliese Sendler: Das ist starker Tobak, den Sie uns da zumuten, Herr Professor. Aber warum fragen wir nicht die Familie Reichenhalt einmal, was sie dazu denken?
Birgit Reichenhalt: Ja, also Ich und mein Mann, wir können dazu nur sagen, daß wir diese Art, über Kinder zu reden, nicht mögen. Nein, so kann man doch nicht über den wertvollsten Schatz reden, den man hat, die Kinder, ohne die das Leben so einsam und eintönig wäre.
Hubert Reichenhalt: Wir haben zum zehnjährigen Bestehen unseres Vereins, dem ›Verein für Kinderfreundlichkeit‹ zahlreiche Grußschreiben von bekannten Politikern unseres Landes erhalten. Ich lese mal aus einem Brief vor: »Kinderreiche Familien braucht unser Land, also jene Eltern, die sich ganz bewußt für drei und mehr Kinder entschieden und damit aus freien Stücken große Verantwortung übernommen haben. Schon deshalb sorgt die Landesregierung in zahlreichen Bereichen dafür, daß Familien bei uns in vielfältiger Weise unterstützt und gefördert werden. Wir wissen, starke Familien sind das Fundament unserer Gesellschaft. Familien, in denen Liebe, Geborgenheit und Werte vermittelt werden, sind die beste Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben.«
Tim Hummel: Das ist doch ganz primitive Propaganda, ganz typisch auch die Redeweise dieser Politiker, die Leuten, die nicht wissen, was sie tun, um den Bart schmieren und sie loben dafür, daß sie viele Kinder in die Welt setzen. Und diese Betonung, daß das ›ganz bewußt‹ geschehen ist. Wer so viele Kinder hat wie hier diese Familie Reichenhalt, der ist doch das beste und deprimierendste Beispiel dafür, daß eben überhaupt kein bewußtes Handeln vorliegt, sondern man ist einfach dem jedem Menschen inhärenten Trieb gefolgt, ohne auf die Folgen zu achten. Ein Egotrip ist das, allein diese Vorstellung, daß man sich so viele Male zu vervielfältigen glaubt, als sei das ein Segen für die Umwelt, grotesk ist das.
Dr. Anneliese Sendler: Lieber Herr Hummel, ich muß ihren jugendlichen Überschwang nun aber bremsen, so geht es doch nicht, wir sind hier doch unter zivilisierten Menschen, die sich zu benehmen wissen.
Tim Hummel: Was heißt hier Benehmen? Diese Leute, die ein Kind nach dem anderen in die Welt setzen, die sollen sich einmal benehmen und darüber nachdenken, was das für ein Unfug ist, den sie betreiben.
Prof. Friedrich Lensing: Da muß ich nun aber meinem jungen Kollegen beispringen, verehrte Frau Doktor Sendler. Sein Argument sticht. Die Weltbevölkerung wird bis zum Jahr 2050 um 29 Prozent von 7,55 Milliarden auf 9,77 Milliarden wachsen. In Afrika werden im Jahr 2050 etwa 2,5 Milliarden Menschen leben, doppelt so viele wie im Jahr 2017, und die Bevölkerung der zweiundzwanzig Staaten der Arabischen Liga wird von 414 Millionen um 63 Prozent auf 676 Millionen Menschen wachsen. Ist ein Land stabil und wächst die Bevölkerung nicht zu schnell, kann die Demographie der Impuls für einen Wohlstandsimpuls sein. In der arabischen Welt gibt es jedoch sehr viele Jugendliche ohne Arbeit. Sie sind die Ursache für Unruhen. Die wirksamsten Faktoren, um die Geburtenrate zu senken, sind Bildung und Arbeit für die Frauen.
Tim Hummel: Wenn Herr Reichenhalt eben zitiert hat, dann will ich das jetzt auch einmal tun. In seinem 2005 erschienenen Buch ›Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen‹ schreibt der Evolutionsbiologe Jared Diamond: »Beim derzeitigen Wachstum der Weltbevölkerung wären wir in 774 Jahren bei 10 Menschen je Quadratmeter Landfläche angelangt, in knapp 2000 Jahren wäre die Masse der Menschen ebenso groß wie die Masse der Erde, in 6000 Jahren hätte die Masse der Menschen die gesamte Masse des Universums erreicht.«
Prof. Birger Häusler: Ich wende mich ganz entschieden gegen diese Rechenbeispiele, die ideologisch motiviert sind und uns nicht weiterbringen. Wir leben doch hier in Deutschland, und dank der Wiedervereinigung sind wir auch wieder ein zahlenmäßig größeres Volk geworden. Und das sollen wir auch bleiben, aber dazu müssen seitens der Regierung auch stärkere finanzielle Anreize gegeben werden, damit wir als deutsche Nation nicht weiter schrumpfen. Vor über zwanzig Jahren habe ich in einem Buch vor der ›demographischen Zeitenwende‹ gesprochen, die auf uns in Deutschland und Europa zukommt. Wenn seit neuestem der jetzige Bundeskanzler das Wort von der ›Zeitenwende‹ aufgegriffen hat, um damit verstärkt den Blick auf die Ukraine und Rußland zu wenden, so muß ich in meiner Verantwortung als Demograph darauf pochen, daß auch auf dem Gebiet der Bevölkerungspolitik eine Zeitenwende in Gang gesetzt wird.
Tim Hummel: Na klar doch, Professorchen, wir brauchen Menschenmaterial, damit wir die Panzer und Raketenwerfer auch bedienen können, wenn wir einen lange andauernden Krieg gewinnen wollen.
Prof. Birger Häusler: Unverschämter Lümmel!
Dr. Anneliese Sendler: Meine lieben Gäste, bitte bleiben Sie doch alle auf dem Teppich. Das ist hier doch nur eine Talkshow. Auch wenn ich die Lebhaftigkeit, mit der hier diskutiert wird, schon toll finde. Aber ein Blick auf die Studiouhr sagt mir, daß wir schon wieder das Ende unserer Sendezeit erreicht haben. Im Namen des Senders bedanke ich mich bei allen Teilnehmern für ihre Mitwirkung und sage Auf Wiederschaun bis zum nächsten Mal.
Prof. Friedrich Lensing (ruft während des Abspanns, den Schluß von Goethes ›Faust. Erster Teil› zitierend): O, wäre ich nie geboren!