Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog

Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.

Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«

Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.

Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.

Willkommen im Wohlfühl-Museum

Sie! Jetzt entfernen Sie sich aber ganz schleunigst von dem Gemälde! Sind sie blind? Oder warum drücken Sie ihre Nase so nah an das Bild? Museumswärter Erwin Wächler ist ein ganz Genauer. Seit vielen Jahren wacht er im hiesigen Museum über die ihm anvertraute Gemäldeabteilung. Er hat schon viele, tausende von Besuchern gesehen und überwacht, und in all den Jahren ist ihm schon manch Kurioses untergekommen. Sie, wenn diese Schulklassen klassenweise angerückt kommen, dann ist bei uns Alarmstufe Rot! Sie glauben nicht, was diese Kinder sich erlauben. Die stehen nicht vor den Bildern und schauen sie sich an, sie greifen nach ihnen, betatschen sie. Und dann diese jungen Lehrerinnen, wenn man dann zur Ordnung ruft, kriegt man von denen zu hören, man solle doch den Kindern einen Freiraum einräumen. Ja, freilich! Um mit ihren dreckigen Patschhänden die Kunstgegenstände zu verunreinigen. Wir sind doch nicht im Zoo, wo man auf der Wiese die armen Viecher anlangen darf, die sind auch nicht gefragt worden, ob das ihnen recht ist. Ein Museum ist doch kein Streichelzoo! Da hört sich doch alles auf.  Aber wissen Sie, das geht ja immer weiter, die Kinder sind nur die Spitze des Eisbergs. Das geht weiter hinauf, bis in die obersten Etagen. Nun soll dieses Jahr ein internationaler Museumstag gefeiert werden, nicht nur hier, überall, wo es Museen gibt. Und ein Gremium hat beschlossen, warten Sie, ich habe den Zettel in meiner Aktentasche stecken (kramt eine Weile, und zieht dann ein etwas zerknittertes Stück Papier hervor), da ist es ja. Also, da habe ich letzte Woche diesen Schrieb bekommen, der uns Mitarbeitern Weisungen erteilt, wie man diesen Museumstag begehen soll. (Liest langsam und bedächtig vor.) »Museen leisten einen wichtigen Beitrag zum Wohlbefinden und zur nachhaltigen Entwicklung von Comm, Commu, Communitys. Als vertrauenswürdige Institutionen und wichtige Bestandteile eines gemeinsamen sozialen Gefüges sind sie in der einzigartigen Lage, einen Domino-Effekt zu schaffen, der einen positiven Wandel fördert. Museen tragen zur Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung bei, indem sie den Klimaschutz unterstützen, die Integration fördern, die soziale Isolation bekämpfen und die psychische Gesundheit verbessern.« Na, was sagen Sie? Ist das was? Ha? Domino! Ja, sind die da oben ganz verrückt geworden? Ha? Das kennt man doch noch aus der Zeit, wo der Amerikaner meinte, alle Länder, die wo aneinander angrenzen und eins davon kommunistisch war, es nicht mehr lange braucht bis die andern es auch sind. Fällt der erste Stein, kippen die, die danebenstehen automatisch auch um. Und das soll nun auf unser schönes Museum übertragen werden. Aber warten Sie, das wird ja noch ganz konkret. Ich habe es Ihnen doch vorgelesen. Nach dem Domino kommt, (er schaut kurz auf das Papier) »nachhaltige Entwicklung«. So! Und für was sollen wir uns nachhaltig entwickeln? Für den »Klimaschutz«! Ja, wo sind wir denn? Bin ich als Klimaschützer ausgebildet worden? Nein, und das aus gutem Grund, weil der hier bei uns im Museum auch nichts zu suchen hat. Das einzige, wo es ein gewisses stabiles Klima braucht, das wird durch unsere Klimaanlage erzeugt, damit es die Bilder und Gemälde immer schön warm, aber nicht zu warm haben. Eine Klimaanlage läuft doch aber von ganz allein, da kommt der Techniker von der beauftragten Firma und sieht nach dem Rechten, was sollen wir Museumsangestellten denn mit dem Klima anfangen, und dann auch noch schützen sollen wir‘s. Ja, entschuldigen Sie, aber wer denkt sich denn sowas aus? Oder sollen wir außerhalb des Museums in eine Klimaschutzpartei eintreten? Nein, danke, das kommt ja gar nicht in Frage. Es geht dann aber noch weiter. Haben Sie’s sich gemerkt, was ich grad vorgelesen habe. (Schaut erneut auf das Papier.) Jetzt kommt‘s: »Die Integration fördern, die soziale Isolation bekämpfen«. Fördern und kämpfen? Fördern kann doch nur ein reicher Industrieller, und kämpfen, ja, wer kämpft denn und das auch noch auf Befehl? Bin ich ein Sozialarbeiter? Nein, bin ich nicht. Wer isoliert ist in unserer Gesellschaft, der kann sich selbst helfen, es gibt genug Vereine, die einen einsamen Menschen aufnehmen und ihm Halt geben. Im Museum, das beobachte ich täglich immer wieder, will der einzelne Museumsbesucher doch allein mit seinem Gemälde sein, er will ins stille Zwiegespräch mit ihm eintreten. Diese Möglichkeit geben wir  ihm, er soll leise sein und sich ordentlich benehmen, aber wir können ihm doch nicht aus der Isolation heraushelfen, der will doch darin verbleiben und sich seine Gedanken machen über die Schönheit und Bedeutung des Bildes, vor dem er ergriffen steht. Der ins Kunstwerk versunkene Mensch, das habe ich einmal bei einem Vortrag in der Volkshochschule gehört, will in einer ästhetischen Beziehung zum Objekt verbleiben, und wozu sollen wir dann daherkommen und uns um des Besuchers »soziale Integration« kümmern. Da sind wir doch völlig überfordert und der Besucher wird mit Recht uns scheuchen, wenn wir so etwas versuchen sollten. Sehen Sie, das Museum ist für viele Menschen ein Ort, wohin sie sich vor den Menschen flüchten, wo sie froh sind, mit keinem reden zu müssen und sich seine Probleme anhören zu müssen. Das ist doch das Schöne am Museum, daß hier zwar Menschen anwesend sind, aber in gebührendem Abstand voneinander, und daß jeder für sich seinen Gedanken nachgehen kann. Es gibt Besucher, die sitzen stundenlang auf unseren schönen Lederbänken und verweilen glücklich und zufrieden vor einem einzigen Gemälde. Das gibt es eben doch noch, wahre Kunstkennerschaft. Und die will in Ruhe gelassen und eben nicht integriert werden. (Schaut nochmals auf das Papier.) Jetzt aber wird es schon ein bißchen unheimlich. (Liest:) »Und die psychische Gesundheit verbessern.« (Fängt an zu husten und braucht einen Moment, um sich wieder zu fangen.) Es sollen ja wundervolle Dinge in diesen Mentalanstalten vollbracht werden, aber das Museum als Psychiater! Es sollten diejenigen, die das von uns abverlangen, sich in die Obhut dieser Spezialisten begeben, da hätten diese sicher wertvolle Studienobjekte. Aber, schauen Sie, das greift ja schon seit langem um sich. Gehe ich zu meiner Sparkasse, nein, zu meiner Bank, dann hängen im Schaufenster Plakate mit einer Parkbank drauf und drunter steht: »Ihre Wohlfühl-Bank«. Ich möchte nicht wissen, was diese Banker einer Reklameagentur gezahlt haben, um auf solch einen saublöden Spruch zu kommen. Aber alle mit Abitur, diese Banker. Und die Organisatoren des internationalen Museumstags haben wohl auch irgendeine Schulbildung genossen. Das müssen sie ja, sonst würde man sie gar nicht einstellen. Na, dann noch einen schönen Tag, mein Herr.

Ein sicherer Ort

And here was Rachel Hoyt, branch librarian, as pretty as a Marie Laurencin picture, yet as colorful as a psychedelic poster. Her hair was pulled back softly and held at the nape of her neck by an enameled barrette. There was bright lipstick on her moist lips, and a pink blouse was joined by a wide belt to a short gray wool dirndl. She was smallish, compact, neat, with an impudent expression and a kind of bursting vitality. Barrett had no doubt that she had one hell of an intellect. He also had no doubt that she did not allow it to interfere with her social life. »You are the head librarian?« he asked. »None other«, said Rachel Hoyt, shoving a collection of bangle bracelets high on her slender forearm. She cocked an amused eye at him. »What were you expecting – Minnie Mouse or a Bloomer girl? They threw away that cookie cutter years ago«. (Irving Wallace: The seven minutes, 1969)

Reporter einer lokalen Fernsehstation, Wilfried Schrettinger: Ja, hallo miteinander. Heute haben wir einen ganz besonderen Gast in unserem Studio, den Leiter unserer örtlichen Bücherei, oder wie man Sie etwas vornehmer auch nennt: unserer Bibliothek. Guten Tag, Herr Dr. Tombe. Wie sehen Sie die Lage der Bibliotheken heute, im 21. Jahrhundert?

Dr. Tombe: Bibliotheken gehören zum öffentlichen Raum, und wir wollen als Safe Spaces dem Anspruch gerecht werden, Einzelne vor Zumutungen durch Diskriminierungen und Verletzungen zu bewahren.

Wilfried Schrettinger: Aha, sehr interessant! Hat es in letzter Zeit tätliche Angriffe auf Benutzer der Bibliothek gegeben?

Dr. Tombe: Das nicht gerade direkt, nein, aber wir wollen vorbauen und sicher gehen, denn nichts ist heute wichtiger als Sicherheit. Safe Spaces sind das non plus ultra jeder zukunftssicheren Bibliothek, die ja weit mehr als Buchbestände verwaltet. Wir sind das heiße Medienzentrum der City.

Wilfried Schrettinger: Was sie nicht sagen. Ich hatte neulich ein Interview mit einer Studentin, oder soll ich sagen: ›Studierenden‹, Haha, na, wie auch immer, sie sagte mir jedenfalls, daß sie ihrem Professor im Seminar die Meinung gegeigt habe, als er sie verunsicherte mit einer sie bedrängenden Zumutung. Nein, nicht was sie jetzt denken. »Was«, hat sie dem Professor gesagt, »Ich soll ein ganzes Buch lesen?« Da war für einen Moment der safe space in der Universität höchst gefährdet.

Dr. Tombe: Nun werden Sie hier mal nicht ausfällig. So geht das aber nicht. Sie sind als Reporter zu objektiver Berichterstattung verpflichtet. Wenn die Studierende sich vom Lesen eines ganzen Buches bedroht fühlte, dann sind wir aufgerufen, ihr beizustehen. Das wäre ihr bei uns nicht passiert. Wir drängen niemanden unsere Bestände auf. Wir als Bibliothek sind auch schon lange nicht mehr allein auf das Bereitstellen von Büchern beschränkt, das wäre in unserer modernen Mediengesellschaft auch gar nicht möglich. Wir haben alle Sorten von Medien. Und die sollten die Leute von der Universität auch mal in Erwägung ziehen, wenn sie Seminare abhalten. Diese alteuropäische Fixierung auf das gedruckte Wort ist doch antiquiert, rückständig, hinterwäldlerisch.

Wilfried Schrettinger: Sie meinen: Leih’ dir den Film zum Buch aus, das macht mehr Spaß als Lesen?

Dr. Tombe: Werden Sie nicht frech. Was glauben Sie, was sich in den vergangenen Jahrzehnten im Bibliotheksbereich abgespielt hat? Weltweit fallen die Ausleihzahlen, Stellen werden gestrichen, Öffnungszeiten reduziert, Etats gekürzt. Darauf muß man doch reagieren. Und wir haben darauf reagiert.

Wilfried Schrettinger: Indem Sie die Bibliothek in eine Vergnügungsstätte umzuwandeln versuchen?

Dr. Tombe: Ich darf erwähnen, daß ich früher eine Professur für Medienmanagement und Medienvermittlung innehatte. In dieser Eigenschaft habe ich Konzepte zum Co-Learning-Space entwickelt. Klassische Stand-Alone-Rechner müssen mit flexibel einsatzbaren Robotik- und Maker-Elementen kombiniert werden. Dazu gehört auch eine flexible Möbilierung in modifizierbaren Räumen sowie Pop-Up-Räumen mit Werkstattcharakter, die unterschiedlichen Funktionen Rechnung tragen. Um die Zukunftsfähigkeit der Bibliotheken zu sichern, sind organisatorische und investive Anstrengungen sowie bauliche Änderungen nötig. Der Co-Learning-Space Bibliothek muß auch partizipativ ausgelegt sein. Dazu sind iterative Diskussionsprozesse erforderlich. Eine Kollegin von mir hat die Bibliothek mit einem U-Boot verglichen. Eng, dunkel kühl, mit wenig Komfort, aber vielen Menschen an Bord, das auch mit ihren Kompetenzen und dem digital-analogen vielschichtigen Angebot oft noch zu unsichtbar im ›Ozean Stadtgesellschaft‹ unterwegs ist. Als Gegenentwurf zum U-Boot kann aber nicht die Luxusyacht herhalten. Wir einigten uns auf die Zielvision des modernen Ausflugsdampfers als Schiff für alle und als hellerem, offenerem und niedrigschwellig zugänglicherem Ort.

Wilfried Schrettinger: Wow! Da haben unsere Zuschauer aber eine geballte Ladung an Information serviert bekommen, hoffentlich haben sie auch alles verstanden, ich habe es nicht. Ich habe aber auch keine Professur für Medienmanagement und Medienvermittlung. Können sie das vielleicht mit etwas schlichteren Worten ausdrücken?

Dr. Tombe: Mit zwei Sätzen: Not just a library. Your interface to everything.

Wilfried Schrettinger: Hallo! Unsere Zuschauerinnen und Zuschauer sind als Kinder in eine deutsche Schule gegangen und man kann nicht davon ausgehen, daß sie alle das Abitur und ein Fremdsprachenstudium hinter sich haben. Auf deutsch bitte, auf deutsch!

Dr. Tombe: Möchten Sie einen Coffee to go, um die Gesprächsatmosphäre ein wenig aufzulockern?

Wilfried Schrettinger: Oha, Sie scheinen auf eine untergründige Art und Weise doch etwas Humor zu haben.

Dr. Tombe: Sehen sie, es geht doch um die Frage: Was ist bereits im Doing oder klar geklärt. Welche Maker-Angebote implementieren wir, welche Bestandssegmente müssen oder können reduziert werden. Dazu zählen dann auch Ideen, die noch nicht zu Ende gedacht sind. Das Setting sollte aber immer entspannt sein. Wir stehen zudem auch mit unseren Lead-Userinnen im Kontakt. Mit unseren Moodboards visualisieren wir eine Idee oder ein Konzept und kanalisieren wir unsere Überlegungen.

Wilfried Schrettinger: Ja, ich denke doch, daß unsere Zuschauer damit schon eine gewisse Vorstellung von der Zukunftsbibliothek bekommen haben. Vielleicht überlegen sie es sich sogar, jemals eine Bibliothek aufsuchen zu wollen. Es geht ja auch von zuhause, mit einem Klick ist man in einer digitalen Bibliothek und kann Bücher kostenlos herunterladen.

Dr. Tombe: Wenn Sie wüßten, wie die Politiker uns auf die Füße treten und unsere Daseinsberechtigung in Frage stellen! Sie müßten sich diese Leute mal anhören, wenn sie vom Internet schwafeln und sagen, da seien doch heute alle für die Welt wichtigen Informationen vorhanden, da könnte sich doch jeder bedienen, wozu brauchen wir denn noch diese kostspieligen Bibliotheken?! Jeder fünfte liest und bildet sich mittlerweile auf elektronischem Wege. Wir kämpfen doch um unser Überleben!

Wilfried Schrettinger: Und deshalb spielen Bücher in der Bibliothek nur noch eine untergeordnete Rolle? Ist das nicht etwas paradox?

Dr. Tombe: Wir brauchen ein neues Image, darum geht es. Kommunikation, Dienstleistung und ein zeitgemäßes Veranstaltungsprogramm, das sind die Essentials heute. Und Integration. Deshalb können Sie bald bei uns ihren Personalausweis erneuern lassen oder ihren Wohnungsumzug melden. In Dänemark, in Aarhus, gibt es das schon. Die haben in ihren Maker Space Nähmaschinen stehen, da gibt es 3D-Drucker und ein Tonstudio. Die Kinder können auf digitalen Fußballplätzen spielen, es gibt eine große Anzahl von Spielkonsolen und, aufgemerkt!, es ertönt ein Gong, wann immer im Kreißsaal der Stadt ein Kind auf die Welt gekommen ist.

Wilfried Schrettinger: Wo bleiben da die Bücher? Wo sind sie, wo stehen sie?

Dr. Tombe: Die stehen abseits, am Rande. Der Kollege in Aarhus sagt es ganz treffend, er sagt: »Eine Bibliothek muß sich in erster Linie mit den Menschen beschäftigen, nicht mit Büchern.«

Wilfried Schrettinger: Das hat er wirklich gesagt? Heißt das nicht aber, daß die Bibliothek aufgehört hat, eine zu sein, und zu einer Therapie-Einrichtung geworden ist?

Dr. Tombe: Es geht heute nicht mehr darum, an Informationen durch die Vermittlung des Buches zu kommen, es geht um Vergemeinschaftung. Die Menschen stehen im Mittelpunkt. Es kann nicht mehr angehen, daß die Menschen von Bücherwänden erschlagen werden. Deshalb hat der dänische Kollege auch die Tapete, die die Innenausstatter mit Buchrücken illustriert hatten, wieder verpixeln lassen. Wir müssen ein flexibler Veranstaltungort werden, nur so können wir unseren angestammten Platz in der Gesellschaft halten.

Wilfried Schrettinger: Viel Kommunikation, wenig Kontemplation? Die Bibliothek als sozialer Servicebereich?

Dr. Tombe: Jedes Buch, das zwei Jahre nicht ausgeliehen worden ist, wird in Aarhus ausgesondert, Man will kein Museum sein und man kann den freiwerdenden Platz gut für Familienaktivitäten verwenden.

Wilfried Schrettinger: Wenn das so ist, dann ändert sich aber das Berufsbild des Bibliothekars gewaltig, ja, es verschwindet eigentlich. Ein anderer Charaktertyp ist dann gefragt, Leseleidenschaft scheint mir dann keine Berufsvoraussetzung zu sein.

Dr. Tombe: Wir müssen doch zeitgemäß denken, verstehen sie. Wir sind flexible Dienstleister mit sozialer und technischer Kompetenz. Und ohne Events kriegen wir sowieso niemanden mehr hier her.
Wilfried Schrettinger: Müßte die Bibliothek nicht darum kämpfen, ihre ursprüngliche Funktion beizubehalten? Und was für Auswirkungen hat das auf die wissenschaftlichen Bibliotheken, wenn die städtischen Leihbüchereien sich so von ihren traditionellen Aufgaben trennen?

Dr. Tombe: Sie können den Zug der Zeit nicht anhalten, sie müssen rechtzeitig aufspringen.

Wilfried Schrettinger: Dann sehe ich für die Verblödung der Menschheit noch großen Entwicklungschancen. Wir danken Ihnen für das Gespräch.

 

Wiederkehr einer alten Bekannten

Lange hatte man nichts mehr von ihr gehört. Sie ist aber auch eine hochbetagte Dame, zuerst begegnete man ihr im 14. Jahrhundert, doch ihre Blütezeit begann im 16. Jahrhundert, als man sie innerlich aufrüstete und sie auch schon längere Wegstrecken hinter sich legen konnte. Im 17. Jahrhundert einigte man sich darauf, bei der Namensgebung differenziert vorzugehen. Nicht jede durfte ihren Namen tragen. Sie war aber auch einem ganz besonderen Zweck vorbehalten. In der Verwandschaft gab es dennoch kaum Streitereien, denn jede erfüllte ihre Aufgabe tadellos, wobei diese dann aber durchaus auf Abwege geriet. Das ist in einer solchen Situation auch schwer zu vermeiden. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erfolgte eine deutliche Verbesserung ihres Auftretens, denn nun gab es neben dem Aufschlagszünder auch noch den Verzögerungszünder. Doch erst im Großen Krieg, wie man damals sagte, der nach seinem Ende dann mit dem bis heute geläufigen Namen Erster Weltkrieg bezeichnet wurde, gewann sie ihre unübersehbare und unüberhörbare Präsenz. Eine Zeitung phantasierte damals darüber, wie lange es wohl dauern würde, bis sie zu »den äußersten Sternen der Milchstraße« gelangte, und gab den interessierten Lesern auch gleich das Resultat ihrer Berechnungen bekannt: »Die von einer von der Erde abgefeuerte Granate würde erst nach Verlauf von drei bis vier Milliarden Jahren getroffen werden.« Das war eine für die Menschheit recht betrübliche Erkenntnis, die auch dadurch nicht besser gemacht werden konnte, wenn man hinzufügte, daß sie dafür nur fünf Jahre Flugzeit bis zur Sonne brauche und sogar nur viereinhalb Tage bis zum Mond. Kleinlaut merkte der Journalist der Zeitung damals, 1916, dazu an, daß sich solche Berechnungen nicht in die Tat umsetzen lassen könnten, »denn dazu reicht unsere schwache Kraft nicht aus«. Heute dagegen haben die bewaffneten Menschenstaaten sich wieder auf die näher gelegenen Ziele konzentrieren müssen, und auch wenn man vor kurzem lesen mußte, daß man immer noch einen »Granatenmangel« beklagen müsse, so sei doch für baldigen Nachschub gesorgt, damit der Abnehmerstaat über ausreichend Munition verfüge, »um den Krieg zu gewinnen«. Es ist wohl ganz natürlich, daß die christliche kaukasische Menschheit, nachdem sie die ganze Gottnatur mit ungeheuren Mordmaschinen fortrasiert und abgemetzgert hat, zuguterletzt, ein Volk über das andere herfällt und sich wechselweise abtötet. Wenn man ins Endlose Kanonen und Maschinengewehre baut, so gehen sie eines Tages von selber los. (Theodor Lessing: Untergang der Erde am Geist (Europa und Asien), Hannover 1924, 100).

Gott ist tot. Wir haben ihn getötet

Die Furcht hat die Götter geschaffen; der Schrecken ist ihre ständige Begleitung; es ist unmöglich, vernünftig zu urteilen, wenn man zittert. So verehren die Menschen zitternd die leeren Idole, die sie in den Tiefen ihres eigenen Gehirns errichten. Jedermann sieht die Sonne, niemand sieht Gott. Ein leeres Phantom, das man an die Stelle der Energie der Natur gesetzt hat. (Paul-Henri Thiry d’Holbach, 1770)

Die Evangelische Kirche Deutschlands und der katholische Verband der Diözesen Deutschlands haben in einem gemeinsamen Papier registriert, daß wegen des kontinuierlichen Schwunds der Kirchenmitglieder viele der bestehenden Kirchengebäude aufgegeben werden müssen. Es wird von einer »Konversionswelle« gesprochen, die auf die Sakralbauten zukomme, da jede dritte Immobilie nicht mehr gebraucht wird. Viele der Kirchen stehen unter Denkmalschutz, manche nicht. Schon in der Vergangenheit hat es den Abriß solcher Sakralbauten gegeben, aber auch die ›Umwidmung‹ in Gestalt von Wohnheimen oder, wie in New York, in eine Discothek. Für diejenigen unter den Gemeindemitgliedern, die weiterhin regelmäßig zum ›Gottesdienst‹ gegangen sind, ist dies ein einschneidendes Ereignis in ihrem Leben. Denn man betete ja nicht nur zu ›Gott‹, sondern das kirchlich gebundene Gemeindeleben bot Geselligkeit und Hilfe für viele, die in keinem anderen Verein oder Verband Mitglied waren. Doch die vielen anderen, die im Laufe der letzten Jahre aus der Kirche ausgetreten sind, hinterließ diese Entscheidung vermutlich keine innere Leere. Oder, wenn doch, dann hat man heute die Auswahl unter vielen anderen religiös orientierten Gruppen, die christliche oder christlich verbrämte Angebote feil halten, wobei auch die so genannten nach dem New Age-Glauben ausgerichteten Vergemeinschaftungen eine Rolle spielen. Hier wurde ein ›Gott‹ gegen einen anderen ›Gott‹ ausgetauscht.

Im Jahr 2009 gab es in mehreren europäischen Großstädten eine ›Atheist Bus Campaign‹, die mit dem Slogan »There’s probably no god. Now stop worrying and enjoy your life« für eine glaubensfreie Lebensform warben. Richard Dawkins, einer der Mitbegründer und berühmter Evolutionsbiologe, sagte, er hätte statt des Wortes »probably« lieber »almost certainly« bevorzugt.Es gibt einen längeren Aphorismus von Friedrich Nietzsche, ›Der tolle Mensch‹. Er erzählt von »jenem tollen Menschen«, der am hellichten Tag eine Laterne anzündet und dazu unaufhörlich schreit: »Ich suche Gott! Ich suche Gott!« Die Umstehenden lachen ihn aus, sie gehören zu der heute immer größer werdenden Gruppe von Menschen, die der Kirche und Gott den Rücken gekehrt haben und ein ganz säkulares Leben führen. Sie sehen ›Gott‹ nur noch im ironischen Licht, als Fabelwesen. Der tolle Mensch aber ruft ihnen zu: »Wohin ist Gott? Ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet, — ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns?« Die Menschen verstehen seine Argumentation nicht, denn sie haben durch die hinter ihrem Rücken sich vollziehende Umwälzung der Produktionsverhältnisse ihre Lebenswelt so stark verändert, daß die Gottesprämisse einfach wegfallen konnte, weil sie nicht mehr zu den modernen Lebensbedingungen paßt. »Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?« ruft der tolle Mensch auf dem Marktplatz, damit nur bekräftigend, was inzwischen eine dominante Entwicklung auf dem Glaubenssektor geworden ist. Kirchen sind Anachronismen. Aber die Tatsache, daß durch die gesellschaftliche Entwicklung alle daran Beteiligten zu Mördern Gottes geworden sind, will diesen Mördern noch nicht zu Bewußtsein kommen. Den Menschen ist »die Größe dieser Tat« noch zu groß und unheimlich, um sie wirklich verstehen zu können. Das Ereignis hat sich ereignet, aber das Bewußtsein dieses Ereignisses wartet noch im kollektiven Unbewußten auf sein völliges Begreifen. »Diese Tat ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, — und doch haben sie dieselbe getan!« folgert der tolle Mensch, der mit seiner Erkenntnis den Menschen weit voraus ist und zugleich weiß, daß er sie nicht erreichen wird, da die Zeit dafür noch nicht reif, die Menschen dafür noch nicht reif sind. Der Abriß jeder Kirche aber ist ein Indiz dafür, daß irgendwann diese nüchterne Tatsache allen zum Bewußtsein kommt, und die Frage bleibt, ob die Menschen dann auf die »Libertas philosophandi« zurückgreifen werden, frei von kirchlichen Dogmen oder sektiererischen Glaubensgewißheiten und allein der ihnen durch ihre eigene Natur gegebenen Vernunft vertrauen. Unterhalten wir uns in ein paar tausend Jahren darüber.

Setzen! Ungenügend!

 »Es ist das alte Kulturproblem, daß der Mensch höher baut als er selber steigen kann. Wehe aber, wenn erst der ganze technische Meinungsapparat, wenn Radio, Kino, Zeitung dem Nutz- und Machtwillen einer herrschsüchtigen und selbstgerechten Gruppe ausgeliefert ist, dann muß eine Massenverblödung einsetzen, deren Kennzeichen gerade der technische, industrielle und kommerzielle Fortschritt ist: eine Art Verameisung«. (Theodor Lessing: Die Verblödung der Jugend. In: Illustrierte Reichsbanner-Zeitung, 2. Jg., Nr. 46 (11.11.1925), 722f.)

Eine Lehrerin in Baden-Württemberg hat sich geweigert, den Roman ›Tauben im Gras‹ (1951) in den Abiturklassen eines beruflichen Gymnasiums lesen zu lassen, weil darin das Wort ›Neger‹ auf 230 Seiten »etwa hundertmal« vorkommt. Die zuständige Ministerin entschied, daß eine zusätzliche Pflichtlektüre ausgewählt werden soll. Um ein Lehramt im Fach Deutsch ausüben zu dürfen, ist ein geisteswissenschaftliches Studium vorgesehen, in dem gelernt werden soll, Texte in ihrem historischen Kontext zu lesen. Dieser Mühsal hat sich die junge Lehrerin nicht unterzogen, sie sucht wie ein Inquisitor nach Wörtern, die in der Sprache der Heuchler in den Augen der Gesellschaft als ›anstößig‹ gelten. So wie zu Zeiten Flauberts oder zu Zeiten von James Joyce ihre Romane durch Gerichte geprüft wurden, ob darin ›unmoralische‹ Wörter oder Situationen vorkommen, also zum Beispiel das Wort ›fuck‹, so sucht man nun nach ›nicht korrekten‹ Wörtern, so als ob es Aufgabe der Gesellschaft und der Schule sein soll, der Literatur vorschreiben zu dürfen, welche Sprache zulässig ist, so als prüfe man die Schädlichkeit eines noch nicht zugelassenen Lebensmittels. Welche Funktion ein Wort hat, entscheiden der Kontext und die Rolle, die das Wort in einer Erzählung, in einem Roman oder in einer Rede spielt. Während der Zeit zwischen 1933 und 1945 diente das Wort ›Jude‹ dazu, eine ganze Bevölkerungsgruppe zunächst zu diskriminieren, als Vorbereitung für den Massenmord durch das NS-Regime. Wenn ein unter dem NS-Regime leidender Schriftsteller wie Wolfgang Koeppen nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes in einem Roman die politischen Verhältnisse im Nachkriegsdeutschland beschreibt und dabei das Wort ›Neger‹ verwendet, so hat er dies ganz gewiß nicht getan, um mit der häufigen Verwendung des Wortes zuerst die Diskriminierung und dann die Vernichtung der betreffenden ethnischen Gruppe zu bewirken. Er hat es getan, weil es Teil der gesellschaftlichen Realität war, weil die amerikanischen Besatzungstruppen heterogen zusammengesetzt waren und neben weißen auch schwarze US-Amerikaner darin vorkamen. Das Wort ›Neger‹ war damals ein gebräuchlicher Ausdruck für diese Bevölkerungsgruppe. Durch Léopold Sédar Senghor, Aimé Césaire und Léon-Gontran Damas in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde das kulturelle Befreiungskonzept der ›Négritude‹ begründet. In den USA wurde und wird das Wort ›Nigger‹ sowohl diffamierend wie auch selbstbewußt-stolz verwendet, das kommt auf den Gebrauch im Kontext einer Sprechhandlung an. So wie es Wortverwender gibt, die gezielt jemanden damit verletzen wollen, wie das mit Schimpfwörtern üblich ist, so gibt es auch Wortverwender, die damit nur dokumentieren wollen, daß ein bestimmtes Wort existiert und daß es legitim, ja sogar unerläßlich ist, daß es dann auch gebraucht wird. Zu dieser Erkenntnis ist in manchen Teilen dieses Landes weder eine Lehrerin noch eine Ministerin fähig. Setzen! Ungenügend!

Wir spritzen uns schlank

Am Gartenzaun

Frau Hebestreit und Frau Pannemeyer,  zwei hannoversche Damen, unterhalten sich.

Frau Hebestreit: Haben Sie schon von Ozempic gehört?

Frau Pannemeyer: Ach, gehen Sie mir los mit diesen türkischen Badeorten, wir waren ja schon häufiger in der Türkei, aber die Preise, die da jetzt verlangt werden. Desaströs! Da können wir auch gleich wieder an den Gardasee fahren. Und solange dieser Erdal da an der Macht ist, wollen wir diesen Verbrecher auch nicht mit unserem Geld unterstützen, obwohl er ja kränkeln soll.

Frau Hebestreit: Nein, nein, Ozempic ist ein neues Heilmittel, das in den USA ganz groß herauskommt. Es ist ein Wunder, mit einer einzigen Spritze im Monat können Sie ganz leicht abnehmen. Es geht rasant. Ein Superschlankmittel! Und der Hersteller rechnet mit Milliarden!

Frau Pannemeyer: Ach so, na ja, FDH, hat man früher gesagt, aber das kümmert die jungen Leute auch nicht mehr. Unser Bubi kämpft täglich mit den Pfunden, es ist ein schwerer Kampf, aber bisher hat er ihn verloren.

Frau Hebestreit: Es ist halt noch ein wenig teuer, eintausend dreihundert Dollar muß man für eine Spritze bezahlen, das können sich nur die wenigsten leisten, aber die Hollywood-Schauspielerinnen haben das Geld übrig und lassen sich auch schon regelmäßig schlankspritzen.

Frau Pannemeyer: Der Amerikaner an sich ist gut beieinander, also, er ist dick bis fett, und, wie ich gehört habe, haben die Hälfte der Leute da Zucker, da wäre es schon gut, wenn man bei der anderen Hälfte mit einer Schlankmachspritze gleich ganz verhindert, daß es so weit gar nicht erst kommt, nüch?

Frau Hebestreit: Da haben sie recht, da müßten die Krankenkassen dann dafür sorgen, daß dieses Ozempic billig über die Ladentheke geht und jeder davon etwas abbekommt. Siebenunddreißig Millionen Amerikaner leiden an Diabetes, also praktisch jeder zehnte, das gibt es sonst nirgends auf der Welt. Und wissen Sie, ich habe mich informiert, bei uns in Europa sind es mittlerweile zwei Drittel aller Erwachsenen, die übergewichtig oder fettleibig sind, das sind dreiundsechzig Prozent der Männer und vierundfünfzig Prozent der Frauen.

Frau Pannemeyer: Du meine Güte, woher haben Sie denn alle diese Zahlen, und dann auch gleich noch parat, ohne nachzuschauen!

Frau Hebestreit: Ich habe in der Schule gelernt:  Wir leben in einer Informationsgesellschaft, und ich informiere mich eben. Aber was ich Ihnen noch sagen wollte:  Wußten Sie, daß es noch ein zweites Wundermittel gibt, daß man in Amerika erfunden hat und daß jetzt neben der Abnehmspritze auch noch als Heilmittel angeboten wird: Wegovy!

Frau Pannemeyer: Hören Sie auf, das klingt mir aber sehr russisch. Mit diesem Rasputin wollen wir erst recht nichts zu tun haben.

Frau Hebestreit: Medikamente haben immer komische Namen. Viagra! Botox! Doch Wegovy verringert den Appetit und verlangsamt die Verdauung und wird neben Ozempic als Ergänzung angeboten.

Frau Pannemeyer: Das geht aber ins Geld. Wunder gibt es immer wieder, aber wer kann zwei Wunder auf einmal bestellen und bezahlen?

Frau Hebestreit: Ja, das stimmt. Deshalb gibt es in Amerika auch die, ach Gott, wie schimpft sich das gleich, die ›Body positivity‹-Bewegung. Unser Jüngster hat es mir beigebracht. Die Sängerin Lizzo ist eines der Werbegesichter, oder sollte man besser sagen: Werbekörper? Sie ist ganz schön mollig, wenn nicht mehr, also unser Jüngster ist ganz hin von ihr. Er möchte sie am liebsten heiraten, aber er ist ja doch erst zwölf. Und man muß auch sagen, diese Negerdamen sehen auch wenn sie ordentlich dick sind immer noch besser aus als unsereins aus unseren Kreisen. Das liegt an der Haut, an der Farbe, und die ist auch nicht schwarz, die ist kaffeebraun, also großartig, das Fett verteilt sich da ganz anders und macht einen besseren Eindruck als bei uns Käsegesichtern. Na ja, jedenfalls sind die Fettpositiven stolz auf ihr Fett und sagen es auch vor allen Leuten. »Ihr seid gut, so wie ihr seid!« Das Wort Fett darf man in Amerika eigentlich gar nicht mehr sagen, wir haben hier in Deutschland früher vollschlank zu den Dicken gesagt. Oder nein, die Dicken haben es von sich selber gesagt, etwas verschämt waren sie schon. Aus den Kinderbüchern von Roald Dahl hat jetzt sein englischer Verlag das Wort fett gestrichen, auch das Wort häßlich wurde entfernt.

Frau Pannemeyer: Das ist ja wie beim Vogel Strauß, der den Kopf in den Sand steckt. Daraus kann nichts Gutes kommen.

Frau Hebestreit: Freilich, wenn man sich das Leben schönredet, da kann man sich das Leben auch schönfuttern, mit Pommes Fritz und Hackfleischbrötchen und einem halben Liter Cola. Aber da kommt nun Hilfe durch die Abnehmspritze Ozempic und den Appetitzügler Wegovy. So gleicht sich dann alles wieder aus, wo man auf der einen Seite gesündigt hat, wird man dann mit einer Spritze wieder auf den rechten Weg gebracht.

Frau Pannemeyer: Für uns kommt das alles zu spät, aber für unseren Bubi wird das wohl noch was werden, wenn nur die Krankenkassen mitspielen und es das dann auf Krankenschein gibt. Er gibt sich ja so viel Mühe, der Bubi, aber die Versuchung ist zu groß.

Frau Hebestreit: Ja, aber sagen Sie mal, warum schicken Sie ihren Bubi nicht in einen Turnverein, da kann er doch was für seine Figur tun?

Frau Pannemeyer: Schön wär’s. Wir kriegen ihn nicht einmal dazu, mit uns einen Waldspaziergang zu machen. Er bleibt lieber auf seinem Zimmer und spielt mit seinen elektronischen Geräten.

Frau Hebestreit: Also unsere Älteste, die Biggi, die erzählt mir immer von ihren Studien, sie studiert ja auf Arzt, und sie sagt, das mit dem Fett kommt daher, daß früher, also ganz früher, die Menschen kaum etwas zum Essen gefunden haben, und wenn sie dann etwas gesammelt und erjagt hatten, dann haben sie sich den Magen vollgeschlagen, weil man nie wußte, wann es wieder etwa zum Essen geben wird. Besonders alles Fette und Süße wurde gern genommen. Und nun, sagt die Biggi, steht der Mensch heute plötzlich in einem hellerleuchteten Supermarkt und rings um ihn herum liegen all die schönen Sachen, die man für wenig Geld kaufen kann. Unser Gehirn, sagt die Biggi, hat aber mit der Entwicklung nicht Schritt halten können, und so futtern wir wie die Steinzeitmenschen uns ein Bäuchlein an und glauben wie damals, daß man nie wissen kann, wann es wieder ausreichend Nahrung geben wird.

Frau Pannemeyer: Oh je, das habe ich schon so oft mit unserem Bubi erlebt, wenn wir einkaufen gegangen sind. Ständig diese Quengeleien und ich mußte ihm immer wieder die Tüten mit den Süßigkeiten aus der Hand reißen, manchmal hat er heimlich noch im Supermarkt die Tüte aufgerissen und sich das Zeug hineingestopft. Aber eine Möhre, wenn ich die ihm zuhause hinhalte, da beißt er nicht an, die läßt er glatt zurückgehen. Es ist ein Kreuz mit diese Kinder.

Frau Hebestreit: Trösten Sie sich damit, daß, wenn er groß geworden ist und eigene Kinder hat, dann wird er schon sehen, was das für ein Spaß ist, wenn man welche hat. Na ja, war wieder nett, mit Ihnen zu plaudern. Jetzt muß ich aber los, mein Mann erwartet das Mittagessen pünktlich um zwölf auf dem Tisch. Denn da sind die Kartoffeln am heißesten.

»Das haben natürlich Männer gemacht!«

»Bubi!« . . . dies Wort, aus dem Munde meiner Vaterschwester Fanni war meiner Jugend Qual. Sie war die Vorsitzende des Vereins Frauenwohl, kämpfte für aktives und passives Wahlrecht, für die Gleichberechtigung der Frau, verachtete die Männer und ließ ihre Verachtung an dem Jüngsten aus, ihrem heranwachsenden Neffen. »Das haben natürlich Männer gemacht«, sagte sie; und dann war die Angelegenheit abgelehnt. (Theodor Lessing: Bubi, 1929)

Das Telefon läutet für Politiker immer dann, wenn ein Journalist meint, er müsse etwas O-Ton in seinen Artikel bringen. Als ein berühmter Choreograf unlängst einer Kritikerin Hundekot ins Gesicht schmierte, lag der Ernstfall vor. Es klingelte bei allen Parteien des hannoverschen Raums. Auch zwei Damen aus zwei Parteien mußten ›Stellung nehmen‹. Da bleibt keine Zeit zum Überlegen, es muß schnell gehen und wie aus der Pistole geschossen eine Meinung zum Tagesthema hervorgebracht werden. Die Dame der SPD sagte: »Das ist entwürdigend, insbesondere für eine Frau«. Insbesondere? Es ist, als ob die Lokalpolitikerin aus dem Nichts eine dualistische Empfindsamkeitsideologie erfunden hätte. Man findet den Zugang zu einer solchen Äußerung nur, wenn man ein in der Dame unbewußt agierendes Axiom zugrunde legt. »Männer sind Schweine.« Das ist zwar schlicht gedacht, aber eingängig, und es hilft dabei, zu verstehen, weshalb es »insbesondere für eine Frau« entwürdigend sein soll, Fäkalien im Gesicht ertragen zu müssen. Denn Schweine mit ihren großen Schnauzen wühlen ja gewohnheitsmäßig im Schmutz, wo sie Eßbares suchen. Sie kennen es nicht anders, es ist ihr Lebensstil. Bei der Schweinepopulation unterscheidet man zwischen dem Eber und der Sau, die, wie man in Wildschweingehegen gut beobachten kann, wie ihr männliches Pendant mit der Schnauze im Schlamm wühlt und dort nach Eicheln gräbt. Doch wir Menschenschweine sehen uns als etwas Besseres an im Vergleich zu den ordinären Schweinen, und Frauen, die etwas auf sich halten, wollen sich heute auch dadurch von ihren konträren Geschlechtsgenossen unterscheiden, indem sie, wenn der Journalist bei ihnen anklingelt, sagen:  »Das ist entwürdigend, insbesondere für eine Frau«.

Die Vorsitzende der grünen Partei war im Vorteil, denn sie hatte Zeit, um sich den Vorfall durch den Kopf gehen zu lassen, und so schrieb sie auf ›Facebook‹: »Leider müssen wir auch hier wieder über das Patriarchat und toxische Männlichkeit sprechen.« Wie man sieht, ist die Zeitverzögerung nicht immer ein Vorteil bei der Urteilsbildung, denn hier behilft man sich mit dem Einschnappen eines Mechanismus, der bereits vorhanden ist und bei passender Gelegenheit ausgelöst wird.  Wir wissen seit Adam Smiths ›Theorie der ethischen Gefühle‹ (1759), daß der Mensch zwar als egoistisch gilt, aber nicht ausschließlich, »es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen«. Ein Prinzip dieser Anteilnahme ist das Mitleid, also das Gefühl, »das wir für das Elend anderer empfinden, sobald wir dieses entweder selbst sehen, oder sobald es uns so lebhaft geschildert wird, daß wir es nachfühlen können.« Wer die Würde des Menschen auf die eine Hälfte des Menschengeschlechts einschränkt, indem er der anderen Hälfte gewissermaßen eine reduzierte Empfindsamkeit unterstellt, dokumentiert zwar das Mitleid mit der geschädigten Person, aber nur auf Kosten einer inhumanen Attitüde. Wer bei einen Einzelfall, der individuell zu bewerten ist, sogleich mit einem schematischen Aburteilungsmechanismus reagiert (Patriarchat, toxische Männlichkeit), läßt das Individuum verschwinden in einem soziologischen Phantom in dem alle Vorurteile Platz haben, die man im Laufe seiner eigenen ideologischen Mentalitätsgeschichte angehäuft hat. »Das haben natürlich Männer gemacht!«

Den Text ›Bubi‹ können Sie vollständig hören, gelesen von Ernst-August Schepmann, auf dieser Website unter der Rubrik:
›Audio – »Hallo, hier spricht Theodor Lessing«

Eins in die Fresse, mein Herzblatt!

Einer der »erfolgreichsten Choreografen der Welt und seiner Generation« (Hannoversche Allgemeine Zeitung, 14.02.2023) entnimmt seiner Tasche einen Papierbeutel mit dem Kot seines Dackels Gustav und drückt diesen einer Ballettkritikerin der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹ ins Gesicht.  So geschehen in den Räumen der hannoverschen Staatsoper. Die letzten Kritiken waren durchweg negativ ausgefallen, der Künstler fühlte sich davon dermaßen gekränkt und verletzt, daß er, wie er später eingestand, »eine schändliche Handlung im Affekt und eine Überreaktion« ausführte. In der Öffentlichkeit ist man sich einig, daß diese Tat nur Ekelreaktionen auslösen kann, und man könnte einfach abschließend sagen: So etwas tut man einfach nicht. »Die meisten Leute auf der Welt essen für kein Geld der Welt Gebäck, das die Form von Hundehäufchen hat« (Steven Pinker: Wie das Denken im Kopf entsteht, München 1998, 468). Stimmen aus der Lokalpolitik bewerteten den Angriff als entwürdigend, »insbesondere für eine Frau« (SPD), so als würde einem Mann die von der Natur eingebauten Abwehrinstinkte davor bewahren, sich vor Hundekot nicht zu ekeln, und das Urteil einer grünen Politikerin begnügte sich damit, zu konstatieren, daß es sich hierbei um das »Patriarchat und toxische Männlichkeit« gehandelt habe. Für den Feuilletonchef der ›Hannoverschen Allgemeinen Zeitung‹ gab es daher nur eine Lösung: Berufsverbot, und das gleich »überall«, also weltweit. Es kam, wie es kommen mußte: der Choreograf wurde mit sofortiger Wirkung suspendiert und die Staatsoper löste sodann seinen Vertrag, behielt sich aber das Recht vor, seine Inszenierungen weiter auf die Bühne zu bringen.

Es gibt seit vielen Jahren die Tradition des Tortenwerfens. Die gerechte Strafe für den Übeltäter wäre die: auf seine Kosten werden Sahnetorten hergestellt, die im übrigen nicht aus Mehl und Sahne bestehen, sondern aus Sägemehl und Seife, da der Flug einer geworfenen konventionellen Torte wesentlich ungünstiger verläuft als der aus Sägemehl und Seifenschaum. Und dann, vor Vorstellungsbeginn, stellt sich der Choreograf vor den Vorhang und ein per Computer ausgewähltes Mitglied des Publikums betritt die Bühne und wirft ihm die Torte ins Gesicht. Mit dem vorweg garantierten Tortenwurf wird das Haus immer voll sein, und darum ging es ja auch eigentlich, und gleich nach dem Eklat raunte die Lokalzeitung denn auch: »Man sollte sich beeilen, die Vorstellung ist fast ausverkauft.« (HAZ, 14.02.2023). Der Stanley Kubrik-Film ›Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb‹ sollte mit einer zehnminütigen Tortenschlacht enden, und diese wurde auch innerhalb von zwei Wochen abgedreht, aber bei der Endmontage entschied der Regisseur, diese Sequenz wegzulassen, weil es die Balance des Film gestört hätte. Wie schade! Man hätte diese Szene als Kurzfilm herausbringen sollen. Man sieht darin (so Georg Seeßlen und Ferdinand Jung in ihrem Buch ›Stanley Kubrik und seine Filme‹, Marburg 2008, 156), wie der russische Botschafter, der amerikanische Präsident und andere Anwesende im ›War Room‹ sich mit Torten bewerfen. Das gestörte Rechtsempfinden wird durch nichts friedlicher wiederhergestellt als durch einen herzhaften Tortenwurf. Niemand wird verletzt und gekränkt und der Sünder dokumentiert vor allen Leuten, daß er nicht nur seine Tat bereut und damit als ganze Person in aller Öffentlichkeit Reue empfindet, sondern der Tortenwurf versöhnt auch alle Beteiligten im Medium des Humors.

Seien wir mehr als nur Menschen

Der Mensch wird, wenn die Erde keine Möglichkeiten der Ausbeute mehr bietet, wohl auch fremde Sterne erobern und besiedeln. Man muß wie von einem fernen Stern mit Augen eines Überirdischen auf die Erde blicken und dann sagen: Seien wir mehr als nur Menschen. Wir erreichen das Seiende niemals, so lange wir nur Menschen sind. (Theodor Lessing)

Die ›Kathmandu Post‹ berichtet in ihrer neuesten Ausgabe, daß es in dieser Bergsteigersaison zu langen Warteschlangen auf dem Everest-Südgrat kommen könne, da dieses Jahr mit einer weiteren »Rekordsaison« an Aufstiegen gerechnet werden muß. Das nepalesische Tourismus-Ministerium vergibt jährlich so genannte Permits, die zum Aufstieg auf den Mount Everest (mit 8. 848 Metern der höchste Berg der Welt) oder in die  Annapurna-Gebirgskette (8091 Meter) berechtigen. Während jedes Jahr auf dem gefährlichen Weg in die Höhe auch erfahrene Bergsteiger dabei ihr Leben verloren haben, ist die jetzt während des Aufstiegs explodierte ›Starship‹-Rakete des Multi-Milliardärs Elon Musk ohne Menschenverluste verglüht. Eine funktionstüchtige Version dieser bisher größte jemals gebauten Rakete soll einmal bis zu 100 Personen und bis zu 150 Tonnen Fracht in Richtung Mond und Mars transportieren. Auch ›Weltraumtouristen‹ sollen Platz in dieser Rakete finden. Das Bergsteigen oder die Weltraumfahrt sind bisher nur für wenige Menschen auf dieser Erde bevorzugte Fortbewegungsarten, um über die bescheidene anthropologische Grundausstattung hinauszugelangen und sich etwas anzumaßen, was im genetischen Programm nicht vorgesehen ist. Dafür gibt es einen aus dem militärischen Bereich stammenden Begriff: das Himmelfahrtskommando. Soldaten stellten sich während einer Kampfhandlung zur Verfügung, um in einer schwierigen Lage zu einem erfolgreichen Durchbruch zu kommen und den nachfolgenden Truppen den militärischen Sieg zu ermöglichen. Dafür opferten sie sich, mehr oder weniger freiwillig, auf. Mit dem Besteigen von lebensgefährlichen Berg-Giganten und der organisierten Weltraumfahrt hat die menschliche Kultur die ihr einbeschriebene Hybris anschaulich dokumentiert. Voltaire ließ in seiner satirischen Erzählung ›Mikomégas‹ (1752) einen außerirdischen Besucher vom Stern Sirius die Erde aufsuchen. Mikomégas ist vierundzwanzig Meilen groß und von überragender Intelligenz. Er kommt mit den winzig kleinen Menschen in Kontakt und verspricht ihnen, ein philosophisches Handbuch zur Orientierung zu schreiben. Er übergibt später dieses Buch dem Sekretär der Akademie der Wissenschaften, aber als der es aufschlägt, sieht er nur weiße Seiten.

»Du bist ja eine richtige Drecksau!«

Wenn man auf YouTube amerikanische Serien im Original mit englischen Untertiteln anschaut, erscheint manchmal dieses Zeichen: [ _ ]. Dann hat der Schauspieler gerade wieder die automatisch eingebaute Heuchelei-Löschtaste ausgelöst, denn Wörter wie Slut dürfen als Buchstabenfolge auf dem amerikanischen Musik- und Videokanal nicht erscheinen. Doch manches entgeht der voreingestellten Lösch- und Sprachkastriermaschine. So darf wanker passieren.

Weit gefehlt, wenn man dies nur auf die amerikanischen Produktionen bezieht, denn wenn man auf deutsch die deutsche Serie ›Kir Royal‹ (1986) ansieht und Baby Schimmerlos zu seinem Freund und Konsul Hubert Dürckheimer sagt: »Ja, du bist ja eine richtige Drecksau!«, dann springt an die Stelle dieses schönsten aller deutschen (und bayerischen) Schimpfworte das Auslassungs-Zeichen: [ _ ], das eigentlich korrekt so aussehen müßte: […]. Im Englischen gibt es dafür das Wort: Cant. Lord Byron brachte es mit dem gleichlautenden Wort cunt in einen Zusammenhang in einem Brief. »But the Cant is so much stronger than Cunt – nowadays« G. G. Byron to Douglas Kinnaird, 26.10.1819. Cant heißt auf deutsch: Heuchelei.