Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog
Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.
Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«
Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.
Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.
Die Monotonisierung der Welt
Wenn der ›David Hume Tower‹ in Edinburgh »mit Rücksicht auf Empfindlichkeiten von Studierenden« (F.A.Z v. 14.9.2020) umbenannt worden ist (David Hume wurde als Rassist enttarnt) und in Ulm künftig die expressionistisch gestaltete Melchior-Figur (als Teil der Heiligen Drei Könige) nicht mehr zu sehen sein wird, weil das Kunstwerk mit »wulstigen Lippen« (F.A.Z. v. 8.10.2020) dargestellt wird, dann darf man dies als neuen Höhepunkt der Identitäts-Politik feiern, unter dem Signum ›Cancel Culture‹ sich in der politischen Zielrichtung weiter vereindeutigend. Es wird erst ein Ende haben, wenn alles vereinheitlicht sein wird, wenn die ›Monotonisierung der Welt‹ (Stefan Zweig, 1925) die kulturelle Stufe erreicht hat, wo es keine markanten Merkmale des Menschlichen mehr gibt. Wulstige Lippen als rassistisches Stereotyp? Für manche Zeitgenossinnen ist es ein erstrebenswertes Ideal und das Mittel dazu heißt Botox.
Na, dann ist ja alles klar!
Sagt ein Maskenträger zum anderen Maskenträger: »Die Maske schützt mich nicht, aber ich schütze durch das Tragen der Maske dich!« Erwidert der andere Maskenträger: »Die Maske schützt mich nicht, aber ich schütze durch das Tragen der Maske dich!« Nach einem Moment philosophischen Staunens zucken beide die Schultern und sagen: »Na, dann ist ja alles klar!« Sagt ein Maskenträger zum anderen: »Ich trage die Maske ganz gerne.« Sagt der andere Maskenträger: »Und wie oft reinigst du sie?« Erwidert der andere: »Na, das ist doch praktisch wie ein Winterschal, also nach dem Ende der Saison.« Sagt der andere Maskenträger: »Eigentlich sollte man sie gelegentlich waschen, aber da Viren sich im Größenbereich von etwa einhundert Nanometer bewegen, kann man sie deshalb nicht mit Feinstaub oder Tröpfchen vergleichen. Daher bleiben große Partikel wie Bakterien in einem Vlies hängen, die im Nanobereich schwirrenden Viren aber gehen glatt durch.« Sagt der andere Maskenträger: »Igitt, dann habe ich ja die ganze Zeit meinen kleinen Schnupfen direkt vor der Nase!« Erwidert der andere Maskenträger: »Die Maske schützt ja auch nicht dich, aber du schützt mich!« Nach einem Moment erneuten philosophischen Staunens sagen beide fast gleichzeitig: »Na, dann ist ja alles klar!«
Auf wohlbekannte Weise
Wenn nun fast die ganze Welt zuhause hockt wie früher der Steinzeitmensch in seiner Höhle, ist endlich ausreichend Zeit zur Verfügung, um das zu tun, was die meisten von uns in der Schule gehaßt haben: Mathematik. Wir sind keine logischen Wesen und sind nur sehr raffiniert, wenn es um das Berechnen unserer Interessen geht.
Täglich wird man jetzt mit neuen Zahlen zum ›Corona‹ benannten Virus konfrontiert, und es scheint, als sollten diese Zahlen uns überzeugen, dass wir uns auf etwas ganz Katastrophales einzustellen haben. Die Verdoppelung von Todesopfern an einem Tag läßt keinen kalt. Das ist die eine Welt, die Welt der absoluten Zahlen. Es gibt aber die Parallelwelt der absoluten Häufigkeit der Zahlen, die bildhafter und ehrlicher ist. Wir sind von Natur mit kollektiver Zahlenblindheit geschlagen und scheitern im Alltag an der Wahrscheinlichkeitstheorie.
Warum haben Menschen mehr Angst vor dem Unbekannten (Terroranschlag oder Virus) als vor einem Autounfall (der viel häufiger vorkommt, häufiger auch als ein Flugzeugabsturz)? Weil es das große Unbekannte ist, und die Menschen große Gefahren und zahlreiche Opfer (im Winter 2017/ 2018 starben allein in Deutschland 25. 000 Personen an einem ›normalen‹ grippalen Infekt) ruhig hinnehmen und nicht in Panik geraten, weil es zur Gewohnheit geworden ist und weil es, wie es der Wahrscheinlichkeitsmathematiker Jeffrey S. Rosenthal (Struck by Lightning. The Curious World of Probabilities, 2005) ausgedrückt hat, »auf wohlbekannte Weise geschieht«.
Heute, am 23. März 2020, gab es weltweit 350.536 statistisch erfaßte Fälle einer Corona-Erkrankung, von diesen erholten sich 100.182 und 15.327 starben daran. Es muß wohl nicht eigens betont werden, dass jeder einzelne Todesfall für sich genommen eine schreckliche Tragödie ist. Aber es geht hier nicht um das ganz natürliche Mitgefühl mit den Opfern und ihren Angehörigen, es geht um das Ausrechnen der Wahrscheinlichkeit, um eine Zukunftsprognose für die Überlebenden. Mehr als 96% der Infizierten haben sich innerhalb einer Woche wieder erholt. Die Mortalitätsrate beträgt 0,8%.
Als man die Zahl der Besucher von öffentlichen Veranstaltungen auf die Zahl 1000 begrenzte, erlag man dem magischen Zauber der Zahl, aber das Virus folgt dem Gesetz der großen Zahl und daher ist es für die Reproduktion entscheidend, ob die Zahl der Virusträger im Mittel wächst oder kleiner wird. Das erreicht man nicht durch die willkürliche Festlegung einer Obergrenze, denn natürlich, wie man wunderbarer Weise nun erkannt hat, reproduziert sich das Virus auch bei wesentlich kleineren Menschenansammlungen.
Die »Wahrscheinlichkeitsblindheit« (Massimo Piattelli-Palmarini: Inevitable Illusions. How Mistakes of Reason Rule Our Minds, 1994) der Menschen erklärt, weshalb man mental unfähig ist, Risiken anhand von Zahlen abzuwägen. Und so glaubt man immer aufs Neue: Ist ein Ereignis wiederholt als Thema im Tagesgedächtnis, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass es auch eintrifft. Wahrscheinlichkeitswerte für ein Einzelereignis ausrechnen zu wollen, ist ein vergebliches Unterfangen. Die mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie wurde im 17. Jahrhundert entwickelt; bis sie im Bewußtsein dieser und kommender Generationen angekommen ist, werden wohl noch einige Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende vergehen.
Revolutionär, nicht Revolution machend
1909 beschrieb der sozialdemokratische Philosoph Karl Kautsky die SPD in seinem Buch ›Der Weg zur Macht‹: »Die Sozialdemokratie ist eine revolutionäre, nicht aber eine Revolutionen machende Partei.« Fünfzig Jahre und zwei Weltkriege später trennte sich die Partei 1959 im ›Godesberger Programm‹ von allen revolutionären Floskeln. In Hannover wollen Ulrike Strauch und Adis Ahmetovic die lokale Parteiorganisation erneuern. Sie wollen Zuhören (in letzter Zeit ein sehr beliebtes Modewort) und die SPD dem Publikum als »geistige Heimat« anbieten, wozu denn auch gute Laune und Werte (immer wieder ein sehr beliebter Modebegriff), sogar christliche, gehören sollen. Der Ortsverein als »kultureller Treffpunkt«, die Partei als »geistige Heimat«. Aber wird es ausreichen, gute Laune und Stimmung zu verbreiten und die Partei als »cool« zu bezeichnen? Sind das nicht Floskeln aus dem Bereich des kommerziellen Marketing? Müßte man sich nicht zurückbesinnen auf das, was die deutsche Sozialdemokratie ausgezeichnet hat: die Bildung, und damit die Lektüre der Schriften, die erst das geistige Fundament der Partei gebildet haben. Ganz im Sinne von Friedrich Engels, der einen der Gründungsväter der SPD, August Bebel (Autor des Bestsellers ›Die Frau und der Sozialismus›) beraten hat: »Die deutsche Arbeiterbewegung ist die Erbin der deutschen klassischen Philosophie.«
Hellhörige Hellseher
Einem Bankdirektor verschreibt sein Hausarzt eine Wanderkur, denn dann würde seine Nervosität schnell verschwinden. Auf der Wanderung hört er mehrfach die Stimme seiner Ehefrau, bis er in seinem Rucksack ein ihm unbekanntes Gerät entdeckt, aus dem es schallt: »Ja, ja, Ludwig, da staunst du? Eine Menge Geld hat das Ding gekostet. Eine ganz neue Erfindung: das tragbare, drahtlose Telefon in Miniaturformat.« Am Ende der Geschichte wirft der ständig in seiner Ruhe gestörte Bankdirektor das drahtlose Taschentelefon in einen Bergsee. (Gustav Hochstetter: Schweigend wandern! In Prager Tagblatt, 38. Jg., Nr. 225, 17.8.1913, 3f.)
Gustav Hochstetter (geboren 1873, 1944 ermordet im KZ Theresienstadt), Schriftsteller. Werke u. a.: Almanach der Lustigen Blätter, 1908; Mein buntes Berlin. Humoresken, 1911; D-Zug-Geschichten. Humoresken, 1913; Feldgraue Humoresken, 1916; Lachendes Blond. Ein Brevier der Lebensfreude, 1921; Ein bißchen Freude. Vorträge für Damen und Herren, 1930.
»Der Mensch wird bald als Phantom überall zugleich sein. Jedermann wird jederzeit Alles sehen und hören können. Man zieht einen kleinen Spiegel hervor und erblickt darin Alles. So kann man auch selber als handelndes sprechendes Bild von jedem Orte der Erde aus sichtbar und hörbar gemacht werden.« (Theodor Lessing, 1930)
Kettensäge oder Borkenkäfer
1998 ließ Gerhard Polt in dem Monolog ›Rückblickserwartung‹ einen beschäftigungslosen Bootsverleiher sagen: »Ich bin ein Mensch, der, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich blicke gern zurück. Es gibt Menschen, die schauen immer nach vorn oder manche auch hinunter, ich für meinen Teil schaue zurück, das heißt, ich blicke zurück, weil lange schaue ich mir das nicht mehr an, was da zurückliegt. Wenn ich zurückblicke zum Beispiel, dann muß man sagen, die letzten Jahre waren äußerst erfolgreich, nicht zuletzt für den Borkenkäfer. Allerdings, was dem Borkenkäfer die Zukunft bringen wird, wage ich kaum auszusprechen, weil wenn einmal kein Wald mehr da ist, dann wird’s happig für ihn, und er mag halt gern einmal das Holz.« G. Polt: Rückblickserwartung. In: ders.: Circus Maximus. Das gesammelte Werk. Geschichten, Stücke, Monologe und Dialoge. Gesammelt u. eingerichtet von T. Polt, Zürich 2002, 677f. (677).
Der Borkenkäfer folgt seiner Natur, er kann nicht anders als Borkenkäfer sein; die Kettensägen, die gerade in Bolivien und Brasilien den Regenwald auslichten, und die sie bedienenden Menschen, folgen den Anordnungen ihrer Regierung. Und wieder zeigt sich, wie der Mensch mit seinen Werkzeugen, mit seiner Kultur, der Natur überlegen ist, denn man erreicht sein Ziel ja viel schneller mit Kettensägen als mit Borkenkäfern.
Mein schönstes Sommererlebnis
Dieser Text wurde inspiriert durch einen Artikel in der FAZ v. 23. Juli 2019: ›Viele können nicht lesen, etliche nicht rechnen. Berliner Grundschüler schneiden bei Vergleichstests desaströs ab.‹ »In Deutsch lagen 52 Prozent der Schüler auf einem unterdurchschnittlichen Leistungsniveau.« Und auch inspiriert durch aufgezwungene Erfahrungen mit einer plötzlich defekten Waschmaschine.
Also ick war dann aleene zu Haus weil meine Mutta eben mal Sigaretten holen jejangn is und se hat sich bis heute vaspätet aber det wollte ick jetz jaarnich erzähln. Se hatte de Waschmaschine anjestellt un ick sollte uffpassn wat ick denn och jemacht habe aber denn uf eenmal piept et so un hört janich mer uff un ick wer so langsam navös und hab anne Schalter jedreht und denn uff eenmal war et janz still und det Ding hat keen Ton mer vonsich jejeben und ick hab ma ne bißken jegrault. Da hab ick denn nochma anne Apatur jedreht und haste nich jesehn is et Viech anjesprung und drete noch ne runde also so wat. dann is et aber wider anjehaltn un ick sa uffe anzaige e18 also so wat mit buchstabn und zahn. Nu hate meine Mutta mir jesacht ick sollte bei ne ausfahl von de jeräte inne jebrauchsweisung guckn und et ha ick den och jemacht. Und hatt denn eener jeschriebn das det anne logenpummpe liegn kann das dei vastopft is un das man ne klappe öffn mus. abba denn is et damit nich jetan denn da is n entlerungschlauch den muß ma haltn un det wasser abloofen lassn was ick den och jemacht habe aber det hat jedauert det war wi in kuhstall mit die küe wo ma nen eimr unterstelln mus und den leuft die schose. nu war ne bulenhize inne küche un det waser is mir och ausgelaufn aber von mich aus aus kopff. denn war alet leer un nu hab ich denn det janze nochma von vorrn hab loofen lassn aber det viech hat doch jlatt wdier dise e18 anjeblinkt un denn hat es mich jereicht un ick hab ausm schrank eene borzelantasse jenommen un jejen de wand jeschmissn vor erger. De wäsche war aba de janze seit drinne inne washdromel un et war allet zu un ma konnt nich rankommn. Aso hab ick wida de jebrauchsleitung jenomen und da stand denn ma solte den ablaufschlauch vom siffon ziehn wegn de verstopfung un so. Dazu muste ick aba en schlitzdreha schrauba habn un sowatt liecht ja nich so einvach herum. Aso must ick inne werkzeuchkiste suchn un fand ich denn son ding un denn jing ooch det janz jut weil ich ja klain bin und bin unta de spüüle jekrochen und hab det jelöst. Un denn wieda den durchjang von et janze und wat sol ick sagn det vafluchte jegrät hat wieda jepiept wie jet nich mehr und e18 mich jezeigt und ick bin janz auser mir jekommn und wollt det jerät ausm fensta werfn aber ma jlobt ja nich wie shwer sowat is. Un denn jab es tatsechlich nochne dritte sache. det klang janz jefährlich. Ma hate ja schon von ne vabrühungsjehar jewarnt bei uffziehen von disse bumbe aba nu wurds jans jemütlich elecktrzizität ausse aquastoppschalta! Det hätt ich och selba nich hinjekriecht det iss sauschwer sum srauben un da hab ick denn mein onkel mit mein schmartfone anjerufn und is och jleich jekomm und dann kam nach dem nächstn call de saniteter und wir sin dan beede ins jrankenhaus jefahrn det wat toll mit plaulicht un allet und denn wurde meen Onkel vonne ertzte pehandelt und is er och heute noch dort.
Det war mein schönstes Sommererlepnis!
Emil Katschinke, Baalin
Friedrich II. fragt Jürgen Habermas
»Jürgen Habermas hat in den vergangenen Jahren an einem bald erscheinenden, 1700 Seiten starken Buch zur europäischen Geistesgeschichte gearbeitet […], des im Druck befindlichen Werkes ›Auch eine Geschichte der Philosophie‹.« (Miloš Vec, FAZ. 26.6.2019)
»Für die Widmung des sechsten Bandes von Christian Wolffs ›Naturrecht‹ bedankte sich Friedrich II. bei dem Autor mit der Frage, ob nicht ›mit weniger Worten die nötigen Wahrheiten der Vernunft‹ angenehmer zu vermitteln wären.« (Friedrich Vollhardt, FAZ, 28.6.2019)
Dann brach die Stimme mit einem Klageton ab
Am 12. Juni 1936 ist Karl Kraus im Alter von 62 Jahren gestorben.
Am 20. Juni 2019 ist Peter Matić im Alter von 82 Jahren gestorben.
Im Jahr 2003 las Peter Matić eine von mir eingerichtete zehnteilige Sendung (›Fackellichter‹) mit Texten (Glossen, Reden und Satiren) von Karl Kraus im Funkhaus des Norddeutschen Rundfunks in Hannover. Bis heute hat sich kein Hörbuchverlag gefunden, diese Lesung in einer Box herauszubringen.
Karl Kraus wurde am 28. April 1874 als Sohn eines Papierfabrikanten in einem kleinen böhmischen Dorf. Sein ganzes Leben verbrachte er als ökonomisch unabhängiger Schriftsteller in Wien. Die am 1. April 1899 von ihm gegründete Zeitschrift ›Die Fackel‹ erschien bis zu seinem Tode am 12. Juni 1936.
Worüber schrieb Karl Kraus?
Es war das Alltagsgerede in der Stadt Wien, die in den Zeitungen gedruckten Phrasen und Geschichten, Stimmen der Banalität und Trivialität, die er in der ›Fackel‹ abdruckte und polemisch und satirisch kommentierte. Er war kein Romancier und kein Erzähler, er war ein Schriftsteller im buchstäblichsten Sinne des Wortes. Er stellte die Schrift, das Geschriebene und Gedruckte der Zeitungen, die öffentliche Meinung in eine satirische Perspektive. Das wörtliche Zitat diente ihm als Waffe. So wurde Karl Kraus zum satirischen Dokumentaristen und Protokollanten der menschlichen Dummheiten und Gemeinheiten.
Die ›Welt im Satz‹ war sein Lebensthema. Die gedruckte Welt der Worte in Gestalt der großen liberalen Zeitung Wiens, der ›Neuen Freien Presse‹. Ihren ›Ton‹ stellte er aus, und die Umkehrung der Reihenfolge von Ereignis und Bericht. Für Kraus war diese Zeitung (und andere Blätter) die gesellschaftliche Verkörperung einer Meinungsmacht, die Kriege ideologisch vorbereiten hilft, indem sie die Vorstellungskraft der Leser zerstört.
65 Millionen Soldaten wurden in den Ersten Weltkrieg geschickt, 8 Millionen wurden getötet. Zwischen 1914 und 1918 wurden täglich durchschnittlich 6000 Menschen getötet. 21 Millionen Soldaten wurden verwundet. Über 12 Millionen Zivilisten wurden getötet durch Massaker, Krankheiten, Hunger und Seuchen. 11. 400 Hinrichtungen wurden in Österreich vollstreckt, die Opfer wurden als Verräter bezeichnet.
Für Karl Kraus waren der Verlust der kollektiven Vorstellungskraft und die neuen Kriegstechnologien die entscheidenden Auslöser des Ersten Weltkriegs. Wenn die Phantasie ausgereicht hätte, die Wirklichkeit auch nur eine Stunde der Vorgeschichte des ersten Weltkriegs zu erfassen, dann hätte es diese Wirklichkeit nicht gegeben. Daß die neue Waffentechnologie das Wesen des Krieges von Grund auf verändern würde, blieb außerhalb des militärstrategischen Vorstellungshorizonts der Generäle und Politiker. Diese Korruption des Bewußtseins führte Karl Kraus auf die langjährige Wirkung der Presse zurück, die die Phantasie mit Phrasen vom Heldentod und vom glorreichen Vaterland abgelenkt und einen Automatismus blinder Reflexe geschaffen hatte.
Einige Jahre nach Ende des Krieges bemerkt Kraus einen kollektiven Gedächtnisverlust. »Sie haben vergessen, daß sie einen Krieg angefangen haben; sie haben vergessen, daß sie einen Krieg verloren haben; und sie haben sogar vergessen, daß sie einen Krieg geführt haben. Und eben darum müssen sie es erfahren, daß sie den Krieg nicht beenden werden.«
Die Sprachkritik von Karl Kraus ist eine Kritik des Sprachgebrauchs und der Lebensform, eine Überprüfung des Vorstellungsvermögens am Beispiel der Sprache des einzelnen. Zwischen einem fehlerhaften Satzgefüge und einem fehlerhaften Weltgefüge erkennt er notwendige Beziehungen. Ein schlechter Charakter tarnt sich mit blendender Rhetorik, spricht aber nicht die Wahrheit. Ein scheinbar unglücklich formulierter Satz beschert dem Sprecher sein selbstbereitetes Unglück, denn seine Sätze zeugen wider ihn.
Sprachphantasie ist nicht ein außergewöhnliches künstlerisches Vermögen, über welches nur wenige verfügen, es ist ein allen Menschen gegebenes natürliches Potential, das darin besteht, den Sinn jedes Satzes und jeder Handlung und deren Auswirkung auf das Leben anderer zu überdenken. Vor jedem Sprechen muß die Vorstellungskraft soweit angeregt sein, daß man diese Sprachwirksamkeit an sich selbst im voraus zu erleben vermag. Der Sprachzweifel während des Sprachgebrauchs ist das lebhafte Vorstellen der Bedeutung bei jeder Äußerung. Die sprachliche Phantasie während des Sprechens besteht darin, daß man prüft, ob der Sinn der Aussage psychisch nacherlebt wurde oder nicht.
Einer seiner Bewunderer, der Schriftsteller Sigismund von Radecki, erinnert sich an das Kriegsjahr 1942: »Wir hatten die Wohnung wegen der Verdunkelung dicht verhängt und legten in gespannter Erwartung die Platte aufs Grammophon. Plötzlich war des Verstorbenen Stimme im Raum. Dann brach die Stimme mit einem Klageton ab. In demselben Augenblick erdröhnten die Luftabwehrbatterien, denn es kam ein Angriff. Auch nach seinem Tode gab es bei Karl Kraus keine Zufälle.«
Peter Matić hat Karl Kraus nicht wie Karl Kraus gelesen, sondern wie Peter Matić, wie wir ihn aus der großartigen Aufnahme von Marcel Prousts Roman ›Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‹ kennen. Wie gern hätte ich dem natürlich auch und vor allem als Theaterschauspieler bekannten Peter Matić zu seinen Lebzeiten diese FACKEL-BOX geschenkt. Vielleicht kann sich jetzt, nach seinem zu frühen Tode, ein Hörbuchverlag dazu entschließen, diese zum allergrößten Teil völlig unbekannten Glossen von Karl Kraus als Hörbuch herauszubringen.
Zusatz, 19. Juni 2022:
2021 hat der NDR ohne mein Einverständnis einzuholen und ohne im Booklet auf meine Urheberschaft hinzuweisen, eine CD durch einen Hörverlag herausgebracht.
Ich glaube an das Wasserklosett
Man liest es nicht auf der ersten Seite einer Zeitung (Papier oder online); doch müßte es nicht nur zu ›Frontpage News‹ werden, sondern jeden Tag dort zu lesen sein (bekanntlich merkt man sich erst dann eine Werbebotschaft, wenn man sie mindestens sechsmal wahrgenommen hat): Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung (fast vier Milliarden Menschen) haben keinen Zugang zu sauberen Toiletten, drei Milliarden Menschen der 7,7 Milliarden Menschen auf der Welt haben keine Möglichkeit, sich die Hände mit sauberem Wasser zu waschen. So liest man es in den kleinen Meldungen der Medien, Berichte des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (Unicef) und der Weltgersundheitsorganisation (WHO) wiedergebend.
Am 28. April 1931 schreibt Theodor Lessing in einem Brief an seine Ehefrau Ada aus Damaskus: »Ich glaube nicht an Gott, aber ich glaube an das Wasserklosett. Das ist unsere Mission, der Welt das laufende Wasser zu bringen.«
Das liegt achtundachtzig Jahre zurück. Bis 2030 will die WHO allen Menschen auf dieser Erde Zugang zu sauberem Wasser und Toiletten ermöglichen. Bis dahin sind noch elf Jahre Zeit. Wetten werden nicht angenommen.