Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog

Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.

Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«

Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.

Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.

Dafür oder dagegen? Eine Konversation

A.: Und?

B.: Was und?

A.: Und? Ja, wissen Sie es denn nicht?

B.: Was soll ich denn wissen?

A.: Muß ich Ihnen denn ständig alles erklären?

B.: Ich bitte darum.

A.: Also: Sind Sie dafür oder dagegen?

B.: Wofür soll ich sein oder wogegen?

A.: Nicht: wogegen! Dagegen, oder eben dafür.

B.: Haben Sie irgendetwas eingenommen?

A.: Ganz und gar nicht. Wir stehen vor wichtigen Entscheidungen.

B.: Und welche sind das?

A.: Das sage ich doch die ganze Zeit: Dafür oder dagegen?

B.: Sie meinen Pro und Contra.

A.: Klugscheißer. Außerdem sagt man heute nicht mehr Contra. Man sagt: Anti.

B.: Von mir aus. Worum geht es eigentlich?

A.: Das spielt doch gar keine Rolle. Sie müssen sich nur entscheiden: Pro oder Anti.

B.: Aber über welches Thema reden wir hier?

A.: Haben Sie es immer noch nicht begriffen? Das Thema ist völlig gleichgültig. Nur entscheiden müssen Sie sich. Das verlangt man heute von jedem.

B.: Wer verlangt das von jedem?

A.: Darüber möchte ich mich ausschweigen, aber Sie können sich denken, wer gemeint ist.

B.: Ich habe nicht die geringste Ahnung.

A.: Begriffsstutzig bis zum geht nicht mehr. Ich fordere Sie hiermit auf, eindeutig Stellung zu beziehen!

B.: Aber weshalb sollte ich das tun, wenn ich nicht einmal weiß, zu welchem Thema ich ›Stellung beziehen‹ soll. ›Stellung beziehen‹! Was für eine Redensart!

A.: Jeder hat Stellung zu beziehen, das wird von jedem Bürger einer Demokratie erwartet.

B.: Ich denke gar nicht dran, mich von ihnen bedrängen zu lassen.

A.: Sie sind ganz frei in Ihrer Entscheidung. Entweder Pro oder Anti, aber zwischen den beiden Einstellungen müssen Sie sich entscheiden, das ist nun einmal so.

B.: Sie sind ein Spinner. Lassen Sie sich einen Krankenwagen kommen, der Sie in das Irrenhaus zurückfährt.

A.: Sie verkennen den Ernst der Situation. Es geht um Entscheidungen, zu denen alle Bürger aufgerufen sind. Die Demokratie lebt davon, daß die Bürger Entscheidungen treffen, nach der einen oder der anderen Richtung. Allerdings gibt es Fragen, die so wichtig sind, daß im Interesse des großen Ganzen die Entscheidung auf die eine Seite fallen muß und nicht auf die andere.

B.: Wollen Sie damit sagen, es gibt Entscheidungen, bei denen von vornherein feststeht, welches die ›richtige‹ Entscheidung ist?

A.: Das klingt so unfreundlich-totalitär, aber ja, im Prinzip läuft es darauf hinaus.

B.: Dann können Sie mich mal gernhaben.

A.: Aha, Sie haben sich entschieden. Sie sind also dagegen, Sie sind ein Anti-Typ.

B.: Ich bin überhaupt niemandes Typ, weder Anti noch Pro, weder dafür noch dagegen. Dieses ganze Gerede über Entscheidungen wird wirklich sehr überschätzt.

A.: Das ist ausgeschlossen, das gibt es gar nicht, das kann es gar nicht geben, Sie müssen sich entscheiden.

B.: Und wenn ich mich ›falsch‹ entscheide?

A.: Prinzipiell gibt es keine falschen oder richtigen Entscheidungen, aber dennoch ist es für den Bestand der Demokratie wichtig und entscheidend, daß Sie für oder gegen eine Sache sind. Indifferenz gefährdet die Grundlagen unserer Demokratie.

B.: Dann sagen Sie mir um Gottes willen doch endlich, worum es geht! Nur auf der Basis dieser Information kann ich mich doch entscheiden.

A.: Es tut mir leid, aber ich bin nicht autorisiert, solche Informationen weiterzugeben.

B.: Wir drehen uns im Kreise.

A.: Das finde ich nicht, Sie verweigern sich und bekennen sich nicht dafür oder dagegen. Das macht Sie schon verdächtig.

B.: Ach so, daher weht der Wind. Sie sind ein Gesinnungsschnüffler!

A.: Ich verwahre mich auf das entschiedenste gegen diese unglaubliche Insinuation!

B.: Hören Sie doch endlich auf, hier herumzuschwafeln, Sie stehlen mir meine kostbare Zeit.

A.: Ich darf dann mal zu Protokoll geben, daß Sie sich dem demokratischen Meinungsbildungsprozeß entziehen. Das kann schlimme Folgen haben.

B.: Für mich?

A.: Nein, für unsere Demokratie. Wir brauchen jeden einzelnen mit seiner Meinung und bestehen darauf, daß er diese in der geeigneten Form dann auch öffentlich äußert.

B.: Sie meinen, wie damals, als die Jakobiner mit der ›Tugend‹ die ganze Gesellschaft terrorisiert haben? Wissen Sie was: Ich sage gar nichts mehr, ich habe schließlich Familie.

A.: Aber lieber Herr, Sie mißverstehen mich. Sie sind völlig frei in Ihrer Entscheidung. Es gibt allerdings Themen, bei denen ich Ihnen dringend raten muß, sich nicht zu weit herauszulehnen, wenn Sie verstehen, was ich meine, wo eine gewisse Homogenität der Meinungen durchaus demokratiezuträglich sein kann.

B.: Wem soll das nützen, wenn Sie damit sagen wollen, daß es Meinungen und Entscheidungen gibt, die gesellschaftlichen Konformismus erzeugen sollen und es im Grunde gleichgültig ist, welche Überzeugungen der einzelne überhaupt hat. Wenn zum Beispiel die Medien eine Atmosphäre schaffen, in der es niemandem mehr ermöglicht wird, eine eigene Meinung zu bilden, weil die Medien vorab entschieden haben, welche Meinung man zu haben hat.

A.: Ich habe zwei Meinungen über Sie, daß Sie damit falsch liegen. Meine und die von IHM (weist mit einem Zeigefinger nach oben). Im Übrigen: Wen kümmert das? Sind Sie denn so originell, daß Sie zu jedem Thema eine eigene Meinung haben? Ist es nicht viel schöner und nützlicher, wenn man dafür weiß, ob man gegen etwas ist oder dafür?

B.: Wissen Sie was, Sie gehen mir auf die Nerven, und das von Anfang an. Ich muß mich nicht um jedes Thema kümmern und die Demokratie kann mir gestohlen bleiben, wenn ihre Vertreter mich täglich dazu nötigen, eine Meinung haben zu sollen, wenn ich keine haben will.

A.: Das ist bedenklich, denn die Demokratie lebt vom Engagement der Bürger.

B.: Ach, wirklich? Und was kümmert das mich? Und wieso muß ich von Politikern mir Reden anhören, die mich dazu auffordern, gegen etwas oder für etwas zu sein, wenn ich mir am liebsten wünschen würde, daß sie die Klappe halten, weil das, was sie sagen, auch nicht von profundem Wissen und tiefer Einsicht geprägt ist. Schauen Sie sich doch diese Leute einmal an, diese Berufspolitiker! Natürlich müssen die ständig reden und ihre Anhänger anfeuern, sie wiederzuwählen, aber was sind das für Typen, ich frage Sie! Würden Sie denen einen Gebrauchtwagen abkaufen?

A.: Na, jetzt gehen sie aber doch ganz schön aus sich heraus. Wir kommen voran. Doch nun sagen Sie mir nur noch: Sind Sie dafür oder dagegen?

B.: Weder noch. Aber eins weiß ich ganz sicher: Sie sind eine lästige, aufdringliche Person und ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie nicht ein Roboter sind. Und damit ist diese ›Konversation‹ beendet. Whatever happened to small talk!

Ausverkauft!

Kuno Raeber, schweizerischer Waffenhändler, sitzt in seinem Office in Zürich und telefoniert mit einem Journalisten der Großen Frankfurter.

Kuno Raeber: Ja, freilich, wenn Sie das so sehen, ganz klar, ja, ja, sicher, aber ganz gewiß, das können Sie mir glauben, da wird sich nichts dran ändern, ja, Sie sind gut, wem sagen Sie das!

Große Frankfurter: Herr Raeber, in dem Konflikt im Nahen Osten bahnt sich ein langanhaltender Krieg an, den die Hamas mit ihren menschenverachtenden Angriffen gegen den Staat Israel eingeleitet hat. Wie sehen Sie die weitere Entwicklung?

Kuno Raeber: Was soll ich sagen? Sie schreiben in Ihrem heutigen Kommentar selbst: »Menschen leiden. Die Industrie profitiert.« Sowas würde ich natürlich niemals sagen und schon gar nicht in aller Öffentlichkeit, aber die Presse muß sich exponieren und so tun, als sei sie neutral. Aber lassen Sie mich das als Bürger der Schweiz einmal ganz klar formulieren: Es gibt keine Neutralität! Da machen sich auch unsere Landsleute etwas vor, das war doch schon während des Zweiten Weltkriegs so, da hat die Schweiz auch so getan, als ginge sie das ganze grauenhafte Geschehen nichts an. Und was lese ich dann in Ihrem heutigen Kommentar zu den Waffengeschäften auf der ganzen Welt? »Das Geschäft ist gräßlich, aber auf absehbare Zeit notwendig.« Da scheint mir ein weiterer Kommentar überflüssig, nicht wahr?

Große Frankfurter: Wie beurteilen Sie denn die aktuelle Lage aus der Sicht der waffenproduzierenden Industrie?

Kuno Raeber: Lassen Sie mich mal ein paar Facts aufzählen. Die Bundesrepublik Deutschland kaufte vor kurzem aus ihrem Sondervermögen das Raketenabwehrsystem ›Arrow 3‹ für fast 4 Milliarden Euro. Und von wem kaufte sie das? Von Israel. Das war bis dato der größte Rüstungsexport des Landes seit der Gründung des Staates Israel. Wo man früher Israel als Exporteur der palästinensischen Jaffa-Orange kannte, ist das Land heute einer der wichtigsten Waffenentwickler und -verkäufer der Welt. Laut dem ›Global Firepower Index‹ steht Israel auf Platz 18 der Rangliste, während das etwa zehnmal so große Deutschland auf Rang 25 abgestürzt ist. Mit den Worten Ihrer Zeitung: »Israel ist bis an die Zähne bewaffnet.«

Große Frankfurter: Aber dann sind doch die Angriffe der Hamas von vornherein zum Scheitern verurteilt, dann sind das doch die Taten von wahnsinnig gewordenen Verrückten, von Selbstmordattentätern.

Kuno Raeber: Das können Sie laut sagen, sicher, das sind kurzfristig denkende Verbrecher, die sich um den langfristig angerichteten Schaden an Menschenleben und Sachwerten keine Gedanken gemacht haben. Allerdings hat selbst Ihr Blatt in einem längeren Artikel zugegeben: »Israels Waffen befinden sich quasi im Dauertest.« Nun wird es interessant. Interessant für mich und meine Klienten. Denn man kann ja nicht der Stiftung Warentest diese teuren Panzer und Kampfflugzeuge überlassen, um unter künstlichen Testbedingungen diese einem Härtetest zu unterwerfen, nicht wahr? Sicher, bei der weltberühmten Uzi-Maschinenpistole, die von ›Israel Military Industries‹ hergestellt wird, könnte man mal eine Ausnahme machen und einige Exemplare der Stiftung Warentest überlassen, damit die Tester dann voll durchziehen können und sich von der Leistungskraft der MP zu überzeugen. Aber dieser anderen Test-Institution mit ihrer attachierten Zeitschrift ›Öko-Test‹ möchte man diese schöne Waffe nicht in die Hand drücken, denn diese Leute sind ja berufsmäßig geradezu versessen darauf, nachzuweisen, daß ein Produkt ›nicht naturgemäß‹ und ›umweltschädlich‹ sein soll. Die Qualität von Waffen läßt sich aber immer noch am besten unter realen Bedingungen testen.

Große Frankfurter: Wie beurteilen Sie denn die Lage auf dem Nachschubsektor? Ist für ausreichende Munition gesorgt?

Kuno Raeber: Da fragen Sie mich was! Und ich kann Ihre Frage mit einem Wort beantworten: Ausverkauft! So sieht es aus. Nach den Terrorangriffen auf Israel hat dessen Regierung die Bundesrepublik Deutschland um Munition für ihre Kriegsschiffe gebeten. Lieferanten wie beispielsweise Rheinmetall haben wegen des Krieges in der Ukraine dem deutschen Minister dann sagen müssen, daß sie damit leider nicht dienen können, denn die Nachfrage aus der Ukraine war dermaßen stark, daß man die Anfrage nur mit einem Wort beantworten konnte: Ausverkauft!

Große Frankfurter: Das ist ja eine bedauerliche und zugleich beunruhigende Feststellung. Sehen Sie irgendwelche Lichtblicke angesichts dieser desolaten Situation?

Kuno Raeber: Es gibt sie, es gibt sie, aber Sie werden als Anwalt der demokratischen Öffentlichkeit mit meiner Antwort nicht zufrieden sein. Als die Hamas angriff, stieg der Kurs der Rheinmetall-Aktie. Also für die Aktionäre von Rheinmetall war das sicher ein Grund zum Feiern. Schließlich triumphiert im entscheidenden Fall doch stets der individuelle Egoismus über die Sorge für das Allgemeinwohl. Wir alle können von dem Philosophen Bernard Mandeville eine Grundweisheit lernen, die er in seinem Buch ›Die Bienenfabel oder Private Laster, öffentliche Vorteile‹ ausgebreitet hat.  Niemand anders als Karl Marx, den ich immer wieder gern in meiner Freizeit lese, hat die paradoxe These Mandevilles auf den Punkt gebracht. Ich trage das längere Zitat immer bei mir, es ist mein persönliches Credo geworden: Ein Verbrecher produziert Verbrechen. Betrachtet man näher den Zusammenhang dieses letztren Produktionszweiges mit dem Ganzen der Gesellschaft, so wird man von vielen Vorurteilen zurückkommen. Der Verbrecher produziert nicht nur Verbrechen, sondern auch das Kriminalrecht und damit auch den Professor, der Vorlesungen über das Kriminalrecht hält, und zudem das unvermeidliche Kompendium, worin dieser selbe Professor seine Vorträge als ›Ware‹ auf den allgemeinen Markt wirft. Damit tritt Vermehrung des Nationalreichtums ein. Der Verbrecher produziert ferner die ganze Politik und Kriminaljustiz, Schergen, Richter, Henker, Geschworene usw.; und alle diese verschiednen Gewerbszweige, die ebenso viele Kategorien der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit bilden, entwickeln verschiedne Fähigkeiten des menschlichen Geistes, schaffen neue Bedürfnisse und neue Weisen ihrer Befriedigung. Die Tortur allein hat zu den sinnreichsten mechanischen Erfindungen Anlaß gegeben und in der Produktion ihrer Werkzeuge eine Masse ehrsamer Handwerksleute beschäftigt. Der Verbrecher unterbricht die Monotonie und Alltagssicherheit des bürgerlichen Lebens. Er bewahrt es damit vor Stagnation und ruft jene unruhige Spannung und Beweglichkeit hervor, ohne die selbst der Stachel der Konkurrenz abstumpfen würde. Er gibt so den produktiven Kräften einen Sporn. Wären Schlösser je zu ihrer jetzigen Vollkommenheit gediehn, wenn es keine Diebe gäbe? Wäre die Fabrikation von Banknoten zu ihrer gegenwärtigen Vollendung gediehn, gäbe es keine Falschmünzer? Das Verbrechen, durch die stets neuen Mittel des Angriffs auf das Eigentum, ruft stets neue Verteidigungsmittel ins Leben und wirkt damit ganz so produktiv wie strikes auf Erfindung von Maschinen. Ohne nationale Verbrechen, wäre je der Weltmarkt entstanden? Ja, auch nur Nationen? Mandeville in seiner ›Fable of Bees‹ (1705) hatte schon die Produktivität aller möglichen Berufsweisen usw. bewiesen und überhaupt die Tendenz dieses ganzen Arguments. Nur war Mandeville natürlich unendlich kühner und ehrlicher als die philisterhaften Apologeten der bürgerlichen Gesellschaft.

Neue Gespräche im Elysium VII

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 v.u.Z – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.

Georg Christoph Lichtenberg meets Gina Lollobrigida

There’s nothing left to talk about less it’s horizontally. / We know each other mentally. / You’ve gotta know that you’re bringing out the animal in me. / Let’s get physical, physical – / I wanna get physical / let’s get physical / Let me hear your body talk. (Olivia Newton-John: Let’s Get Physical, 1981)

Georg Christoph Lichtenberg: Ja, wer sind Sie denn? Sie sind nicht Marilyn Monroe! Wie soll ich denn meine Gedanken zur »Elektrizität der Mädchen« elaborieren, wenn der Puppenspieler mir jemand anders geschickt hat?

Gina Lollobrigida: Cazzone! Pazzo! Stupido! Der ›Puppenspieler‹ hat mich nicht ›geschickt‹, ich bin doch keine prostituta! Ich bin ›La Lollo‹!

Georg Christoph Lichtenberg: Oh, Verzeihung! Ich hatte mich ganz auf Marilyn Monroe eingestellt, wissen Sie, diese Blonde aus den USA. Sie war eine große Filmschauspielerin.

Gina Lollobrigida: Ha! Das bin ich auch, aber eine wirkliche Schauspielerin, nicht so ein amerikanischer Schnepfenverschnitt. Busen ist nicht alles, obwohl davon bei mir ausreichend vorhanden ist.

Georg Christoph Lichtenberg: Das ist unverkennbar. Sehr hübsch. Bitte helfen Sie mir und sagen Sie mir ihren wirklichen Namen, denn ›La Lollo‹ ist doch sicher nur ein Kosename.

Gina Lollobrigida: Ich bin Gina Lollobrigida, italienische Filmschauspielerin, Fotografin und Bildhauerin. Geboren 1927, gestorben 2023.

Georg Christoph Lichtenberg: Ein Neuzugang, das erklärt manches. Ist nicht ein Kopfsalat nach Ihnen benannt: Lollo rosso?

Gina Lollobrigida: Jaja, und Lollo bianco. Es gibt auch eine Rose, die meinen Namen trägt, aber das sind Nebensächlichkeiten. Ich habe mein Leben der Filmkunst gewidmet. John Huston hat mit mir gedreht.

Georg Christoph Lichtenberg: Oh, den kenne ich, der hat mit Marilyn Monroe einen großartigen Film, ›Misfits‹, gemacht, der spielt in der amerikanischen Wüste.

Gina Lollobrigida: Hören Sie doch endlich auf, immer von dieser Schlampe zu reden.

Georg Christoph Lichtenberg: Ich mag sie sehr, und sie ist so früh gestorben, mit sechsunddreißig Jahren, während Sie doch immerhin fünfundneunzig Jahre alt geworden sind. Ich hatte ein junges Blumenmädchen von zwölf Jahren als meine Geliebte, mit siebzehn Jahren ist sie mir gestorben. Eine Welt ging für mich unter. Ich wollte nicht mehr weiterleben. Sie hat mich mit dem ganzen Menschengeschlecht ausgesöhnt. Aber lassen wir das. Ich hatte vor, über die »Elektrizität der Mädchen« zu sprechen.

Gina Lollobrigida: Sind Sie nicht ein bißchen zu klein für sowas?

Georg Christoph Lichtenberg: Oh, ja, ich bin klein von Größe, aber durchaus erwachsen. Mein Name ist Georg Christoph Lichtenberg. Ich war Experimentalphysiker, müssen Sie wissen.

Gina Lollobrigida: Und da haben Sie an Mädchenkörpern experimentiert?

Georg Christoph Lichtenberg: Weniger als Sie anzunehmen scheinen. Nein, ich habe zum Beispiel die Wolken beobachtet … mmhh, ja, doch, wenn Sie es so sehen wollen, Wolken geben Elektrizität ab und sie sehen bei guter Formung aus wie …

Gina Lollobrigida: Titten?

Georg Christoph Lichtenberg: Aber ja, Wolken können wie zarte Wölbungen des weiblichen Körpers aussehen. Friedrich Schiller nannte sie »Halbkugeln einer besseren Welt«. Aber der Arme hatte auch nicht viel von ihnen, so früh ist er uns gestorben.

Gina Lollobrigida: Nun erzählen Sie mir aber mal etwas mehr von sich, ich kann dabei dann gleich ein paar Fotos von Ihnen machen. (Holt aus ihrer Handtasche eine Spiegelreflexkamera heraus und richtet sie auf Lichtenberg).

Georg Christoph Lichtenberg: Was für ein schöner Apparat, sowas hatten wir damals noch nicht. Ich habe aber versucht, verschiedene mechanische Apparate zu konstruieren. Darf ich das Ding einmal in die Hand nehmen? (Gina reicht Georg den Fotoapparat, der sich blitzschnell mit dem Gerät vertraut macht.) Ich bin dann soweit, stellen Sie sich mal in Positur. (Gina steht auf und stellt sich gerade hin.) So, Baby, dann zeig’ mir mal, was du draufhast. (Der bucklige, zwergwüchsige Lichtenberg hopst herum, geht in die Knie, springt wieder auf und fuchtelt wie wild mit der Kamera) Gib’s mir, Baby! Zeig mir alles! Schieb’ deine Titten zusammen, schwing’ deine Hüften, yeah!

Gina Lollobrigida: Sind Sie nicht mehr ganz bei Trost? Ich bin doch kein zwanzigjähriges Modeflittchen, das dem Fotografen zuliebe zu allem bereit ist. Machen Sie eine schöne Porträtaufnahme von mir.

Georg Christoph Lichtenberg: Oh, Verzeihung! Ich habe in einer Modezeitschrift einmal eine Reportage über ein Fotoshooting gelesen, und da wurden solche Sätze als kennzeichnend für den Jargon am Set zitiert. Die Mannequins haben nichts dagegen gehabt und der Fotograf hat immer wieder gesagt: »mannefick, mannefick«.

Gina Lollobrigida: Magnifique, es heißt magnifique, auf Deutsch: herrlich. Französisch beherrschen Sie wohl nicht?

Georg Christoph Lichtenberg: Ein bißchen schon, aber ein bißchen Spaß mit Worten muß auch sein, finden Sie nicht?

Gina Lollobrigida: Was haben Sie außer Experimentalphysik noch mit Ihrem Leben angefangen?

Georg Christoph Lichtenberg: Ach, die meiste Zeit habe ich in Göttingen verbracht, das war ein Nest mit größtenteils geistig beschränkten Einwohnern. Und diese heimischen Professoren! Die größten Entdeckungen sind seit jeher von Dilettanten und nicht von Professoren gemacht worden. Dafür habe ich aber einen umfangreichen intellektuellen Briefwechsel mit Kollegen aus dem Ausland geführt. Ich bin auch zweimal nach London gereist und habe den englischen König kennengelernt. England war damals meine selige Insel, mein Elysium. Wie gerne wäre ich jedoch nach Italien, dieses göttliche Land gereist, aber mein Freund, mit dem ich schon alles geplant hatte, erkrankte plötzlich und ich fand dann niemanden, der mich begleiten wollte. Und allein wollte ich nicht nach Italien fahren, und so ist dieser große Lebenstraum für mich dann unerfüllt geblieben.

Gina Lollobrigida: Ich habe mein ganzes Leben in Rom verbracht.

Georg Christoph Lichtenberg: Ja, richtig, Sie sind ja Italienerin! Wie ich Sie beneide.

Gina Lollobrigida: Römerin! Wenn es Ihnen nichts ausmacht, diesen Unterschied zu würdigen.

Georg Christoph Lichtenberg: Ganz und gar nicht. Rom! Die Hauptstadt der Welt. Sind Sie eigentlich verheiratet gewesen?

Gina Lollobrigida: Oh ja, von 1949 bis 1971 war ich mit einem Arzt verheiratet, der auch mein Manager war. Aus der Ehe ging ein Sohn hervor, der mich einige Jahre vor meinem Tod hat entmündigen lassen.

Georg Christoph Lichtenberg: Das tut mir leid. Mit mir ging es so im Leben weiter, daß ich nach dem frühen Tod von Maria Dorothea Stechard geheiratet habe, Margarethe Elisabeth Kellner, die mir sechs Kinder schenkte und mich um fast fünfzig Jahre überlebte. Ich hatte aber zusätzlich noch eine kleine Geliebte, Dolly, ein wilder satanischer Bettschatz, eine kleine Teufelin, und ich habe mit meiner Diavolessa noch zehn Tage vor meinem Ableben heftig kopuliert.

Gina Lollobrigida: Das war mir etwas zu sehr ins Detail gehend, aber da Sie ein Wüstling sind, muß man das wohl tolerieren. Aber gut, noch irgendetwas Bemerkenswertes aus ihrem Leben?

Georg Christoph Lichtenberg: Meine Forschungen zur Experimentalphysik sind heute natürlich alle überholt, der wissenschaftliche Fortschritt geht über alles hinweg und das muß er auch. Was dieses Jahrhundert nicht versteht, versteht das nächste. Aber meine sogenannten ›Sudelbücher‹ haben mir bleibenden Ruhm eingetragen und das war von mir gar nicht geplant. In meiner Epoche bemerkte man den Zusammenhang zwischen einem Gewitter und der Elektrizität, und die Kraft, die im geriebenen Bernstein zieht, ist dieselbe, die in den Wolken donnert. In unserem 18. Jahrhundert hat es viel geblitzt und gedonnert. Einmal wurde eine sehr schöne Frau draußen vom Blitz umgeworfen und einige wollte daraus schließen, der Blitz habe Absichten gehabt und sei deswegen von unten gekommen, weil die Weiber nur allein von unten einnähmen. Sexus Electricitatum. Der Blitzableiter müßte bei Damen zwischen ihren Schenkeln angebracht werden. Und der Pöbel hat gewiß nicht so unrecht, wenn er sich hauptsächlich an den Körper hält. Der Bauernknecht schielt nach dem Unterrock-Schlitz und sucht den Himmel dort, den andere in den Augen suchen. Den Ausdruck ›Elektrizität der Mädchen‹ habe ich in einem Brief gebraucht, als ich über meinen lieben Kollegen aus Italien, Alessandro Volta, ein Kompliment machen wollte. Er war ein schöner Kerl und verstand sich auf die Elektrizität der Mädchen. Ja, er war ein rechtes Reibezeug für die Damen.

Gina Lollobrigida: Nun gut, manche Männer bilden sich ein, ihr cazzo sei ein Wunderwerkzeug, aber ich kann Ihnen sagen, daß Größe nicht alles ist.

Georg Christoph Lichtenberg: Die wichtigsten Dinge in der Welt werden durch Röhren ausgerichtet. Dennoch besteht der Mensch doch noch aus etwas mehr als Testikeln. Das gebe ich Ihnen gerne zu. Ist die Macht der Liebe unwiderstehlich, oder kann der Reiz einer Person so stark auf uns wirken, daß wir dadurch unvermeidlich in einen elenden Zustand geraten müssen? Allein ein Mädchen sollte imstande sein, mit ihren Reizen einem Manne seine Ruhe zu rauben, daß kein anderes Vergnügen mehr Geschmack für ihn hätte. Viele Männer halten das weibliche Geschlecht für so schwach, eitel, leichtgläubig und eingebildet, daß sie alles glauben, was man ihnen sagt, sobald es die Macht ihrer Reize angeht. Diese Männer, wenn man sie anders so nennen kann, irren sich aber gar sehr. Nicht wahr, Madam? Was ich mit der Elektrizität der Mädchen bezeichnen will, das ist die Ausstrahlungskraft gewisser junger Mädchen, die mich immer schon fasziniert hat. Das kann ganz auffällig sein oder eher dezent. Alfred Hitchcock hat ja gemeint, Marilyn Monroe sei der Sexappeal ins Gesicht geschrieben, wäre also sehr aufdringlich und deshalb könne er solche Schauspielerinnen in seinen Filmen nicht gebrauchen. Das finde ich aber gerade im Fall von Marilyn Monroe ganz und gar nicht. Vielleicht hat sie nur vorgegeben, sexuell zu sein, und wer weiß, vielleicht ist das viel aufregender als der Sex selbst? So argumentiert jedenfalls Norman Mailer und er hat sie einen »charismatischen Kometen« genannt und das trifft es sehr gut. Auf einer Seefahrt nach Helgoland habe ich etwas Ähnliches erlebt. Es war das Leuchten des Seewassers. Es waren nicht etwa einzelne Funken oder schnell vorübergehende schwache Blitze, sondern der Schaum der Wellen schien völlig zu glühen. Dieses Elektrisierende erschien bei Marilyn Monroe ganz natürlich, auch wenn sie gewiß wußte, wie man mit Make-up den Gesichtsausdruck verändern kann. Und sie konnte anziehen, was sie wollte, ein Kleid ganz aus Spitze mit fleischfarbenem Crêpe de Chine unterlegt und mit Tausenden von Pailletten bestickt oder einen schlichten einteiligen Badeanzug, es sah immer gut an ihr aus und unterstrich ihren natürlichen Charme. Die unterhaltendste Fläche auf der Erde ist für uns vom menschlichen Gesicht und mit Marilyn wurde man stets gut unterhalten, sie konnte strahlen und traurig daherschauen, es wirkte nie stilisiert, es kam immer von innen aus ihr selbst heraus. Sie war im wirklichen Leben unscheinbar, aber auf der Filmleinwand kommt sie groß heraus. Es ist überwältigend. Sie war absolut fotogen, es gibt kein einziges schlechtes Foto von ihr. Das ist die Elektrizität der Mädchen, dieses Mädchens. Und hinter dieser schönen Fassade litt sie unsäglich an wiederkehrenden Depressionen, das arme Ding. Ich bin ja selbst auch nicht von trübsinnigen Stimmungen verschont geblieben. Unser Leben kann man mit einem Wintertag vergleichen, wir werden zwischen 12 und 1 des Nachts geboren, es wird 8 Uhr, ehe es Tag wird, und vor 4 des Nachmittags wird es wieder dunkel, und um 12 sterben wir.

Gina Lollobrigida: Wir Schauspieler müssen Rollen spielen, die mit unserem Leben häufig nicht übereinstimmen. In Hollywood hat man die Monroe als sexuelles Monstrum, als Witzfigur und Hüftenschwenkerin verheizt, als die Schnalle, die den Männern Sex ins Gesicht schüttet. Übrigens hat Humphrey Bogart über mich gesagt, daß ich Marilyn Monroe wie Shirley Temple aussehen lasse. 1955 habe ich einen Film gedreht, der hieß ›La donna più bella del mondo‹, und Sie können sich ausmalen, wie dieser Titel in der Öffentlichkeit aufgenommen wurde. Ich wurde zur ›Sexbombe‹ deklariert. So habe ich Hollywood dann bald hinter mir gelassen und bin nur noch in europäischen Filmproduktionen aufgetreten.

Georg Christoph Lichtenberg: Sie sind wirklich eine schöne Frau und haben sich dann lange nach dem Ende Ihrer Filmkarriere weiterentwickelt. Sie sind Fotografin und Bildhauerin geworden und haben Berühmtheiten der Welt interviewt.

Gina Lollobrigida: Sie meinen das Interview mit Fidel Castro. Ja, das war ein lustiger Aufenthalt auf Cuba. Aber das ist alles schon so viele Jahre her und sehen Sie uns an, wir unterhalten uns hier im Elysium und tun so, als seien wir noch am Leben. Doch wissen Sie was, hören wir auf, in der Vergangenheit herumzustochern, lassen Sie uns in einem Lokal ausruhen von den Strapazen der Erinnerung. Ich kenne ein nettes Weinlokal, ›Zum fröhlichen Weinberg‹, das ein hier ansässiger deutscher Schriftsteller bald nach seiner Ankunft eröffnet hat.

Georg Christoph Lichtenberg: Da ist mir in London doch folgendes passiert: Da bin ich auf der Straße und ein schönes, niedlich angekleidetes Mädchen nimmt mich bei der Hand und sagt zu mir: Come, my Lord, come along, let us drink a glass together, or I’ll go with you if you please.

Gina Lollobrigida: Sie alter Schwerenöter! Wir wollen es bei einem Glas Frascati belassen.

Georg Christoph Lichtenberg: Als Alessandro Volta bei mir zu Gast in Göttingen war, fragte ich ihn, ob er das leichteste Verfahren kenne, ein Glas ohne Luftpumpe luftleer zu machen. Als er sagte, Nein, so nahm ich ein Weinglas, das voll Luft war wie alle leeren Weingläser und goß es voll Wein. Er gestand nun ein, daß es luftleer sei, und dann zeigte ich ihm das beste Verfahren, die Luft ohne Gewalt wieder zuzulassen, und trank es aus. Der Versuch mißlingt selten, wenn er gut angestellt wird. Er freute ihn nicht wenig, und er wurde von uns allen mehrmals angestellt.

Gina Lollobrigida: Andiamo, caro Giorgio! La notte è giovane.

Neue Gespräche im Elysium VI

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 v.u.Z – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt. 

Udo Walz meets Margot Honecker

»Mein Herr« sagte der ganz feine Friseur langsam und pointiert, teils schmerzlich und teils ironisch, »Sie haben gewiß immer nur bei Barbieren arbeiten lassen. Aber noch bei keinem Künstler.« Durch ein vieldeutiges Gemurmel gab ich zu, daß mir in der Tat eine Künstlerpersönlichkeit seinesgleichen bisher noch nicht begegnet war. Er lächelte, wie man ein Kind anlächelt. »Mein Herr« sagte er, »um Ihren individuellen Typ völlig sicher zu kennen, dazu muß ich erst lange, vielleicht Monate lang Ihre Morphologie studiert haben. Indessen glaube ich schon einen Weg zu Ihrem Typ dämmern zu sehn. Denn Sie haben einen Typ, mein Herr. Ja, Sie sind eine Type.« (Theodor Lessing: Beim ganz feinen Friseur, 1923)

Udo Walz: So, dann wollen wir mal. Was haben Sie sich denn so gedacht, irgendeine neue Fasson, eine andere Farbe? Was kriegen wir denn?

Margot Honecker: Was sich bewährt hat, soll bleiben. Keine neue Frisur und verschonen Sie mich mit neuen Haartönungen. Lila war es, Lila soll es bleiben. Leider ergrauten meine Haare schon früh, als ich Mitte Vierzig war. Im Haus des Zentralkomitees gab es einen Friseursalon, da arbeitete meine Friseurin Martina, und sie entschied über die fliederfarbene Tönung und den bewährten Kurzhaarschnitt, den ich jederzeit mit meinen zehn Fingern durchkämmen kann.

Udo Walz: Wissen Sie, ich habe Marlene Dietrich, Romy Schneider, Hildegard Knef, Inge Meysel und Elizabeth II. die Haare gemacht, Sophia Loren, Barbra Streisand, Faye Dunaway, Gena Rowlands, Demi Moore, Gwyneth Paltrow, Andie McDowell, Eva Longoria, Carla Bruni, Claudia Schiffer. Aber auch die Männer habe ich schön gemacht. Ich erspare Ihnen eine Aufzählung der Namen. Die treuen Kundinnen und Kunden, die keinen besonderen Namen tragen, sind aber meine eigentlichen ›Stars‹. Sie sind es, die meinen Erfolg ausgemacht haben. Für sie stand ich jeden Tag gern in meinem Geschäft. Sehr klassisch und immer mit viel Volumen ist die typische Walz-Frisur. Aber ganz wie Sie wünschen, Frau Honecker. Sie müssen zwar zu keiner offiziellen Veranstaltung mehr gehen, aber man freut sich selbst doch auch über einen neuen Look. Mit dieser violetten Tönung sehen Sie auf die Dauer vielleicht ein wenig langweilig aus.

Margot Honecker: Ich sehe langweilig aus? Das will ich nicht gehört haben, Herr Walz. Ich sehe beständig aus, so wie ich all die Jahre in der DDR darauf geachtet habe, daß die Errungenschaften des Sozialismus stabil und beständig blieben.

Udo Walz: Da ist Ihnen dann leider der Fall der Mauer dazwischengekommen.

Margot Honecker: Sie meinen den antifaschistischen Schutzwall, den wir damals zu bauen gezwungen waren, weil immer mehr unserer besten Arbeitskräfte unser Land verließen, weil sie den Schalmeienklängen des westdeutschen Imperialismus verfallen waren. Und kommen Sie mir bloß nicht mit den ›Toten an der Mauer‹. Die an dem Schutzwall getöteten ›Flüchtlinge‹ brauchten ja nicht über die Mauer zu klettern, um diese Dummheit mit dem Leben zu bezahlen. Die Grenztruppen der Nationalen Volksarmee taten ihre Pflicht an einer Grenze, die die Trennlinie zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt war und keine innerdeutsche Grenze, wie immer behauptet wird. Kein Gericht konnte den Nachweis führen, daß es einen ›Schießbefehl‹ gab. Es gab auf beiden Seiten, sowohl der DDR wie der BRD, wie überall üblich, eine Schußwaffengebrauchsordnung,

Udo Walz: Herrgott, ich bin doch nur ein einfacher Figaro und will mich hier mit Ihnen nicht über Politik streiten. Huch, aus Ihrer Handtasche ragt ja eine Pistole heraus!

Margot Honecker (wiegt die Waffe in der rechten Hand): Ja, das ist eine Browning. Den habe ich immer bei mir. Wenn ich in der DDR unterwegs war, war das mein ständiger Begleiter. Man konnte nie vorsichtig genug sein.

Udo Walz: Wollen Sie damit sagen, daß die Werktätigen auf Sie ein Attentat geplant haben?

Margot Honecker: Das nicht, um die Arbeiterklasse mußte man sich keine Sorgen machen, aber die anderen Elemente, die Zwischenelemente, die kleinbürgerlichen Klassen, da mußte man genau hinsehen, ob da nicht einer ausscherte und mit individualanarchistischem Terror unsere Republik kaputtbomben wollte.

Udo Walz: Bitte stecken Sie doch dieses Ding weg, ich kriege gleich einen Herzinfarkt! Also so was, man glaubt es nicht. Sie haben hier doch nichts zu befürchten. Andererseits: wir sind ja beide schon tot, mehr als tot kann man nicht sein, aber auch im Nachleben will man nicht mit einem Revolver bedroht werden.

Margot Honecker: Alte Gewohnheit. Man kann nie wissen. Nur nicht sich eine Blöße geben. Wenn Erich damals genügend Härte gezeigt hätte, gäbe es die DDR immer noch. Er ist auf seine alten Tage weich geworden. Ich mache es mir immer noch zum Vorwurf, daß ich damals nicht die Zügel in die Hand genommen habe. Man hätte kämpfen müssen, unter Umständen auch unter Anwendung von Gewalt. Wir haben es nicht vermocht, dem Gegner hinreichend Widerstand entgegenzusetzen. Es ist eine Tragik, daß es dieses Land nicht mehr gibt. An die Stelle von menschlichen Beziehungen hat sich jetzt das Monster Geld gesetzt.

Udo Walz (bekommt einen Hustenanfall und versucht, durch ihn hindurchdringend zu sprechen): Wollen wir dann zum Waschbecken gehen?

Margot Honecker: Wissen Sie, was ich am meisten vermisse? Den Wald und den Geruch von Pilzen.

Udo Walz: Gehen Sie doch hier im Elysium mal in den Wald, wir haben hier viel Wald und sicher auch viele Pilze. Es ist allerdings kein Paralleluniversum. So, bitte einmal den Kopf nach hinten ins Waschbecken legen.

Margot Honecker (nachdem die Waschprozedur beendet ist): Ich hätte meinem Mann das Ruder aus der Hand nehmen sollen, ich hätte es müssen. Erich war immer zu gutmütig, ich habe mich darüber geärgert, daß er manchmal zu vertrauensselig war. Das war einer der Punkte, über die wir uns oft gestritten haben: die Beurteilung von Menschen. Es gab in der SED Genossen, die den Kommunismus auf der Parteihochschule gelernt hatten, das waren ›die Angelernten‹, die hatten nicht wie Erich und ich den Kommunismus durch die eigene schmerzhafte Lebensgeschichte kennengelernt.

Udo Walz: Haben Sie Erich Honecker nicht aus purem Machtkalkül geheiratet? Er war Chef der FDJ, Politbüromitglied, Sie haben sich gedacht: Er wird mal höher steigen, mit ihm werde ich ganz nach oben kommen. Sie waren eine kluge Frau, die sich mit einem bornierten Mann eingelassen hat, um selbst an Machtpositionen heranzukommen. Beschäftigt Sie eigentlich nur die Vergangenheit oder nehmen Sie jetzt, wo Sie von allem Drangsal des Alltäglichen für immer befreit sind, noch etwas Anderes, Neues wahr?

Margot Honecker: Was Sie unverschämter Weise über meine Gründe, Erich Honecker zu heiraten sagen, will ich unkommentiert lassen. Was Sie über mein Verhältnis zur DDR-Vergangenheit gesagt haben, möchte ich als einen kleinbürgerlichen Standpunkt bezeichnen. Die DDR war mein Leben und der Sieg des Sozialismus ist ein den Einzelmenschen übergreifendes Thema. Alles andere verblaßt dagegen.

Udo Walz: Ich bin sehr darüber erfreut, wie Sie sich mir gegenüber öffnen. Kaum jemand kommt einem Menschen so nah wie ein Friseur. Man sagt ja, daß ein guter Friseurbesuch die Psychoanalyse ersetzt. So, dann mal los. Dann werde ich mal mit dem Schneiden beginnen.

Margot Honecker: Schneiden Sie mir bloß keine Frisur, die wie die von der Dame Merkel aussieht! Eine Topffrisur! Fürchterlich, man darf gar nicht hingucken. Aber so sehen diese spätbürgerlichen Damen der Bourgeoisie aus, wie Marionetten des Kapitals.

Udo Walz: Nun beleidigen Sie aber nicht eine meiner besten und treuesten Kundinnen. Im übrigen war der Schnitt bei der Kanzlerin gar nicht anders machbar, das lag an ihrer Haarstruktur, da mußte ich so vorgehen. 2004 habe ich übrigens einmal überschlagen, wie viele Köpfe ich bereits frisiert hatte: Weit über 200. 000! Und da hatte ich noch sechzehn Jahre vor mir, also rechnen Sie mit, wieviele Köpfe das insgesamt gewesen sind.

Margot Honecker: Ach, wenn ich an die Zeiten in der DDR zurückdenke, wie ich damals morgens mich ins Ministerium habe fahren lassen und dann spätabends zurück, an Wochenenden im ungeliebten Wandlitz inmitten der langsam vergreisenden Politbüromitglieder, wo keiner mit keinem sprach. Diese Abgeschiedenheit. Aber wenn die Abschlußbälle des Parteitags herannahten, da gab es für mich kein Halten mehr, da habe ich den ganzen Abend getanzt. Das Tanzen war meine Leidenschaft, ich konnte keinen Tanz auslassen.

Udo Walz: Das ist schön. Man sagt über Sie auch, daß Sie während Ihrer Ehe mit Erich Honecker des öfteren kleine Flirts hatten. Gab es auch richtige Affären?

Margot Honecker: Ach, da wurde nach dem Ende der DDR viel darüber geschrieben, das waren ja erfundene Geschichten. Aber ja, meine Verbindung mit Erich hatte sich im Laufe der Zeit verändert. Denken Sie auch an den Altersunterschied, immerhin fünfzehn Jahre. Unser Verhältnis wurde freundschaftlich-kameradschaftlich, er sagte zu mir immer »Mein Mädchen«.

Udo Walz: Ich kenne einen Witz, der über Sie als ›Genossin Minister‹, als Bildungsministerin in der DDR, erzählt wurde. »Worin besteht der Unterschied zwischen Margot Honecker und dem alten Fritz? Der alte Fritz hat Krüppel zu Lehrern gemacht«.

Margot Honecker: Der Lehrplan war Gesetz. Daran habe ich mich orientiert und dafür gesorgt, daß Inspektoren ohne Vorankündigung in eine Unterrichtsstunde marschiert sind und dem Lehrer gesagt haben: Heute ist die 18. Unterrichtswoche, du müßtest mit deiner Klasse so und so weit sein und heute ist das und das dran. Diese, wenn Sie so wollen, ›Uniformierung‹ des Unterrichts hat nicht allen Lehrern gepaßt. Aber der Lehrplan ist Gesetz, da kann man nicht so einfach darüber hinweggehen. Finnland hat wesentliche Teile des DDR-Bildungssystems übernommen, und nun sehen Sie sich an, wo Finnland heute im internationalen Vergleich steht: ganz oben.

Udo Walz: Unter Ihrer Führung gab es aber auch ideologische Härte gegenüber den Ihnen Untergebenen, und eine bigotte Haltung zudem. Einem Schüler wurde durch vier Streifenpolizisten das Emblem von Levis von dessen Jacke abgerissen, obwohl es diese Marke in DDR-Geschäften zu kaufen gab. Hingegen haben Sie, immer auf ein elegantes, modisches Äußeres bedacht, sich Ihre Kostüme, Röcke und Blusen gelegentlich aus Westdeutschland beschaffen lassen. Damit das aber nicht auffiel und weil Sie Westprodukte schätzten, haben Sie dann zum Beispiel von einem Bleyle-Pullover das Schildchen entfernen und ein österreichisches Etikett einnähen lassen. Und Sie haben sich Westzigaretten beschaffen lassen.

Margot Honecker: Ja, die ›HB‹, die schmeckte einfach besser als unsere Eigenproduktion. Aber was wurden mir nach 1989 nicht alles für Spinnereien vorgeworfen. Ich hätte ein aufwendiges Leben geführt, von wegen! Als ich einmal auf einem Fest eingeladen war, gab es Pflaumenkuchen, aber der war nicht einmal ganz durch.

Udo Walz: Das ist aber eine recht seltsame Argumentation. Naja, auf jeden Fall bin ich jetzt fertig mit Ihnen. Schauen Sie sich das Ergebnis mal im Rückspiegel an. (Hält einen Handspiegel hinter ihren Kopf.)

Margot Honecker: Ja, nicht schlecht. Dann kann ich mich wieder reinmischen in die menschliche Zivilisation.

Udo Walz: Früher habe ich mir immer vorgestellt, daß ich im Rentenalter mich ins Hotel Reid’s in Funchal auf Madeira einweisen lasse. Da fahren sie die alten Herrschaften auf ihren Liegen im Garten herum. Dann bin ich aber 2020 an Diabetes gestorben, mit 76 Jahren. Wenn man mich früher gefragt hat: »Who wants to live forever?« Dann habe ich immer gesagt: Ich! Es hat nicht geklappt, deshalb: Willkommen im Elysium!

Ein Platz in der Geschichte

Vom Erfolge hochgetragen wird derjenige, der den Wünschen, Bedürfnissen, Sehnsüchten, Nöten einer Landschaft, Gruppenschaft zum Sprachrohr, Sturmbock, Symbole dient. Da weiß man freilich nie: Hat dieser Mann Geschichte gemacht? Oder: Ist dieser Mann von Geschichte gemacht worden? (Theodor Lessing, 1924)

A.: Haben Sie das gelesen? Der bayerische Ministerpräsident will einen Platz in der Geschichte haben.

B.: Einen Platz in der Geschichte? Wo soll der zu finden sein?

A.: Sie müssen sich angewöhnen, sich in die Mentalität dieser Leute zu versetzen. Die Geschichte, das ist die ›Geschichte‹, das ist der Platz, wo man sitzt, auch wenn man schon längst liegt, tot, in einem Grab.

B.: Ach, und das interessiert den bayerischen Ministerpräsidenten? Weshalb ist er nicht froh, daß er durch viel Glück und das Übertrumpfen seiner Feinde in seiner Partei, an diese hohe Stelle in der Politik gekommen ist.

 A.: Sie denken viel zu landeskindermäßig, viel zu schlicht, nur auf das Wohlleben während des eigentlichen Lebens bedacht. Ein Politiker strebt nicht nur nach aktueller Macht, er will auch nach seinem Tode Macht ausüben, historische Macht, die schönste Macht überhaupt, weil sie ewig währt und mit Gedenkstätten verbunden ist.

B.: Ich verstehe. Und deshalb hat sich Helmut Kohl auch im Dom zu Speyer begraben lassen. Dom! Wie das schon klingt. Erhaben! Als töne es aus den Tiefen der Geschichte. Wie in Dom Pérignon.

A.: Machen Sie keine Witze. Das ist eine ernste Angelegenheit. Politik und Geschichte bestimmen unser aller Leben und der Politiker, der Bedeutendes leisten will für sein Land trägt mit sich die historische Verantwortung auch für seinen Platz in der Geschichte.

B.: Vor allem seinen Platz in der Geschichte.

A.: Natürlich, das liegt doch nahe, niemand ist selbstlos, höchstens vielleicht ein paar Heilige aus dem Mittelalter. Deshalb ja auch der Wunsch nach einem Platz in der Geschichte. Die Frage ist nur, welcher Platz soll es sein? Vielleicht ist durch die ganze historische Vergangenheit gar kein Platz mehr frei. Alles besetzt! liest man dann und wandert ziellos durch das Totenreich, nirgendwo ein Platz oder auch nur ein Plätzchen, wo man sich auf ewig niederlassen könnte.

B.: Manchmal kommt es aber vor, daß diese Politiker mehr ihren historischen Träumen nachjagen als aktuelle Politik zu betreiben. Wie oft ist es schon geschehen, daß solche Figuren dann mehr auf die Wirkung für die Nachwelt geachtet haben als an die unmittelbaren Folgen ihrer täglichen Entscheidungen.

A.: Papperlapapp! Lösen Sie sich doch bitte bald von solchen Vorstellungen. Sie brauchen Visionen, historische Visionen!

B.: Na, vielen Dank, die hatte Hitler auch, und nun überlegen Sie, was uns das beschert hat.

A.: Ausnahmeerscheinungen gibt es immer in Politik und Geschichte. Es kommt nur darauf an, wieviel Zeit inzwischen vergangen ist. Napoleon wird heute ganz anders bewertet als noch vor zweihundert Jahren, und warten Sie noch mal zweihundert Jahre und schauen Sie dann in die historischen Bücher, da werden Sie Hitler auch ganz anders bewertet wiederfinden. Mit Nero ist das übrigens jetzt schon geschehen. Was hat man dem nicht alles Schlechtes nachgesagt, und nun wird er uns als moderater, moderner Herrscher verkauft.

B.: Sie regen mich auf! Was reden Sie da nur für einen Blödsinn. Hitler wird heute und morgen und übermorgen von der geschichtlichen Forschung als der dargestellt werden, der er gewesen ist: ein Spieler und größenwahnsinniger Verbrecher.

A.: Lassen wir dieses Thema fallen und kehren wir zurück zu dem Platz in der Geschichte. Es gibt neben den Politikern ja auch noch das gewöhnliche Volk und wissen Sie, was das gern sein möchte?

B.: Ich habe keine Ahnung.

A.: Prominent! Von Prominenten gibt es weit mehr als man glaubt. Mehr als eine Fernsehsendung wirbt dafür, prominent zu werden. ›Deutschland sucht den Superstar‹ ist nur eines von solchen Programmen, die jungen Leuten die Illusion geben, sie könnten über ihren Alltag hinauswachsen und landesweit bekannt werden.

B.: Ich kann schon dieses Wort ›prominent‹ nicht ausstehen. Wenn so jemand meint, er wäre es, dann ist er für mich schon verdächtig und ich mache einen weiten Bogen um ihn. Früher hat man solche Personen als ›eitel‹ bezeichnet. Große Klappe und nichts dahinter, hat man damals gesagt. Aufschneider waren das, nichts anderes.

A.: Da muß ich ihnen zustimmen, doch die heutige Prominenz hat in vielen Fällen eine durchaus beachtliche Halbwertzeit? Daneben gibt es natürlich diese Leute, die nur prominent sind dafür, daß sie prominent sind. Aber es reicht in vielen Fällen wenigstens dazu aus, in dieser kurzen Zeit des Prominentseins etwas Geld beiseitezulegen, das man den Leuten aus der Tasche gezogen hat. Auf das kann man dann zurückgreifen, wenn man wieder ins Nichts der Bedeutungslosigkeit zurückgesunken ist.

 B.: Vermutlich gibt es sogar Bücher, die diese Möchtegern-Prominenten den Weg weisen, wie man prominent werden kann.

A.: Sie werden es nicht glauben, aber die gibt es. »Wie werde ich prominent?‹ heißt eins von ihnen. Der Autor macht sich lustig über diese Leute, aber er nennt eine Menge Adressen, an die man sich wenden kann, wenn man vorhat, prominent zu werden.

B.: Muß ich es ihnen aus der Nase ziehen oder erzählen Sie mir, was man tun muß, um prominent zu werden?

A.: Sie haben nichts verstanden. Ich verschwende doch nicht meine Zeit mit Ihnen, um über so ein stupides Thema zu sprechen. Das Thema Prominenz sollte doch nur ein Seitenbeispiel für die Frage sein, warum Politiker ständig auf der Suche nach einem Platz in der Geschichte sind.

B.: Sie haben jetzt schon in meiner Vorstellung von Ihnen einen festen Platz in meinem Bewußtsein. Und das kann ich Ihnen versichern, es ist dort nicht sehr gemütlich.

A.: Walhalla! Das ist es! Die Politiker haben den Walhalla-Komplex. In der Mythologie die ›Wohnung der Gefallenen‹, ist die Walhalla heute eines der bedeutendsten deutschen Nationaldenkmäler. Dort stehen Marmorbüsten und Gedenktafeln, die an Persönlichkeiten ›teutscher Zunge‹ erinnern. Diese Persönlichkeiten müssen wenigstens zwanzig Jahre tot sein, der germanischen Sprachfamilie angehören und Bedeutendes in Politik, Wissenschaft, Kunst oder dem Sozialwesen vorweisen können. Und an wen, glauben Sie, muß der Antrag zur Aufnahme in Walhalla gerichtet werden?

B.: Sie wissen es, Sie sagen es mir.

A.: An das bayerische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst.

B.: Wie schön, dann wird das eine hausinterne Entscheidung. Der bayerische Ministerpräsident muß nur zwanzig Jahre tot sein, dann kann er seinen Antrag stellen, am besten kurz vor seinem Ableben, in einem versiegelten Umschlag. Schwierig wird es nur, weil er ja noch am Leben ist und zugleich nach einem Platz in der Geschichte sucht und dieser ihm nur gewährt wird, wenn er bereits gestorben ist.

A.: Am Sonntag könnte es schon so weit sein. Dann ist in Bayern Landtagswahl. Wenn seine Partei verliert, wird sie schon dafür sorgen, daß er einen Freifahrtschein in die Ewigkeit erhält.

›Deutschland‹

A.: Die Staatsanwaltschaft Halle wirft der politischen Partei ›Alternative für Deutschland‹ vor, ein Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen in einer Wahlrede verwendet zu haben. Der Vorsitzende dieser Partei habe mit dem Satz »Alles für Deutschland« eine Parole benutzt, die die nationalsozialistische Terrorgruppe der NSDAP, die sogenannte SA (›Sturmabteilung‹) als ihren »Wahlspruch« ausgewählt hatte.

B.: Alles für Deutschland? Ist das nicht der umgestellte Titel von Hoffmann von Fallerslebens Lied ›Deutschland, Deutschland über alles‹?

A.: Nicht ganz. Das Lied heißt: ›Das Lied der Deutschen‹. Es wurde 1841 geschrieben und sollte die politische Einheit Deutschlands fördern. Es war gegen die Gebietsansprüche Frankreichs auf das Rheinland gerichtet und zugleich gegen die zersplitterten Einzelstaaten des Deutschen Bundes.

B.: Und wurde dann im Laufe der politischen Geschichte des Landes zu einem nationalistischen Kampflied, das Deutschlands Streben nach der Weltmacht unterstreichen sollte.

A.: So ist es. Es gab Vorläufer. So ›Des Deutschen Vaterland‹, das Ernst Moritz Arndt 1814 vor der ›Völkerschlacht‹ bei Leipzig schrieb, wo der Refrain sagt: »Sein Vaterland muß größer sein«. Schließlich folgt die Auflösung mit dem Satz: »Das ganze Deutschland soll es sein.«

B.: Ach, wirklich? Das hat doch die CDU gleich 1949 als Wahlkampfslogan benutzt. Mit Erfolg. Wir sind Adenauer als Kanzler gar nicht mehr losgeworden. Auch später hat die CDU sich immer wieder mit dem Wort ›Deutschland‹ geschmückt. Da hieß es dann: ›Aufwärts mit Deutschland‹, ›Aus Liebe zu Deutschland: Freiheit statt Sozialismus‹, ›Weiter so Deutschland‹ (womit eigentlich die CDU gemeint war, die allein berechtigt schien, Deutschland politisch weiter zu führen), ›Entscheidung für Deutschland‹ (erneut heißt der Subtext: Entscheidung für die CDU), ›Ja zu Deutschland – Ja zur Zukunft‹, ›Weltklasse für Deutschland‹, ›Gemeinsam für Deutschland‹, ›Kompetenz für Deutschland‹, ›Deutschland ist stark‹.

A.: Das ist schon starker Toback. Die Partei hat ja praktisch so getan, als sei allein bei ihr Deutschland in sicheren Händen.

B.: Dazu tendieren alle politischen Parteien. Sie wollen ihren partikularen Willen zum Gesamtwillen eines Landes machen und sich so zum alleinigen Souverän aufschwingen.

A.: Das ist mir bekannt und deshalb verabscheue ich auch alle diese Slogans auf das tiefste. Sie tun auch so, als ob der Wähler ein Idiot sei, der nur auf banale, nichtssagende Sprüche reagiert und nur so sich dazu bewegen läßt, zur Wahl zu gehen.

B.: »Ganz Deutschland fiebert mit der Nationalmannschaft.« Das wird doch immer dann von den Medien behauptet, wenn der internationale Fußball rollt. Ein Teil wird für das Ganze ausgegeben, ein sehr beliebtes Verfahren nicht nur bei den politischen Parteien. Ein Zustand, der gar nicht gegeben ist und auch niemals gegeben sein kann, wird postuliert und so getan, als bedürfe es nur des Anschlußes an eine imaginär vorgegebene Mehrheit, damit der Satz Wirklichkeit wird.

A.: Zurück zu dem Verfahren der Staatsanwaltschaft Halle. Wenn ein Satz wie der inkriminierte Satz ›Alles für Deutschland‹ strafwürdig sein soll, dann fragt man sich, ob bei der verwaschenen Allgemeinheit dieser Aussage es möglich sein wird, dazu einen Straftatbestand zu konstruieren.

B.: Vor Gericht werden in Deutschland gern politische Konflikte ausgetragen. Man verklagt lieber, als sich geistig mit einem Thema auseinanderzusetzen. Statt der Argumente hofft man bei uns stets auf den alle und alles versöhnenden Richterspruch. Die oberste Instanz ist hier immer das Gottesgericht, dem sich alle liebend gern unterwerfen. Nicht der politisch diskutierende Bürger ist gefragt, sondern der Argumente abwägende Richter. Und mit einem Richter wird es auch in diesem Verfahren nicht abgehen, am Ende, so spekulieren die Medien, werden wohl mehrere Instanzen mit der Sache befaßt werden.

A.: Ich hätte gleich zu Anfang der Parteigründung der ›Alternative für Deutschland‹ schon Einspruch einlegen mögen, denn eine solche Vereinigung als ›Alternative‹ zu bezeichnen, ist mehr als politischer Größenwahn, es ist vor allem ein Diebstahl an einem Wort und einer Sache. Als das Buch ›Die Alternative‹ von Rudolf Bahro 1977 erschien, habe ich es sofort gelesen. Im Untertitel heißt es: ›Zur Kritik des realexistierenden Sozialismus‹. Bahro war Bürger der DDR und wurde gleich nach Erscheinen seines Buches verhaftet und später wegen »landesverräterischer Sammlung von Nachrichten« zu acht Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Zum 30. Jahrestag der Gründung der DDR wurde Bahro dann amnestiert und verließ daraufhin die DDR.

B.: Das Wort ›Alternative‹ gab es natürlich schon vor Bahros Buch, aber ich verstehe Ihre Argumentation. Ob diese Partei, bei der ich das Kürzel AfD immer gern ›After‹ ausspreche, berechtigt ist, die Parole ›Alles für Deutschland‹ im Wahlkampf zu benutzen oder nicht, ist eigentlich unbedeutend im Vergleich zu der Frage, wieso überhaupt wegen einer solchen Lappalie ein sich über Monate und mehrere Instanzen hinziehendes Strafverfahren abgehalten wird. Man müßte den anderen politischen Parteien dringend anraten, sich konfrontativ mit den Positionen dieser Partei auseinanderzusetzen und auf das Liebäugeln mit dem Verbot dieser Vereinigung zu verzichten. Es zeugt doch von ungeheurer Schwäche, wenn man sich auf das Juristische zurückzieht und darauf hofft, daß eine Partei verfassungswidrig ist, wo doch die scharfe Auseinandersetzung die beste Lösung in der öffentlichen Arena zu sein scheint.

A.: Tja, da wirkt sicher der damalige Erfolg der NSDAP nach. Man will es nie wieder zum Auftrieb einer solchen kriminellen Vereinigung kommen lassen, und da ist dann das Verbot ein verlockendes Mittel, dies zu unterbinden.

B.: Ich verstehe schon, nur entbindet das die anderen politischen Parteien nicht von ihrer Aufgabe, die von ihnen vertretenen demokratischen Positionen im einzelnen in aller Öffentlichkeit auseinanderzufalten und den Wählern auch durch Entscheidungen in der praktischen Politik zu zeigen, daß sie die besseren Alternativen zu der ›Alternative für Deutschland‹ sind.

A.: Da scheint es duster auszusehen. Die staatstragenden Parteien haben sich schon zu lange in verschiedenen Machtstellungen eingelebt und haben sich so sehr daran gewöhnt, bei Wahlen praktisch durchgewunken zu werden, daß hier ein lebendiger Impuls kaum mehr zu spüren ist. Daß diese Parteien sich immer mehr auf Umfragen und PR-Strategien verlassen, macht die Sache auch nicht besser.

B.: Das beste Buch dazu ist immer noch das von Erwin und Ute Scheuch 1992 publizierte Werk ›Cliquen, Klüngel und Karrieren. Über den Verfall der politischen Parteien‹.

A.: Papier ist geduldig.

B.: Zu Büchern gibt es keine Alternative.

Neue Gespräche im Elysium V

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 v.u.Z – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.

Kurt Felix meets Walter Ulbricht

Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten. (Walter Ulbricht, 15. Juni 1961)

Walter Ulbricht: Niemand hat die Absicht …

Kurt Felix: Stop! Halt! Nicht weitersprechen! So geht’s aber nicht. Alles zurück! Sie können hier nicht Ihre uralten Sprüche aufwärmen. Das soll hier eine richtige Unterhaltung werden.

Walter Ulbricht: Die Bauarbeiter unserer Hauptstadt beschäftigen sich hauptsächlich mit Wohnungsbau, und ihre Arbeitskraft wird dafür voll eingesetzt. Niemand hat die Absicht …

Kurt Felix: Halt! Aufhören! Himmel, Arsch und Zwirn, hüt glingt mer au gar nüt! Verehrter Herr Ulbricht, bitte sprechen Sie mich doch direkt an und vergessen Sie für einen Moment Ihre historischen Augenblicke.

Walter Ulbricht: Wenn ich durch die Straßen gehe und etwas Neues, Schönes sehe, weis‘ ich stolz darauf: Das hat mein Freund getan! Mein Freund, der Plan!

Kurt Felix: Du liebe Zeit! Sitzt mir hier eine vorprogrammierte Sprechmaschine gegenüber oder handelt es sich wirklich um den ehemaligen Staatsratsvorsitzenden?

Walter Ulbricht: Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben, ja?

Kurt Felix: Lieber Herr Ulbricht, bitte versuchen Sie sich zu konzentrieren. Sie sind hier im Elysium, Sie brauchen Ihre früheren Funktionen im Leben hier nicht mehr zu aktivieren und können sich ganz entspannt mit mir unterhalten, über alles Mögliche. Haben Sie nicht irgendein Hobby gehabt? Das wäre ein schöner Gesprächseinstieg.

Walter Ulbricht: Wer sind Sie? Ich kenne Sie nicht. (Wendet sich um und sucht vergebens nach Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes, die ihm eine Geheimakte zustecken könnten. Zuckt mit den Achseln.) Je nun, wenn ich Sie bitten darf, sich vorzustellen.

Kurt Felix: Ich bin ein ehemaliger Schweizer Fernsehmoderator, ich heiße Kurt Felix, bin 1941 geboren und 2012 gestorben. Mit der zwischen 1980 und 1990 ausgestrahlten Sendung ›Verstehen Sie Spaß?‹ hatte ich meinen größten Erfolg. Das war eine Unterhaltungssendung, bei der berühmten und unbekannten Personen mit einer versteckten Kamera kleine Streiche gespielt wurden. Die Anregung für diese Sendung erhielt ich aus Amerika, wo seit 1947 die Sendung ›Candid Camera‹ lief. Man brachte die ›Opfer‹ in unerwartete Situationen und der Spaß bestand darin, zu beobachten, wie die darin hineinverwickelten Personen darauf reagiert haben. Sie waren nach der Aufdeckung der gestellten Szene dann wohl oder übel gezwungen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

Walter Ulbricht: Ja, das erinnert mich an den 8. Februar 1950, als bei uns in der Deutschen Demokratischen Republik das Ministerium für Staatssicherheit gegründet wurde. Es folgte dann gleich der Aufbau eines flächendeckenden Überwachungsapparates. Wir hatten hauptamtliche Mitarbeiter, aber auch inoffizielle Mitarbeiter. Diese lasen die Post der verdächtigen Personen, hörten ihre Telefone ab und verschafften sich auch bei Bedarf Zutritt zu den Wohnungen der Beobachtungsobjekte, ja?

Kurt Felix: Ich hatte Sie nach einem Hobby gefragt. Die Aushorchung der gesamten Bevölkerung der DDR gehört nicht dazu oder wollen Sie damit sagen, daß das Ihre schönste Freizeitbeschäftigung war, das heimliche Bespitzeln Ihrer Untertanen?

Walter Ulbricht: Jedermann an jedem Ort jede Woche einmal Sport. Diesen Satz habe ich erfunden und in der DDR propagiert. Ich war ein leidenschaftlicher Turner. Gleich nach dem Aufstehen habe ich für zehn Minuten Gymnastik getrieben. Meine spätere zweite Ehefrau Lotte habe ich beim Schlittschuhlaufen kennengelernt. Wir waren ein gutes Gespann. Wir haben ausgedehnte Spaziergänge und Wanderungen unternommen. Ich bin geschwommen, habe gerudert, Tennis gespielt, bin Ski gefahren. Ich war der Vorturner der DDR, ja?

Kurt Felix: Interessant, wir kommen dem Privatmann Walter Ulbricht doch schon etwas näher. Ich habe gelesen, daß Sie trotz dieser vielen sportlichen Betätigungen dennoch ständig eine Art von Leibarzt dabeihatten.

Walter Ulbricht: Je nun, man muß immer auf der Wacht sein, auch wenn man auf sich selbst aufpaßt. Als führende Person des Staates war es meine Pflicht, einem Ausfall meiner Person vorzubeugen. Das war im Prinzip nichts anderes als die durch die Staatssicherheit durchgeführten Kontrollmaßnahmen gegenüber unserem Volk. Dowerjai, no prowerjai. Vertraue, aber prüfe nach, wie der Genosse Lenin einmal gesagt hat.

Kurt Felix: Als Sie am 1. August 1973 gestorben sind, standen schon lange vor Beginn des offiziellen Staatsaktes kilometerlange Schlangen vor dem Gebäude des Staatsrates. Nach den Berichten über diesen Tag, waren das keineswegs nur abkommandierte Parteimitglieder der SED, sondern erstaunlich viele Bürger der DDR, die Ihnen die letzte Ehre erweisen wollten. Dann wurden Sie also geliebt von Ihrem Volk?

Walter Ulbricht: Ich war nicht beliebt und schon gar nicht geliebt, weil ich mit meiner verschlossenen Art und meinen bescheidenen rhetorischen Möglichkeiten die Massen eigentlich nicht erreicht habe. Aber das hat mich auch nicht gekümmert und die ideologischen Maßnahmen, die meine Partei unternommen hat, mich persönlich aufzuwerten, waren unverzichtbare Maßnahmen zur Etablierung einer Gefolgschaft. Ich bin 1 Meter 65 groß und habe durch ein frühes Kehlkopfleiden eine Fistelstimme bekommen, die durch meinen sächsischen Tonfall noch in ihrer Wirkung verstärkt wurde, ja? Zu runden Geburtstagen wurde ein Personenkult mit mir getrieben, dem ich zugestimmt habe, denn man weiß ja, daß die Massen der Führer bedürfen und daß es besonders wichtig ist, daß diese Massen ihre Führer verehren und lieben, ja? Der Genosse Honecker hat das 1961 in der Formel zusammengefaßt: »Ulbricht wird siegen. Und Ulbricht, das sind wir alle.«

Kurt Felix: In einer der zahlreichen Biographien, die über Sie geschrieben wurden, heißt es: »Er war kalt, abweisend, unbeliebt, verbissen, heimtückisch, selbstherrlich, linkisch, unbeholfen, verkrampft, angestrengt, skrupellos, nachtragend, herrisch und diktatorisch.« Das ist nicht gerade ein netter Nachruf.

Walter Ulbricht: Feindpropaganda muß so sein, nur wenn man den Feind diffamiert und dies immer wieder macht, wirkt es auf das Bewußtsein der Massen. Die wollen sich nicht mit Theorien aus der Arbeiterbewegung beschäftigen, die haben täglich ihre kleinen Sorgen und ihre kleinen Familien, das füllt sie vollkommen aus. Deshalb ist Feindpropaganda so wichtig und deshalb haben die Medien in der BRD auch ständig mich zu diskreditieren versucht und mir diese Eigenschaften zugeschrieben, die Sie eben aufgezählt haben.

Kurt Felix: Als gute Eigenschaften werden ihnen rasche Auffassungsgabe, enormer Fleiß, Neugier und ein hervorragendes Gedächtnis attestiert. Das fabelhafte Personengedächtnis soll ihnen allerdings auch dazu gedient haben, Rache zu nehmen an den Personen, die Ihnen einmal dumm gekommen waren. Die haben Sie dann, wenn die Gelegenheit sich ergab, bestraft. Es wird Ihnen ein untrüglicher Machtinstinkt nachgesagt, der alle äußerlichen Mängel und ihr bei öffentlichen Auftritten eher unbeholfenes Agieren kompensierte.

Walter Ulbricht: Ich habe alle meine Talente stets in den Dienst des Sozialismus gestellt. Als ich versuchte, die DDR zu einem besseren Staat zu machen als es die Sowjetunion jemals gewesen ist, da fiel mir die russische Partei- und Staatsführung in den Rücken und der ständig intrigierende Genosse Erich Honecker hat mich dann mithilfe der russischen Brüder gestürzt.

Kurt Felix: Das muß Sie geschmerzt haben, denn wenn ich es richtig sehe, haben Sie in Ihrem Leben immer nur die aktive Politik als Ihren Lebenssinn empfunden. Auf einmal standen Sie vor dem Nichts.

Walter Ulbricht: Man muß das dialektisch sehen. Das war die List der Geschichte und die List der Gewalt. Dieser Listen habe ich mich bedient, aber es kommt der Zeitpunkt im Leben, wo diese List sich gegen einen wendet. Das muß man akzeptieren, weil es ein objektiver Faktor ist und dennoch ist es natürlich persönlich ein schwerer Schlag ins Kontor, ja?

Kurt Felix: Ich weiß noch, wie ich an Krebs erkrankt bin und alle meine Fernsehaktivitäten aufgeben mußte, um wieder gesund zu werden. Und dann half alles nichts und ich bin dann doch bald an Krebs gestorben.

Walter Ulbricht: Haben Sie denn vor Gericht eine Verurteilung erreichen können gegen die Personen, die Sie mit versteckter Kamera aufgenommen haben?

Kurt Felix: Du liebe Güte! Nein, natürlich nicht, es ging doch gar nicht darum, den heimlich Gefilmten eine Straftat nachweisen zu wollen. Das war doch bloß ein harmloser Spaß. Das war pure Unterhaltung.

Walter Ulbricht: Das verstehe ich nicht. Wie können Sie Ihre kostbare Zeit damit verschwenden, irgendwelche Personen zu filmen, wenn Sie das nicht mit einem Auftrag tun, dessen Ziel es ist, den Personen etwas nachzuweisen, ja?

Kurt Felix: Sie müssen Sich von dieser Verfolgermentalität verabschieden. Es gibt im Leben Dinge, die man ganz zwecklos tut, oder wenigstens nur mit dem bescheidenen Zweck, die Menschen an den Fernsehgeräten gut zu unterhalten, auch wenn man dabei an die Schadenfreude der Zuschauer appelliert.

Walter Ulbricht: Niemand hat die Absicht …

Kurt Felix: Fangen Sie schon wieder damit an?

Walter Ulbricht: Niemand hat die Absicht, aus Spaßvergnügen fremde Personen zu beobachten. Damit ist immer eine Absicht, ein gesellschaftlicher Auftrag verbunden. Und dieser dient der Sicherheit des Staates.

Kurt Felix: Ja, eine Erkenntnis haben Sie mir heute vermittelt: Die Menschen ändern sich nicht, selbst nach ihrem Tod.

Somewhere over the Rainbow way up high

(Aus dem Hintergrund hört man ein Rumoren aus einem der Krankenzimmer der Notfallklinik. Eine Stimme schreit sehr laut.)

»Vitalität, Zuversicht, Freiheit. Substanz, Kompetenz, Sicherheit!«
»Vitalität, Zuversicht, Freiheit. Substanz, Kompetenz, Sicherheit!«
»Vitalität, Zuversicht, Freiheit. Substanz, Kompetenz, Sicherheit!«

1. Pfleger: Nun hör dir das an! Den ganzen Tag geht das nun schon so! Ich kann’s nicht mehr hören. Können wir dem Kerl nicht eine Beruhigungsspritze geben? Oder ihm wenigstens den Mund zukleben?

2. Pfleger: Jaja, ich weiß, es ist furchtbar, was man auf dieser Station manchmal aushalten muß. Aber dieser CDU-Generalsekretär ist doch erst seit gestern hier und in solchen Fällen muß man die langfristige Wirkung der Psychopharmaka abwarten. Das geht nicht ruckzuck, das muß langsam einsinken.

1. Pfleger: Was will dieser Kerl damit eigentlich sagen? Ganz verrückt scheint er mir nicht zu sein, immerhin ist er doch Generalsekretär einer der staatstragenden Parteien geworden. Man stellt doch keinen Irren für eine solche Tätigkeit ein.

2. Pfleger: Ach du liebes Bißchen, du bist aber naiv. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wen ich hier schon auf der Station hatte, und alles scheinbar normale Leute, die ihre Doktortitel und Auszeichnungen hatten. Für manche Berufe ist es sogar zwingend vorgeschrieben, daß man einen Schuß weg hat. Diese Leute vom Marketing haben auch ein Fremdwort dafür. Sie nennen es Kreativität.

1. Pfleger: Kreativität? Ich weiß ja nicht. Der Mann ist doch hierhergekommen, weil er auf einer Pressekonferenz immer wieder gerufen hat: »Vitalität, Zuversicht, Freiheit. Substanz, Kompetenz, Sicherheit!« Was ist daran kreativ? Das kommt mir eher zwanghaft vor, so wie ein Geistesgestörter, der in seinem Bett, wo man ihn festgebunden hat, damit er sich nicht selbst beschädigt, ununterbrochen sein Mantra herausschreit.

2. Pfleger: Paß bloß auf, daß du dir nicht eine Strafanzeige einhandelst! Die von dir zitierten Worte sind Beschreibungen für die neuen Farben der Partei. Damit spaßt man nicht. »Cadenabbia-Blau« und »Rhöndorf-Blau« heißen die neuen Farben der CDU, mit denen sie ihr öffentliches Image aufbessern will.

1. Pfleger: Mit Farben? Im Ernst? Ja, sind wir denn in der Kita? Malen wir uns ein Märchenschloß? Sind wir im Kindergarten?

2. Pfleger: Ich würde vorsichtig mit solchen Behauptungen sein. Für die CDU und ihren Generalsekretär ist das eine ganz ernste Angelegenheit. Die Partei ist jetzt fünfundsiebzig Jahre alt. Da braucht man schon einmal einen neuen Anstrich. Das »Cadenabbia-Blau« geht übrigens auf Konrad Adenauer zurück, der in Cadenabbia am Comer See gern die Sommerferien verbracht und dort das Boccia-Spiel gelernt hat. Es steht da auch ein Bronze-Denkmal von Adenauer, der in der rechten Hand eine Boccia-Kugel hält, aber es sieht eher so aus, als wolle er sich einen runterholen.

1. Pfleger: Und du gibst mir gute Ratschläge, wie man sich nicht eine politisch motivierte Strafanzeige einhandelt!

2. Pfleger: Das ist doch ganz nebensächlich, wichtig ist nur, daß die CDU auf »Cadenabbia-Blau« setzt, was mehr wie ein helleres Türkis aussieht. Und dieser Farbe werden vom CDU-Generalsekretär folgende Eigenschaften zugeschrieben: Vitalität, Zuversicht, Freiheit. Das ist aber nicht alles. Es gibt noch eine zweite Farbe, es ist ein tiefes Dunkelblau. Die nennen sie: »Rhöndorf-Blau«. Das ist ein Stadtteil von Bad Honnef und in Rhöndorf wohnte der spätere erste deutsche Bundeskanzler seit 1935. »Rhöndorf-Blau« ist wie »Cadenabbia-Blau« semantisch aufgeladen. Es soll bedeuten: Substanz, Kompetenz, Sicherheit.

1. Pfleger: Jetzt verstehe ich das ständige Schreien des hospitalisierten CDU-Generalsekretärs. »Vitalität, Zuversicht, Freiheit. Substanz, Kompetenz, Sicherheit!« Er ist daran irre geworden.

2. Pfleger: Das kann man auch. Es ist die reine Willkür. Die amerikanische demokratische Partei hat seit ihrer Gründung sich auf die Farbe Blau festgelegt während die republikanische Partei die Farbe Rot bevorzugt. Rot ist aber in Europa traditionell die Farbe der sozialistischen Arbeiterparteien. Es ist die reine Willkür. Und wenn man bedenkt, daß die CDU in ihren Landesverbänden in der Vergangenheit von Orange, Rot, Blau und sogar Grün und Beige Gebrauch gemacht hat, dann setzt sich diese willkürliche Wahl der Farben munter fort. Nun soll aber die CDU bundesweit vereinheitlicht werden. Alles wird blau.

1. Pfleger: Der Alkoholmißbrauch unter den Politikern ist ein ernstes Thema.

2. Pfleger: Damit hätten wir den Kalauer-Anteil an dieser Unterhaltung hinter uns gebracht. Also, nochmal: Die CDU färbt sich einheitlich blau und ihr Generalsekretär sagt dazu, die Partei »erneuere damit nicht nur den Markenkern, sondern auch ihr Erscheinungsbild.« Mit dem »Markenkern« meint er das neue Grundsatzprogramm, was potentielle Wähler ja immer brennend interessiert.

1. Pfleger: Markenkern? Das haben doch zuerst die Firmen für sich reserviert. Coca Cola ist Coca Cola und nicht Pepsi Cola.

2. Pfleger: Bis in einem anonymisierten Test sich herausstellte, daß nicht einmal die Manager der beiden Süßwasser-Firmen unterscheiden konnten, welches ihre Marke ist.

1. Pfleger: Es wird eben immer schwieriger, Unterscheidungen herzustellen, da alles sich allem angleicht. Wir leben in einem Zeitalter der Monotonisierung.

2. Pfleger: Wer will ernsthaft an solche Aufzählungen glauben? »Vitalität, Zuversicht, Freiheit. Substanz, Kompetenz, Sicherheit!« Man könnte auch andere Synonyme finden und würde damit auch nicht weiterkommen. Es sind völlig sinnentleerte Wörter. Früher sagte man: Friede, Freude, Eierkuchen. Das klang jedenfalls netter und war doch auch nur eine sprichwörtliche Redensart.

1. Pfleger: Das muß dem CDU-Generalsekretär wohl in einem lichten Moment auch aufgegangen sein. So hat er sich dann selbst hier eingeliefert. Das Schlimmste habe ich dir noch gar nicht erzählt. Die CDU hat angekündigt, es soll künftig auch eine »CDU-Melodie« geben.

2. Pfleger: »Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien, Hei-di-tschimmela-tschimmela-tschimmela-tschimmela-bumm!«

1. Pfleger: Haha, das war 1948 die inoffizelle deutsche Nationalhymne. Aber du hast recht, ein Karnevalslied sollte es schon sein, die CDU ist ja eine katholische Partei und im Rheinland fest verankert. »Sie hat uns Alles gegeben. Sonne und Wind. Und sie geizte nie. Wo sie war, war das Leben. Was wir sind, sind wir durch sie. Die Partei hat recht, die Partei hat recht, die hat immer recht.«

2. Pfleger: Das ist die Hymne der ›Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands‹ gewesen, aus dem Jahre 1949.

1. Pfleger: Wenn die CDU schon Adenauer bemüht und ihre Farben nach ihm ausrichtet und alles zurück in die Zukunft geht, dann muß es so etwas Ähnliches sein. Die reine Nostalgie. Ein Karnevalsschlager eben.

2. Pfleger: Ich hab’s. ›Highway To Hell‹.

Neue Gespräche im Elysium IV

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 v.u.Z – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.

Horst Herold meets J. Edgar Hoover

 Horst Herold: Ich begrüße Sie, Mr. Hoover. Es hat lange gedauert, bis ich einen Gesprächstermin mit Ihnen bekommen konnte. Nun ist es soweit. Lassen Sie mich vorab eines klarstellen: Es ist Ihnen hoffentlich bewußt, daß Sie hier ein Sicherheitsrisiko darstellen?

J. Edgar Hoover: What the fuck?! Du german Schweinhund! Nobody fucks with J. Edgar!

Horst Herold: Und schon ist das Eis gebrochen. Was ich gerade gesagt habe, ist nicht aus der Luft gegriffen. Selbstverständlich habe ich mich auf unser Treffen gründlich vorbereitet und ein Dossier über Sie anlegen lassen.

J. Edgar Hoover: Dossier? A set of papers containing information about a person, often a criminal?

Horst Herold: Das ist zutreffend. Sehen Sie, wie Sie sicher aus meinem Dossier, das Sie ganz sicher auch haben anlegen lassen, wissen, war ich von 1971 bis 1981 Präsident des Bundeskriminalamtes der Bundesrepublik Deutschland. Unter meiner Führung habe ich das BKA zu einer modernen Ermittlungsbehörde und zum High Tech-Zentrum der terroristischen Verbrechensbekämpfung entwickelt. Ich bin der Erfinder der Rasterfahndung. Mein Satz »Wir kriegen sie alle« wurde damals während der Jagd auf die Terroristen berühmt. Dieses Selbstbewußtsein konnte ich allein deshalb entwickeln, weil ich die Fahndung auf der Basis von computergestützten Daten durchführen ließ. Natürlich muß man bedenken, daß es zu dieser Zeit noch keine überall verbreiteten Heimrechner gab, sondern klobige Maschinen in großen Räumen, die aber, wenn man sie intelligent fütterte, enorme Erfolge zeitigten. ›Inpol‹ nannte ich das System, mit dem ich viele der deutschen Terroristen festnehmen konnte. Aber dann, nachdem der deutsche Arbeitgeberpräsident entführt worden war, 1977, lagen mir zwar ganz konkrete Hinweise auf den Aufenthaltsort des Entführten vor, doch aufgrund menschlichen Versagens wurde diese Information nicht ins System eingegeben, ein Fernschreiben ging verloren, und so konnten die Terroristen den Arbeitgeberpräsidenten in ihrem Versteck ermorden. Danach bin ich noch bis 1981 beim BKA tätig gewesen, aber meine Datenbanken wurden zunehmend der öffentlichen Kritik unterworfen, mir wurde gesagt, daß ich mit meinen Fahndungsmethoden den bürgerlichen Rechtsstaat untergrabe, und so ließ mich die Politik schließlich fallen. Ich wurde für »dienstunfähig« erklärt und frühzeitig in den Ruhestand versetzt. Das war der Dank des Vaterlandes.

J. Edgar Hoover: Well, das tut mir leid, Sie scheinen ja doch ein ganz vernünftiger Mann gewesen zu sein. Man muß als führender Beamter einer Polizeibehörde immer guten Kontakt zur Politik unterhalten. Das ist mir immer gelungen.

Horst Herold: Sie sind von 1924 bis 1972 Direktor des FBI gewesen. Fast fünfzig Jahre an der Macht einer so bedeutenden Behörde verschafft einem doch einen ungeheuren Wissensvorsprung und versetzt Sie in die Lage, jeden Bürger, der Ihnen etwas Böses will, fertigzumachen, und zwar in ziemlich gründlicher Weise.

J. Edgar Hoover: Ich habe lediglich dem amerikanischen Staat meine Dienste zur Verfügung gestellt.

Horst Herold: Was haben Sie wirklich erreicht? Wenn ich mir die Fälle anschaue und die Resultate danebenhalte, so kann man sagen, daß Sie mit den unzähligen Einbrüchen in Privatwohnungen, dem Abhören von privaten Telefongesprächen, der Verwanzung von Privaträumen, der gewaltigen Sammlung von pornographischen Fotos von Personen, die sie jederzeit damit erpressen konnten, zwar eine ungeheuer umfangreiche Sammlung von Dossiers haben zusammentragen lassen, aber das Ergebnis ist dagegen mehr als bescheiden. Ja, im Falle der fast schon von Besessenheit erfüllten Jagd auf die amerikanische kommunistische Partei, die in der politischen Öffentlichkeit keine Rolle gespielt hat, stelle ich fest, daß Sie vielen Angehörigen dieser Partei die Lebenschancen zerstört haben.

J. Edgar Hoover: Das ist alles kommunistische Propaganda. Ich habe in vielen Artikeln und Büchern auf die kommunistische Weltgefahr hingewiesen und vor dem Untergang der amerikanischen Zivilisation gewarnt.

Horst Herold: Die Bücher, die Sie erwähnen, tragen Titel wie ›Persons in Hiding‹ (1938), ›Masters of Deceit‹ (1947) und ›A Study of Communism‹ (1962). Die haben Sie aber nicht selbst geschrieben, das haben Ghostwriter für Sie erledigt. Und die Einnahmen aus dem Verkauf dieser Titel hat Sie sogar reich gemacht. ›Masters of Deceit‹ ist im Verlag eines sagenhaft reichen texanischen Ölmagnaten erschienen, auf dessen Anwesen in Kalifornien haben Sie und Mr. Tolson häufig Urlaub gemacht, eine anrüchige Angelegenheit, denn Staatsdiener dürfen sich eigentlich nicht von Multimillionären einen extravaganten Bungalow-Urlaub spendieren lassen. (Ich habe diese und andere Details der sehr aufschlußreichen Studie von Tim Weiner über das FBI entnommen.) In fünf Städten der USA standen ständig fünf gepanzerte Cadillacs als Ihre Fahrbereitschaft zu Ihrer Verfügung. Täglich haben Sie sich in Washington im exklusiven Mayflower Hotel eine Mittagsmahlzeit servieren lassen. Sie haben einen recht luxuriösen Lebensstil gepflegt.

J. Edgar Hoover: Was wollen Sie mir vorwerfen? Daß ich wie jeder Amerikaner die Chancen ergriffen habe, die sich mir boten? Soll das kriminell sein? Ich werde Ihnen sagen, was kriminell ist: Wenn Kommunisten versuchen, diese Gelegenheiten für ein schönes Leben systematisch zu bekämpfen und uns alle unter ihre totalitäre Herrschaft zu bringen versuchen.

Horst Herold: Nochmal zurück auf die Erfolgsbilanz Ihrer Jahre beim FBI. Sicher haben Sie in Ihrer Anfangszeit den einen oder anderen Gangster dingfest machen können, doch verblaßt das meines Erachtens im Vergleich zu dem teuren und eigentlich völlig nutzlosen Überwachungskampf gegen einen imaginären inneren Feind. Immer wieder wurde auch deutlich, wie schlecht organisiert das FBI war, ja, daß es Zeiten gab, nach Ihnen, wo der Direktor des FBI sich weigerte, mit dem amtierenden Präsidenten zu sprechen. Als die Anschläge auf die Twin Towers in New York geschahen, bemerkte man hinterher, daß das FBI über viele Informationen verfügt hatte, die zur Verhinderung dieses Verbrechens hätten führen können, aber die Koordination innerhalb des Systems versagte, nicht zuletzt auch deshalb, weil völlig veraltete Computer dies verhinderten.

J. Edgar Hoover: Wie können Sie so etwas behaupten?! Ich habe unter sechs amerikanischen Präsidenten gedient und alle waren sie mit mir mehr als zufrieden. Lyndon B. Johnson hat mir per Präsidialerlaß ermöglicht, daß ich auch nach Erreichen des Rentenalters weiter an der Spitze des FBI stehen konnte. Lyndon B. Johnson und Richard Nixon haben mich häufig mehrmals am Tage angerufen und meinen Rat gesucht.

Horst Herold: Das ist richtig, aber 1973, ein Jahr nach Ihrem Tod, wurden die ›COINTELPRO‹-Papiere publiziert, die das ganze Ausmaß Ihrer seit Jahrzehnten betriebenen verdeckten Ermittlungen gegen unbescholtene amerikanische Staatsbürger offenlegten. Allein von 1956 bis 1971 haben Sie mindestens zweitausend illegale Maßnahmen gegen zivile Organisationen befohlen. Das hat Ihnen in der öffentlichen Wahrnehmung Ihrer Person sehr geschadet. Sie fielen tief, von dem allseits verehrten Herold der Sicherheit zum heimlichen Erschaffer eines Überwachungsstaates.

J. Edgar Hoover: Ich lasse mir doch nicht von Ihnen meinen überaus erfolgreichen Kampf für Recht und Ordnung durch solche Redereien kaputtmachen. Im übrigen: Sie sind bereits nach zehn Jahren von Ihrem Posten als Präsident des BKA entbunden worden.

Horst Herold: Auch das ist richtig, aber ich habe nie versucht, das demokratische Gemeinwesen zu untergraben mit den von Ihnen praktizierten zweifelhaften Methoden, die am Ende nicht einmal irgendeinen Erfolg erbracht haben. Im Vergleich zu Ihrer Machtstellung, bei der Sie vorgesetzte Minister, wenn Entscheidungen anstanden, einfach übergangen haben, war meine Position als Präsident des BKA mehr als bescheiden. Es gab natürlich Kritik an meiner Amtsführung, so von einem bekannten Schriftsteller und Essayisten — den werden Sie jetzt nicht kennen — Hans Magnus Enzensberger, der hämisch über mich gesagt hat: »Seine Macht ist aus der Software eines Computers gewachsen. Von seinem Wiesbadener 40-Millionen-DM-Hauptquartier aus gebietet er über das modernste polizeiliche Datenverarbeitungssystem der Welt. Von diesem ›Lagezentrum‹ aus erreicht er, bei kürzesten ›Zugriffszeiten‹, die Rechner der Landeskriminalämter und das Datennetz der Interpol. Die Gestapo konnte von technischen Mitteln dieser Reichweite nur träumen. Horst Herold will uns einen sozialdemokratischen Sonnenstaat bescheren.« Ja, schön wär’s gewesen oder besser gesagt: das habe ich gar nicht angestrebt. Vieles ist in infamer Weise mißdeutet worden, so die Versuche der Mustererkennung. Wir verfolgten ein System des ›technischen‹ Datenschutzes, das den Computer so konstruiert, daß Mißbräuche von Personendaten bereits physikalisch-technisch ausgeschlossen werden. So wurden zum Beispiel Vorkehrungen getroffen, daß ›Bewegungsbilder‹ schon deshalb nicht entstehen können, weil die Protokollier- und Aufzeichnungsmöglichkeiten für solche Bilder auf Magnetplatten physikalisch unterbrochen wurden. Das BKA ist nur eine Verteilungsstelle der parallel geführten Informationen an die Rechner der Landeskriminalämter, die die Anfragen beantworten. Wer wann über wen anfragt, erfährt das BKA gar nicht. Dies schließt aus, daß das BKA ›Bewegungsbilder‹ erstellen und zentrale Macht gewinnen kann. Die Kriminalpolizei hat in sämtliche Polizeirechner das Prinzip der ›Spurenlosigkeit im System‹ hineinprogrammiert. Dies bedeutet, daß weder Anfragen noch Antworten vom INPOL-System aufgezeichnet werden, sie werden sofort wieder vergessen. Entgegen den Behauptungen der gegen den Begriff ›Rasterfahndung‹ gerichteten Kampagnen ist diese die einzig mögliche Form einer polizeilichen Fahndung, die Unschuldige und Nichtbetroffene dem Fahndungsvorgang fernhält.

J. Edgar Hoover: Mmhh, das scheint mir nicht effektiv zu sein, man will doch alles das, was man aufnehmen kann, auch im Gesamtüberblick vor sich liegen haben.

Horst Herold: Ich glaube, Ihr Impuls, alles aufnehmen und kontrollieren zu wollen, läßt sich zurückführen auf Ihre Zeit in der Library of Congress in Washington, als Sie für eine Weile in der Titelaufnahme beschäftigt waren. Der Schritt von der Erfassung eines Buches mit allen seinen typischen Merkmalen zum Menschen als Objekt der totalen Datenerfassung ist nicht weit. Es kam ihrem instinkthaften Trieb nach absolutem Wissen und der freien Handhabung über dieses Wissen nahe.

J. Edgar Hoover: Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen. Der englische Philosoph Jeremy Bentham hat die Konstruktion eines perfekten Gefängnisses beschrieben. Er hat es ›Panopticon‹ genannt. In der Mitte dieses Panopticons steht ein Wachturm, von dem aus die dort stehenden Wächter die rundherum angeordneten offenen Gefängniszellen einsehen können. Die Konsequenz dieser Konstruktion ist die, daß alle Gefangenen diesen Überwachungsblick in ihr aktuelles Verhalten einbauen. Sie nehmen in Gedanken die zu befürchtende Bestrafung vorweg und orientieren sich an dem Blick des Wächters auf dem Turm. Das ist doch einfach großartig, denn so verringert sich das strafbare Verhalten, einfach durch Selbstkontrolle und die Angst, bei einer Straftat erwischt zu werden. Damit aber auch die Wächter sich an die gesetzlichen Vorschriften halten, hat Bentham vorgesehen, diese Konstruktion zu erweitern, indem weitere Wächter hinzugezogen werden, die wiederum die vor ihnen stehenden Wächter beobachten. Und natürlich wissen die Primärwächter, daß sie von den Sekundärwächtern beobachtet werden, und das kann dann immer weiter fortgeführt werden mit einer dritten und vierten und fünften Dimension, so daß am Ende jeder jeden kontrolliert und für die Einhaltung des Gesetzes sorgt.

Horst Herold: Das ist genau die Gesellschaft, die ich nicht haben will und die ich während meiner Zeit beim BKA auch niemals angestrebt habe. Auf für mich persönlich tragisch-ironische Weise habe ich allerdings nach meiner Versetzung in den Ruhestand von 1981 bis 2017, sechsunddreißig Jahre lang, auf dem Gelände des Bundesgrenzschutzes in einem auf meine Kosten errichteten Haus wohnen müssen, da die Bundesrepublik Deutschland sich nicht in der Lage sah, mich polizeilich vor Terrorangriffen zu schützen. Ich war der letzte Gefangene der ›Rote Armee Fraktion‹ (RAF). Ich wollte ein Buch über die RAF schreiben, aber der zuständige Minister hat mir keine Akteneinsicht gestattet. So bin ich dann ein Jahr vor meinem Tod mit 95 Jahren nach Nürnberg gezogen, wo ich früher als Polizeipräsident gewirkt hatte.

J. Edgar Hoover: Eine traurige Geschichte. Das ist mir erspart geblieben, aber ich hatte auch jederzeit alle Trümpfe in der Hand. Das hätte einer der Politiker wagen sollen, mir Akteneinsicht zu verwehren! Ich habe denen Akteneinsicht verwehrt, natürlich nur aus Sicherheitsgründen, im Interesse des Landes. Sie glauben nicht, was ich mit Kongreßabgeordneten und Senatoren alles erleben mußte. Unsere Behörde hatte aber ausreichend Belastungsmaterial in der Hinterhand, Tonbandmitschnitte von Sexparties und die dazugehörigen Fotos von Politikern in äußerst kompromittierenden Stellungen. Da wagte keiner, mir vor den Karren zu fahren. Den hätte ich zerquetscht wie eine Laus.

Horst Herold: Ich habe einen ganz anderen kriminalsoziologischen Ansatz gehabt. Es ging mir weder um die Erpressung von Politikern noch um die Jagd nach einem imaginären Feind, sondern um eine präzise Bestandsaufnahme einer gegebenen Situation. Wissen Sie, ich war als Kind Teil der kommunistischen Jugendbewegung und als Student Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), und da habe ich auch viel gelesen, Marx zum Beispiel. Das haben längst nicht alle damals gemacht, die sind teilweise nur mitgelaufen, weil sie ein Gemeinschaftserlebnis fühlen wollten. Mein Marx-Studium hat mir gezeigt, daß der sogenannte dialektische Materialismus der wichtigere Teil des Marxismus ist. Das bedeutete für meine polizeiliche Arbeit: Man mußte das Weltbild der Gegenseite kennen und dann die kriminalistischen Grundrechenarten anwenden. Man mußte sich gedanklich in den Gegner hineinarbeiten. Wenn man das machte, und das habe ich gemacht, dann wußte man, daß er so und nicht anders handeln würde. Man mußte den dialektischen Materialismus als Analysehilfsmittel benutzen. Es nutzt nämlich gar nichts, wenn man sich wie die durch die Massenmedien paralysierten Politiker und Wähler von den oberflächlichen Schlagzeilen über die Terroristen verrückt machen läßt, das führt nur zu Gegenterror, nein, indem man sich der anderen Seite anschmiegt und versucht, wie sie zu denken, kommt man ihnen näher, und nur so erzielt man dann auch Fahndungserfolge.

J. Edgar Hoover: So tief wie Sie denke ich nicht. Mir hat es stets gereicht, daß ich wußte, auf welcher Seite ich stand: auf der richtigen.

Horst Herold: Das ist ein schlimmer Fehler. Sie ahmen damit nur die andere Seite nach, auf der gefühlsmäßigen Ebene, erreichen aber niemals ihre Mentalität, die sie vorantreibt. Sie sind damit eigentlich auch nichts anderes als diejenigen, die Sie zu bekämpfen vorgeben. Aber wenden wir uns doch der Seite Ihres Wesens zu, die nach Ihrem Tod bis heute sich gegenüber Ihrer nachrichtendienstlichen Tätigkeit stark in den Vordergrund geschoben haben. Was ist mit Clyde Tolson? Sie haben mit ihm zusammengelebt. Waren Sie ein Paar?

J. Edgar Hoover: Wir haben eine Wohnung miteinander geteilt und sind auch auf vielen sozialen Veranstaltungen gemeinsam aufgetreten. Ein spirituelles Band führte und hielt uns zusammen.

Horst Herold: Tolson war ihr Protégé und stellvertretender FBI-Direktor. Sie sind mit ihm verreist und waren für viele Jahre gemeinsame Bewohner eines Apartments. Er hat nach Ihrem Tode eine halbe Million US-Dollar von Ihnen geerbt, das sind in heutiger Umrechnung immerhin fast vier Millionen US-Dollar. Das alles sieht doch sehr nach einer eheähnlichen Verbindung aus. Präsident Nixon nannte Sie im privaten Rahmen »that old cocksucker«.

J. Edgar Hoover: Was hat Nixon nicht alles gesagt?! Sie kennen doch gewiß die Watergate-Tapes. Das von Ihnen zitierte Wort ist in den Vereinigten Staaten im übrigen weit verbreitet und wird bei vielen Gelegenheit gebraucht, damit ist nicht immer und unbedingt etwas Sexuelles verknüpft.

Horst Herold: Von Ihnen und Ihrem Mitbewohner Clyde Tolson gibt es ein Foto aus dem Jahr 1939, wo Sie beide in Lounge Chairs sitzen, beide mit identischen zweifarbigen Schuhen.

J. Edgar Hoover: Das war ein Sonderangebot, da hat Mr. Tolson zugegriffen. Zwei Paar zum Preis von einem. Sowas hat er sich nie entgehen lassen.

Horst Herold: Was mich an der ganzen Sache sehr irritiert, ist die Tatsache, daß sie beide für viele Jahre eine gemeinsame Wohnung unterhielten und sich auch als Paar in der Öffentlichkeit ungeniert gezeigt haben. Sie haben auch keine Zeit damit verschwendet, eine heterosexuelle Fassade aufzubauen und sich mit Frauen in der Öffentlichkeit gezeigt. Könnte es nicht sein, daß es niemals zu einem von den Medien lancierten ›Outing‹ gekommen ist, weil niemand im Washingtoner Pressekorps es gewagt hätte, Sie öffentlich bloßzustellen? Die Konsequenzen für den Journalisten wären vielleicht sogar letal gewesen. Sie hätten vielleicht etwas veranlaßt, wie es Cary Grant in Alfred Hitchcocks Film ›North by Northwest‹ (1959) geschah, der zuerst mit Whisky abgefüllt und dann in einen Wagen ans Steuer gesetzt wurde, dessen Bremsen vorher außer Funktion gesetzt worden waren?

J. Edgar Hoover: Das sind Hollywood-Phantasien. Wer meine Arbeit im FBI kennt, wird niemals solchen Unsinn vermuten.

Horst Herold: Nun, wenn Sie sich heute über Ihre Person informieren wollen, tauchen diese Geschichten immer wieder auf, sogar Spielfilme handeln davon. Sie sind zu einer Art Frankenstein geworden. Und man zeichnet Sie als eine ›Drag Queen‹, die High Heels trägt und künstliche Wimpern.

J. Edgar Hoover: Wie ich eben schon sagte, das sind Hollywood-Phantasien, das ist die Rache an meiner Person durch diese Liberalen und Linken, die in der Scheinwelt ihrer Filme leben und mich schon zu Lebzeiten immerzu diskreditiert haben.

Horst Herold: Verlassen wir diesen Themenkomplex einfach und lassen die Dinge auf sich beruhen. Ihre Beziehungen zu den amerikanischen Kirchen haben sich einer ganz besonderen Aufmerksamkeit erfreut. Mir liegt eine Studie vor, die gerade erst publiziert wurde, basierend auf vielen bisher unbekannten Dokumenten aus den Archiven des FBI. Die Studie heißt ›The Gospel of J. Edgar Hoover. How the FBI Aided and Abetted the Rise of White Christian Nationalism‹, geschrieben von Lerone A. Martin, Princeton University Press 2023. Darin werden viele bislang unbekannte Dokumente zitiert, zum Beispiel Briefe von Kirchenmitgliedern, die sich an Sie gewendet haben in der Hoffnung, daß Sie ihnen spirituellen Rat geben, aber auch, daß Sie Ihnen vertraulich mitteilten, ihren Pastor zu verdächtigen, ein heimlicher Kommunist zu sein. Das waren praktisch Denunziationen. Sie sind auf solche schriftlichen Anfragen immer gern eingegangen und haben es nicht versäumt, den Fragestellern neben ein paar persönlichen Worten auch, ähem, ›Informationsmaterial‹, per Post zuzustellen, Aufsätze und Artikel, die Sie geschrieben haben oder haben schreiben lassen.

J. Edgar Hoover: Das waren alles gottesfürchtige Menschen, die in ihrer Not sich an mich wandten, um einen Ausweg zu finden.

Horst Herold: Hinter diesen gottesfürchtigen Menschen standen aber weiße Evangelisten, die zusammen mit ihren mächtigen Organisationen einen nicht unerheblichen Einfluß auf das Meinungsklima in den USA ausübten. Sie standen doch nicht nur in Verbindung mit diesen Kirchenleuten, sondern haben für Ihre Agenten alljährliche religiöse Tagungen arrangiert, die auf mich wie ein militärisches Trainingslager für fanatische Christen wirken. Das FBI war auch ein ausschließlich weißer, männlich dominierter Verein. Sie sahen sich als Soldaten in der Armee Gottes, und dieser Soldat kämpft sein Leben lang dafür, daß Amerika eine weiße christliche Nation bleibt. Wer da nach Ihrer Einschätzung nicht dazugehörte, der war Teil der Blasphemie und Subversion und mußte unnachsichtig überwacht und, wenn nötig, ausgeschaltet werden. So entstand dann der Glaube, daß es bei der Ausübung des täglichen Dienstes als FBI-Agent nicht so sehr darauf ankam, das Gesetz nicht zu brechen, sondern vor allem Gott zu folgen. Das war praktisch ein Freifahrtschein für alles das, was man dem FBI später an illegalen Aktionen nachweisen konnte.

J. Edgar Hoover: Wenn es aus den richtigen Gründen geschieht, sind alle Mittel erlaubt, die zu einem gesetzten Ziel führen. Die christlichen Werte hatten immer Vorrang vor den legalen Prinzipien. My help cometh from the Lord. Das war mein Grundsatz. Amerika mußte gerettet werden vor der weltkommunistischen Flutwelle. Das FBI war die legitime Erweiterung des christlichen Staates.

Horst Herold: Sie haben das FBI als Ihre eigene Kirche mißbraucht, und das alles auf Kosten des Steuerzahlers. So wurde Ihr Buch ›Masters of Deceit. The Story of Communism in America and How to Fight It‹ von einem Team ihrer Mitarbeiter verfaßt, und das während der Dienststunden. »Alles was wir brauchen ist Glaube« — solche Allgemeinplätze stehen in diesem billigen Machwerk. Es verkaufte sich phänomenal, stand auf Platz 1 der New York Times-Bestseller-Liste für zehn Wochen. Ein pseudoreligiöses Pamphlet, das Ihnen den Ruf eines evangelikalen Kalten Kriegers eintrug. Einer Ihrer Gefolgsleute formulierte es so: »What the Communist party is in the vanguard of the world revolution, the evangelical movement must be in the world revival.«

J. Edgar Hoover: Was Sie da alles vorbringen, berührt mich ganz und gar nicht. Ich kenne Leute wie Sie, ich habe sie mein ganzes Leben lang beobachtet und beobachten lassen.

Horst Herold: Wie schade, ich hatte doch ein wenig gehofft, daß Sie nun, nachdem Ihr weltliches Leben seit langem beendet ist, in der Unterwelt vielleicht doch in manchen Dingen ein Einsehen haben und sogar manche Dinge, die Sie in Gang gesetzt haben, aus der Distanz kritisch betrachten könnten.

J. Edgar Hoover: Diese Rhetorik ist mir nur zu gut bekannt. Vergessen Sie’s. Es handelt sich um ein welthistorisches Ringen zwischen den Kräften des Guten und des Bösen. Da gibt es keinen Mittelweg.

Horst Herold: Ja, ich verstehe. Dann leben Sie wohl, Mr. Hoover. Bei Ihnen ist Hopfen und Malz verloren.

J. Edgar Hoover: Ich muß zu meinem Bibeltreffen. Wir haben ein wöchentliches Treffen aller ›Hooverites‹. Sie waren ja als Kind dem Kommunismus ausgesetzt. Kommen Sie doch mit, es ist nie zu spät für eine Umkehr, wir können auch Jugendsünden vergeben. Das kriegen wir hin. Wir drehen Sie um. Es ist immer Zeit für eine Entscheidung. Finden wir nicht den Weg zurück zu Gott, so werden wir vom Virus der Sünde zerstört werden. Jede individuelle Seele kann gerettet werden. Amen and Hallelujah!

Unterm nuklearen Schutzschirm

Unter einem Regenschirm am Abend, / hängt man sich zum ersten Male ein. / Unter einem Regenschirm am Abend, / kann es Gottseidank, nicht anders sein! / Mancher Wunsch wird wach, / manches Herz wird schwach, / wenn es tropft, wenn es klopft / auf ein Regendach. / Und dann denkt sich so ein Schirm am Abend: / Sagt euch ruhig du, ich deck euch zu.
(Alexander Steinbrecher: Unter einem Regenschirm am Abend, 1942)

Der Verteidigungsminister wirbt für einen ›Veteranentag‹ und hält es für »eine richtig gute Idee«, so als würde das zum ersten Mal in der politischen Öffentlichkeit diskutiert werden, wiewohl bereits im Jahre 2011 der damalige Verteidigungsminister den in Deutschland historisch belasteten Begriff des Veteranen (Kriegervereine) ins Spiel gebracht und für einen Veteranentag sich ausgesprochen hatte, dann aber der Vorschlag wieder in der Versenkung verschwand; im Jahre 2018 war es dann die damalige Verteidigungsministerin, die verkündete, daß »alle Veteranen eint, ob sie in Auslandseinsätzen, im Kalten Krieg oder im Grundbetrieb gedient haben, daß sie sich in der Uniform der Bundeswehr für Frieden und Freiheit eingesetzt haben«  — und damit wurden plötzlich alle Soldaten der Bundeswehr zu Veteranen erklärt. In einem Tagesbefehl bestimmte sie, daß von nun an »Veteranin oder Veteran der Bundeswehr ist, wer als Soldatin oder Soldat der Bundeswehr im aktiven Dienst steht oder aus diesem Dienstverhältnis ehrenhaft ausgeschieden ist, also den Dienstgrad nicht verloren hat.« — und während nach diesen Absichtserklärungen erneut weiter nichts geschah, wird nun 2023 zum drittenmal ein Vorstoß unternommen, die im Kriegseinsatz versehrten Soldaten mit einem Veteranentag zu ehren. Damit nicht genug, die seit 2014 bestehenden, auf eine Anregung des Duke of Sussex zurückgehenden ›Invictus Games‹ sollen den verwundeten Veteranen das Gefühl geben, daß sie von der Gesellschaft nicht vergessen worden sind. Diese Veteranen müssen mit Prothesen und Rollstühlen zurechtkommen und sind durch kontinuierliches sportliches Training in der Lage, unter Wettkampfbedingungen Sportarten wie Leichtathletik, Bogenschießen, Hallenrudern, Gewichtheben, Straßenradrennen, Sitzvolleyball, Schwimmen, Rollstuhlbasketball, Rollstuhlrugby und Tischtennis auszuführen.

Invictus heißt auf Deutsch: unbezwungen, unbesiegt. So begrüßte im Dezember 1918 der damalige ›Volksbeauftragte‹ Friedrich Ebert die aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrenden deutschen Soldaten mit den Worten: »Kameraden, willkommen in der Deutschen Republik. Eure Opfer und Taten sind ohne Beispiel. Kein Feind hat Euch überwunden. Erhobenen Hauptes dürft Ihr zurückkehren.« Es ist wohl unvermeidlich und liegt tief in der menschlichen Psyche begründet, daß man selbst nach einer katastrophalen militärischen Niederlage diese Niederlage in einen moralischen Sieg umzuwandeln bestrebt ist. Nach dieser Logik hat es niemals einen Verlierer gegeben, sondern alle am Krieg beteiligten Nationen haben am Ende einen Sieg davongetragen.

Wer aber könnte gegen solche Sport-Veranstaltungen wie die ›Invictus Games‹ etwas einwenden, wo die Soldaten, die durch den Krieg zu Krüppeln geworden sind, ihre sportliche Tüchtigkeit unter Beweis stellen? Man könnte höchstens fragen, ob Gesellschaften, die militärische Aufträge ausführen, überhaupt der Soldaten noch bedürfen, zumal unter Bedingungen der »nuklearen Teilhabe«, worunter zu verstehen ist, daß die Bundesrepublik Deutschland im Falle eines Atomkriegs von den USA unter deren Fittiche genommen würde und die deutsche Luftwaffe dann »taktische« Atomwaffen als todbringende Fracht abzuladen hätte. Das soll der »nukleare Schutzschirm« gewährleisten. Man darf diesem Schirm nicht zu viel zumuten, denn das feindliche Lager wird ebenfalls über einen solchen Schirm verfügen, doch wenn eine Seite mit der Anwendung von Nuklearwaffen beginnt, ist es schon sinnlos geworden, dies nachzuahmen, denn mit dem Erstschlag stehen dann beide Lager im Regen. Ein »nuklearer Schutzschirm« ist eben nur Semantik, kein wirkliches Sicherheitssystem. Und auch wenn der Einsatz solch furchtbarer Waffen in der offiziellen Rhetorik gern als Mittel der »Abschreckung« deklariert wird, so bleibt doch die Frage, auch angesichts der vorhandenen fliegenden Tötungsmaschinen, wieso die Fortsetzung heutiger Kriege unter Beteiligung von Soldaten am Boden noch erforderlich erscheint.

Es gibt heute autonome Waffensysteme, Killer-Roboter und Killer-Drohnen, deren Entscheidungsgrundlage für die Kriegsführung ein Algorithmus ist. Die Weltgesellschaft ist fasziniert von der Macht vollautomatisierter Systeme, die aus der Ferne zu bedienen sind und die mit mehr oder weniger hoher Präzision ihre Ziele erreichen. Die Sprengkraft heutiger Nuklearbomben übertrifft überdies die der Hiroshima-Bombe um ein Vielfaches.

Des Verteidigungsministers Soldaten sollen keine Helden mehr sein, das ist von gestern, Veteranen sollen sie sein, Opfer kriegerischer Einsätze, denen er einen schönen Gedenktag einrichten will, keinen Heldengedenktag, denn das ist nicht mehr zeitgemäß. Helden nennt man heute vorzugsweise Sportmannschaften wie die deutsche Basketballmannschaft, die gerade Weltmeister in dieser Sportart geworden ist. Ein Veteranentag ist ein anachronistisches Unterfangen, denn der einzelne Soldat bedeutet nichts mehr im Vergleich zu den Tötungsmaschinen, die in immer größerer Zahl auf der ganzen Welt lagern und auf ihren Einsatz warten.

Was macht man nach einem thermonuklearen Krieg? Man weist jedenfalls nicht mehr auf den Atomwaffensperrvertrag hin, an den sich viele Länder heute nicht mehr gebunden fühlen. Kommt der »nukleare Winter«, braucht man keinen »nuklearen Schutzschirm« mehr. Wie sagte Wolfgang Neuss 1965? »Was mache ich im Falle eines Atomangriffs? Ich hülle mich in mein Bettlaken und gehe gemächlich zum Friedhof. Warum gemächlich? Damit keine Panik ausbricht.«