Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog

Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.

Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«

Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.

Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.

Das Buch als Illusionsfassade

Arthur Schopenhauer schrieb eine Abhandlung unter dem Titel : ›Von dem, was Einer vorstellt‹. In dieser Abhandlung setzte er auseinander, daß im Menschenleben wenig darauf ankomme, was man ist, viel aber auf die Meinung der anderen, für welche man ›etwas bedeutet‹. (Theodor Lessing: Die Illusionsfassade, 1927)

Was man heute ›Image‹ nennt, das hat Theodor Lessing vor fast einhundert Jahren als ›Illusionsfassade‹ bezeichnet. Menschen nehmen den anderen selten als das wahr, was er ist, und mit welchen Mitteln außer dem eines Privatdetektivs, könnte man auch herausfinden, wer mein mir gerade gegenüberstehender Mitmensch wirklich ist. So hält man sich an äußere Merkmale, man geht ›physiognomisch‹ vor, beurteilt den anderen nach seiner Nase, seinem Mund, seiner  Kleidung und bezieht auch die Gestik und Mimik dabei mit ein. Man taxiert. Und das macht man meist völlig unbewußt, es ist ein im Hintergrund ablaufender Vorgang der ersten Einschätzung, wenn man sich fragt, mit wem man es eventuell zu tun haben könnte. In der Liebe spielen, wie man neuerdings weiß, auch ganz unsichtbare Dinge eine Rolle. Die Pheromone, die jeder ausstößt, teilen dem anderen mit, ob man ›kompatibel‹ ist, ob also die Evolution damit einverstanden ist, daß sich zwei Vertreter des jeweils anderen Geschlechts paaren sollten oder nicht. Ist man erst einmal miteinander bekannt geworden, so ist, nach mehreren Treffen in Cafés und Restaurants, der nächste Schritt das Betreten der Wohnung der neu gemachten Bekanntschaft. (Dies ist auch ohne Hinzutritt des Verliebtseins möglich.) Und da erfährt man dann mehr über die unmittelbare Umwelt des doch noch immer sehr fremden Menschen. Hängen an den Wänden Fotos, Bilder oder Gemälde, welche Qualität haben die Sessel, das Sofa, wie sauber ist die Küche oder die ganze Wohnung überhaupt? Gibt es vielleicht ein Zimmer, das man nicht betreten darf, nicht etwa, weil dort jemand gegen seinen Willen gefangengenommen wird und man das dem anderen verheimlichen will, sondern ob es der Raum des Apartments ist, in dem ohne Zögern Dinge hineingeworfen werden, weil man sie anderswo in der Wohnung nicht unterbringen kann. Ist die neue Bekanntschaft also womöglich ein ›Hoarder‹, ein kranker Mensch, der nichts wegwerfen kann und der auch völlig unbrauchbare Dinge wie leere Behälter und alte Zeitungen aufbewahrt? Schließlich aber: Stehen in der Wohnung Regale, die mit Büchern gefüllt sind? Und um wieviel Bücher handelt es sich? Wer eine umfangreiche private Bibliothek in seinen Räumen beherbergt, wird bei der Ankunft des neuen Bekannten in den meisten Fällen mit der Frage konfrontiert werden: »Haben Sie die alle gelesen?« Die materielle Voraussetzung für diese Frage ist ein Bestand von mindestens eintausend Büchern oder mehr, denn erst dann setzt der Überwältigungseffekt bei dem neuen Besucher ein. Man kann diese Frage entweder mit einem beiläufigen Ton beantworten: »Selbstverständlich! Was denken Sie denn?« Oder man sagt, Bescheidenheit vorspielend: »Aber nein! Wo denken Sie hin?« Während man im ersten Fall beim Besucher eine sofort einsetzende starre Ehrfürchtigkeit beobachten kann, wird im zweiten Fall der so beruhigte Besucher erleichtert aufseufzen und weniger große Minderwertigkeitsgefühle in sich aufsteigen fühlen.

Man soll nach einem alten Sprichwort ein Buch nicht nach dem Umschlag beurteilen, aber jetzt kommt aus den USA ein neuer Trend, der dies ganz wörtlich nimmt. Es handelt sich um Bücher, die keinen Inhalt haben, keine Buchseiten, und die nur vorgeben, richtige Bücher zu sein und dabei reißenden Absatz finden. Man braucht sie, um in seiner Wohnung so zu tun, als besäße man eine Bibliothek und sei sehr belesen. Diese leeren buchähnlichen Hüllen sind Illusionsfassaden einer Bildung, über die man nicht verfügt, die man aber gerne zu haben vorgibt, weil es für das Eigengefühl schmeichelhaft ist, wenn der andere glaubt, man sei qua Besitz dieser Buchfassaden ein gebildeter Mensch. Lassen wir alle Bemerkungen über den bereits Anfang des 20. Jahrhunderts erfolgten Niedergang des deutschen Bildungsbürgertums einmal beiseite, so ist doch bemerkenswert, wie auch nach vielen Jahren Internet immer noch dieses aus fernen Zeiten zu uns herüberwehende Gefühl eine gewisse Geltung zu besitzen scheint, das mit dem Besitz von Büchern verbunden ist.

Der irische Schriftsteller Flann O’Brien hat in einem seiner Beiträge für die ›Irish Times‹ einmal über ›Book Handling‹ (Buchhandhabung) geschrieben. Sein Bekannter, der sehr vermögend und vulgär sei, kam auf den Gedanken, in seinem neu bezogenen Haus samt neu erworbener Gattin sich eine Bibliothek anzuschaffen, weil er meinte, daß die meisten Menschen von Rang und Ansehen jede Menge Bücher im Haus stehen haben müssen und er von dem Wunsch erfüllt war, daß seine Bekannten bei einem Blick auf die Büchersammlung darauf schließen müßten, daß er ein Intellektueller sei. (Lassen wir die Frage unerörtert, ob das wirklich ein so erstrebenswerter Zustand ist.) Er bezahlte daher einen Mittelsmann dafür, mehrere Bücherschränke zu besorgen und sie mit Büchern aller Art vollzustopfen. Keines der Bücher wurde jemals aufgeschlagen, geschweige denn gelesen. Das brachte O’Brien auf den Gedanken der Buchhandhabung. Er teilte diese in vier Qualitätskategorien und Preisstufen ein: ›Popular Handling‹, ›Premier Handling‹, ›De Luxe Handling‹ und ›Le Traitement Superbe‹. Während die ersten drei Handhabungen alle das Zerknittern der Seiten und mehrere Eselsohren enthält und es auch handschriftliche Anmerkungen am Seitenrand (Glossen) einschließt, und gewisse andere Extras mehr (Hinterlegen alter Theater-Eintrittskarten zum Beispiel), so sticht ›Le Traitement Superbe‹ hervor durch ganz besonders gründliches Traktieren des Bandes, doch vor allem ist hervorhebenswert die Tatsache, daß in nicht weniger als fünfzig Prozent der Buchtext unterstrichen wird und am Rand eine angemessene Redensart gekritzelt wird, zum Beispiel: »Sehr gut! Wie wahr!« oder »Da bin ich aber ganz anderer Meinung!« oder auch, für den ausgewiesenen Kenner unter den Besuchern: »Ebendies hat mir vor Jahren der arme Joyce gesagt!« Das ist aber noch nicht alles. Auch Dankesbezeugungen werden beigefügt, wie etwa: »Deine unschätzbar wertvollen Vorschläge und Dein Beistand – die Freundlichkeit gar nicht zu erwähnen, die DU an den Tag legtest, als Du das gesamte 3. Kapitel umgeschrieben hast – all das berechtigt dich wie keinen anderen zu diesem ersten Exemplar von ›Tess‹. Dein alter Freund Thomas Hardy.« Damit wird der in ihrer Wohnung herbestellte Heizungsmonteur naturgemäß nicht viel anfangen können, aber der Hochschulabsolvent, der vornehmlich in einem geisteswissenschaftlichen Fach sein Studium abgeschlossen hat, wird schon mit einem gewissen bitteren Geschmack im Mund ihre Wohnung wieder verlassen.

Nun aber wird in den USA diese aufwendige und Kosten verursachende Buchhandhabung nicht mehr erforderlich sein, denn die ausgehöhlten Buchattrappen, die nun in vielen Wohnungen von prätentiösen Zeitgenossen Eingang finden, sind bereits präpariert und sollen durch schiere Präsenz Eindruck schinden. Ganz besonders gefragt sind diese seelenlosen Objekte für die seit der Pandemie beliebt gewordenen Sitzungen mit ›Zoom‹, dem Videodienst für Konferenzschaltungen oder Zweierbesprechungen. Denn man möchte mit einer repräsentativen Bücherwand im Rücken dem aus der Ferne ins eigene Wohnzimmer schauenden Tele-Gast damit zu verstehen geben, daß man sich vorrangig als Kulturmenschen definiert. Der Witz der ganzen Geschichte besteht darin, daß diese toten Attrappen einmal richtige Bücher waren, aber bevor man sie auf eine Müllkippe schüttet, werden sie industriell zu Vorzeige-Büchern umgepreßt. Für den ganz besonders ausgefallenen Geschmack werden auch Buchrücken produziert, auf denen statt der Namen wirklicher Autoren die Namen von Familienmitgliedern zu lesen sind. Das kommt dann dem Vorgang gleich, wenn man gegen Geld einen Adelstitel bei einem Titelhändler einkauft. Die Zeiten, als Adel eine Verpflichtung war, sind seit langem vorbei.

 Phrasen stehen auf zwei Beinen

In dem letzten Blog-Eintrag wurden wir Zeuge einer TV–Gesprächsrunde, in der fiktive Figuren sich unterhalten. Doch was sie sagen, ist nicht erfunden, es sind Zitate aus Zeitungen und Zeitschriften, die nur übernommen worden sind. Man könnte meinen, daß der folgende Satz der dichterischen Phantasie entstammt: »Ich kenne Frauen aus der Gegend, die bei Vollmond nicht mehr mit ihrem Mann in den Wald gehen aus Angst vor Wölfen.« Es ist eine Äußerung, die eine sich selbst Angst einjagende Frau gegenüber einem Lokalreporter wirklich gemacht hat. Und auch die folgenden Bekenntnisse sind nicht für irgendeinen literarischen Effekt konstruiert worden: »Mein erstes Reh, das war ein Erlebnis. Das Stück quittierte den Schuß, ging vorne hoch und dann ab. 7 Kilo lecker Fleisch! Ich habe auch das Stück alleine geborgen und selbst aufgebrochen. Als ich einen Fuchs vors Visier bekam, schoß ich sofort. Der Fuchs drehte einen Salto und hatte sein Leben ausgehaucht« Karl Kraus hat im Vorwort zu seinem Theaterstück ›Die letzten Tage der Menschheit‹ (1919) eine Erklärung für diesen unheimlichen Vorgang gefunden: »Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen. Die grellsten Erfindungen sind Zitate. Das Dokument ist Figur. Phrasen stehen auf zwei Beinen.« Wann immer in diesem Blog es einen Dialog oder ein Gespräch unter mehreren Teilnehmern gibt, wann immer es einen Kommentar zum Zeitgeschehen zu lesen gibt, so darf man sicher sein, daß nichts erfunden, sondern daß die Äußerungen immer wirklich von realen Menschen gesprochen wurden. Für Karl Kraus ergab das sein Lebensprogramm, das er 1922 in dem Sammelband ›Untergang der Welt durch schwarze Magie‹ umrissen hat: »Ich habe den zu Zeitungsdreck erstarrten Unflat aus Jargon und Phrase ausgeschöpft, gesammelt und in seiner ganzen phantastischen Wirklichkeit, in seiner ganzen unsäglichen Wörtlichkeit kommenden Tagen überliefert. Ich bin die Muschel, in der das Geräusch fortsingt.«

Wer fürchtet sich vorm bösen Wolf?

Jetzt schau ich deutlicher, und da auf einmal, da seh ich, wie zwei Gestalten schemenhaft an meinem Gummibärliautomaten herummachen. Na ja, ich bin dann in den Keller runter, weil, das können Sie nicht wissen, ich habe ja meinen Gewehrschrank unten im Keller, seit wir diese Asylanten da haben, und bin langsam hinuntergegangen, weil ich noch sinniert habe: Welches Kaliber nimmst du? Ich habe mich dann für das Gewehr mit dem kurzen Lauf entschieden. Das hab ich dabeigehabt vor zwei Jahren, als ich mit dem Alischer Bebs in Kenia war. Das hat eine gute Streuung, und da kann man zwei Elefanten zusammenspannen, und es schießt durch wie durch Marmelade. Auffallend war für mich, einer von diesen Gestalten hat eine weiße Jacke an, so daß ich mir gedacht habe, komisch, wenn ich schon bei fremden Leuten Automaten knacke, dann zieh ich doch keine weiße Jacke an. Also ein Profi war das nicht. Für mich selber war es aber von Vorteil, weil ich ihn gut gesehen habe. Den mit der weißen Jacke habe ich voll im Visier, ich zieh durch, patschbumm, Blattschuß, Volltreffer. Den hat es gleich ein ahalb Meter in die Höhe geschnalzt, und dann ist er wie ein Sandsack runtergefallen. Der war erledigt, der war perdu. (Gerhard Polt: Die Verteidigung der Gummibären. In: ders.: Circus Maximus. Das gesammelte Werk. Geschichten, Stücke, Monologe und Dialoge. Teilweise in Zusammenarbeit mit Hanns Christian Müller, Zürich 2002, 536 f., 536)

 Frau Dr. Anneliese Sendler, TV-Moderatorin: Ja, guten Abend, meine Damen und Herren, wir haben heute wieder einen spannenden Themenabend für Sie vorbereitet. Zu Gast bei uns im Studio sind: Ich darf einmal der Reihe nach vorstellen. Frau Brynhild Walky, Sprecherin der ›Bürgerinitiative für wolfsfreie Dörfer‹.

Brynhild Walky: Frau Dr. Sendler! Guten Tag!

Dr. Anneliese Sendler: Dann haben wir zu begrüßen Herrn Grabenhorst vom niedersächsischen Bauernverband.

Otto Grabenhorst: Ich grüße Sie.

Dr. Anneliese Sendler: Als Fachmann für Waffentechnik begrüße ich Herrn Kuno Raeber, der unseren älteren Zuschauern vielleicht noch bekannt ist als ›der Waffen-Raeber‹, der Mann, der Mitte der achtziger Jahre der Königin von Mandala Waffen geliefert hat, um den Guerilla unter Kontrolle zu bekommen.

Kuno Raeber: Ja, Grüezi, Frau Dr. Sender!

Dr. Anneliese Sendler: Und last, but not least, Herrn Prof. Friedrich Lensing, Philosoph und Naturschützer.

Prof. Lensing: Guten Abend.

Dr. Anneliese Sendler: Nun aber gleich zum Thema, oder wie man auch sagen könnte: In medias res. Frau Walky, Sie haben zusammen mit Gesinnungsgenossinnen …

Brynhild Walky: Moment mal bitte! Ich verbitte mir das Wort Genossen, soweit ich mich erinnere, gehöre ich immer noch einer den Werten des Christentums verbundenen Partei an und daran soll sich auch nichts ändern.

Dr. Anneliese Sendler: Oh, verzeihen Sie bitte, Frau Walky, das war nicht böse gemeint, ich wollte nur damit ausdrücken, daß Sie zusammen mit anderen sich zu einer Gesinnungsgemeinschaft …

Brynhild Walky: Das klingt schon besser!

Dr. Anneliese Sendler: … sich zu einer Gesinnungsgemeinschaft zusammengetan haben, um das Problem des Eindringens von Wölfen in den ländlichen Raum zu behandeln. Es hat ja in den letzten Jahren einen gewissen Zuzug aus dem Osten von diesen Beutegreifern gegeben, und obwohl bisher noch kein Mensch zuschaden gekommen ist, hat es doch vereinzelt Fälle gegeben, wo der Wolf sich an Schafe herangepirscht und sie gerissen hat.

Otto Grabenhorst: Wir vom Bauernverband sind sehr besorgt über diese Entwicklung, das hat schon seit langem überhandgenommen und ich predige unseren Parteifreunden ständig, daß sie endlich etwas unternehmen müssen, denn so kann es nicht mehr weitergehen. Hier muß Remedur geschaffen werden, sonst haben wir bald keine Möglichkeit mehr zu einer sicheren Landwirtschaft.

Brynhild Walky: In meinem Wahlkreis haben wir g e f ü h l t die weltweit höchste Wolfsdichte. Das will schon was heißen. Ich kenne Frauen aus der Gegend, die bei Vollmond nicht mehr mit ihrem Mann in den Wald gehen aus Angst vor Wölfen.

Dr. Anneliese Sendler: Ach, da erinnern Sie mich an was. Es gab doch Anfang der achtziger Jahre dieses berühmte Musikvideo mit Michael Jackson, als er noch ganz schwarz aussah, ›Thriller‹ hieß es, und da sieht man Michael doch herumspazieren und plötzlich steigt der Mond am dunklen Himmel auf und Michael greift sich an die Brust und stöhnt, und dann wächst aus seinem Körper ein schwarzes Fell heraus und sein Gesicht verzerrt sich bis hin zur Wolfsfratze. Scheußlich, aber interessant.

Brynhild Walky: Nun machen Sie aber mal einen Punkt. Das ist doch völlig unsachlich, was hat denn diese Fabelgestalt aus dem Märchen, der Werwolf, mit dem gewöhnlichen Wolf, der unsere Gegend zunehmend unsicher macht, zu tun?

Otto Grabenhorst: Ich kann da meiner Vorrednerin nur vollinhaltlich zustimmen. Das ist ja das Letzte, daß Sie hier so eine Verharmlosung seitens des öffentlich-rechtlichen Fernsehens betreiben. Typisch Rotfunk. Ich habe übrigens verläßliche Informationen, daß die Wölfe von militanten Tierschützern aus Osteuropa nach Deutschland eingeschleppt worden sind.

Brynhild Walky: Vielen Dank für ihre Rückendeckung! Wir müssen endlich davon abkommen, zu glauben, daß ein Wolf ein wildes Haustier ist. Das ist er mitnichten. Aber die Tierschützer und die EU wollen uns Leuten vom Land vorschreiben, wie wir hier zu leben haben. Und das ist ein Unding. Wenn die Wölfe erst einmal in großen Rudeln die Großstädte erreicht haben, werden sich diese Städter noch wundern, was dann passiert. Wenn sie in die Wohnungen eindringen und schlafenden Babys die Arme abbeißen.

Kuno Raeber: Wenn ich da vielleicht einmal kurz einhaken dürfte, gnädige Frau. Sie haben meine volle Sympathie in dieser Sache. Aber es wäre doch einmal eine Erwägung wert, den Blick für einen Augenblick nach Osten, nach Rußland und die Ukraine, zu werfen. Seit Kriegsbeginn haben die westlichen Mitgliedsstaaten der Ukraine 350.000 schwere Artilleriegranaten des Kaliber 155 geliefert. Der Neuwert einer Standardgranate liegt bei rund 4000 Euro, das ergibt auf mittlere Sicht 500.000 Schuß. Es stehen jetzt zwei Milliarden Euro zur Verfügung, die dazu beitragen können, fast 1,3 Millionen schwere Granaten für Kiew zu beschaffen. Ein leitender EU-Vertreter schätzt, daß eine Million Schuß genug für drei bis fünf Monate seien. Je mehr man sich in einer defensiven Position befindet, so der EU-Vertreter, desto mehr Granaten benötigt man. Das heißt, da die Ukraine gegenüber der russischen Großmacht natürlich in einer unglaublich schwachen Position sich befindet, daß die Ukraine noch viel mehr Granaten, und nicht nur die, braucht, um den Krieg gewinnen zu können. Wir Waffenhändler sind bereit, unseren Beitrag dafür zu leisten.

Dr. Anneliese Sendler: Mein lieber Herr Raeber, so leid es mir tut, und wir alle hier dürfen wohl von uns sagen, daß wir von Anfang an und voll und ganz den heldenhaften Widerstand der Ukraine befürwortet haben, aber beim Thema Wolf muß ich doch zur Ordnung rufen und Sie bitten, nicht abzuschweifen.

Kuno Raeber: Ich spende jährlich ein Prozent meines Jahreseinkommens für die Friedensforschung.

Otto Grabenhorst: Ja, Frau Dr. Sendler, nun lassen Sie den Herrn Raeber doch in Ruhe. Das ist doch sehr verdienstvoll, was er da macht. Aber lassen Sie mich zu unserem Thema zurückkommen. Wir vom Bauernverband bemerken die große Angst, die in der Bevölkerung umgeht, und das nicht nur bei Familien mit Kindern, die sich nicht mehr in unseren Wald hineintrauen. Nein, auch die ältere Generation, die sich fit halten will, zögert nun angesichts der wölfischen Gefahr. Unsere Nordic Walker haben ihr schönes Laufhobby aufgegeben, um nicht als Vierbeiner ins Beuteschema des Wolfs zu fallen. Der kann doch nicht unterscheiden, ob die beiden Stöcker nun direkt zu dem an ihm vorbeipassierenden Zweibeiner dazugehören oder nicht. Und wenn erst einmal der Zubiß erfolgt ist, ja, dann ist es schon zu spät.

Brynhild Walky: Unser Lebensraum wird uns genommen, wenn wir dem Wolf keinen Riegel vorschieben. Man hört jetzt von Jägern, daß sie von ihrem Ansitz aus die gesichteten wilden Tiere mit Gummigeschossen vergrämen wollen, aber das sind doch halbe Sachen, damit kommt man einem Wolf nicht bei. Der ist auch nicht auf den Kopf gefallen, der zieht eben weiter und sucht sich einen neuen Beutegrund. Er ist hier mitten in der Zivilisation angekommen, und da geht er auch nicht mehr weg oder haben Sie schon von Wolfsrudeln gehört, die von sich aus wieder zurück in die Tundra gezogen sind?

Dr. Anneliese Sendler: Meine lieben Gäste, ich danke Ihnen für ihre leidenschaftliche Teilnahme an unserem Streitgespräch, aber nun wollen wir doch auch den bisher nicht zu Wort gekommenen Prof. Lensing die Gelegenheit geben, sich zu äußern.

Prof. Friedrich Lensing: Vielen Dank, sehr aufmerksam von Ihnen. Ja, was soll ich dazu sagen? Der Wolf ist ein sich selbst überlassener wilder Hund, und der Hund ist ein durch jahrtausendlange Zucht geknebelter und sozusagen in sich hineingeprügelter Wolf. Die wildeste Wolfsnatur birgt doch die unbegrenzte Dressierbarkeit und Anpassungsfähigkeit des Hundes, und das zahmste Schoßhündchen birgt doch in sich einen Miniaturwolf.

Dr. Anneliese Sendler: Wollen Sie damit sagen, daß unser Haushund potentiell auch bereit ist, uns anzufallen?

Prof. Friedrich Lensing: Ja und nein. Sehen sie, wie ich eben schon sagte, ist der Hund nicht vom Himmel gefallen, er ist eine menschliche Züchtung, eine besonders erfolgreiche Züchtung und die Tatsache, daß er so treu und brav seinem Herrchen oder Frauchen nicht von der Seite weicht, belegt meine These, daß der Hund ein Produkt unserer Kulturgesellschaft ist, aber das heißt nun nicht, daß er seine wilde Vergangenheit, die in seinem Erbgut weiterhin schlummert, völlig abgelegt hat. Das ist nicht möglich. Doch mich bedrückt ein anderer Aspekt des heutigen Themas. Ich habe hier eine Ausgabe der deutschen Jagdzeitschrift ›Blattschuß‹, in der eine sogenannte Jagdkönigin, eine junge Frau von vierundzwanzig Jahren, sich in einem Interview zu ihrer Jagdleidenschaft äußert. Ich darf doch mit Einverständnis der Gesprächsrunde daraus zitieren? (Räuspert sich und liest:) »Auf die herausfordernde Frage, ob sie auch Rehkitze oder Frischlinge erlegt, kommt es eiskalt zurück: ›Na klar, das sind doch 7 Kilo lecker Fleisch! Ich sehe mich als Botschafterin der Jagd. Es ist mir ein besonderes Anliegen, das Wirken der Jägerschaft zum Wohl der Allgemeinheit zu vermitteln. Einmal habe ich auf der Jagd dreißig Rehe geschossen Und es gibt weiterhin reichlich. Das Revier hat eine unheimliche Sogwirkung. Mein erstes Reh, das war ein Erlebnis. Das Stück quittierte den Schuß, ging vorne hoch und dann ab. Da fühlt man die weidmännische Freude. Ich habe auch das Stück alleine geborgen und selbst aufgebrochen. Gesellschaftsjagden mache ich gern mit, da ist immer etwas los. Da war eine Fuchsjagd. Als ich einen vors Visier bekam, schoß ich sofort. Der Fuchs drehte einen Salto und hatte sein Leben ausgehaucht‹« (Der Professor stöhnt vernehmlich und seine Stimme bricht mehrmals während des Vorlesens.)

Brynhild Walky: Ja, mein liebes Professerchen, wo gehobelt wird, fallen Späne. Sie freuen sich doch auch auf einen knusprigen Sonntagsbraten, oder?

Prof. Friedrich Lensing: Ganz und gar nicht, ich bin Vegetarier. Nietzsche hat einmal gesagt: »Ich glaube daß die Vegetarianer, mit ihrer Vorschrift, weniger und einfacher zu essen, mehr genützt haben als alle neueren Moralsysteme zusammengenommen«.

Brynhild Walky: Ja nun, das ist ja schön und gut, und vielleicht hatte dieser Nitzschke einen schwachen Magen, aber wir kommen doch nicht um die feststehende Tatsache herum, daß der Mensch ein Allesfresser ist und daß Fleisch immer noch die beste Eiweißquelle ist. Wir wollen doch nicht, daß unsere Kinder zu Körnerfressern und schwach auf der Brust werden.

Kuno Reaber: Wenn ich vielleicht eine Erwägung in die Runde werfen darf? Herr Professor Lensing, haben Sie schon einmal ein Gewehr in der Hand gehabt? Ein schönes Gefühl, wenn Sie es so in den Händen wiegen und es sich an den Körper anschmiegt. Und der aufregende Moment, wenn sie anlegen und zielen und das Objekt in den Blick nehmen. Für Männer vieler Generationen war das bis zum heutigen Tag ein erhabenes und erhebendes Gefühl, eine besondere Weihe lag darin, diese edle Kunst des Waffenhandwerks ausüben zu dürfen. Sie können mich gern einmal auf einer privaten Jagd in der Schweiz begleiten, Sie sind herzlich eingeladen.

Prof. Friedrich Lensing: Mpf.

Brynhild Walky: Sie haben, Herr Raeber, die Frauen weggelassen, die inzwischen aufgeholt haben und dabei sind, das bisher allein Männern vorbehaltene Weidwerk gleichfalls auszuüben, und zwar nicht schlecht. Frauenpower! kann ich da nur sagen, aber wie und mit Wumms!

Dr. Anneliese Sendler: Meine lieben Gäste, unsere Sendezeit neigt sich dem Ende zu, aber bevor wir uns von unseren Zuschauern verabschieden, muß ich doch kurz noch ein anderes Wildtier erwähnen, daß uns in den letzten Jahren besucht hat und nicht immer willkommen war. Der Bär. Wie Sie vielleicht den Nachrichten entnommen haben, hat ein Bär einen Jogger angefallen und getötet. Die bayerische Staatsregierung hat sofort reagiert und angekündigt, daß der Bär zum Abschuß freigegeben werden soll.

Otto Grabenhorst: Wir vom Bauernverband haben schon seit langem Obergrenzen und die Entnahme solcher wilden Tiere gefordert. Nach einem Riß muß sofort geschossen werden, da gibt es kein Pardon. Es gibt eben keinen hundertprozentigen Schutz, am Hang können Sie keine elektrischen Zäune errichten, da sind die Schafsherden dem Wolf wie dem Bären schutzlos ausgeliefert. Diese ganzen Verhaltensempfehlungen dieser Tierschützer mögen ja gut gemeint sein, aber es hilft nichts, da muß hart durchgegriffen werden, und wenn der Regierung wegen dieses EU-Artenschutzabkommens die Hände gebunden sind, dann müssen wir eben beherzt die Waffe in die Hände nehmen.

Prof. Friedrich Lensing: Wir müssen doch aber darauf hören, was die Fachleute zu diesem Thema zu sagen haben. (Hält einen Zeitungsartikel mit einem Interview eines Bären-Experten in der Hand und referiert frei daraus.) Der wilde Bär wird manchmal von verantwortungslosen Hoteliers angefüttert, damit er den Hotelgästen den Blick auf den Bären zum Frühstück auf der Hotelterrasse präsentieren kann. Das spricht sich in der Bärengemeinschaft herum, wenn man so an leichtes Futter herankommen kann. Der Bär findet den Menschen eigentlich uninteressant. Er ist zu achtzig Prozent Vegetarier, der Mensch kommt in seiner Nahrungskette nicht vor. Dann müßte endlich auch das alberne Geocaching aufhören, wo man mit einer Stirnlampe durch den Wald läuft und den möglicherweise sich dort aufhaltenden Bären auf sich aufmerksam macht. Der Bär ist wie der Biber ein Landschaftsgestalter, er schafft Platz für wertvolle Baumarten wie Eichen und Buchen.

Brynhild Walky: Wir von der ›Bürgerinitiative für wolfsfreie Dörfer‹ verwerfen diese pazifistischen Sentimentalitäten. Der Bär als Landschaftspfleger! Früher hat man Jagd auf die Biber gemacht und sie erfolgreich ausgerottet. Durch die vielen neuen Verordnungen und Gesetze der EU hat es heutzutage dazu geführt, daß der Biber sich wieder breitmacht und den Bauern Millionenschäden durch sein Baumfällen zufügt. Im Trentino, wo man 1999 zehn Bären ausgesetzt hat, wurden schneller als erwartet hundert Tiere daraus. Rechnen Sie mit, was das für die Zukunft in Europa bedeutet.

Dr. Anneliese Sendler: Ja, meine lieben Zuschauerinnen und Zuschauer, das ist das Ende unserer heutigen Kultursendung rund um das Wildtier. Ich danke allen Gästen für ihre rege Teilnahme am Gespräch und verabschiede mich bis zum nächsten Mal. Wiederschaun!

Prof. Friedrich Lensing: (ruft während der Abblende aus dem Hintergrund:) Homo homini lupus.

 

Willkommen im Wohlfühl-Museum

Sie! Jetzt entfernen Sie sich aber ganz schleunigst von dem Gemälde! Sind sie blind? Oder warum drücken Sie ihre Nase so nah an das Bild? Museumswärter Erwin Wächler ist ein ganz Genauer. Seit vielen Jahren wacht er im hiesigen Museum über die ihm anvertraute Gemäldeabteilung. Er hat schon viele, tausende von Besuchern gesehen und überwacht, und in all den Jahren ist ihm schon manch Kurioses untergekommen. Sie, wenn diese Schulklassen klassenweise angerückt kommen, dann ist bei uns Alarmstufe Rot! Sie glauben nicht, was diese Kinder sich erlauben. Die stehen nicht vor den Bildern und schauen sie sich an, sie greifen nach ihnen, betatschen sie. Und dann diese jungen Lehrerinnen, wenn man dann zur Ordnung ruft, kriegt man von denen zu hören, man solle doch den Kindern einen Freiraum einräumen. Ja, freilich! Um mit ihren dreckigen Patschhänden die Kunstgegenstände zu verunreinigen. Wir sind doch nicht im Zoo, wo man auf der Wiese die armen Viecher anlangen darf, die sind auch nicht gefragt worden, ob das ihnen recht ist. Ein Museum ist doch kein Streichelzoo! Da hört sich doch alles auf.  Aber wissen Sie, das geht ja immer weiter, die Kinder sind nur die Spitze des Eisbergs. Das geht weiter hinauf, bis in die obersten Etagen. Nun soll dieses Jahr ein internationaler Museumstag gefeiert werden, nicht nur hier, überall, wo es Museen gibt. Und ein Gremium hat beschlossen, warten Sie, ich habe den Zettel in meiner Aktentasche stecken (kramt eine Weile, und zieht dann ein etwas zerknittertes Stück Papier hervor), da ist es ja. Also, da habe ich letzte Woche diesen Schrieb bekommen, der uns Mitarbeitern Weisungen erteilt, wie man diesen Museumstag begehen soll. (Liest langsam und bedächtig vor.) »Museen leisten einen wichtigen Beitrag zum Wohlbefinden und zur nachhaltigen Entwicklung von Comm, Commu, Communitys. Als vertrauenswürdige Institutionen und wichtige Bestandteile eines gemeinsamen sozialen Gefüges sind sie in der einzigartigen Lage, einen Domino-Effekt zu schaffen, der einen positiven Wandel fördert. Museen tragen zur Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung bei, indem sie den Klimaschutz unterstützen, die Integration fördern, die soziale Isolation bekämpfen und die psychische Gesundheit verbessern.« Na, was sagen Sie? Ist das was? Ha? Domino! Ja, sind die da oben ganz verrückt geworden? Ha? Das kennt man doch noch aus der Zeit, wo der Amerikaner meinte, alle Länder, die wo aneinander angrenzen und eins davon kommunistisch war, es nicht mehr lange braucht bis die andern es auch sind. Fällt der erste Stein, kippen die, die danebenstehen automatisch auch um. Und das soll nun auf unser schönes Museum übertragen werden. Aber warten Sie, das wird ja noch ganz konkret. Ich habe es Ihnen doch vorgelesen. Nach dem Domino kommt, (er schaut kurz auf das Papier) »nachhaltige Entwicklung«. So! Und für was sollen wir uns nachhaltig entwickeln? Für den »Klimaschutz«! Ja, wo sind wir denn? Bin ich als Klimaschützer ausgebildet worden? Nein, und das aus gutem Grund, weil der hier bei uns im Museum auch nichts zu suchen hat. Das einzige, wo es ein gewisses stabiles Klima braucht, das wird durch unsere Klimaanlage erzeugt, damit es die Bilder und Gemälde immer schön warm, aber nicht zu warm haben. Eine Klimaanlage läuft doch aber von ganz allein, da kommt der Techniker von der beauftragten Firma und sieht nach dem Rechten, was sollen wir Museumsangestellten denn mit dem Klima anfangen, und dann auch noch schützen sollen wir‘s. Ja, entschuldigen Sie, aber wer denkt sich denn sowas aus? Oder sollen wir außerhalb des Museums in eine Klimaschutzpartei eintreten? Nein, danke, das kommt ja gar nicht in Frage. Es geht dann aber noch weiter. Haben Sie’s sich gemerkt, was ich grad vorgelesen habe. (Schaut erneut auf das Papier.) Jetzt kommt‘s: »Die Integration fördern, die soziale Isolation bekämpfen«. Fördern und kämpfen? Fördern kann doch nur ein reicher Industrieller, und kämpfen, ja, wer kämpft denn und das auch noch auf Befehl? Bin ich ein Sozialarbeiter? Nein, bin ich nicht. Wer isoliert ist in unserer Gesellschaft, der kann sich selbst helfen, es gibt genug Vereine, die einen einsamen Menschen aufnehmen und ihm Halt geben. Im Museum, das beobachte ich täglich immer wieder, will der einzelne Museumsbesucher doch allein mit seinem Gemälde sein, er will ins stille Zwiegespräch mit ihm eintreten. Diese Möglichkeit geben wir  ihm, er soll leise sein und sich ordentlich benehmen, aber wir können ihm doch nicht aus der Isolation heraushelfen, der will doch darin verbleiben und sich seine Gedanken machen über die Schönheit und Bedeutung des Bildes, vor dem er ergriffen steht. Der ins Kunstwerk versunkene Mensch, das habe ich einmal bei einem Vortrag in der Volkshochschule gehört, will in einer ästhetischen Beziehung zum Objekt verbleiben, und wozu sollen wir dann daherkommen und uns um des Besuchers »soziale Integration« kümmern. Da sind wir doch völlig überfordert und der Besucher wird mit Recht uns scheuchen, wenn wir so etwas versuchen sollten. Sehen Sie, das Museum ist für viele Menschen ein Ort, wohin sie sich vor den Menschen flüchten, wo sie froh sind, mit keinem reden zu müssen und sich seine Probleme anhören zu müssen. Das ist doch das Schöne am Museum, daß hier zwar Menschen anwesend sind, aber in gebührendem Abstand voneinander, und daß jeder für sich seinen Gedanken nachgehen kann. Es gibt Besucher, die sitzen stundenlang auf unseren schönen Lederbänken und verweilen glücklich und zufrieden vor einem einzigen Gemälde. Das gibt es eben doch noch, wahre Kunstkennerschaft. Und die will in Ruhe gelassen und eben nicht integriert werden. (Schaut nochmals auf das Papier.) Jetzt aber wird es schon ein bißchen unheimlich. (Liest:) »Und die psychische Gesundheit verbessern.« (Fängt an zu husten und braucht einen Moment, um sich wieder zu fangen.) Es sollen ja wundervolle Dinge in diesen Mentalanstalten vollbracht werden, aber das Museum als Psychiater! Es sollten diejenigen, die das von uns abverlangen, sich in die Obhut dieser Spezialisten begeben, da hätten diese sicher wertvolle Studienobjekte. Aber, schauen Sie, das greift ja schon seit langem um sich. Gehe ich zu meiner Sparkasse, nein, zu meiner Bank, dann hängen im Schaufenster Plakate mit einer Parkbank drauf und drunter steht: »Ihre Wohlfühl-Bank«. Ich möchte nicht wissen, was diese Banker einer Reklameagentur gezahlt haben, um auf solch einen saublöden Spruch zu kommen. Aber alle mit Abitur, diese Banker. Und die Organisatoren des internationalen Museumstags haben wohl auch irgendeine Schulbildung genossen. Das müssen sie ja, sonst würde man sie gar nicht einstellen. Na, dann noch einen schönen Tag, mein Herr.

Ein sicherer Ort

And here was Rachel Hoyt, branch librarian, as pretty as a Marie Laurencin picture, yet as colorful as a psychedelic poster. Her hair was pulled back softly and held at the nape of her neck by an enameled barrette. There was bright lipstick on her moist lips, and a pink blouse was joined by a wide belt to a short gray wool dirndl. She was smallish, compact, neat, with an impudent expression and a kind of bursting vitality. Barrett had no doubt that she had one hell of an intellect. He also had no doubt that she did not allow it to interfere with her social life. »You are the head librarian?« he asked. »None other«, said Rachel Hoyt, shoving a collection of bangle bracelets high on her slender forearm. She cocked an amused eye at him. »What were you expecting – Minnie Mouse or a Bloomer girl? They threw away that cookie cutter years ago«. (Irving Wallace: The seven minutes, 1969)

Reporter einer lokalen Fernsehstation, Wilfried Schrettinger: Ja, hallo miteinander. Heute haben wir einen ganz besonderen Gast in unserem Studio, den Leiter unserer örtlichen Bücherei, oder wie man Sie etwas vornehmer auch nennt: unserer Bibliothek. Guten Tag, Herr Dr. Tombe. Wie sehen Sie die Lage der Bibliotheken heute, im 21. Jahrhundert?

Dr. Tombe: Bibliotheken gehören zum öffentlichen Raum, und wir wollen als Safe Spaces dem Anspruch gerecht werden, Einzelne vor Zumutungen durch Diskriminierungen und Verletzungen zu bewahren.

Wilfried Schrettinger: Aha, sehr interessant! Hat es in letzter Zeit tätliche Angriffe auf Benutzer der Bibliothek gegeben?

Dr. Tombe: Das nicht gerade direkt, nein, aber wir wollen vorbauen und sicher gehen, denn nichts ist heute wichtiger als Sicherheit. Safe Spaces sind das non plus ultra jeder zukunftssicheren Bibliothek, die ja weit mehr als Buchbestände verwaltet. Wir sind das heiße Medienzentrum der City.

Wilfried Schrettinger: Was sie nicht sagen. Ich hatte neulich ein Interview mit einer Studentin, oder soll ich sagen: ›Studierenden‹, Haha, na, wie auch immer, sie sagte mir jedenfalls, daß sie ihrem Professor im Seminar die Meinung gegeigt habe, als er sie verunsicherte mit einer sie bedrängenden Zumutung. Nein, nicht was sie jetzt denken. »Was«, hat sie dem Professor gesagt, »Ich soll ein ganzes Buch lesen?« Da war für einen Moment der safe space in der Universität höchst gefährdet.

Dr. Tombe: Nun werden Sie hier mal nicht ausfällig. So geht das aber nicht. Sie sind als Reporter zu objektiver Berichterstattung verpflichtet. Wenn die Studierende sich vom Lesen eines ganzen Buches bedroht fühlte, dann sind wir aufgerufen, ihr beizustehen. Das wäre ihr bei uns nicht passiert. Wir drängen niemanden unsere Bestände auf. Wir als Bibliothek sind auch schon lange nicht mehr allein auf das Bereitstellen von Büchern beschränkt, das wäre in unserer modernen Mediengesellschaft auch gar nicht möglich. Wir haben alle Sorten von Medien. Und die sollten die Leute von der Universität auch mal in Erwägung ziehen, wenn sie Seminare abhalten. Diese alteuropäische Fixierung auf das gedruckte Wort ist doch antiquiert, rückständig, hinterwäldlerisch.

Wilfried Schrettinger: Sie meinen: Leih’ dir den Film zum Buch aus, das macht mehr Spaß als Lesen?

Dr. Tombe: Werden Sie nicht frech. Was glauben Sie, was sich in den vergangenen Jahrzehnten im Bibliotheksbereich abgespielt hat? Weltweit fallen die Ausleihzahlen, Stellen werden gestrichen, Öffnungszeiten reduziert, Etats gekürzt. Darauf muß man doch reagieren. Und wir haben darauf reagiert.

Wilfried Schrettinger: Indem Sie die Bibliothek in eine Vergnügungsstätte umzuwandeln versuchen?

Dr. Tombe: Ich darf erwähnen, daß ich früher eine Professur für Medienmanagement und Medienvermittlung innehatte. In dieser Eigenschaft habe ich Konzepte zum Co-Learning-Space entwickelt. Klassische Stand-Alone-Rechner müssen mit flexibel einsatzbaren Robotik- und Maker-Elementen kombiniert werden. Dazu gehört auch eine flexible Möbilierung in modifizierbaren Räumen sowie Pop-Up-Räumen mit Werkstattcharakter, die unterschiedlichen Funktionen Rechnung tragen. Um die Zukunftsfähigkeit der Bibliotheken zu sichern, sind organisatorische und investive Anstrengungen sowie bauliche Änderungen nötig. Der Co-Learning-Space Bibliothek muß auch partizipativ ausgelegt sein. Dazu sind iterative Diskussionsprozesse erforderlich. Eine Kollegin von mir hat die Bibliothek mit einem U-Boot verglichen. Eng, dunkel kühl, mit wenig Komfort, aber vielen Menschen an Bord, das auch mit ihren Kompetenzen und dem digital-analogen vielschichtigen Angebot oft noch zu unsichtbar im ›Ozean Stadtgesellschaft‹ unterwegs ist. Als Gegenentwurf zum U-Boot kann aber nicht die Luxusyacht herhalten. Wir einigten uns auf die Zielvision des modernen Ausflugsdampfers als Schiff für alle und als hellerem, offenerem und niedrigschwellig zugänglicherem Ort.

Wilfried Schrettinger: Wow! Da haben unsere Zuschauer aber eine geballte Ladung an Information serviert bekommen, hoffentlich haben sie auch alles verstanden, ich habe es nicht. Ich habe aber auch keine Professur für Medienmanagement und Medienvermittlung. Können sie das vielleicht mit etwas schlichteren Worten ausdrücken?

Dr. Tombe: Mit zwei Sätzen: Not just a library. Your interface to everything.

Wilfried Schrettinger: Hallo! Unsere Zuschauerinnen und Zuschauer sind als Kinder in eine deutsche Schule gegangen und man kann nicht davon ausgehen, daß sie alle das Abitur und ein Fremdsprachenstudium hinter sich haben. Auf deutsch bitte, auf deutsch!

Dr. Tombe: Möchten Sie einen Coffee to go, um die Gesprächsatmosphäre ein wenig aufzulockern?

Wilfried Schrettinger: Oha, Sie scheinen auf eine untergründige Art und Weise doch etwas Humor zu haben.

Dr. Tombe: Sehen sie, es geht doch um die Frage: Was ist bereits im Doing oder klar geklärt. Welche Maker-Angebote implementieren wir, welche Bestandssegmente müssen oder können reduziert werden. Dazu zählen dann auch Ideen, die noch nicht zu Ende gedacht sind. Das Setting sollte aber immer entspannt sein. Wir stehen zudem auch mit unseren Lead-Userinnen im Kontakt. Mit unseren Moodboards visualisieren wir eine Idee oder ein Konzept und kanalisieren wir unsere Überlegungen.

Wilfried Schrettinger: Ja, ich denke doch, daß unsere Zuschauer damit schon eine gewisse Vorstellung von der Zukunftsbibliothek bekommen haben. Vielleicht überlegen sie es sich sogar, jemals eine Bibliothek aufsuchen zu wollen. Es geht ja auch von zuhause, mit einem Klick ist man in einer digitalen Bibliothek und kann Bücher kostenlos herunterladen.

Dr. Tombe: Wenn Sie wüßten, wie die Politiker uns auf die Füße treten und unsere Daseinsberechtigung in Frage stellen! Sie müßten sich diese Leute mal anhören, wenn sie vom Internet schwafeln und sagen, da seien doch heute alle für die Welt wichtigen Informationen vorhanden, da könnte sich doch jeder bedienen, wozu brauchen wir denn noch diese kostspieligen Bibliotheken?! Jeder fünfte liest und bildet sich mittlerweile auf elektronischem Wege. Wir kämpfen doch um unser Überleben!

Wilfried Schrettinger: Und deshalb spielen Bücher in der Bibliothek nur noch eine untergeordnete Rolle? Ist das nicht etwas paradox?

Dr. Tombe: Wir brauchen ein neues Image, darum geht es. Kommunikation, Dienstleistung und ein zeitgemäßes Veranstaltungsprogramm, das sind die Essentials heute. Und Integration. Deshalb können Sie bald bei uns ihren Personalausweis erneuern lassen oder ihren Wohnungsumzug melden. In Dänemark, in Aarhus, gibt es das schon. Die haben in ihren Maker Space Nähmaschinen stehen, da gibt es 3D-Drucker und ein Tonstudio. Die Kinder können auf digitalen Fußballplätzen spielen, es gibt eine große Anzahl von Spielkonsolen und, aufgemerkt!, es ertönt ein Gong, wann immer im Kreißsaal der Stadt ein Kind auf die Welt gekommen ist.

Wilfried Schrettinger: Wo bleiben da die Bücher? Wo sind sie, wo stehen sie?

Dr. Tombe: Die stehen abseits, am Rande. Der Kollege in Aarhus sagt es ganz treffend, er sagt: »Eine Bibliothek muß sich in erster Linie mit den Menschen beschäftigen, nicht mit Büchern.«

Wilfried Schrettinger: Das hat er wirklich gesagt? Heißt das nicht aber, daß die Bibliothek aufgehört hat, eine zu sein, und zu einer Therapie-Einrichtung geworden ist?

Dr. Tombe: Es geht heute nicht mehr darum, an Informationen durch die Vermittlung des Buches zu kommen, es geht um Vergemeinschaftung. Die Menschen stehen im Mittelpunkt. Es kann nicht mehr angehen, daß die Menschen von Bücherwänden erschlagen werden. Deshalb hat der dänische Kollege auch die Tapete, die die Innenausstatter mit Buchrücken illustriert hatten, wieder verpixeln lassen. Wir müssen ein flexibler Veranstaltungort werden, nur so können wir unseren angestammten Platz in der Gesellschaft halten.

Wilfried Schrettinger: Viel Kommunikation, wenig Kontemplation? Die Bibliothek als sozialer Servicebereich?

Dr. Tombe: Jedes Buch, das zwei Jahre nicht ausgeliehen worden ist, wird in Aarhus ausgesondert, Man will kein Museum sein und man kann den freiwerdenden Platz gut für Familienaktivitäten verwenden.

Wilfried Schrettinger: Wenn das so ist, dann ändert sich aber das Berufsbild des Bibliothekars gewaltig, ja, es verschwindet eigentlich. Ein anderer Charaktertyp ist dann gefragt, Leseleidenschaft scheint mir dann keine Berufsvoraussetzung zu sein.

Dr. Tombe: Wir müssen doch zeitgemäß denken, verstehen sie. Wir sind flexible Dienstleister mit sozialer und technischer Kompetenz. Und ohne Events kriegen wir sowieso niemanden mehr hier her.
Wilfried Schrettinger: Müßte die Bibliothek nicht darum kämpfen, ihre ursprüngliche Funktion beizubehalten? Und was für Auswirkungen hat das auf die wissenschaftlichen Bibliotheken, wenn die städtischen Leihbüchereien sich so von ihren traditionellen Aufgaben trennen?

Dr. Tombe: Sie können den Zug der Zeit nicht anhalten, sie müssen rechtzeitig aufspringen.

Wilfried Schrettinger: Dann sehe ich für die Verblödung der Menschheit noch großen Entwicklungschancen. Wir danken Ihnen für das Gespräch.

 

Wiederkehr einer alten Bekannten

Lange hatte man nichts mehr von ihr gehört. Sie ist aber auch eine hochbetagte Dame, zuerst begegnete man ihr im 14. Jahrhundert, doch ihre Blütezeit begann im 16. Jahrhundert, als man sie innerlich aufrüstete und sie auch schon längere Wegstrecken hinter sich legen konnte. Im 17. Jahrhundert einigte man sich darauf, bei der Namensgebung differenziert vorzugehen. Nicht jede durfte ihren Namen tragen. Sie war aber auch einem ganz besonderen Zweck vorbehalten. In der Verwandschaft gab es dennoch kaum Streitereien, denn jede erfüllte ihre Aufgabe tadellos, wobei diese dann aber durchaus auf Abwege geriet. Das ist in einer solchen Situation auch schwer zu vermeiden. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erfolgte eine deutliche Verbesserung ihres Auftretens, denn nun gab es neben dem Aufschlagszünder auch noch den Verzögerungszünder. Doch erst im Großen Krieg, wie man damals sagte, der nach seinem Ende dann mit dem bis heute geläufigen Namen Erster Weltkrieg bezeichnet wurde, gewann sie ihre unübersehbare und unüberhörbare Präsenz. Eine Zeitung phantasierte damals darüber, wie lange es wohl dauern würde, bis sie zu »den äußersten Sternen der Milchstraße« gelangte, und gab den interessierten Lesern auch gleich das Resultat ihrer Berechnungen bekannt: »Die von einer von der Erde abgefeuerte Granate würde erst nach Verlauf von drei bis vier Milliarden Jahren getroffen werden.« Das war eine für die Menschheit recht betrübliche Erkenntnis, die auch dadurch nicht besser gemacht werden konnte, wenn man hinzufügte, daß sie dafür nur fünf Jahre Flugzeit bis zur Sonne brauche und sogar nur viereinhalb Tage bis zum Mond. Kleinlaut merkte der Journalist der Zeitung damals, 1916, dazu an, daß sich solche Berechnungen nicht in die Tat umsetzen lassen könnten, »denn dazu reicht unsere schwache Kraft nicht aus«. Heute dagegen haben die bewaffneten Menschenstaaten sich wieder auf die näher gelegenen Ziele konzentrieren müssen, und auch wenn man vor kurzem lesen mußte, daß man immer noch einen »Granatenmangel« beklagen müsse, so sei doch für baldigen Nachschub gesorgt, damit der Abnehmerstaat über ausreichend Munition verfüge, »um den Krieg zu gewinnen«. Es ist wohl ganz natürlich, daß die christliche kaukasische Menschheit, nachdem sie die ganze Gottnatur mit ungeheuren Mordmaschinen fortrasiert und abgemetzgert hat, zuguterletzt, ein Volk über das andere herfällt und sich wechselweise abtötet. Wenn man ins Endlose Kanonen und Maschinengewehre baut, so gehen sie eines Tages von selber los. (Theodor Lessing: Untergang der Erde am Geist (Europa und Asien), Hannover 1924, 100).

Gott ist tot. Wir haben ihn getötet

Die Furcht hat die Götter geschaffen; der Schrecken ist ihre ständige Begleitung; es ist unmöglich, vernünftig zu urteilen, wenn man zittert. So verehren die Menschen zitternd die leeren Idole, die sie in den Tiefen ihres eigenen Gehirns errichten. Jedermann sieht die Sonne, niemand sieht Gott. Ein leeres Phantom, das man an die Stelle der Energie der Natur gesetzt hat. (Paul-Henri Thiry d’Holbach, 1770)

Die Evangelische Kirche Deutschlands und der katholische Verband der Diözesen Deutschlands haben in einem gemeinsamen Papier registriert, daß wegen des kontinuierlichen Schwunds der Kirchenmitglieder viele der bestehenden Kirchengebäude aufgegeben werden müssen. Es wird von einer »Konversionswelle« gesprochen, die auf die Sakralbauten zukomme, da jede dritte Immobilie nicht mehr gebraucht wird. Viele der Kirchen stehen unter Denkmalschutz, manche nicht. Schon in der Vergangenheit hat es den Abriß solcher Sakralbauten gegeben, aber auch die ›Umwidmung‹ in Gestalt von Wohnheimen oder, wie in New York, in eine Discothek. Für diejenigen unter den Gemeindemitgliedern, die weiterhin regelmäßig zum ›Gottesdienst‹ gegangen sind, ist dies ein einschneidendes Ereignis in ihrem Leben. Denn man betete ja nicht nur zu ›Gott‹, sondern das kirchlich gebundene Gemeindeleben bot Geselligkeit und Hilfe für viele, die in keinem anderen Verein oder Verband Mitglied waren. Doch die vielen anderen, die im Laufe der letzten Jahre aus der Kirche ausgetreten sind, hinterließ diese Entscheidung vermutlich keine innere Leere. Oder, wenn doch, dann hat man heute die Auswahl unter vielen anderen religiös orientierten Gruppen, die christliche oder christlich verbrämte Angebote feil halten, wobei auch die so genannten nach dem New Age-Glauben ausgerichteten Vergemeinschaftungen eine Rolle spielen. Hier wurde ein ›Gott‹ gegen einen anderen ›Gott‹ ausgetauscht.

Im Jahr 2009 gab es in mehreren europäischen Großstädten eine ›Atheist Bus Campaign‹, die mit dem Slogan »There’s probably no god. Now stop worrying and enjoy your life« für eine glaubensfreie Lebensform warben. Richard Dawkins, einer der Mitbegründer und berühmter Evolutionsbiologe, sagte, er hätte statt des Wortes »probably« lieber »almost certainly« bevorzugt.Es gibt einen längeren Aphorismus von Friedrich Nietzsche, ›Der tolle Mensch‹. Er erzählt von »jenem tollen Menschen«, der am hellichten Tag eine Laterne anzündet und dazu unaufhörlich schreit: »Ich suche Gott! Ich suche Gott!« Die Umstehenden lachen ihn aus, sie gehören zu der heute immer größer werdenden Gruppe von Menschen, die der Kirche und Gott den Rücken gekehrt haben und ein ganz säkulares Leben führen. Sie sehen ›Gott‹ nur noch im ironischen Licht, als Fabelwesen. Der tolle Mensch aber ruft ihnen zu: »Wohin ist Gott? Ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet, — ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns?« Die Menschen verstehen seine Argumentation nicht, denn sie haben durch die hinter ihrem Rücken sich vollziehende Umwälzung der Produktionsverhältnisse ihre Lebenswelt so stark verändert, daß die Gottesprämisse einfach wegfallen konnte, weil sie nicht mehr zu den modernen Lebensbedingungen paßt. »Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?« ruft der tolle Mensch auf dem Marktplatz, damit nur bekräftigend, was inzwischen eine dominante Entwicklung auf dem Glaubenssektor geworden ist. Kirchen sind Anachronismen. Aber die Tatsache, daß durch die gesellschaftliche Entwicklung alle daran Beteiligten zu Mördern Gottes geworden sind, will diesen Mördern noch nicht zu Bewußtsein kommen. Den Menschen ist »die Größe dieser Tat« noch zu groß und unheimlich, um sie wirklich verstehen zu können. Das Ereignis hat sich ereignet, aber das Bewußtsein dieses Ereignisses wartet noch im kollektiven Unbewußten auf sein völliges Begreifen. »Diese Tat ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, — und doch haben sie dieselbe getan!« folgert der tolle Mensch, der mit seiner Erkenntnis den Menschen weit voraus ist und zugleich weiß, daß er sie nicht erreichen wird, da die Zeit dafür noch nicht reif, die Menschen dafür noch nicht reif sind. Der Abriß jeder Kirche aber ist ein Indiz dafür, daß irgendwann diese nüchterne Tatsache allen zum Bewußtsein kommt, und die Frage bleibt, ob die Menschen dann auf die »Libertas philosophandi« zurückgreifen werden, frei von kirchlichen Dogmen oder sektiererischen Glaubensgewißheiten und allein der ihnen durch ihre eigene Natur gegebenen Vernunft vertrauen. Unterhalten wir uns in ein paar tausend Jahren darüber.

Setzen! Ungenügend!

 »Es ist das alte Kulturproblem, daß der Mensch höher baut als er selber steigen kann. Wehe aber, wenn erst der ganze technische Meinungsapparat, wenn Radio, Kino, Zeitung dem Nutz- und Machtwillen einer herrschsüchtigen und selbstgerechten Gruppe ausgeliefert ist, dann muß eine Massenverblödung einsetzen, deren Kennzeichen gerade der technische, industrielle und kommerzielle Fortschritt ist: eine Art Verameisung«. (Theodor Lessing: Die Verblödung der Jugend. In: Illustrierte Reichsbanner-Zeitung, 2. Jg., Nr. 46 (11.11.1925), 722f.)

Eine Lehrerin in Baden-Württemberg hat sich geweigert, den Roman ›Tauben im Gras‹ (1951) in den Abiturklassen eines beruflichen Gymnasiums lesen zu lassen, weil darin das Wort ›Neger‹ auf 230 Seiten »etwa hundertmal« vorkommt. Die zuständige Ministerin entschied, daß eine zusätzliche Pflichtlektüre ausgewählt werden soll. Um ein Lehramt im Fach Deutsch ausüben zu dürfen, ist ein geisteswissenschaftliches Studium vorgesehen, in dem gelernt werden soll, Texte in ihrem historischen Kontext zu lesen. Dieser Mühsal hat sich die junge Lehrerin nicht unterzogen, sie sucht wie ein Inquisitor nach Wörtern, die in der Sprache der Heuchler in den Augen der Gesellschaft als ›anstößig‹ gelten. So wie zu Zeiten Flauberts oder zu Zeiten von James Joyce ihre Romane durch Gerichte geprüft wurden, ob darin ›unmoralische‹ Wörter oder Situationen vorkommen, also zum Beispiel das Wort ›fuck‹, so sucht man nun nach ›nicht korrekten‹ Wörtern, so als ob es Aufgabe der Gesellschaft und der Schule sein soll, der Literatur vorschreiben zu dürfen, welche Sprache zulässig ist, so als prüfe man die Schädlichkeit eines noch nicht zugelassenen Lebensmittels. Welche Funktion ein Wort hat, entscheiden der Kontext und die Rolle, die das Wort in einer Erzählung, in einem Roman oder in einer Rede spielt. Während der Zeit zwischen 1933 und 1945 diente das Wort ›Jude‹ dazu, eine ganze Bevölkerungsgruppe zunächst zu diskriminieren, als Vorbereitung für den Massenmord durch das NS-Regime. Wenn ein unter dem NS-Regime leidender Schriftsteller wie Wolfgang Koeppen nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes in einem Roman die politischen Verhältnisse im Nachkriegsdeutschland beschreibt und dabei das Wort ›Neger‹ verwendet, so hat er dies ganz gewiß nicht getan, um mit der häufigen Verwendung des Wortes zuerst die Diskriminierung und dann die Vernichtung der betreffenden ethnischen Gruppe zu bewirken. Er hat es getan, weil es Teil der gesellschaftlichen Realität war, weil die amerikanischen Besatzungstruppen heterogen zusammengesetzt waren und neben weißen auch schwarze US-Amerikaner darin vorkamen. Das Wort ›Neger‹ war damals ein gebräuchlicher Ausdruck für diese Bevölkerungsgruppe. Durch Léopold Sédar Senghor, Aimé Césaire und Léon-Gontran Damas in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde das kulturelle Befreiungskonzept der ›Négritude‹ begründet. In den USA wurde und wird das Wort ›Nigger‹ sowohl diffamierend wie auch selbstbewußt-stolz verwendet, das kommt auf den Gebrauch im Kontext einer Sprechhandlung an. So wie es Wortverwender gibt, die gezielt jemanden damit verletzen wollen, wie das mit Schimpfwörtern üblich ist, so gibt es auch Wortverwender, die damit nur dokumentieren wollen, daß ein bestimmtes Wort existiert und daß es legitim, ja sogar unerläßlich ist, daß es dann auch gebraucht wird. Zu dieser Erkenntnis ist in manchen Teilen dieses Landes weder eine Lehrerin noch eine Ministerin fähig. Setzen! Ungenügend!

Wir spritzen uns schlank

Am Gartenzaun

Frau Hebestreit und Frau Pannemeyer,  zwei hannoversche Damen, unterhalten sich.

Frau Hebestreit: Haben Sie schon von Ozempic gehört?

Frau Pannemeyer: Ach, gehen Sie mir los mit diesen türkischen Badeorten, wir waren ja schon häufiger in der Türkei, aber die Preise, die da jetzt verlangt werden. Desaströs! Da können wir auch gleich wieder an den Gardasee fahren. Und solange dieser Erdal da an der Macht ist, wollen wir diesen Verbrecher auch nicht mit unserem Geld unterstützen, obwohl er ja kränkeln soll.

Frau Hebestreit: Nein, nein, Ozempic ist ein neues Heilmittel, das in den USA ganz groß herauskommt. Es ist ein Wunder, mit einer einzigen Spritze im Monat können Sie ganz leicht abnehmen. Es geht rasant. Ein Superschlankmittel! Und der Hersteller rechnet mit Milliarden!

Frau Pannemeyer: Ach so, na ja, FDH, hat man früher gesagt, aber das kümmert die jungen Leute auch nicht mehr. Unser Bubi kämpft täglich mit den Pfunden, es ist ein schwerer Kampf, aber bisher hat er ihn verloren.

Frau Hebestreit: Es ist halt noch ein wenig teuer, eintausend dreihundert Dollar muß man für eine Spritze bezahlen, das können sich nur die wenigsten leisten, aber die Hollywood-Schauspielerinnen haben das Geld übrig und lassen sich auch schon regelmäßig schlankspritzen.

Frau Pannemeyer: Der Amerikaner an sich ist gut beieinander, also, er ist dick bis fett, und, wie ich gehört habe, haben die Hälfte der Leute da Zucker, da wäre es schon gut, wenn man bei der anderen Hälfte mit einer Schlankmachspritze gleich ganz verhindert, daß es so weit gar nicht erst kommt, nüch?

Frau Hebestreit: Da haben sie recht, da müßten die Krankenkassen dann dafür sorgen, daß dieses Ozempic billig über die Ladentheke geht und jeder davon etwas abbekommt. Siebenunddreißig Millionen Amerikaner leiden an Diabetes, also praktisch jeder zehnte, das gibt es sonst nirgends auf der Welt. Und wissen Sie, ich habe mich informiert, bei uns in Europa sind es mittlerweile zwei Drittel aller Erwachsenen, die übergewichtig oder fettleibig sind, das sind dreiundsechzig Prozent der Männer und vierundfünfzig Prozent der Frauen.

Frau Pannemeyer: Du meine Güte, woher haben Sie denn alle diese Zahlen, und dann auch gleich noch parat, ohne nachzuschauen!

Frau Hebestreit: Ich habe in der Schule gelernt:  Wir leben in einer Informationsgesellschaft, und ich informiere mich eben. Aber was ich Ihnen noch sagen wollte:  Wußten Sie, daß es noch ein zweites Wundermittel gibt, daß man in Amerika erfunden hat und daß jetzt neben der Abnehmspritze auch noch als Heilmittel angeboten wird: Wegovy!

Frau Pannemeyer: Hören Sie auf, das klingt mir aber sehr russisch. Mit diesem Rasputin wollen wir erst recht nichts zu tun haben.

Frau Hebestreit: Medikamente haben immer komische Namen. Viagra! Botox! Doch Wegovy verringert den Appetit und verlangsamt die Verdauung und wird neben Ozempic als Ergänzung angeboten.

Frau Pannemeyer: Das geht aber ins Geld. Wunder gibt es immer wieder, aber wer kann zwei Wunder auf einmal bestellen und bezahlen?

Frau Hebestreit: Ja, das stimmt. Deshalb gibt es in Amerika auch die, ach Gott, wie schimpft sich das gleich, die ›Body positivity‹-Bewegung. Unser Jüngster hat es mir beigebracht. Die Sängerin Lizzo ist eines der Werbegesichter, oder sollte man besser sagen: Werbekörper? Sie ist ganz schön mollig, wenn nicht mehr, also unser Jüngster ist ganz hin von ihr. Er möchte sie am liebsten heiraten, aber er ist ja doch erst zwölf. Und man muß auch sagen, diese Negerdamen sehen auch wenn sie ordentlich dick sind immer noch besser aus als unsereins aus unseren Kreisen. Das liegt an der Haut, an der Farbe, und die ist auch nicht schwarz, die ist kaffeebraun, also großartig, das Fett verteilt sich da ganz anders und macht einen besseren Eindruck als bei uns Käsegesichtern. Na ja, jedenfalls sind die Fettpositiven stolz auf ihr Fett und sagen es auch vor allen Leuten. »Ihr seid gut, so wie ihr seid!« Das Wort Fett darf man in Amerika eigentlich gar nicht mehr sagen, wir haben hier in Deutschland früher vollschlank zu den Dicken gesagt. Oder nein, die Dicken haben es von sich selber gesagt, etwas verschämt waren sie schon. Aus den Kinderbüchern von Roald Dahl hat jetzt sein englischer Verlag das Wort fett gestrichen, auch das Wort häßlich wurde entfernt.

Frau Pannemeyer: Das ist ja wie beim Vogel Strauß, der den Kopf in den Sand steckt. Daraus kann nichts Gutes kommen.

Frau Hebestreit: Freilich, wenn man sich das Leben schönredet, da kann man sich das Leben auch schönfuttern, mit Pommes Fritz und Hackfleischbrötchen und einem halben Liter Cola. Aber da kommt nun Hilfe durch die Abnehmspritze Ozempic und den Appetitzügler Wegovy. So gleicht sich dann alles wieder aus, wo man auf der einen Seite gesündigt hat, wird man dann mit einer Spritze wieder auf den rechten Weg gebracht.

Frau Pannemeyer: Für uns kommt das alles zu spät, aber für unseren Bubi wird das wohl noch was werden, wenn nur die Krankenkassen mitspielen und es das dann auf Krankenschein gibt. Er gibt sich ja so viel Mühe, der Bubi, aber die Versuchung ist zu groß.

Frau Hebestreit: Ja, aber sagen Sie mal, warum schicken Sie ihren Bubi nicht in einen Turnverein, da kann er doch was für seine Figur tun?

Frau Pannemeyer: Schön wär’s. Wir kriegen ihn nicht einmal dazu, mit uns einen Waldspaziergang zu machen. Er bleibt lieber auf seinem Zimmer und spielt mit seinen elektronischen Geräten.

Frau Hebestreit: Also unsere Älteste, die Biggi, die erzählt mir immer von ihren Studien, sie studiert ja auf Arzt, und sie sagt, das mit dem Fett kommt daher, daß früher, also ganz früher, die Menschen kaum etwas zum Essen gefunden haben, und wenn sie dann etwas gesammelt und erjagt hatten, dann haben sie sich den Magen vollgeschlagen, weil man nie wußte, wann es wieder etwa zum Essen geben wird. Besonders alles Fette und Süße wurde gern genommen. Und nun, sagt die Biggi, steht der Mensch heute plötzlich in einem hellerleuchteten Supermarkt und rings um ihn herum liegen all die schönen Sachen, die man für wenig Geld kaufen kann. Unser Gehirn, sagt die Biggi, hat aber mit der Entwicklung nicht Schritt halten können, und so futtern wir wie die Steinzeitmenschen uns ein Bäuchlein an und glauben wie damals, daß man nie wissen kann, wann es wieder ausreichend Nahrung geben wird.

Frau Pannemeyer: Oh je, das habe ich schon so oft mit unserem Bubi erlebt, wenn wir einkaufen gegangen sind. Ständig diese Quengeleien und ich mußte ihm immer wieder die Tüten mit den Süßigkeiten aus der Hand reißen, manchmal hat er heimlich noch im Supermarkt die Tüte aufgerissen und sich das Zeug hineingestopft. Aber eine Möhre, wenn ich die ihm zuhause hinhalte, da beißt er nicht an, die läßt er glatt zurückgehen. Es ist ein Kreuz mit diese Kinder.

Frau Hebestreit: Trösten Sie sich damit, daß, wenn er groß geworden ist und eigene Kinder hat, dann wird er schon sehen, was das für ein Spaß ist, wenn man welche hat. Na ja, war wieder nett, mit Ihnen zu plaudern. Jetzt muß ich aber los, mein Mann erwartet das Mittagessen pünktlich um zwölf auf dem Tisch. Denn da sind die Kartoffeln am heißesten.

»Das haben natürlich Männer gemacht!«

»Bubi!« . . . dies Wort, aus dem Munde meiner Vaterschwester Fanni war meiner Jugend Qual. Sie war die Vorsitzende des Vereins Frauenwohl, kämpfte für aktives und passives Wahlrecht, für die Gleichberechtigung der Frau, verachtete die Männer und ließ ihre Verachtung an dem Jüngsten aus, ihrem heranwachsenden Neffen. »Das haben natürlich Männer gemacht«, sagte sie; und dann war die Angelegenheit abgelehnt. (Theodor Lessing: Bubi, 1929)

Das Telefon läutet für Politiker immer dann, wenn ein Journalist meint, er müsse etwas O-Ton in seinen Artikel bringen. Als ein berühmter Choreograf unlängst einer Kritikerin Hundekot ins Gesicht schmierte, lag der Ernstfall vor. Es klingelte bei allen Parteien des hannoverschen Raums. Auch zwei Damen aus zwei Parteien mußten ›Stellung nehmen‹. Da bleibt keine Zeit zum Überlegen, es muß schnell gehen und wie aus der Pistole geschossen eine Meinung zum Tagesthema hervorgebracht werden. Die Dame der SPD sagte: »Das ist entwürdigend, insbesondere für eine Frau«. Insbesondere? Es ist, als ob die Lokalpolitikerin aus dem Nichts eine dualistische Empfindsamkeitsideologie erfunden hätte. Man findet den Zugang zu einer solchen Äußerung nur, wenn man ein in der Dame unbewußt agierendes Axiom zugrunde legt. »Männer sind Schweine.« Das ist zwar schlicht gedacht, aber eingängig, und es hilft dabei, zu verstehen, weshalb es »insbesondere für eine Frau« entwürdigend sein soll, Fäkalien im Gesicht ertragen zu müssen. Denn Schweine mit ihren großen Schnauzen wühlen ja gewohnheitsmäßig im Schmutz, wo sie Eßbares suchen. Sie kennen es nicht anders, es ist ihr Lebensstil. Bei der Schweinepopulation unterscheidet man zwischen dem Eber und der Sau, die, wie man in Wildschweingehegen gut beobachten kann, wie ihr männliches Pendant mit der Schnauze im Schlamm wühlt und dort nach Eicheln gräbt. Doch wir Menschenschweine sehen uns als etwas Besseres an im Vergleich zu den ordinären Schweinen, und Frauen, die etwas auf sich halten, wollen sich heute auch dadurch von ihren konträren Geschlechtsgenossen unterscheiden, indem sie, wenn der Journalist bei ihnen anklingelt, sagen:  »Das ist entwürdigend, insbesondere für eine Frau«.

Die Vorsitzende der grünen Partei war im Vorteil, denn sie hatte Zeit, um sich den Vorfall durch den Kopf gehen zu lassen, und so schrieb sie auf ›Facebook‹: »Leider müssen wir auch hier wieder über das Patriarchat und toxische Männlichkeit sprechen.« Wie man sieht, ist die Zeitverzögerung nicht immer ein Vorteil bei der Urteilsbildung, denn hier behilft man sich mit dem Einschnappen eines Mechanismus, der bereits vorhanden ist und bei passender Gelegenheit ausgelöst wird.  Wir wissen seit Adam Smiths ›Theorie der ethischen Gefühle‹ (1759), daß der Mensch zwar als egoistisch gilt, aber nicht ausschließlich, »es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen«. Ein Prinzip dieser Anteilnahme ist das Mitleid, also das Gefühl, »das wir für das Elend anderer empfinden, sobald wir dieses entweder selbst sehen, oder sobald es uns so lebhaft geschildert wird, daß wir es nachfühlen können.« Wer die Würde des Menschen auf die eine Hälfte des Menschengeschlechts einschränkt, indem er der anderen Hälfte gewissermaßen eine reduzierte Empfindsamkeit unterstellt, dokumentiert zwar das Mitleid mit der geschädigten Person, aber nur auf Kosten einer inhumanen Attitüde. Wer bei einen Einzelfall, der individuell zu bewerten ist, sogleich mit einem schematischen Aburteilungsmechanismus reagiert (Patriarchat, toxische Männlichkeit), läßt das Individuum verschwinden in einem soziologischen Phantom in dem alle Vorurteile Platz haben, die man im Laufe seiner eigenen ideologischen Mentalitätsgeschichte angehäuft hat. »Das haben natürlich Männer gemacht!«

Den Text ›Bubi‹ können Sie vollständig hören, gelesen von Ernst-August Schepmann, auf dieser Website unter der Rubrik:
›Audio – »Hallo, hier spricht Theodor Lessing«