Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog

Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.

Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«

Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.

Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.

Unsterbliches Plastik

Die Kontroverse um die richtige Verteilung der gelben Tonnen in Hannover wird nichtig angesichts des neuesten Plastikberichts der Umwelt-Organisation Greenpeace, wonach in den USA lediglich 5% des anfallenden Plastikmülls tatsächlich recycled werden, während der gigantische Rest auf Dauer die Umwelt belastet. Es gibt sieben Sorten von Plastik, aber nur die beiden ersten Kategorien (Polyethylenterephthalat, PET und Polyethylen hoher Dichte, HDPE) sind recyclebar (und auch da ist der Prozentsatz sehr gering), die anderen Plastiksorten (darunter Kaffeebecher oder Kinderspielzeug) gelten nach der Klassifizierung der Federal Trade Commission als nicht wiederverwertbar. Selbst wenn jeder Haushalt jedes einzelne Stück Plastik separat sammeln und zu den sogenannten Wertstoffhöfen bringen würde, könnte dieses mühsam zusammengetragene Material nicht in den Wiederverwertungskreislauf eingespeist werden. Nun kann man sagen: Ja, die Amerikaner, das sind eben keine umweltliebenden Menschen, aber wir hier in der Bundesrepublik und ganz besonders in Hannover sammeln getreulich alle anfallenden Plastikverpackungen. Der Greenpeace-Report aber sagt nun eindeutig: Einen rationalen Grund für das Sammeln von Plastik gibt es nicht, es ist das Vorhandensein von Plastikverpackungen an sich, das sich zu einem unlösbaren Problem ausgewachsen hat.

Das arme Schwein

In den sechziger Jahren war es in der amerikanischen Gegenkultur üblich, die Polizei als Schweine (pigs) zu bezeichnen, die damals von vielen Karikaturisten gezeichneten Cops wurde mit Schweinegesichtern ausgestattet (Head Comix), Robert Crump gehörte zu den noch heute bekannten Künstlern, die diese Vertreter der Ordnungsmacht als Pig-Cops porträtierten.
Nun hat man auf der jetzigen Dokumenta ein Bildnis eines Mossads-Spions aufgehängt (und nach den Reaktionen der öffentlichen Meinung wieder abgehängt), das ein Schweinegesicht zeigt. Wozu die Aufregung?
Die öffentliche Meinung hat, weil gerade die ›Wittenberger Judensau‹-Darstellung vom Bundesgerichtshof als Teil eines Erinnerungsdenkmals (mit historischen Erläuterungen) anerkannt wurde, sogleich die Analogie Judensau und Mossad-Pig konstuiert, und es gilt in diesem Land bekanntlich das »Bekenntnis zum Staat Israel«, und so hatte die Kunst das Nachsehen. Dabei ist die Kunstsphäre noch die einzige Sphäre, wo es nicht um den Nachweis der Wahrheit geht, sondern der freie Ausdruck gilt und ohne diesen man solche Ausstellungen auch gleich ganz einstellen kann.
Ganz abgesehen davon, daß man bisher sich nicht um die armen Schweine gekümmert hat, die als Karikatur und Haßbild durch die Geschichte weitergereicht werden. Alles, was man ihnen nachsagt, hat sich als nicht richtig erwiesen. Aber der Mensch braucht ein Tier als Vergleichsmaßstab für seine Untaten, und so gibt es denn auch eine menschliche Sau. Schopenhauer hat seinen Pudel, wenn er nicht parierte, als »Du Mensch!« angeschnauzt. Vgl. Gerhard Polt: Eine menschliche Sau (CD, 2006).
»No question, now, what had happend to the faces of the pigs. the creatures outside looked from pig to man, and from man to pig, and from pig to man again; but already it was impossible to say which was which.« George Orwell: Animal Farm (1945).

Nachtrag 1.5.2023

Am 18. April 2023 brachte die FAZ eine einunddreißig Zeilen umfassende Meldung, wonach die Staatsanwaltschaft Kassel die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens im Zusammenhang mit den auf der Documenta ausgestellten Kunstwerken eingestellt hat. Das Blatt hatte zuvor in einer Serie von langen Artikeln die Künstler des Antisemitismus bezichtigt und Maßnahmen gegen die Ausstellungsleitung verlangt. Nach dieser knappen Meldung erschien kein Artikel, in dem die Zeitung sich mit der Hetze gegen die Künstler und die Documenta-Ausstellungsleitung auseinandersetzt. Man hatte seine öffentliche Macht demonstriert und damit war der künstliche geschürte Skandal für die Presse erledigt.

Wkusno i totschka

Seitdem der russische Staat mit dem Überfall auf die Ukraine in seinem eigenen Selbstverständnis damit begonnen hat, zu Großrussland zu werden, haben ausländische Konzerne, um ihr Ansehen in der Welt bedacht, sich aus Russland zurückgezogen. So auch der amerikanische Konzern, der sich ›McDonalds‹ nennt, und der seit 1990 mit seinen Produkten die russischen Konsumenten mit Schnellfraß versorgt hatte. Wenn ein Staat gegen einen anderen Staat Krieg führt, weiß er natürlich auch, daß er das begründen muß — soviel Neuzeit muß sein — und im Falle der Schnellfraß-Restaurants mußte ein Ersatz her, der aber nicht nur die Konsumenten mit dem gleichen Produkt abspeist, sondern zusätzlich einen symbolischen Wert haben muß. Deshalb sollte statt McDonald die neue Abfütterungsstätte ›Bei Onkel Wanja‹ heißen, in Anlehnung an Anton Tschechows Theaterstück ›Onkel Wanja‹. Zwar ist der Protagonist Onkel Wanja ein russisches Kosewort für Wojnízkij, was Krieger bedeutet, was also durchaus zeitgemäß gewesen wäre. Doch muß es dann wohl Bedenken gegeben haben, daß diese Verneigung vor Tschechow zum vaterländischen Nachteil gerinnen könnte, denn ›Onkel Wanja‹ spielt in einer Endzeitstimmung, die Jahreszeiten geben nicht das her, was man von ihnen verlangt, die Ernte fällt aus und das Stück endet im tiefen Winter. Schließlich verfielen die neuen russischen Pommes Fritz-Produzenten auf den Namen Wkusno i totschka, was auf deutsch heißt: Lecker und Punkt. Was für eine Offenbarung! Lecker und Punkt müßte in einer anderen deutschen Übersetzung heißen: Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt! Das klingt denn schon vertrauter und entspricht vollkommen dem russischen Obrigkeitsgeist, der seine Konsumenten durchaus verköstigen will, aber nach der Art: Mäkeln ist nicht gestattet, Friß Vogel oder stirb!

Staatstragend und unphilosophisch

Wenn das Kriterium »viele Verbindungen zu Hannover« entscheidend sein soll, um eine Straße nach Helmut Schmidt zu benennen (Schmalstieg will Straße nach Helmut Schmidt benennen, HAZ, 12.2.2020) darf man vielleicht an den seit 1854 in Hannover lebenden jüdischen Arzt Louis Kugelmann erinnern, der bis zu seinem Tod im Jahre 1902 hier gelebt hat und 1899 von den SPD-Größen August Bebel, Wilhelm Liebknecht, Karl Kautsky und Paul Singer mit einem Besuch in seinem Haus geehrt wurde. Kugelmann ist heutigen SPD-Mitgliedern vielleicht kein Begriff mehr, aber er war es, der maßgeblich für die Verbreitung des berühmten ersten Bandes ›Das Kapital‹ (1867) von Karl Marx in ganz Deutschland gesorgt hat. Vor zwei Jahren feierte auch die Bundes-SPD den 200. Geburtstag von Marx und erinnerte dann doch wieder einmal daran, dass die Partei aus der Arbeiterbewegung hervorgangen ist. Doch Helmut Schmidt ist natürlich die sichere Verbindung zur heutigen SPD, staatstragend und unphilosophisch.

Ethische Kapitulation?

Der Leitartikel ›Der einsame Corona-Tod‹ von Thomas Holl (F.A.Z. v. 8. Februar 2021) beklagt die angebliche Gleichgültigkeit der Bevölkerung gegenüber dem einsamen Virustod und zitiert den CSU-Politiker Söder, der meint, dies sei eine »ethische Kapitulation«. In Krisenzeiten wird gern Moral in Anspruch genommen, und es klingt immer gut, wenn man Vorwürfe gegenüber einer anonymen Masse erhebt, die sich dagegen nicht wehren kann. Ganz sicher wird jedes einzelne Opfer von Covid-19 im Familienkreis betrauert, dazu bedarf es keiner Ermahnung durch die Politik und die Medien. Etwas anderes aber ist das ständige Herbeizitieren von Zahlen und Statistiken. Und wenn schon von den mehr als 61 000 Menschen die Rede ist, die bisher an dem Virus gestorben sind, dann sollte man auch Vergleichszahlen anbieten, so die gerade durch eine gemeinsame Studie der Universitäten von Harvard, Birmingham, Leicester und London ermittelten, wonach 2018 auf der ganzen Welt 8,7 Millionen Menschen an der Luftverschmutzung gestorben sind, die durch das Verbrennen von Öl und Kohle entstanden ist. Das ist die ethische Kapitulation vor den Interessen einer weltweit agierenden Industrie, die im Gegensatz zu einem Virus sehr sichtbar und identifizierbar ist.

Die Monotonisierung der Welt

Wenn der ›David Hume Tower‹ in Edinburgh »mit Rücksicht auf Empfindlichkeiten von Studierenden« (F.A.Z v. 14.9.2020) umbenannt worden ist (David Hume wurde als Rassist enttarnt) und in Ulm künftig die expressionistisch gestaltete Melchior-Figur (als Teil der Heiligen Drei Könige) nicht mehr zu sehen sein wird, weil das Kunstwerk mit »wulstigen Lippen« (F.A.Z. v. 8.10.2020) dargestellt wird, dann darf man dies als neuen Höhepunkt der Identitäts-Politik feiern, unter dem Signum ›Cancel Culture‹ sich in der politischen Zielrichtung weiter vereindeutigend. Es wird erst ein Ende haben, wenn alles vereinheitlicht sein wird, wenn die ›Monotonisierung der Welt‹ (Stefan Zweig, 1925) die kulturelle Stufe erreicht hat, wo es keine markanten Merkmale des Menschlichen mehr gibt. Wulstige Lippen als rassistisches Stereotyp? Für manche Zeitgenossinnen ist es ein erstrebenswertes Ideal und das Mittel dazu heißt Botox.

Na, dann ist ja alles klar!

Sagt ein Maskenträger zum anderen Maskenträger: »Die Maske schützt mich nicht, aber ich schütze durch das Tragen der Maske dich!« Erwidert der andere Maskenträger: »Die Maske schützt mich nicht, aber ich schütze durch das Tragen der Maske dich!« Nach einem Moment philosophischen Staunens zucken beide die Schultern und sagen: »Na, dann ist ja alles klar!« Sagt ein Maskenträger zum anderen: »Ich trage die Maske ganz gerne.« Sagt der andere Maskenträger: »Und wie oft reinigst du sie?« Erwidert der andere: »Na, das ist doch praktisch wie ein Winterschal, also nach dem Ende der Saison.« Sagt der andere Maskenträger: »Eigentlich sollte man sie gelegentlich waschen, aber da Viren sich im Größenbereich von etwa einhundert Nanometer bewegen, kann man sie deshalb nicht mit Feinstaub oder Tröpfchen vergleichen. Daher bleiben große Partikel wie Bakterien in einem Vlies hängen, die im Nanobereich schwirrenden Viren aber gehen glatt durch.« Sagt der andere Maskenträger: »Igitt, dann habe ich ja die ganze Zeit meinen kleinen Schnupfen direkt vor der Nase!« Erwidert der andere Maskenträger: »Die Maske schützt ja auch nicht dich, aber du schützt mich!« Nach einem Moment erneuten philosophischen Staunens sagen beide fast gleichzeitig: »Na, dann ist ja alles klar!«

Auf wohlbekannte Weise

Wenn nun fast die ganze Welt zuhause hockt wie früher der Steinzeitmensch in seiner Höhle, ist endlich ausreichend Zeit zur Verfügung, um das zu tun, was die meisten von uns in der Schule gehaßt haben: Mathematik. Wir sind keine logischen Wesen und sind nur sehr raffiniert, wenn es um das Berechnen unserer Interessen geht.
Täglich wird man jetzt mit neuen Zahlen zum ›Corona‹ benannten Virus konfrontiert, und es scheint, als sollten diese Zahlen uns überzeugen, dass wir uns auf etwas ganz Katastrophales einzustellen haben. Die Verdoppelung von Todesopfern an einem Tag läßt keinen kalt. Das ist die eine Welt, die Welt der absoluten Zahlen. Es gibt aber die Parallelwelt der absoluten Häufigkeit der Zahlen, die bildhafter und ehrlicher ist. Wir sind von Natur mit kollektiver Zahlenblindheit geschlagen und scheitern im Alltag an der Wahrscheinlichkeitstheorie.
Warum haben Menschen mehr Angst vor dem Unbekannten (Terroranschlag oder Virus) als vor einem Autounfall (der viel häufiger vorkommt, häufiger auch als ein Flugzeugabsturz)? Weil es das große Unbekannte ist, und die Menschen große Gefahren und zahlreiche Opfer (im Winter 2017/ 2018 starben allein in Deutschland 25. 000 Personen an einem ›normalen‹ grippalen Infekt) ruhig hinnehmen und nicht in Panik geraten, weil es zur Gewohnheit geworden ist und weil es, wie es der Wahrscheinlichkeitsmathematiker Jeffrey S. Rosenthal (Struck by Lightning. The Curious World of Probabilities, 2005) ausgedrückt hat, »auf wohlbekannte Weise geschieht«.
Heute, am 23. März 2020, gab es weltweit 350.536 statistisch erfaßte Fälle einer Corona-Erkrankung, von diesen erholten sich 100.182 und 15.327 starben daran. Es muß wohl nicht eigens betont werden, dass jeder einzelne Todesfall für sich genommen eine schreckliche Tragödie ist. Aber es geht hier nicht um das ganz natürliche Mitgefühl mit den Opfern und ihren Angehörigen, es geht um das Ausrechnen der Wahrscheinlichkeit, um eine Zukunftsprognose für die Überlebenden. Mehr als 96% der Infizierten haben sich innerhalb einer Woche wieder erholt. Die Mortalitätsrate beträgt 0,8%.
Als man die Zahl der Besucher von öffentlichen Veranstaltungen auf die Zahl 1000 begrenzte, erlag man dem magischen Zauber der Zahl, aber das Virus folgt dem Gesetz der großen Zahl und daher ist es für die Reproduktion entscheidend, ob die Zahl der Virusträger im Mittel wächst oder kleiner wird. Das erreicht man nicht durch die willkürliche Festlegung einer Obergrenze, denn natürlich, wie man wunderbarer Weise nun erkannt hat, reproduziert sich das Virus auch bei wesentlich kleineren Menschenansammlungen.
Die »Wahrscheinlichkeitsblindheit« (Massimo Piattelli-Palmarini: Inevitable Illusions. How Mistakes of Reason Rule Our Minds, 1994) der Menschen erklärt, weshalb man mental unfähig ist, Risiken anhand von Zahlen abzuwägen. Und so glaubt man immer aufs Neue: Ist ein Ereignis wiederholt als Thema im Tagesgedächtnis, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass es auch eintrifft. Wahrscheinlichkeitswerte für ein Einzelereignis ausrechnen zu wollen, ist ein vergebliches Unterfangen. Die mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie wurde im 17. Jahrhundert entwickelt; bis sie im Bewußtsein dieser und kommender Generationen angekommen ist, werden wohl noch einige Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende vergehen.

Revolutionär, nicht Revolution machend

1909 beschrieb der sozialdemokratische Philosoph Karl Kautsky die SPD in seinem Buch ›Der Weg zur Macht‹: »Die Sozialdemokratie ist eine revolutionäre, nicht aber eine Revolutionen machende Partei.« Fünfzig Jahre und zwei Weltkriege später trennte sich die Partei 1959 im ›Godesberger Programm‹ von allen revolutionären Floskeln. In Hannover wollen Ulrike Strauch und Adis Ahmetovic die lokale Parteiorganisation erneuern. Sie wollen Zuhören (in letzter Zeit ein sehr beliebtes Modewort) und die SPD dem Publikum als »geistige Heimat« anbieten, wozu denn auch gute Laune und Werte (immer wieder ein sehr beliebter Modebegriff), sogar christliche, gehören sollen. Der Ortsverein als »kultureller Treffpunkt«, die Partei als »geistige Heimat«. Aber wird es ausreichen, gute Laune und Stimmung zu verbreiten und die Partei als »cool« zu bezeichnen? Sind das nicht Floskeln aus dem Bereich des kommerziellen Marketing? Müßte man sich nicht zurückbesinnen auf das, was die deutsche Sozialdemokratie ausgezeichnet hat: die Bildung, und damit die Lektüre der Schriften, die erst das geistige Fundament der Partei gebildet haben. Ganz im Sinne von Friedrich Engels, der einen der Gründungsväter der SPD, August Bebel (Autor des Bestsellers ›Die Frau und der Sozialismus›) beraten hat: »Die deutsche Arbeiterbewegung ist die Erbin der deutschen klassischen Philosophie.«

Hellhörige Hellseher

Einem Bankdirektor verschreibt sein Hausarzt eine Wanderkur, denn dann würde seine Nervosität schnell verschwinden. Auf der Wanderung hört er mehrfach die Stimme seiner Ehefrau, bis er in seinem Rucksack ein ihm unbekanntes Gerät entdeckt, aus dem es schallt: »Ja, ja, Ludwig, da staunst du? Eine Menge Geld hat das Ding gekostet. Eine ganz neue Erfindung: das tragbare, drahtlose Telefon in Miniaturformat.« Am Ende der Geschichte wirft der ständig in seiner Ruhe gestörte Bankdirektor das drahtlose Taschentelefon in einen Bergsee. (Gustav Hochstetter: Schweigend wandern! In Prager Tagblatt, 38. Jg., Nr. 225, 17.8.1913, 3f.)

Gustav Hochstetter (geboren 1873, 1944 ermordet im KZ Theresienstadt), Schriftsteller. Werke u. a.: Almanach der Lustigen Blätter, 1908; Mein buntes Berlin. Humoresken, 1911; D-Zug-Geschichten. Humoresken, 1913; Feldgraue Humoresken, 1916; Lachendes Blond. Ein Brevier der Lebensfreude, 1921; Ein bißchen Freude. Vorträge für Damen und Herren, 1930.

»Der Mensch wird bald als Phantom überall zugleich sein. Jedermann wird jederzeit Alles sehen und hören können. Man zieht einen kleinen Spiegel hervor und erblickt darin Alles. So kann man auch selber als handelndes sprechendes Bild von jedem Orte der Erde aus sichtbar und hörbar gemacht werden.« (Theodor Lessing, 1930)