Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog

Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.

Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«

Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.

Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.

Unless he condemns

A. Haben Sie gehört? Der russische Dirigent Valery Gergiev ist fristlos entlassen worden!
B. Ja, von dem habe ich schon gehört. »The world’s busiest conductor«, schrieb die ›New York Times‹ über ihn. Zum Arbeitsamt muß der nicht.
A. Das ist richtig, aber die Umstände seiner Entlassung sind interessant. Der sozialdemokratische Oberbürgermeister von München hat dem Dirigenten nämlich vor die Alternative gestellt, entweder die russische Invasion in der Ukraine öffentlich zu verurteilen oder aus seinem Amt als Dirigent der Münchner Philharmoniker entfernt zu werden.
B. Hat er sich denn während seiner Tätigkeit etwas zuschulden kommen lassen? In diesem Kulturbereich läßt man sich ja gerne gehen. Sexuelle Belästigung ist immer noch en vogue.
A. Wo denken Sie hin! Ich habe doch eben gesagt, er wurde vom Oberbürgermeister mit einer Entscheidung konfrontiert: Entweder-Oder. Nichts ist vorgefallen, er hat keine silbernen Löffel gestohlen und niemanden betatscht.
B. Ah, ich verstehe. Dann hat er aber für Rußlands brutalen Krieg unter den Orchesterkollegen Reklame gemacht. Oder hat er eine Rede in München vor Publikum gehalten, wo er den Krieg als gerechtfertigt verteidigt hat?
A. Durchaus nicht, ganz und gar nicht. Er ist aber seit vielen Jahren ein Protegé des Herrn Putin, wenn Sie verstehen, was ich meine: Der Dirigent ist durch ihn unglaublich reich geworden, und er absolviert ja nicht nur in Rußland Dirigate, er ist ein Tausendsassa, er dirigiert praktisch auf allen Kontinenten.
B. Das bedeutet dann aber, daß er zwar ein Freund des Herrn Putin ist, er aber sich während seiner Arbeitszeit in München mit politischen Äußerungen zurückgehalten hat.
A. Ja, das reichte aber dem Oberbürgermeister von München nicht, es drängte ihn danach, ihn zu fragen, wie er sich entscheiden möchte.
B. Entscheiden möchte? Hat man ihm mit dieser Frage, oder genauer: dieser Forderung, nicht die Pistole auf die Brust gesetzt? Entweder-Oder? Und wenn er nun dem Verlangen des OB nachgekommen wäre, wieviel wert wäre denn diese Aussage gewesen, wenn alle Welt weiß, daß der Dirgent und Putin seit langem Spezis sind?
A. Wenn der Dirigent nur ein mittelloser Kapellmeister mit einer Frau und vier Kindern gewesen wäre, wäre seine Entscheidungsfreudigkeit sicher in Richtung Verdammung des Ukraine-Überfalls geleitet worden, denn Kunst geht bekanntlich nach Brot, und wer so grade von seiner Kunst leben kann, riskiert nicht seinen Arbeitsplatz nur wegen einer simplen Meinungsäußerung.
B. Sie meinen, wenn er bloßen Lippendienst abgeleistet hätte und jeder wüßte, daß man auf diese Meinung nichts geben kann, weil sie nicht aus voller Überzeugung gesagt worden ist. Ja, wenn man die Umstände, die zu dieser Äußerung geführt haben, berücksichtigt, man sogar sagen könnte, das Bekenntnis wäre erpreßt worden?
A. In der Tat, so sieht es aus. Das hat aber den Oberbürgermeister nicht davon abgehalten, vor allen Leuten, in aller Öffentlichkeit zu erklären, es sei die einzige Option für ihn gewesen, den Dirigenten zu entlassen, nachdem er auf das vom OB gestellte Ultimatum nicht geantwortet hatte. Wenn er nicht den Überfall verurteilt, habe man keine andere Wahl als die, ihn sofort zu entlassen.
B. Man fragt sich, für wie realistisch der Oberbürgermeister es überhaupt gehalten hat, daß er von dem Dirigenten die ihm genehme Antwort bekommen würde.
A. So ist es. Wenn man weiß, daß jemand in vielfältiger Weise mit einem Politiker verbunden ist und er bis heute von dieser Beziehung ungeheuer profitiert, finanziell profitiert, wie ernst ist es dann einem Stadtoberhaupt mit seinem Ansinnen, und hat er jemals erwartet, daß er die gewünschte Antwort, ja die Unterwerfung unter seine Forderung erhalten würde.
B. Diesem schwerreichen Dirigenten geht doch, wie meinem Freund, dem Hinrainer Rudi, der gleichfalls unglaublich viel Geld hat, die Demokratie am Arsch vorbei.
A. Ja, das kann man mit dieser volkstümlichen Drastischkeit wohl so sagen. Und es schließt sich die Frage an, was es den von den Russen beschossenen Ukrainern eigentlich bei ihrem Widerstand gegen die Invasoren praktisch hilft.
B. Ich glaube, das ist Menschen, die in täglicher Not um ihr Leben und ihre Existenz kämpfen, schnurzegal. Das ist eine rein ideologische Angelegenheit, bei der die eine Seite die andere Seite in die Knie zwingen will, einfach aus dem Motiv heraus, daß man im Moment die öffentliche Meinung hinter sich weiß. Denn es haben sich inzwischen auch andere Veranstalter von dem Dirigenten getrennt, ja sogar sein Manager hat sich von ihm verabschiedet. Man will nicht in Kontaktschuld geraten. Das ist Gift in der reinsten Form.
A. Es ist Gesinnungsjustiz. Und was hilft es, wenn man dem einem Regime verpflichteten Musiker, der finanziell nichts zu befürchten hat, mit einem Glaubenseifer sinnlose Bekenntnisse abverlangt. Arbeitsrechtlich ist das jedenfalls noch nicht gelöst, denn ich kann mir nicht vorstellen, daß, wenn der Dirigent vor dem Arbeitsgericht gegen die Stadt München klagt, das Gericht sich einfach auf die Seite eines Politikers schlägt, der als Oberbürgermeister einen Beschäftigten völlig losgelöst von feststellbaren Vorkommnissen wegen einer unterstellten falschen Gesinnung schuldig spricht.
B. Das wird teuer. Die richtige Gesinnung ist aber in Deutschland immer schon eine ganze besondere Spezialität gewesen. Dafür hat man Geld, Leben und Existenz gerne geopfert. Gesinnungsidealismus führt immer zum Gesinnungsterror. So kommt es zu einem selbst importierten Kriegszustand inmitten einer zivilen Gesellschaft. Die Abschwörung vom Glauben ist eine Hinterlassenschaft des Mittelalters, aber manchmal hat man das Gefühl, daß dieses Mittelalter noch lange nicht vorbei ist.
A. Die Abschwörung war ja in der römisch-katholischen Kirche ein Teil der Aufnahme in ihrem Schoß. Abrenuntiatio diaboli, Absage an den Teufel, nannte man das, wenn jemand vor der Aufnahme oder Wiederaufnahme in die alleinseligmachende Kirche stand. So konnte sich der Gläubige, der unter den Verdacht der Häresie gekommen war, freischwören von der ihm zur Last gelegten Ketzerei.
B. Eppur si muove! (Und sie bewegt sich doch!) soll der Astronom Galileo Galilei nach seiner Verurteilung durch die katholische Inquisition beim Verlassen des Gerichts gemurmelt haben.

Einsatz für die Menschlichkeit

Dr. Anneliese Sendler: Ja, Grüß Sie Gott aus dem Fernsehstudio in Unterföhring, meine Damen und Herren und herzlich willkommen zu einer neuen Ausgabe unserer Sendung ›Deutsche Demokratie jetzt!‹. Und es ist mir eine ganz besondere Freude heute in unserer Sendung einen Ehrengast begrüßen zu dürfen, unseren derzeitigen Bundespräsidenten, Herrn Frank-Walter Steinmeier!

Frank-Walter Steinmeier: Ja, guten Abend Frau Doktor Sendler, vielen Dank für Ihre Einladung.

Dr. Anneliese Sendler: Ich darf gleich noch unsere anderen Gäste in unserer heutigen Talk-Runde vorstellen. Da haben wir zunächst Herrn Dr. Ludolf von Mannstein, stellvertretender Vorsitzender des Vereins ›Gemeinnutz e. V.‹

Dr. Ludolf von Mannstein: Äh, ja, guten Abend, Frau Doktor Sendler.

Dr. Anneliese Sendler: Als weiteren Gast begrüße ich Herrn Professor Rolf Papperger vom ›Zentralinstitut für soziales Wesen‹.

Prof. Rolf Papperger: Guten Abend.

Dr. Anneliese Sendler: Und schließlich noch als Vertreter des ›Luhmann meets Nietzsche-Forums‹, Herrn Dr. Ulrich Ohneigen.

Dr. Ulrich Ohneigen: Ja, vielen Dank für ihre Einladung.

Dr. Anneliese Sendler: So, nun aber gleich zu heutigen Thema: Sozialer Pflichtdienst. Herr Bundespräsident, Sie haben vor einem Jahr dieses Thema in die Öffentlichkeit gebracht und wollen nun für eine Verfassungsänderung werben, damit junge Menschen die Gelegenheit erhalten, freiwillig in den Dienst der Demokratie treten zu können.
Frank-Walter Steinmeier: Ja, das ist richtig. Und wissen Sie, seit diesem Jahr habe ich folgende Erfahrung gemacht. Viele Menschen sind regelrecht elektrisiert von der Vision: eine Zeit des Miteinanders, eine gleiche Pflicht für alle, ein Dienst für unsere Demokratie.

Dr. Ludolf von Mannstein: Lassen Sie mich hier gleich einhaken, Frau Doktor! Das haben wir vom Verein ›Gemeinnutz e.V.‹ schon seit vielen Jahren vorgeschlagen, sind aber immer wieder durch beleidigende Äußerungen gerade auch von Vertretern ihrer Partei, Herr Bundespräsident, der SPD, verunglimpft worden. Man hat uns Nazis geschimpft, weil wir Arbeitsdienste anbieten wollten, und das nur, weil damals die nationalsozialistische Regierung den so genannten ›Reichsarbeitsdienst‹ eingeführt hat. Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun. Wir wollen doch keine Arbeitslager haben, wo die jungen Menschen militärisch gedrillt werden, weit davon entfernt, das soll doch freiwillig auf gesetzlicher Grundlage geschehen, die zeitlich begrenzte Verpflichtung im Dienste des sozialen Gemeinwesens.

Prof. Rolf Papperger: Wenn ich dazu ergänzend zu den völlig richtigen Ausführungen meines Vorredners anfügen darf: Den Arbeitsdienst hat doch nicht die NSDAP erfunden, das war doch schon gegen Ende der Weimarer Republik eine verdienstvolle Tat des damaligen Reichskanzlers Brüning, der damit die verheerende Arbeitslosigkeit in den Griff bekommen wollte. Der FAD, der Freiwillige Arbeitsdienst bestand schon seit 1931. »Zum Nutzen der Gesamtheit in gemeinsamen Dienste freiwillig ernst Arbeit leisten«, das war das Motto damals, und viele junge Menschen waren dem Staat dankbar, daß er ihnen die Möglichkeit gab, etwas zu leisten und den sozialen Zusammenhalt damit zu stärken.

Dr. Ulrich Ohneigen: Sie dürfen aber nicht unterschlagen, daß Brüning das damals gemacht hat als ein politisches Zugeständnis an die NSDAP, die seit Beginn der Wirtschaftskrise 1929 immer wieder eine Arbeitsdienstpflicht gefordert hat und daß die rechtliche Grundlage nur auf einer verfassungsrechtlich problematischen Notverordnung beruht hat.

Frank-Walter Steinmeier: Und das ist auch der Grund, weswegen ich um eine verfassungsändernde Mehrheit in unserem Parlament werbe. Dies soll keine diktatorische Maßnahme des demokratischen Staates sein, es soll auf der Zustimmung einer großen Mehrheit der Bürger beruhen. Meine Meinungsforscher haben mir mitgeteilt, daß inzwischen schon 65 Prozent der Gesamtbevölkerung sich für die soziale Pflichtzeit aussprechen, bei den jungen Menschen fällt die Zustimmung etwas geringer aus, bei knapp über 50 Prozent. Das ist für mich ein ermutigender Ansporn.

Dr. Ludolf von Mannstein: Da muß sich nun aber bald etwas bewegen, die demokratischen Parteien müssen endlich Flagge zeigen und ihre Mitglieder mobilisieren, damit das Ganze nicht im medialen Zirkus untergeht. Wir haben doch heute Themen in der Öffentlichkeit, da fragt man sich: ja, brauchen wir jetzt noch diese Diskussion über den Wolf, der sich über ein paar Schafe hermacht, ja wo sind wir denn?

Prof. Rolf Papperger: Naja, Sie können aber auch nicht ein anderes Thema besetzen und monopolisieren, das wäre dann genauso einseitig. Aber lassen Sie mich zum heutigen Thema noch etwas Historisches beitragen. Es war nicht der Nationalsozialismus, der dann auch die jungen Mädchen der ›Frauendienstpflicht‹ unterwarf, das gab es als Idee schon in der bürgerlichen Frauenbewegung vor dem Ersten Weltkrieg. Übrigens waren es die Bulgaren, die zuerst einen nationalen Pflichtdienst eingeführt haben, 1920 war das, und auch in konservativen und linken Kreisen fand man, daß staatsbürgerliche Erziehung und körperliche Ertüchtigung durchaus in Ordnung waren.

Dr. Ulrich Ohneigen: Auffällig war damals wie heute die Tatsache, daß immer von Freiwilligkeit geredet wurde, dabei war das überhaupt keine freie Entscheidung der jungen Leute, wenn sie plötzlich einen Spaten in die Hand gedrückt bekamen und im Rahmen eines Programms zur Bodenverbesserung herangezogen wurden. Auch heute tut man so, als ob dann, wenn es einen im Grundgesetz verankerten Artikel gibt, damit die Tätigkeit eine Wahlfreiheit enthält. Das ist nicht zutreffend, und wenn Sie, verehrter Herr Steinmeier, in einem Beitrag für die ›Frankfurter Allgemeine‹ schreiben: »Eine Pflicht ist nicht einfach nur Zwang.«, so ist das bloße Wortklauberei und eine Spitzfindkeit, die so tut, als würde sie differenzieren, dabei aber nur die bestehende Differenz zwischen Freiheit und Zwang einebnet.

Frank-Walter Steinmeier: Mit der Pflicht sagt der demokratische Staat: Du zählst, du trägst Verantwortung, und du bist Teil dieser Demokratie! Du wirst gebraucht! Und zwar für eine gerechtere, menschliche und nachhaltige Gesellschaft. Die Pflichtzeit ist praktischer Einsatz für die Demokratie und für eine lebenswerte Zukunft. Wir geben mit der sozialen Pflichtzeit eine Antwort auf die destruktiven Auswirkungen sozialer Zersplitterung. Ich mache mir Sorgen, daß die Abwendung der Menschen voneinander früher oder später die Grundlage unserer Demokratie aushöhlt.

Dr. Ludolf von Mannstein: »Du bist Deutschland« Das war doch vor vielen Jahren, ich glaube das lief zwischen den Jahren 2005 und 2006, eine tolle Kampagne, die mein alter Freund von der Bertelsmann AG, Gunter Thielen, initiiert hat. Da gab es TV-Spots auf allen Fernsehkanälen und in den Kinos, großformatige Anzeigen in den Printmedien, Flugblätter, Plakate. Das war die bisher größte Social-Marketing-Kampagne in der Bundesrepublik. Es sollte für mehr Zuversicht und Eigeninitiative in Deutschland geworben werden und die Bundesbürger zu mehr Selbstvertrauen und Motivation anstoßen. Man hat sich auch nicht gescheut, etwas volkstümlich zu werden, wie etwa in dem Slogan: »Dein Wille ist wie Feuer unterm Hintern«. Na, wer sagts denn, es muß auch mal urig und spaßig zugehen, sonst kommt man bei den Leuten nicht an.
Dr. Ulrich Ohneigen: Einer dieser von Ihnen so gelobten Slogans hieß: »Behandle Dein Land doch einfach wie einen guten Freund. Meckere nicht über ihn. Du bist Deutschland.« Der Meckerer war im nationalsozialistischen Deutschland eine von der Propaganda aufgebaute Feindfigur. Das hieß damals ›Aktion gegen Miesmacher und Kritikaster‹. 1934 hielt Goebbels persönlich im Berliner Sportpalast eine Hetzrede gegen »Miesmacher und Kritikaster, gegen Gerüchtemacher und Nichtskönner, gegen Saboteure und Hetzer.« Die Identifikationsformel ›Du bist Deutschland‹ gab es damals auch schon, sie wurde 1935 auf den ›Führer‹, Adolf Hitler, angewandt.

Dr. Anneliese Sendler: Meine lieben Talkgäste, bitte versuchen Sie doch sachlich zu bleiben und solche Ausflüge in die Historie zu vermeiden.

Dr. Ulrich Ohneigen: Was heißt hier unsachlich? Ohne historische Vergleiche und Analysen darüber, woher ein politisches Phänomen herkommt, ist doch jede Diskussion zum oberflächlichen Geschwafel verurteilt. Wir müssen doch Parallelen zur Vergangenheit ziehen, sonst bleiben wir an der Oberfläche der tagesaktuellen Politik kleben. 2006 fand die Fußballweltmeisterschaft in der Bundesrepublik statt, das war doch kein Zufall, daß die Bertelsmann AG im Vorjahr mit der nationalistischen Kampagne ›Du bist Deutschland‹ den Äther verschmutzt hat.

Prof. Rolf Papperger: Ich muß Ihnen zugestehen, das an ihrem Argument was dran ist, aber wie soll man die Menschen heute anders mobilisieren als durch auf die Einheit der Nation zugeschnittene Aktionen. Die Massengesellschaft ist kein Kammerspiel, da muß grob geklotzt werden, sonst dringt man nicht durch. Emotionen sind das Hartgeld jeder Werbung, das mag man beklagen, aber ändern werden sie daran nichts. Das haben uns die Franzosen vorgemacht, seit 1789 ist die politische Sprache eine andere geworden, da wird auf dem Altar des Nationalen die Vernunft geopfert. Alles im Dienst des Gemeinwohls, der einzelne verschwindet in einem Dunst des Allgemeinen, des Vaterlands.

Frank-Walter Steinmeier (räuspert sich vernehmlich): Ahem, damit unsere Demokratie funktioniert, sind Fähigkeiten nötig, die lebendige Beziehungen zu anderen Menschen herstellen, und das soll man nicht nur durch Worte, sondern durch Taten und damit alles stärken, was uns miteinander verbindet. Eine allgemeine Pflichtzeit führt zur Begegnung mit Leuten, denen wir sonst wenig oder nie begegnen oder die wir nur im Vorbeigehen in ihrer beruflichen Funktion erleben, aber nicht in ihrer Menschlichkeit. Die Pflichtzeit wäre ein Gewinn für die innere Festigkeit unserer demokratischen Lebensweise in unsicheren Zeiten.

Dr. Ulrich Ohneigen: Lieber Herr Steinmeier! Ich bin mir sicher, daß Sie das alles ganz ernst meinen und auch an ihre Argumente, die Sie vorzubringen versuchen, fest glauben, aber was Sie da sagen, ist soziologisch naiv. Die moderne Gesellschaften sind so organisiert, daß der ökonomische Sektor am besten weiß, wie er ökonomisch vorgeht, das Recht wird nach internen Regeln gehandhabt, die Kunst geht nach ihren immanenten Strukturen vor, die Politik handelt innerhalb eines ihr eingeschriebenen Gesetzes, und auch wenn die einzelnen Bereiche einer Gesellschaft notwendigerweise miteinander interagieren und interagieren müssen, so heißt das noch lange nicht, daß zum Beispiel die Politik befugt werde, Entscheidungen der Ökonomie für sich zu reklamieren, was daraus geworden ist, hat man am Beispiel der Sowjetunion und der DDR erlebt. Und so sind auch Steuerungsversuche des Staates, in der Gesellschaft ein Gemeinschaftsprinzip durchsetzen zu wollen, entweder per Diktat oder per Verfassungsänderung, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dies verkennt einfach die Eigengesetzlichkeit der Moderne. So funktionieren Gesellschaften nicht mehr, das ging noch, als es Ordungsmodelle gab wie im Mittelalter, als es allgemeingültige Verpflichtungen gab, die an eine Ständeordnung gebunden waren. Doch schon der nationalsozialistische Staat konnte nur mithilfe von extremer Gewalt und Terror die so genannte Volksgemeinschaft partiell durchsetzen. Letztlich blieb es ein ideologisches Schauspiel, denn hinter den Kulissen ging die Ausbeutergesellschaft munter weiter, ja, sie wurde durch die Vermehrung der bürokratischen Stellenhierarchien noch um einiges vergrößert.

Dr. Anneliese Sendler: Ja, Herr Doktor Ohneigen, das ist ja sehr interessant, was Sie da so vorbringen, aber doch halt eher etwas für Ihr Seminar, gelt?

Dr. Ludolf von Mannstein: Ganz ihrer Meinung, Frau Doktor Sendler! Die Pflicht ruft, wenn ich mal etwas Humor in die Debatte werfen darf. Wir kommen um die Pflichtzeit nicht herum. Wir vom Verein ›Gemeinnutz e. V.‹ stehen voll und ganz hinter der Forderung unseres Bundespräsidenten. Es sollte aber nicht beim bloßen Antichambrieren von Abgeordneten bleiben, es muß eine nationale Kampagne in der Größenordnung von ›Du bist Deutschland‹ auf die Beine gestellt werden. Das muß jetzt Schlag auf Schlag kommen, da darf nicht lange gefackelt werden. Wir als Verein stehen Gewehr bei Fuß und haben schon eine lange Liste von Wünschen, die erst durch die nationale Pflichtzeit in Erfüllung gehen können.

Frank-Walter Steinmeier: Mein Wunsch wäre, daß die soziale Pflichtzeit länger dauert als ein Praktikum, aber sechs Monate sollten es schon sein. Sie sollte in unterschiedlichen Phasen des Lebens absolviert werden können, nicht nur als Orientierungshilfe gleich nach dem Schulabschluß oder der Berufsausbildung, sondern auch später, als Auszeit im Beruf.

Dr. Ulrich Ohneigen: Dann soll man also, wenn ich den von Ihnen gewählte Euphemismus ›Auszeit im Beruf‹ ins Deutsche übersetzen darf, auch als Arbeitsloser in die Pflicht genommen werden statt das gesetzlich jedem Arbeitslosen zustehende Arbeitslosengeld in Empfang nehmen zu dürfen. Das ist dann aber staatlich erzwungener Arbeitsdienst im nationalsozialistischen Sinne.

Dr. Anneliese Sendler: Sachte, sachte, Herr Doktor Ohneigen! Immer ruhig Blut und nicht die Pferde scheu machen, nicht wahr?

Dr. Ludolf von Mannstein: Es ist unglaublich, was man sich hier von diesem dahergelaufenen, sich Soziologen schimpfenden Herrn gefallen lassen muß. Unerhört! sage ich. Unerhört!

Prof. Rolf Papperger: Wir sollten uns alle wieder beruhigen und daran denken, daß es zum Wesen eines sozialen Gemeinwesens gehört, auch unerträgliche Positionen zu tolerieren und die gegnerische Meinung ruhig anzuhören, auch wenn es schmerzen sollte.

Dr. Anneliese Sendler: Sehr schön gesagt, Herr Professor. Vielleicht wird Herr Dr. Ohneigen später, wenn er etwas älter geworden ist und die soziologischen Scheuklappen abgeworfen hat, einsehen, daß er sich hier eben vergaloppiert hat. Wir sind aber tolerant, nicht wahr, und lassen auch ganz unsinnige Meinungen zu Wort kommen.

Prof. Rolf Papperger: Darf ich vielleicht mit einem Zitat von Johann Gottlieb Fichte aushelfen? Er schrieb 1798: »Was du zufolge der Pflicht wahrnimmst, hat Realität, die einzige, die dich angeht, und die es für dich gibt; es ist die fortwährende Deutung des Pflichtgebots, der lebendige Ausdruck dessen, was du sollst, da du ja sollst. Unsere Welt ist das versinnlichte Material unserer Pflicht; dies ist das eigentlich Reelle in den Dingen, der wahre Grundstoff aller Erscheinung.«

Dr. Ludolf von Mannstein: Sehr hübsch, Respekt, ich kenne von diesem Fichte praktisch gar nichts, aber das hier zeigt doch deutlich, daß er ein echt deutscher Mann gewesen sein muß, dieser Fichte.
Dr. Anneliese Sendler: Ja, und damit geht leider unsere heutige Sendung auch schon wieder ihrem Ende entgegen. Allen Teilnehmern danke ich für ihre beherzten Beiträge. Bis zum nächsten Mal, wenn es wieder heißt ›Deutsche Demokratie jetzt!‹ Wiederschaun!

Dr. Ulrich Ohneigen (ruft in den Abspann hinein): Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!

Höllisch warm

Für die Umstellung der Erzeugung von Heiz- und Prozesswärme und Warmwasser bis spätestens zum Jahr 2045 auf erneuerbare Energien und unvermeidbare Abwärme, sind die bisher in Deutschland unternommenen Schritte und getroffenen Maßnahmen nicht ausreichend. Auch heute noch wird mehr als die Hälfte der in Deutschland verbrauchten Endenergie für die Bereitstellung von Wärme eingesetzt. Für die Raumheizung kommen nach wie vor zu einem überwiegenden Anteil Erdgas sowie Heizöl zum Einsatz. Der Anteil erneuerbarer Energien für die Raumheizung in privaten Haushalten beträgt aktuell lediglich ca. 18 Prozent. Etwa acht Prozent der Haushalte werden derzeit über Fernwärme versorgt; auch hier beträgt der Anteil erneuerbarer Energien nur etwa 20 Prozent. Die Bereitstellung von Prozesswärme erfolgt zum Großteil über Erdgas und Kohle, der Anteil erneuerbarer Energien liegt lediglich bei rund sechs Prozent. Ohne eine signifikante Reduktion des Wärmeverbrauchs und einen gleichzeitig erheblich beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien werden die Ziele des Bundes-Klima-Schutzgesetzes (KSG) in den Sektoren Gebäude, Industrie und Energiewirtschaft nicht erreicht werden. (Referentenentwurf der Bundesregierung. Gesetz für die Wärmeplanung und zur Dekarbonisierung der Wärmenetze, Mai 2023)

FRITZ GRÜNBAUM
Vom Teufel!

Die Hölle ist reizender als man es glaubt!
Bedenken Sie, bitte, vor allem nur
Die angenehm-mollige Temperatur!
[…]
Die Preise der Kohl’n sind uns dort keine Fessel, In der Früh‘ kommt der Teufel und setzt uns in’n Kessel!
[…]
Doch eins ist von allem der herrlichste Lohn:
Man hat in der Höll‘ – eine Position!
Man ist was, man stellt etwas vor ohne Zweifel,
Man hat eine Stellung, man ist – ein Teufel!
[…]
So hab‘ ich bewiesen an dieser Stelle,
Das Schönste auf Erden ist doch die Hölle:
Die Leut‘ haben Temperament dort und Charme,
Das Klima ist angenehm, milde und warm;
Die Kleidung ist praktisch, kein Schneider will Geld,
Es ist eine reizend-gemütliche Welt,
Drum seufz‘ ich im Stillen oft: »Gott befohl’n,
Möcht‘ mich nur endlich der Teufel hol’n!«

Fritz Grünbaum (1880–1941, ermordet im KZ Dachau), österr. Kabarettist, Schauspieler und Conférencier.

 

Unsere teure Dame

Die französischen Milliardärsfamilien Arnault, Pinault und Bettencourt stellten schon Spenden in Höhe von insgesamt 500 Millionen Euro in Aussicht. Bei einer internationalen Geberkonferenz soll ebenfalls Geld für den Wiederaufbau gesammelt werden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier rief die Bürger Deutschlands und Europas auf, den Wiederaufbau zu unterstützen. ›Frankreich ist in dieser Stunde nicht allein.‹  (Aus einem Bericht auf der ersten Seite der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹, 17.04.2019)

Wegen der Lebensmittelknappheit in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg wurde erwogen, die Wandteppiche (Gobelins) im Schloß Schönbrunn an die Siegermächte zu verkaufen. Dies ist das Gedicht (hier in Auszügen wiedergegeben), das Karl Kraus in seiner Zeitschrift ›Die Fackel‹ dazu schrieb.

KARL KRAUS
Alles, nur nicht die Gobelins!
Den Kunstschatz schützen sie, den wohlbewußten, und jeder stöhnt und reißt sich auf die Brust.
Von eines Weltkriegs sämtlichen Verlusten
war‘ dieser doch der schmerzlichste Verlust.

Denn die Kultur, sie ist ja doch das Letzte,
was bleibt uns denn, trägt man auch sie davon, all jenes Köstliche, das uns versetzte
in eine noch weit höhere Region!
So protestieren sie aus allen Ecken,
in Sorge um die höchsten Güter nur.
Sie gönnen ja dem Volke das Verrecken, man nehme ihnen nur nicht die Kultur!
[…]
Wer schätzt sie nicht, die kostbaren Gewebe, sie sind sogar im Ausland sehr beliebt,
und wichtiger als daß die Menschheit lebe, ist, daß es Sehenswürdigkeiten gibt.
[…]
Von Lebensmitteln, wenn sie aufgegessen,
hat man doch zweifelsohne einen Dreck.
Der Teppich in Schönbrunn ist unterdessen mehr haltbar und entspricht dem Lebenszweck.
Und Tag für Tag ertönt es fort im Chore:
Der Mensch, er lebt vom Brote nicht allein!
Nein, größer war fürwahr nessun dolore
und wer nicht von Kultur lebt, ist ein Schwein.

Die oben erwähnten Geldspenden dienten nicht etwa der Welthungerhilfe — im April 2019 gab ein Bericht mehrerer UN-Organisationen und der Europäischen Union bekannt, daß im vergangenen Jahr mehr als 113 Millionen Menschen auf der ganzen Welt hungern mußten. Jeder zehnte Mensch auf der Welt, 821 Millionen, ist unterernährt, 3,4 Milliarden Menschen können nur schwer ihre Grundbedürfnisse befriedigen und leben unter der Armutsgrenze — sondern dem Wiederaufbau der katholischen Kathedrale ›Notre Dame‹ in Paris, nachdem diese durch ein Feuer am 15. und 16. April 2019 teilweise zerstört wurde.

Vgl. K. Kraus: Alles, nur nicht die Gobelins! In: Die Fackel, 23. Jg., Nr. 588–594 (März 1922), 1f.; ders.: Brot und Lüge. In: Die Fackel, 21. Jg., Nr. 519/520 (November 1920), 1–32

Die Macht des Ersten

Eigentlich hat nur jedes Schöne ein einzigmal in voller Gewalt ins uns gelebt. Wenn im Theater der Vorhang aufgeht, oder wenn wir von einem Orchester die ersten Takte hören, so erleiden wir eine unbewußte Einstellung, welche sozusagen als Tendenz zur Assimilation aller folgenden Eindrücke in der Seele fortwirkt. (Theodor Lessing: Die Macht des Ersten, 1925)

Der erste Satz in einem Roman entscheidet darüber, ob man weiterliest. Das ist grausam, aber in vielen Fällen doch eine ganz zutreffende Feststellung. Es gibt allerdings Grenzen, die jeder Leser bei der Lektüre mitführt und die ihn manchmal am Weiterlesen hindern können. »Edek Zepler hatte früher immer polnische Mädchen gebumst.« So setzt der Roman ›Einfach so‹ (Just so, New York 1994) von Lily Brett ein. Es ist durchaus möglich, daß man hier stutzt und sich noch einmal die Kurzinformation zum Buch ganz vorne ansieht, um sicherzugehen, daß man nicht aus Versehen ins falsche Regal gegriffen hat. »Schwöre, daß du keine andere mehr fickst, oder es ist Schluß.« Das ist nicht der Folgesatz des Romans der relativ unbekannten Autorin, sondern der erste Satz des 1995 in New York erschienen Romans ›Sabath’s Theatre‹ von Philip Roth. Wer schon andere Bücher von diesem Autor gelesen hat, zumal seinen 1969 erschienenen, stark autobiographisch getönten Roman ›Portnoy’s Complaint‹, der wird kaum stutzen, sondern eher mit einem Wiedererkennungseffekt konfrontiert sein, ganz im Sinne von: »Er ist doch immer noch der Alte!«

Das ›Buch der Bücher‹ weiß aber auch, wie man effektvoll einsetzt: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Die Erde aber war wüst und leer, Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser.« Da will man dann doch abwarten, was anschließend noch alles geschehen mag und wann endlich die ersten Menschen auftreten, ohne die die Erde ja doch eine langweilige Angelegenheit ist, allein wegen der zu erwartenden Konflikte und vielen Kriege, mit denen nicht nur die ersten Menschen sich die Zeit vertrieben haben. Die Verlage wollen natürlich, daß man, während man in der Buchhandlung browst und dort den ersten Satz einer Neuerscheinung liest, »daß man das Buch dann eben sofort zur Kasse schleppt, weil man gar nicht anders kann.« Damit wird der erste Satz zum Aufreißer, der den Kunden sofort zur Kasse bittet. Und der hinterher vielleicht über den weiteren Verlauf der Handlung enttäuscht sein kann, weil der erste Satz nicht das versprochen hat, was er anscheinend zu versprechen schien. »Ilsebill salzte nach.« Dieser erste Satz gewann bei einer literarischen Rundfrage den ersten Preis. Hat Günther Grass, von dem der Satz stammt (aus ›Der Butt‹, 1977), damit dem Leser ›Appetit gemacht‹? Wohl schon, denn der beschriebene Vorgang ist jedem Leser und Esser und Koch so sehr vertraut, daß man förmlich beim Lesen die Handbewegung nachzuahmen scheint, die zur Abrundung des Geschmacks einer Speise nötig ist. Es gibt für angehende Romanschriftsteller Ratschläge, wie man einen ersten Roman nicht nur schreiben sollte, sondern auch, wie man ihn beginnen lassen soll und sogar, wie man ihn nicht beginnen lassen sollte. Man solle auf keinen Fall einen Roman damit beginnen, daß der Protagonist im Bett liegt. Der Satz des folgenden Autors würde damit glatt durchfallen: »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.« Marcel Proust läßt so seinen viele Bände umfassenden Roman ›Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‹ (1913–1927) beginnen. Es mag viele Leser geben, die nicht bis zum Schluß durchgehalten haben, so als sei das Lesen eine sportliche Leistung, aber wer es getan hat, wird nicht nur diesen ersten Satz, sondern die vielen ihm nachfolgenden bewundern und sich gemerkt haben. Hier liegt der Fall eines Romans vor, wo man auch später immer wieder auf bemerkenswerte Formulierungen trifft, die das Mitschreiben lohnen. Und so gibt es nicht nur gute erste Sätze, die einen Roman einleiten, sondern ebenso auch gute letzte Sätze, die das Geschehen des Romans machtvoll ausklingen lassen, so wie bei Marcel Proust: »Wenigstens würde ich, wenn mir noch Kraft genug bliebe, um mein Werk zu vollenden, in ihm die Menschen (und wenn sie daraufhin auch wahren Monstren glichen) als Wesen beschreiben, die neben dem so beschränkten Anteil an Raum, der für sie ausgespart ist, einen im Gegensatz dazu unermeßlich ausgedehnten Platz – da sie ja gleichzeitig wie Riesen, die, in die Tiefe der Jahre getaucht, ganz weit auseinanderliegende Epochen streifen, zwischen die unendlich viele Tage geschoben sind – einnehmen in der ZEIT.«

Ich brech’ die Herzen der stolzesten Frau’n, weil ich so stürmisch und so leidenschaftlich bin

Dein ist mein ganzes Herz! Wo du nicht bist, kann ich nicht sein, so, wie die Blume welkt, wenn sie nicht küßt der Sonnenschein! (Franz Lehár: ›Das Land des Lächelns‹, 1929)

Die SPD hat in Berlin ihr einhundertsechzigjähriges Bestehen als »älteste Partei Europas« gefeiert. Der 150. Geburtstag wurde auch gefeiert, was angesichts der runden Zahl (50, 100, 150, 200 usf.) auch gerechtfertigt war. Die zeitlichen Abstände für Feiern jeglicher Art werden aber immer kürzer, da man heute auch schon beim Weiterbestehen einer Currywurst-Bude ein Schild aufstellt mit dem Hinweis, daß sie schon seit fünf Jahren existiert.

Für dieses Jubiläum brauchte man ein aussagekräftiges Symbol. Die geballte, erhobene Faust hat den Nachteil, daß sie von den Kommunisten benutzt wurde, und sie würde auch heute nicht mehr passen zum unkämpferischen Pragmatismus der deutschen sozialdemokratischen Partei. Die Nelke ist zwar hübsch anzuschauen, aber riecht doch sehr nach 1. Mai und Kampftag der Arbeiterklasse (auf dem Sozialistenkongreß 1889 in Paris wurde der 1. Mai als Kampftag bestimmt), dabei haben wir heute seit 1945 den Namen ›Tag der Arbeit‹, was weniger oder eigentlich gar nicht klassenkämpferisch klingt. (Von 1933 bis 1945 hieß er noch etwas deutlicher ›Tag der nationalen Arbeit‹). Ein Foto vom Parteivorsitzenden (wer ist das eigentlich? fragt sich so mancher in der Partei) sähe doch sehr nach dem überwundenen östlichem Staats-Modell geschneidert aus, und nichts verabscheut die deutsche Sozialdemokratie mehr als Personenkult (Im Hintergrund hört man Willy!-Willy!-Rufe), also war guter Rat teuer. Schließlich kam man auf das Symbol, das die größte Zustimmung bei allen, auch den Wählern der anderen Parteien, finden würde: das Herz. 160 Jahre schlägt es nun schon, und immer auf dem rechten Fleck, unermüdlich pumpt es Lebensenergie durch den sozialdemokratischen Körper. Die Herzlinien umrahmen aber nicht die drei Buchstaben, S P D, sondern mitten im Herz steht die nüchterne Zahl: 160, mehr nicht. Das muß reichen, so wie es in den siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts der Stadt New York gereicht hat, das bis heute bestehende Symbol für Städtemarketing herauszubringen: I ❤ NY, und statt Love steht dann eben ein Herz dort, weil die Herzform als Symbol der Liebe gilt. Interessanterweise liegt der Ursprung für dieses Herzsymbol in der stilisierten Darstellung von Feigenblättern, und das schon im 3. Jahrtausend vor dem Erscheinen Christi.

Demnächst werden die Wildecker Herzbuben mit der SPD auf eine Tournee durch die deutsche Provinz gehen und dann ihren größten Hit zum Besten geben: Herzilein.

The 39 Steps

Ich habe das beste Gedächtnis der Welt, ich fühle mich übermenschlich — das sagt ein an den ›Memory World Championships‹ und der ›Memory League‹ teilnehmender US-Amerikaner, der bei beiden Wettbewerben mehrmals den ersten Platz belegt hat. Die Technik, mit der er eine unglaubliche Zahl von Fakten im Gedächtnis hat behalten können, heißt ›Memory Palace‹. Man baut sich ein mentales Gebäude, in dem man das zu Merkende mit repräsentativen visuellen Zügen versieht, und so spaziert man beim Memorieren dann einfach durch das Haus und kann alles das ablesen und aufsagen, was im Wettbewerb als Merkobjekt vorgelegen hat. Spätestens seit es Suchmaschinen gibt, erscheint dieses Unterfangen recht hilflos, so als wollte der Mensch mit seinem auf Kohlenstoff basierenden Gehirn mit einer Intelligenz auf Siliziumbasis konkurrieren. Das ist ein von vornherein hoffnungsloses Unterfangen. Die Gedächtniskünstler müssen keine besonderen Voraussetzungen mitbringen, etwa zwei Nobelpreisträger als Eltern oder dergleichen, es reicht die seit der griechischen Antike bekannte Mnemotechnik, mit der man Merkhilfen als Eselsbrücken benutzt, um so der jeweils gestellen Aufgabe spielend gerecht zu werden.

In Alfred Hitchcocks ›The 39 steps‹ (1935) tritt zu Anfang und am Ende des Spielfilms ein Mr. Memory auf, der auf Jahrmärkten und Vaudeville-Bühnen das eintrittzahlende Publikum damit verblüfft und unterhält, indem er aus dem Zuschauerraum jede ihm zugerufene Frage mit einem vollständigem Bericht beantwortet, so als läse er aus einem Lexikon den entsprechenden Eintrag vor. Eine ausländische Spionageorganisation macht sich diese Fähigkeit zunutze. Sie hat Mr. Memory dazu gebracht, geheime gestohlene Papiere für sie zu memorieren, und als die Handlung ihrem Höhepunkt zutreibt, wird der Gedächtniskünstler vom Hauptdarsteller des Films mit der Frage konfrontiert: »What are The 39 Steps?« Und da Mr. Memory unterschiedslos und unvoreingenommen alles beantwortet, was man ihn fragt, auch Dinge, die man besser nicht in Gegenwart eines neugierigen Theaterpublikums offenbaren sollte, nämlich Staatsgeheimnisse, fängt er an, aufzusagen, was sich hinter den neununddreißig Stufen verbirgt: »The 39 Steps is an organisation of spies, collecting information on behalf of the foreign office of …« Da fällt ein Schuß, und tödlich getroffen sinkt der Gedächtniskünstler auf den Bühnenboden. Ein Mitglied der Spionageorganisation hat ihn aus dem Dunkel des Zuschauerraums heraus erschossen. Im Sterben rezitiert Mr. Memory dann das Geheimnis, die technische Formel für einen lautlosen Flugzeugmotor.

Wir verfügen heute über ein vollautomatisiertes Denken auf Algorithmen-Basis. Das Internet entstammt der militärischen Sphäre und der Spionage. Es gibt autonome Waffensysteme, Killer-Roboter und Killer-Drohnen, deren Entscheidungsgrundlage für die Kriegsführung ein Algorithmus ist. Den Kontext einer Handlung können sie nicht verstehen. Dennoch versucht man, Maschinen herzustellen, die das menschliche Gehirn nachahmen und schließlich übertreffen sollen, ein Gehirn, das ohne die subcortikalen Schichten auskommt und damit nicht gestört wird von Trieben und Willensimpulsen.

Im Gedächtnissport spiegelt sich der menschliche Wunsch wider, allen überlegen sein zu wollen, auch den Maschinen, die dem Menschen bisher gute und schlechte Dienste geleistet haben. Aber das Auswendiglernen war schon während des Schulunterrichts eine sinnlose und vor allem die Kinder quälende Denksportaufgabe, ja, es war überhaupt kein Denken damit verbunden, es war mechanisches Reproduzieren, das dann mit technischen Tricks wiederholt werden konnte, für kurze Zeit, denn schon nach wenigen Tagen war das Gedicht, das man vor versammelter Mannschaft aufzusagen hatte, wieder aus dem Gedächtnis verschwunden, weil es ohne emotionale Beteiligung und Freude an der Sprache eingetrichtert worden war. Der Gewinner des ›Memory World Championship‹ erhält als Preisgeld $ 30.000. Dafür lohnt es sich dann doch, sich selbst in einen mechanischen Reproduktionsapparat zu verwandeln, oder?

Dann fliegt er noch

Die heutige Theologie ist von Profanität geprägt. In früheren Zeiten war ›Christi Himmelfahrt‹ noch von der Vorstellung getragen, daß die Ascensio Domini (Aufstieg des Herrn) durch einen Ortswechsel vonstatten ging, die Aufnahme als Gottes Sohn bei seinem Vater in den Himmel. Davon will weder die protestantische noch die katholische Theologie heute mehr etwas wissen, Jesus sei kein »Raketenmann«, und es sei auch der Vergleich mit einem Flug in den Weltraum nicht mehr zulässig. Dabei könnte man zumal die männliche jüngere Generation für Jesus interessieren, wenn man das Bild des Raketenmannes mit dem Raketenrucksack verbindet, auch Jet-Pack genannt, eine auf dem Rückstoßprinzip basierende, tragbare Antriebseinheit, mit der ein Einzelner sich frei in der Luft bewegen kann. James Bond, Agent 007 (gespielt von Sean Connery) in dem 1965 veröffentlichten Film ›Thunderball‹ tötet in der Anfangsszene des Streifens einen Agenten der Verbrecherorganisation ›Phantom‹ und kann sich mit Hilfe eines Raketenrucksacks in Sicherheit bringen. Die Geschwindigkeit betrug allerdings nur 11 bis 16 Stundenkilometer, die erreichte Höhe nur neun Meter, und die Dauer nicht mehr als zwanzig Sekunden. Mittlerweile aber hat der technische Fortschritt es ermöglicht, ein düsengetriebenes Modell zu betreiben, das hundert Stundenkilometer erreicht, eine Höhe von dreitausend Metern und eine Flugdauer von zehn Minuten. Leider bleibt damit das von Christus zu erreichende Ziel immer noch in weiter Ferne, aber wenigstens wäre das am so genannten Himmelfahrtstag für manche männlichen und vielleicht auch weibliche Christen eine sportliche Herausforderung, auf den Wegen des Herrn zu wandeln.

In seinen Lebenserinnerungen beschreibt der berühmte Philologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848–1932) die Zeit von 1848 bis 1914 und geht auch auf die Jahre zwischen 1876 und 1883 ein, in denen er als Professor in Greifswald wirkte. In einer kurzen Szene berichtet er von dem Zusammentreffen zweier seiner Kollegen: Otto Zöckler (1833–1906), ein evangelischer Theologe, der aber auch eine gründliche Kenntnis der Naturwissenschaften vorweisen konnte und versucht hatte, den Offenbarungsglauben mit der modernen Naturwissenschaft zu versöhnen. Dabei war er aber, wie Wilamowitz kurz anmerkt, »starrgläubig«, und das »trotz seiner naturwissenschaftlichen Interessen«. Im Gespräch mit dem wesentlich älteren Kollegen, dem protestantischen Theologen Johann Wilhelm Hanne (1813–1889) wurde Zöckler von Hanne gefragt, »mit welcher Schnelligkeit Christus gen Himmel gefahren sei, und wo der Himmel läge«. Zöckler, nicht faul, schleuderte dem ihn herausfordernden Hanne entgegen, Christus sei noch weit über den Sirius hinausgekommen, und das mit der Geschwindigkeit einer Kanonenkugel. Man sieht, der sowohl theologisches Wissen wie naturwissenschaftliche Technik zu verbinden suchende Geistliche war um eine ›moderne‹ Antwort nicht verlegen. Doch das half ihm nicht. Johann Wilhelm Hanne machte es wie bei einem Matchball. Mit einem Satz entschied er das Spiel für sich. Er sagte: »Dann fliegt er noch.«

 

Das Buch als Illusionsfassade

Arthur Schopenhauer schrieb eine Abhandlung unter dem Titel : ›Von dem, was Einer vorstellt‹. In dieser Abhandlung setzte er auseinander, daß im Menschenleben wenig darauf ankomme, was man ist, viel aber auf die Meinung der anderen, für welche man ›etwas bedeutet‹. (Theodor Lessing: Die Illusionsfassade, 1927)

Was man heute ›Image‹ nennt, das hat Theodor Lessing vor fast einhundert Jahren als ›Illusionsfassade‹ bezeichnet. Menschen nehmen den anderen selten als das wahr, was er ist, und mit welchen Mitteln außer dem eines Privatdetektivs, könnte man auch herausfinden, wer mein mir gerade gegenüberstehender Mitmensch wirklich ist. So hält man sich an äußere Merkmale, man geht ›physiognomisch‹ vor, beurteilt den anderen nach seiner Nase, seinem Mund, seiner  Kleidung und bezieht auch die Gestik und Mimik dabei mit ein. Man taxiert. Und das macht man meist völlig unbewußt, es ist ein im Hintergrund ablaufender Vorgang der ersten Einschätzung, wenn man sich fragt, mit wem man es eventuell zu tun haben könnte. In der Liebe spielen, wie man neuerdings weiß, auch ganz unsichtbare Dinge eine Rolle. Die Pheromone, die jeder ausstößt, teilen dem anderen mit, ob man ›kompatibel‹ ist, ob also die Evolution damit einverstanden ist, daß sich zwei Vertreter des jeweils anderen Geschlechts paaren sollten oder nicht. Ist man erst einmal miteinander bekannt geworden, so ist, nach mehreren Treffen in Cafés und Restaurants, der nächste Schritt das Betreten der Wohnung der neu gemachten Bekanntschaft. (Dies ist auch ohne Hinzutritt des Verliebtseins möglich.) Und da erfährt man dann mehr über die unmittelbare Umwelt des doch noch immer sehr fremden Menschen. Hängen an den Wänden Fotos, Bilder oder Gemälde, welche Qualität haben die Sessel, das Sofa, wie sauber ist die Küche oder die ganze Wohnung überhaupt? Gibt es vielleicht ein Zimmer, das man nicht betreten darf, nicht etwa, weil dort jemand gegen seinen Willen gefangengenommen wird und man das dem anderen verheimlichen will, sondern ob es der Raum des Apartments ist, in dem ohne Zögern Dinge hineingeworfen werden, weil man sie anderswo in der Wohnung nicht unterbringen kann. Ist die neue Bekanntschaft also womöglich ein ›Hoarder‹, ein kranker Mensch, der nichts wegwerfen kann und der auch völlig unbrauchbare Dinge wie leere Behälter und alte Zeitungen aufbewahrt? Schließlich aber: Stehen in der Wohnung Regale, die mit Büchern gefüllt sind? Und um wieviel Bücher handelt es sich? Wer eine umfangreiche private Bibliothek in seinen Räumen beherbergt, wird bei der Ankunft des neuen Bekannten in den meisten Fällen mit der Frage konfrontiert werden: »Haben Sie die alle gelesen?« Die materielle Voraussetzung für diese Frage ist ein Bestand von mindestens eintausend Büchern oder mehr, denn erst dann setzt der Überwältigungseffekt bei dem neuen Besucher ein. Man kann diese Frage entweder mit einem beiläufigen Ton beantworten: »Selbstverständlich! Was denken Sie denn?« Oder man sagt, Bescheidenheit vorspielend: »Aber nein! Wo denken Sie hin?« Während man im ersten Fall beim Besucher eine sofort einsetzende starre Ehrfürchtigkeit beobachten kann, wird im zweiten Fall der so beruhigte Besucher erleichtert aufseufzen und weniger große Minderwertigkeitsgefühle in sich aufsteigen fühlen.

Man soll nach einem alten Sprichwort ein Buch nicht nach dem Umschlag beurteilen, aber jetzt kommt aus den USA ein neuer Trend, der dies ganz wörtlich nimmt. Es handelt sich um Bücher, die keinen Inhalt haben, keine Buchseiten, und die nur vorgeben, richtige Bücher zu sein und dabei reißenden Absatz finden. Man braucht sie, um in seiner Wohnung so zu tun, als besäße man eine Bibliothek und sei sehr belesen. Diese leeren buchähnlichen Hüllen sind Illusionsfassaden einer Bildung, über die man nicht verfügt, die man aber gerne zu haben vorgibt, weil es für das Eigengefühl schmeichelhaft ist, wenn der andere glaubt, man sei qua Besitz dieser Buchfassaden ein gebildeter Mensch. Lassen wir alle Bemerkungen über den bereits Anfang des 20. Jahrhunderts erfolgten Niedergang des deutschen Bildungsbürgertums einmal beiseite, so ist doch bemerkenswert, wie auch nach vielen Jahren Internet immer noch dieses aus fernen Zeiten zu uns herüberwehende Gefühl eine gewisse Geltung zu besitzen scheint, das mit dem Besitz von Büchern verbunden ist.

Der irische Schriftsteller Flann O’Brien hat in einem seiner Beiträge für die ›Irish Times‹ einmal über ›Book Handling‹ (Buchhandhabung) geschrieben. Sein Bekannter, der sehr vermögend und vulgär sei, kam auf den Gedanken, in seinem neu bezogenen Haus samt neu erworbener Gattin sich eine Bibliothek anzuschaffen, weil er meinte, daß die meisten Menschen von Rang und Ansehen jede Menge Bücher im Haus stehen haben müssen und er von dem Wunsch erfüllt war, daß seine Bekannten bei einem Blick auf die Büchersammlung darauf schließen müßten, daß er ein Intellektueller sei. (Lassen wir die Frage unerörtert, ob das wirklich ein so erstrebenswerter Zustand ist.) Er bezahlte daher einen Mittelsmann dafür, mehrere Bücherschränke zu besorgen und sie mit Büchern aller Art vollzustopfen. Keines der Bücher wurde jemals aufgeschlagen, geschweige denn gelesen. Das brachte O’Brien auf den Gedanken der Buchhandhabung. Er teilte diese in vier Qualitätskategorien und Preisstufen ein: ›Popular Handling‹, ›Premier Handling‹, ›De Luxe Handling‹ und ›Le Traitement Superbe‹. Während die ersten drei Handhabungen alle das Zerknittern der Seiten und mehrere Eselsohren enthält und es auch handschriftliche Anmerkungen am Seitenrand (Glossen) einschließt, und gewisse andere Extras mehr (Hinterlegen alter Theater-Eintrittskarten zum Beispiel), so sticht ›Le Traitement Superbe‹ hervor durch ganz besonders gründliches Traktieren des Bandes, doch vor allem ist hervorhebenswert die Tatsache, daß in nicht weniger als fünfzig Prozent der Buchtext unterstrichen wird und am Rand eine angemessene Redensart gekritzelt wird, zum Beispiel: »Sehr gut! Wie wahr!« oder »Da bin ich aber ganz anderer Meinung!« oder auch, für den ausgewiesenen Kenner unter den Besuchern: »Ebendies hat mir vor Jahren der arme Joyce gesagt!« Das ist aber noch nicht alles. Auch Dankesbezeugungen werden beigefügt, wie etwa: »Deine unschätzbar wertvollen Vorschläge und Dein Beistand – die Freundlichkeit gar nicht zu erwähnen, die DU an den Tag legtest, als Du das gesamte 3. Kapitel umgeschrieben hast – all das berechtigt dich wie keinen anderen zu diesem ersten Exemplar von ›Tess‹. Dein alter Freund Thomas Hardy.« Damit wird der in ihrer Wohnung herbestellte Heizungsmonteur naturgemäß nicht viel anfangen können, aber der Hochschulabsolvent, der vornehmlich in einem geisteswissenschaftlichen Fach sein Studium abgeschlossen hat, wird schon mit einem gewissen bitteren Geschmack im Mund ihre Wohnung wieder verlassen.

Nun aber wird in den USA diese aufwendige und Kosten verursachende Buchhandhabung nicht mehr erforderlich sein, denn die ausgehöhlten Buchattrappen, die nun in vielen Wohnungen von prätentiösen Zeitgenossen Eingang finden, sind bereits präpariert und sollen durch schiere Präsenz Eindruck schinden. Ganz besonders gefragt sind diese seelenlosen Objekte für die seit der Pandemie beliebt gewordenen Sitzungen mit ›Zoom‹, dem Videodienst für Konferenzschaltungen oder Zweierbesprechungen. Denn man möchte mit einer repräsentativen Bücherwand im Rücken dem aus der Ferne ins eigene Wohnzimmer schauenden Tele-Gast damit zu verstehen geben, daß man sich vorrangig als Kulturmenschen definiert. Der Witz der ganzen Geschichte besteht darin, daß diese toten Attrappen einmal richtige Bücher waren, aber bevor man sie auf eine Müllkippe schüttet, werden sie industriell zu Vorzeige-Büchern umgepreßt. Für den ganz besonders ausgefallenen Geschmack werden auch Buchrücken produziert, auf denen statt der Namen wirklicher Autoren die Namen von Familienmitgliedern zu lesen sind. Das kommt dann dem Vorgang gleich, wenn man gegen Geld einen Adelstitel bei einem Titelhändler einkauft. Die Zeiten, als Adel eine Verpflichtung war, sind seit langem vorbei.

 Phrasen stehen auf zwei Beinen

In dem letzten Blog-Eintrag wurden wir Zeuge einer TV–Gesprächsrunde, in der fiktive Figuren sich unterhalten. Doch was sie sagen, ist nicht erfunden, es sind Zitate aus Zeitungen und Zeitschriften, die nur übernommen worden sind. Man könnte meinen, daß der folgende Satz der dichterischen Phantasie entstammt: »Ich kenne Frauen aus der Gegend, die bei Vollmond nicht mehr mit ihrem Mann in den Wald gehen aus Angst vor Wölfen.« Es ist eine Äußerung, die eine sich selbst Angst einjagende Frau gegenüber einem Lokalreporter wirklich gemacht hat. Und auch die folgenden Bekenntnisse sind nicht für irgendeinen literarischen Effekt konstruiert worden: »Mein erstes Reh, das war ein Erlebnis. Das Stück quittierte den Schuß, ging vorne hoch und dann ab. 7 Kilo lecker Fleisch! Ich habe auch das Stück alleine geborgen und selbst aufgebrochen. Als ich einen Fuchs vors Visier bekam, schoß ich sofort. Der Fuchs drehte einen Salto und hatte sein Leben ausgehaucht« Karl Kraus hat im Vorwort zu seinem Theaterstück ›Die letzten Tage der Menschheit‹ (1919) eine Erklärung für diesen unheimlichen Vorgang gefunden: »Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen. Die grellsten Erfindungen sind Zitate. Das Dokument ist Figur. Phrasen stehen auf zwei Beinen.« Wann immer in diesem Blog es einen Dialog oder ein Gespräch unter mehreren Teilnehmern gibt, wann immer es einen Kommentar zum Zeitgeschehen zu lesen gibt, so darf man sicher sein, daß nichts erfunden, sondern daß die Äußerungen immer wirklich von realen Menschen gesprochen wurden. Für Karl Kraus ergab das sein Lebensprogramm, das er 1922 in dem Sammelband ›Untergang der Welt durch schwarze Magie‹ umrissen hat: »Ich habe den zu Zeitungsdreck erstarrten Unflat aus Jargon und Phrase ausgeschöpft, gesammelt und in seiner ganzen phantastischen Wirklichkeit, in seiner ganzen unsäglichen Wörtlichkeit kommenden Tagen überliefert. Ich bin die Muschel, in der das Geräusch fortsingt.«

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