Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog

Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.

Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«

Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.

Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.

»Kriegstüchtig«

Und es war doch Krieg, nur zu dem waren wir eingetreten;
wenn es so weiter ging, wurden wir erst nach Monaten kriegstüchtig.
(
Ulrich Wilamowitz-Moellendorff: Erinnerungen 1848–1914, 1928)

(An einem Waldrand sieht man zehn Kinder im Alter zwischen sieben und zwölf Jahren mit Holzgewehren herumlaufen. Alle tragen Fahrradschutzhelme, an denen Zweige mit frischem Grün angebracht sind. Ihre Gesichter sind erdverschmiert. In einem grünen Trainingsanzug aus Ballonseide steht Heinz-Rüdiger Wolfmann mit Trillerpfeife und gibt seine Anweisungen.)

Heinz-Rüdiger Wolfmann: Ja, Herrschaftszeiten! Kinder, nun aber mal mit Volldampf voraus, keine Müdigkeit vorschützen! Tüchtig durchatmen und hopplahopp! (Spricht zur Seite zu einem imaginären Zuhörer) Wissen Sie, man hat schon seine liebe Not mit diese Kinder, obwohl sie willig und bereit sind. Sie haben auch einmal viel zu lange vorm Fernseher oder an ihren tragbaren Telefonen herum amorphelt, das geht enorm auf die Physis. Schlappe Gesellen sind’s halt. Ich beschuldige sie nicht, da sind die Eltern, die Lehrer, da ist die ganze Gesellschaft schuld, daß sie so versumpft sind. Die Verweichlichung schreitet munter voran. Das deutsche Kind ist nicht kriegstüchtig. Nein, nein, mißverstehen Sie mich jetzt nicht. Kriegstüchtig heißt ja nicht, daß wir jetzt die Kinder direkt in den Krieg schicken wollen, nein, nein, aber bereit müßten sie halt sein, wenn’s mal wieder soweit ist. Und alle Zeichen sind darauf eingestellt. Gerade jetzt hat das unser Kriegs…Verteidigungsminister ganz deutlich gesagt: Wir müssen kriegsfähig und kriegstüchtig sein. Das ist natürlich nicht auf seinem eigenen Mist gewachsen. Wenn man schon einmal auf einem Truppenübungsplatz gewesen ist, dann weiß man auch, daß da die freie Rede gilt. Da sagt dann schon mal der Ausbilder zu den ukrainischen Soldaten, die für den Leopard 2 fit gemacht werden sollen, dem dabeistehenden Journalisten, es gebe »eine hohe Motivation, die Kameraden wirklich kriegstüchtig zu machen«. Der Neuling im Ministeramt schnappt so etwas gern auf, er muß sich ja vor der Öffentlichkeit beweisen. Und der neue Verteidigungsminister apportiert gern, so schätze ich ihn ein.  Mein Beitrag in dieser Sache baut von ganz unten auf. Für die Kinder ist es auch amal was anderes als Bockspringen in der Turnstunde. Es schadet ja nichts, wenn die Kinder ein bissel Sport treiben, gell, ein wenig Wehrsport in der Gruppe, das schließt auch gefühlsmäßig fester zusammen, das gibt einen Zusammenhalt, den Tik Tok oder wer eben nicht offerieren kann. Sehen Sie, es ist doch so: der deutsche Bürger und seine Frau sind nun einmal in all den Jahren der Nachkriegszeit weichgeklopft worden durch die zivilen Medien und die Zivilpolitiker. Man hat auch vom ewigen Frieden gesprochen. Ja, schön wär’s ja, wenn er käme und dabliebe. Nur tut er uns den Gefallen nicht. Und seit nun in der Ukraine und in Israel die Waffen sprechen, müssen wir im friedlichen Westen uns Gedanken darüber machen, wie es weitergehen soll mit dem Frieden, wenn der böse Nachbar uns den nicht lassen will. Ich meine ja nicht, daß man direkt zum Krieg rüsten sollte, das nicht, aber so ein bißchen Kriegsvorbereitung täte uns doch schon ganz gut, denn der Nachbar schläft nicht. Das kommt eben davon, daß man in der Bundesrepublik Deutschland die militärischen Tugenden geradezu verteufelt hat, daß man jemanden, der bereit war, für sein Land mit der Waffe in der Hand dieses zu verteidigen gegen den äußeren Feind, beschimpft und beleidigt hat. Das rächt sich nun. Deswegen habe ich in Eigeninitiative mich in der Nachbarschaft umgehört und an den Haustüren geklingelt, praktisch Klinken geputzt und die Nachbarsfamilien, also die mit Kindern, gefragt, ob sie nicht aus aktuellem Anlaß am Beitritt zu einer Wehrsportgruppe interessiert sind. Und Sie glauben gar nicht, wie die Reaktionen waren. Natürlich, es gab schon eine Handvoll von Unverbesserlichen, die den Frieden mit den Löffeln gefressen haben und bei denen war jede Anfrage von vornherein sinnlos. Aber nun schauen Sie, da habe ich doch eine ganz ansehnliche Truppe zusammentrommeln können. Zehn Stück! Immerhin. Das ist ein Anfang. Ich gehe aber davon aus, daß das hier einen Schneeballeffekt haben wird. Sie werden sehen, wenn Sie in einem Monat, so in der schönsten Vorweihnachtszeit, wieder vorbeischauen, da werden Sie die Augen reiben was die Zahl der Kinder in meiner Wehrsportgruppe angeht. Wir sind bereit. Ich habe auch schon von einigen der Frauen aus der Nachbarschaft die Response bekommen, daß sie kleine Uniformen für die Kinder nähen wollen, da sehen Sie, es geht schon einiges, wenn man nur will. Das Militärische ist doch in vielen Ländern der Erde ein wesentlicher Bezugspunkt einer Gesellschaftsordnung. Und muß es auch sein. In der Natur werden Sie keine Pflanze und kein Tier finden, das nicht mit Abwehrwaffen ausgestattet ist. Fahnenappell und Schießübungen sind bei uns Menschen die natürliche Reaktion auf die Anstöße, die aus der feindlichen Umwelt kommen. Und deshalb stimme ich in diesem Punkt auch mit unserem Minister, der für das Militärische zuständig ist, vollkommen überein, auch wenn ich seine Partei selbstverständlich nicht schätze. Wenn er sagt, was in dreißig Jahren »verbockt« worden ist, das sei in den bisherigen neunzehn Monaten seiner Amtszeit nicht wieder aufzuholen, so hat er recht damit, allerdings verstehe ich seine Zeitrechnung nicht ganz, denn dreißig Jahre von heute zurückgerechnet, das ergibt doch erst das Jahr 1993, und wieso soll erst ab da alles den Bach heruntergegangen sein? Sicher, wir konnten gleich nach dem Krieg nicht wieder damit rechnen, daß die Alliierten uns eine neue Wehrmacht geschenkt hätten, aber es hat dann doch nur ein paar Jährchen gedauert bis es dann eine Bundeswehr gegeben hat.  Aber wissen Sie, was mir am besten daran gefällt: Wie damit doch die Last der Geschichte von uns genommen wird, wie man gleichberechtigt mit den anderen Nationen, die einen Stolz auf ihr Land haben, marschieren kann, im guten Gefühl, ein anerkannter Waffenbruder unter gleichgesinnten Waffenbrüdern zu sein. Und dann ist es auch mit der bloßen Ausstattung mit moderner Waffentechnologie nicht getan, das ist ein Denkfehler, den viele machen, sondern ein Krieg wird doch im Kopf entschieden, da fängt es doch an und da endet es auch. Mental muß es klappen, sonst kann man gleich zuhause bleiben. Hierfür leiste ich hier vor Ort meinen bescheidenen Beitrag. Und natürlich kommen dann sofort diese Neunmalklugen, die mir vorwerfen, ich würde die Kinder ›militarisieren‹. Ah, geh! Die haben einfach nicht verstanden, was so ein Wort wie ›kriegstüchtig‹ bedeutet. Keine blasse Ahnung, diese Friedensspinner! Wenn ich auf dem Oktoberfest im Wettbewerb mit meinen anderen Mittrinkkombattanten eine Maß nach der anderen weghaue, dann gewinnt am Ende doch nur derjenige, der vorher in langen Jahren der Praxis das Maßstemmen geübt, also sich praktisch ertüchtigt hat. Das kommt doch nicht von allein. Ich sehe doch jedes Jahr auf dem Oktoberfest diese hereingeschneiten Ausländer, wie sie versuchen, eine Maß Bier auszutrinken. Shocking! Nein, da vergeht einem der Appetit und die Lebensfreude obendrein. Es bleibt dann auch nicht aus, da können Sie die Uhr danach stellen, wie dann bald der Sanitäter auftaucht und die trinkunfesten Ausländer auf einer Bahre aus dem Bierzelt herausschafft. Sie hatten eben keine Übung, sie waren nicht krug-tüchtig, wenn ich das amal so sagen darf, hähä. Ja, nun muß ich mich aber wieder um meine Kriegskinder kümmern, sonst zieht der Ungeist des Zivilischen bald herein. (Wendet sich ab und schreit in die Kindergruppe) Achtung! Gewehr bei Fuß! Augen links! Und geradeaus, marschiert! Eins, zwei, drei, ein Lied!

In der Kontroverse: Das Minischwein

Dr. Anneliese Sendler, TV-Moderatorin: Guten Abend, liebe Zuschauer zuhause an den Bildschirmen. Nach der langen Sommerpause melden wir uns wieder zurück mit einem brandaktuellen Thema, das aber auch durchaus philosophischen Tiefgang hat. Das Minischwein ist in die öffentliche Diskussion eingetreten und wir wollen heute über dieses heikle Thema ganz ungeniert sprechen. »Schweine sind keine Kuscheltiere« lautet der öffentliche Warnruf, und dazu haben wir eine Schweineschützerin vom Gnadenhof ›Sauwohl‹ eingeladen. Ich begrüße herzlich Frau Wenzel.

Brigitte Wenzel (Gnadenhof ›Sauwohl‹): Ja, guten Abend, Frau Sendler, vielen Dank für die Einladung. Ich möchte hier gleich klarstellen …

Dr. Anneliese Sendler, TV-Moderatorin: Ein Momentchen bitte, Frau Wenzel, Sie kommen gleich zu Wort, aber vorher wollen wir doch noch unsere anderen Gäste vorstellen, nicht wahr? Ich darf gleichfalls herzlich begrüßen Herrn Rüdiger Fett vom niedersächsischen Fleischereiverband.

Rüdiger Fett (Nds. Fleischereiverband): N’Abend, Frau Doktor.

Dr. Anneliese Sendler, TV-Moderatorin: Des weiteren darf ich willkommen heißen den unseren regelmäßig einschaltenden Zuschauern bereits gut bekannten Professor Friedrich Lensing, der neben seiner Tätigkeit als Philosoph auch aktiver Tierschützer ist.

Prof. Friedrich Lensing: Immer wieder erfreut, bei Ihnen zu Gast sein zu dürfen, gnädige Frau!

Dr. Anneliese Sendler, TV-Moderatorin: Ach, Sie alter Charmeur!

Rüdiger Fett (Nds. Fleischereiverband): Also sowas, wo sind wir denn hier!? Ist das hier alles vorher abgesprochen? Ist dieser Professor im Dienst des Rotfunks? So eine Unverschämtheit, hier vor laufenden Kameras so eine mentale Kumpanei zu betreiben. Ausladen! Abschieben! Wir wollen ein unvoreingenommenes Fernsehen, keine ideologische Zuchtanstalt.

Dr. Anneliese Sendler, TV-Moderatorin: Aber verehrter Herr Fett, nun beruhigen Sie sich doch. Nur weil ich den Herrn Professor schon etwas länger kenne und er ein paarmal bei mir aufgetreten ist, muß man doch nicht gleich von einem Komplott reden. Außerdem müßten Sie, wenn Sie die früheren Sendungen sich angeschaut hätten, wissen, daß ich keineswegs immer der Meinung von Professor Lensing gewesen bin.

Brigitte Wenzel (Gnadenhof ›Sauwohl‹): Vielleicht würde es helfen, wenn wir statt gegenseitiger Beschimpfungen endlich zum Thema des Abends kommen könnten?

Dr. Anneliese Sendler, TV-Moderatorin: Wie recht Sie haben, Frau Wenzel. Darum jetzt gleich in medias res, was auf deutsch heißt: zur Sache kommen. Frau Wenzel, wenn ich Sie jetzt dann um Ihr erstes Statement bitten darf.

Wolfgang Töpper (Minischwein-Besitzer): Entschuldigen Sie bitte, aber müßten sie mich nicht auch noch den Zuschauern vorstellen?

Dr. Anneliese Sendler, TV-Moderatorin: Oh je, bitte entschuldigen Sie mein Versäumnis. Herzlich willkommen, Herr Töpper. Herr Töpper ist Besitzer eines Minischweins und darf hier seine Meinung äußern, weshalb es Gründe gibt, ein Minischwein in der Wohnung zu halten. So! Jetzt aber das Statement, bitte, Frau Wenzel!

Brigitte Wenzel (Gnadenhof ›Sauwohl‹): Ja, gerne. Also, wie ich vorhin schon sagen wollte, es geht um die erschreckende Tatsache, daß immer mehr Bürger und Bürgerinnen sich in den eigenen vier Wänden Schweine statt Katzen oder Hunde halten. Als Haustier! Stellen Sie sich das mal vor! Das Wort vom ›Schweinestall‹ ist in manchen deutschen Familien tatsächlich nicht mehr bloß eine Redensart geblieben, sondern Realität. Das Minischwein macht sich breit in deutschen Wohnstuben. Es bleibt aber nach unseren Erfahrungen dort im Schnitt nur drei Jahre. Im Gegensatz zu den Goldfischen, die nach dem Ableben mit der Toilettenspülung ›entsorgt‹ werden, geht das mit einem um die 100 Kilogramm wiegenden Minischwein natürlich nicht. Und so haben wir vermehrt Zugänge von Minischweinen, die von den ehemaligen Besitzern hier bei uns im Gnadenhof ›Sauwohl‹ abgegeben werden. Es gibt aber auch Fälle, die wir registriert haben, wo man die armen Tiere einfach im Wald ausgesetzt hat. Das ist ein Skandal sondergleichen, denn diese Tiere sind nicht auf die Wildnis trainiert, so wie ein entflogener Kanarienvogel auch nicht draußen überleben kann, weil er ein ausgesprochenes Stubentier mit einer Anspruchshaltung ist und täglich auf sein Kontingent Körner wartet.

Rüdiger Fett (Nds. Fleischereiverband): Wenn ich da gleich einmal intervenieren darf? Zunächst einmal schließe ich mich den Ausführungen meiner Vorrednerin vollinhaltlich an. Schweine gleich welcher Art und Größe haben in einem deutschen Wohnzimmer nichts zu suchen. Das erfüllt den Tatbestand der Tierquälerei. Wir vom niedersächsischen Fleischereiverband sprechen uns ohne Wenn und Aber gegen diese, ich möchte fast sagen, viehische Vorgehensweise der Minischweinbesitzer aus. Nur wir als fachlich kompetente Organisation sind mit den uns angeschlossenen Metzkereien dazu befähig und in der Lage, das Schwein als Nutztier sachgerecht zu betreuen und seiner finalen Bestimmung zuzuführen.

Wolfgang Töpper (Minischwein-Besitzer): Haben Sie sich eigentlich schon mal selber zugehört? Wie reden Sie denn über das Schwein? Das ist ja geradezu faschistisch in der Einstellung gegenüber diesen armen Wesen. ›Finale Bestimmung‹! Damit ist ja wohl gemeint, daß es auf einem Laufband industriell ermordet und zu Fleisch- und Wurstwaren verarbeitet wird. Du Drecksau, Du elendige! Dir müßte man auch einmal einen Bolzen durch den Kopf jagen!

Dr. Anneliese Sendler, TV-Moderatorin: Aber Herr Töpper, werden Sie doch nicht so ausfällig, Herr Fett hat ihnen doch nichts getan. Wie kann man sich nur so echauffieren? Wir müssen vor unseren Zuschauern uns doch auch darum bemühen, zivil im Umgang zu bleiben.

Wolfgang Töpper (Minischwein-Besitzer): Ja, entschuldigen Sie, aber bei diesem Thema brennen bei mir alle Sicherungen durch. Und wenn Sie etwas Sachliches hören wollen, dann habe ich jetzt etwas für Sie (holt einen vergilbten Zeitungsauschnitt aus seinem Jackett und liest vor): »Soweit die Tierhaltung nicht im Wohnungsmietvertrag ausgeschlossen ist, kann der Mieter auch ein Minischwein im Rahmen eines vertragsgemäßen Gebrauchs in der Wohnung halten. Diese Tierhaltung kann der Vermieter untersagen, sobald ihm konkrete, auch außerhäuslich eingetretene Gefährdungen, die von dem Tier ausgehen, bekanntgeworden sind. AG München, Urteil vom 6. 7. 2004, Aktenzeichen 413 C 12648/04.

Rüdiger Fett (Nds. Fleischereiverband): Ja, unsere Juristen, weltfremd bis dorthinaus! Ich frage mich immer, wo die ihren Verstand eingekauft haben. »Außerhäuslich eingetretene Gefährdungen«! Daß ich nicht lache! So ein Blödsinn, der durch ein Aktenzeichen auch nicht besser wird. Die Gefährdung beginnt doch bereits innen, in der Wohnung. Und es ist eine zweiseitige Gefährdung, für das Tier wie für den Menschen. Haben Sie schon einmal von Seuchenschutz gehört? Die Afrikanische Schweinepest, die Aujeszkysche Krankheit, die Maul- und Klauenseuche! Alles das kann innerhalb der Privatwohnung herangezüchtet werden und verbreitet sich dann außerhäuslich in Windeseile. Minischweine in der Wohnung gefährden die Allgemeinheit.

Brigitte Wenzel (Gnadenhof ›Sauwohl‹): Ja, das kann ich alles bestätigen. Es kommt hinzu, daß die Besitzer von Minischweinen meist nicht auf die richtige Ernährung und die Klauenpflege achten. Und um die Schweinchen kleinzuhalten, verfüttern einige nur Haferflocken und Quark, andere geben den Tieren einfach Essensreste. Die Folge: viele Schweine kommen verfettet bei uns an und die Mangelernährung geht auf die Gelenke und Organe.

Rüdiger Fett (Nds. Fleischereiverband): Viele Schweinepestausbrüche lassen sich auf das Verfüttern von Speiseresten zurückführen. Das ist einfach kriminell, wie diese sich um nichts kümmernden Minischwein-Besitzer vorgehen, und alles nur, um ihren seelischen Haushalt aufzumöbeln. Aber ich frage Sie: Welche Gefühle privater Art kann Ihnen ein Schwein vermitteln? Eine Katze, nun ja, die ist ein an die Wohnung einigermaßen angepaßtes Haustier, wenn sie bei guter Führung es vermeidet, Ihnen die Gardinen herunterzureißen. Auch ein Hund ist ein akzeptables Haustier, wenn auch, was viele nicht wissen, in jedem Hund aufgrund seiner genetischen Verwandtschaft mit dem Wolf, ein wildes Tier lauert und es in einzelnen Fällen vorgekommen ist, daß Hunde ihre Besitzer angegriffen haben. Aber ein Schwein, auch wenn es ein Minischwein ist, bleibt ein unerwünschter Fremdkörper in der Privatwohnung. Einmal waren Streifenhörnchen der letzte Schrei, dann wieder grüne Leguane. Japanische Goldkarpfen, sogenannte Koi-Karpfen, sind wegen ihres stolzen Preises zu Statussymbolen avanciert. Und die Personen, die über ganz wenig Bargeld verfügen, lassen dann eine Ratte auf ihren Schultern tanzen. Na, danke schön!

Dr. Anneliese Sendler, TV-Moderatorin: Ja, vielen Dank für ihren Beitrag. Liebe Zuschauer und Zuschauerinnen, Sie sehen, wie kontrovers und heftig es hier heute bei uns zugeht. Nun wollen wir aber auch Herrn Professor Lensing zu Wort kommen lassen, der, wie ich sehe, schon eine ganze Weile ganz unruhig auf seinem Stuhl herumrutscht.

Prof. Friedrich Lensing: Vielen Dank, sehr aufmerksam von Ihnen. Ja, was soll ich sagen, ich glaube, die Argumente gegen die Haltung von Schweinen, auch wenn es sich um ›Minischweine‹ handelt, sind sehr überzeugend und treffen bei mir auf volle Zustimmung. Ich bin ja als Kind bereits mit vielen Tieren aufgewachsen, das würde eine gewisse Zeit dauern, wenn ich alle meine Tiere aufzählen sollte, übrigens alle auch mit Namen, denn ein Tier war für mich stets ein naher Freund und Kamerad. Die Neigung, Tiere zu hegen, trug mich über den Abgrund der Jugend hinweg. An den Festtagen ging ich mit der Futtertrommel zum Zoologischen Garten, immer in dem Wahn, daß einige Tiere, der Elefant, die Affen, die Seelöwen, sogar das Nilpferd warteten. Nie habe ich ein ganz reines Gewissen gehabt bezüglich des dunklen Punktes, daß ich Fleischesser und Tiernutzer geblieben bin. Polio, der Hofhund in Herrenhausen, Sultan, der schwarze Neufundländer, Puck, der helle Spitz, Cäsar, der melancholische Schäferhund, Margo, mein grauer Silbermops. Ich sehe so viele Hundegesichter wie Gesichter dahingegangener Freunde, und jedes Gesicht war einmalig und kommt nie wieder. Wenn es aber Wiedersehn und Wiederkehr nach dem Tode gäbe, so möchte ich von Menschen nur wenige wiedersehn. Aber reizend fröhlich ist der Gedanke von all den geliebten Tieren wieder umjubelt zu sein.

Wolfgang Töpper (Minischwein-Besitzer): Lieber Herr Professor, damit haben Sie mir aus der Seele gesprochen, vielen Dank für Ihre schönen Worte. Auch ich wäre selig, wenn ich nach meinem Tode mein geliebtes Minischwein Elvira wiedersehen könnte. Die Menschen können mir gestohlen bleiben, dieses verlogene Gesindel!

Rüdiger Fett (Nds. Fleischereiverband): Ja, sind wir hier denn im Sentimentalitäten-Stadl? Ich frage Sie, wohin soll denn dieses Gesülze führen? Wir haben es mit einem eminent sanitären Problem zu tun und da helfen solche Gefühlsergüsse nicht weiter.

Brigitte Wenzel (Gnadenhof ›Sauwohl‹): Wir müssen vor allem von dieser menschlichen Perspektive wegkommen und das Wohl des Tieres in den Mittelpunkt stellen. Wenn ein Minischwein über ein Freigehege verfügt, hätte ich nichts gegen diese Tierhaltung einzuwenden, aber wir haben es eben mit Etagenschweinen zu tun, die dort kein glückliches Leben führen können. Das sogenannte Minischwein wurde übrigens zuerst in den 1980er Jahren gezüchtet, für Laborexperimente, und ist seitdem unter dem Namen ›Göttinger Minischwein‹ bekannt. Einige dieser Tiere sind auch im Zirkus aufgetreten. Aber erst in den letzten Jahren hat der Besitz von Minischweinen in privaten Haushaltungen stark zugenommen. Es ist eine Katastrophe, bei der den Menschen gar nicht bewußt ist, was sie damit anrichten. Diese Minischweine sind keine Individualisten, es sind sogenannte Rottentiere, sie brauchen also mindestens einen Partner, damit sie artgerecht in der Haltung sind. Das wollen die meisten Menschen, die sich ein Minischwein zulegen, natürlich nicht auf sich nehmen, zwei dieser Exemplare in der eigenen Wohnung anzusiedeln. Meist hat die Hausfrau, wenn sie nicht selbst ein Faible für ein Minischwein hat, ein Vetorecht. Doch das verschlimmert die Lage des Minischweins nur noch weiter. Es gibt da keine Lösung und keinen Ausweg. Nur ein absolutes Verbot würde weiterhelfen.

Prof. Friedrich Lensing: Ich kann das nur befürworten und möchte noch anfügen, daß die vorhin erwähnten Züchtungen für Laborexperimente sachlich damit begründet wurden, daß das Schwein mit dem Menschen bestimmte physiologische Reaktionen teilt. Beim Herz-Kreislauf-System, dem Verdauungstrakt, wie auch bei der Haut, den Knochen und den Zähnen gibt es erstaunliche Übereinstimmungen. Da aber große Schweine zu teuer sind, war man in den 1940er Jahren in den USA und in den 1960er Jahren in Göttingen dazu übergegangen, für die Forschung kleinere Schweine zu züchten. Innerhalb einer Gruppe von Schweinen gibt es wie bei den Menschen eine streng festgelegte Hierarchie. Das Alpha-Schwein bestimmt zum Bespiel, wann Schlafenszeit ist, indem es sich als erstes zum Schlafen hinlegt. Dem folgen  dann das Beta-Schwein, das Gamma-Schwein, und so weiter. Man hat dann den Versuchstieren Alkohol gegeben, um ihr Verhalten zu testen. Die Testtiere konnten sich an einer Mischung aus Orangensaft und Alkohol laben und das Ergebnis war, daß das Alpha-Tier die Führungsposition innerhalb von vierundzwanzig Stunden verlor, weil es zu betrunken war, um diese gegenüber dem Gamma-Typ, das weniger von der Mischung getrunken hatte, zu verteidigen. Nach der Ausnüchterung setzte sich das Alpha-Schwein aber schnell wieder an die Spitze, und, das scheint mir bemerkenswert, besoff sich auch nie wieder.

Brigitte Wenzel (Gnadenhof ›Sauwohl‹): Es ist richtig, daß diese Minischweine im Gegensatz zu den normalen Schweinen gezähmt werden können, ja, sie sind so intelligent, daß man sie auf Stubenreinheit trainieren kann, sie sind aber auch sehr empfindsam und unberechenbar.

Wolfgang Töpper (Minischwein-Besitzer): Die Knopfaugen, die kleinen Steckdosen-Rüssel. Sie sind einfach süß!

Prof. Friedrich Lensing: Ach, du heilige Einfalt! Lieber Herr Töpper, Sie können doch nicht Ihr Bedürfnis nach einem Kindchen mit einem kleinen Schweinchen, daß eigentlich durch menschlichen Willen für die Pharmaindustrie gezüchtet wurde, befriedigen. Verstehen Sie das denn nicht? Mir wäre es auch lieber gewesen, wenn es nicht zu solchen Züchtungen gekommen wäre. Man spielt ›Lieber Gott.‹

Rüdiger Fett (Nds. Fleischereiverband): Na, erlauben Sie mal, Professorchen, das geht nun aber doch zu weit. Deutschland war immer ein Fleischland und daran wird auch die grüne Ideologie nichts ändern. Sie können ja, das ist Ihnen unbenommen, mit dem Sittich auf der Stange weiter Ihre Körner fressen, aber der Durchschnittsdeutsche zieht dem ein ordentliches Nackensteak vor. Und wenn die Minischweine uns dabei helfen, die durch den Konsum von Fleisch möglicherweise entstandenen Krankheiten zu bekämpfen, umso besser.

Dr. Anneliese Sendler, TV-Moderatorin: Immer ruhig Blut, Herr Fett. Nun hat Herr Professor Lensing sein Fett wegbekommen (kichert kurz), sozusagen. Wie ich sehe, geht unsere Sendezeit auch schon wieder dem Ende zu. Für ein Schlußwort von Ihnen allen bleibt keine Zeit mehr. So kann ich unseren lieben Zuschauern und Zuschauerinnen nur einen weiteren angenehmen Verlauf des Abends wünschen. Auf Wiederschaun.

Neue Gespräche im Elysium IX

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 v.u.Z – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.

 Alfred Hitchcock meets the Marquis de Sade

 Denn Mordhölle ist der Wald, Mordhölle das Meer, Mordhölle der Dschungel, Unterholz, Moor. Alles Leben – unbegreifliches Grauen. (Theodor Lessing, 1933)

Alfred Hitchcock: Nehmen Sie doch noch von der Seezunge, die habe ich extra aus Dover einfliegen lassen!

Marquis de Sade: Einfliegen lassen?! Wir befinden uns im Elysium, da kann man nichts von der Erde einfliegen lassen.

Alfred Hitchcock: Im Kino geht alles. Ich habe immer gegen die Wahrscheinlichkeitskrämer angefilmt, die gemeint haben, jedes Geschehen müsse bestimmte Wahrscheinlichkeitskriterien erfüllen. Pah! Die Wahrscheinlichkeit interessiert mich nicht. Sie ist das Einfachste von der Welt. Es bliebe nur noch eins übrig: Dokumentarfilme zu drehen. Wozu aber bin ich Spielfilmregisseur geworden, wenn ich nicht gegen solche Gesetze verstoßen dürfte? ›Ein Stück Leben‹ filmen, das habe ich nie gemacht. Aber auch den reinen Phantasieprodukten bin ich immer aus dem Weg gegangen. Das Drama ist ein Leben, aus dem man die langweiligen Momente herausgeschnitten hat. Ein Filmemacher hat nichts zu sagen, er hat zu zeigen.

Marquis de Sade: Aha, daher weht der Wind! Sie sind ja ein ganz schön Aufsässiger, gerade so wie ich. Das wird aber ein netter Abend werden.

Alfred Hitchcock: Das will ich meinen. Ich darf doch noch einmal nachschenken? In Kalifornien, in meinem Haus, hatte ich einen großen Weinkeller, der nur die ältesten, besten und teuersten Weine beherbergt hat. Inzwischen habe ich aber hier aufholen können, was Sie hier auf dem Tisch sehen, sind alles Flaschen aus eigenen Beständen. Die Unterwelt muß ja nicht immer die Hölle auf Erden sein. Dieser 1964er Château Margaux wird Ihnen munden.

Marquis de Sade: Meinen Weinkeller auf meinem Schloß Lacoste hat der Mob am 17. September 1792 geplündert.

 Alfred Hitchcock: Wie bedauerlich! Und Sie sind dann auch für so viele Jahre eingekerkert gewesen. Das Trauma meines Lebens! Aus dem glücklicherweise niemals Realität geworden ist. Dafür habe ich aber in meinen Filmen dieses Thema in allen grausamen Einzelheiten dargestellt: unschuldig eingesperrt zu sein.

Marquis de Sade: Heute wird das gern zugegeben, daß ich unschuldig eingeschlossen worden bin, aber damals brauchte man einen adeligen Sündenbock, auf dem man alle die Laster und Verbrechen, die die damalige adelige Gesellschaft auf dem Gewissen hatte, abladen konnte.

Alfred Hitchcock: Verlassen wir doch dieses unangenehme Thema! Lassen Sie uns stattdessen über die Möglichkeiten des Kinos sprechen.

Marquis de Sade: Nur zu, obgleich ich damit natürlich keine Erfahrungen machen konnte. Aber ich habe Theater gespielt und spielen lassen, das zählt doch wohl auch.

Alfred Hitchcock: Aber ja, ganz und gar, ohne das Theater wäre das Kino gar nicht möglich. Zum Thema: Da wir gerade so schön tafeln, will ich Ihnen von einem Projekt erzählen, das leider niemals zu einem Film geworden ist, obwohl ich Motive davon in allen meinen Filmen habe unterbringen können. 24 Stunden im Leben einer großen Stadt wie New York. Eine Anthologie der Nahrung. Wie sie frühmorgens ankommt, verteilt und verkauft wird, wie sie zubereitet und gegessen und schließlich wieder ausgeschieden wird. Am Ende ergießt sich der ganze Abfall ins Meer. Und so wie das Gemüse, das Fleisch und das Obst verzehrt und zu Abfall werden, so hätte ich zeigen wollen, wie auch die Menschen wieder zu Abfall werden. Dieser Vorstellung bin ich in dem Film ›Frenzy‹ am nächsten gekommen. Der Film spielt in Covent Garden in London, im Gemüse- und Obstmarktviertel, wo sich ein psychopathischer Mörder aufhält. In einer Szene stopft der Killer sein erwürgtes Opfer in einen Kartoffelsack und deponiert diesen auf einem Gemüselastwagen. Doch kaum hat sich der Wagen entfernt, da bemerkt der Killer, daß die Frau, als sie sich gegen ihn zur Wehr setzte, ihm im Handgemenge seine Krawattennadel abgerissen hatte. Mit diesem Beweisstück hätte die Polizei leicht die Spur zu dem Mörder verfolgen können. Also rast der Killer dem Gemüsetransporter hinterher, springt auf die hintere Ladefläche und versucht, sich die Krawattennadel wiederzuholen. Das aber ist leichter gesagt als getan, denn die Frau liegt in dem Kartoffelsack, ihre Beine schauen daraus hervor. Der Killer greift also in den Kartoffelsack und wühlt darin herum, um an die Krawattennadel zu gelangen. Das stellt sich als schwierig heraus, und obwohl die Frau tot ist, erhält der Killer wegen der Fahrtbewegungen und seinem Wühlen im Kartoffelsack vom toten Körper einen Tritt ins Gesicht versetzt. Als er endlich an einer der Hände der Frau die Krawattennadel ertastet hat, muß er zu seinem Entsetzen feststellen, daß inzwischen rigor mortis eingesetzt hat und es keinesfalls damit getan ist, die Krawattennadel aus der Hand der Toten zu entwinden. Er muß dem Leichnam die Finger brechen, um schließlich das verräterische Objekt aus der Hand zu befreien.

Marquis de Sade: Wirklich eindrucksvoll. Das hätte ich auch gern in einem meiner Romane verwendet. Und diese Ironie, diese Tücke des Objekts, meisterhaft.

Alfred Hitchcock: Vielen Dank. Es geht in dem Film aber noch weiter. Meine Analogie zwischen Essen und Ermorden besteht in einer anderen Szene darin, daß ich den ermittelnden Polizeiinspektor zuhause am Tisch zeige, wo seine sich als Gourmetköchin gerierende Ehefrau ihm Schweinefüße serviert, komplett mit Nägeln. Während er versucht, dieses abstoßende Stück Fleisch mit Messer und Gabel zu zerlegen, wehrt sich auch dieses Opfer. Man sieht den mit den Schweinefüßen kämpfenden Inspektor, der gleichzeitig seiner Ehefrau von seinen Ermittlungen in der Angelegenheit ›Kartoffelsack mit erwürgter Leiche‹ berichtet.

Marquis de Sade: Vorzüglich! Das ist wirklich große Kunst, solche Parallelen zu ziehen und dem Zuschauer sowohl eine Erkenntnis zu vermitteln wie ihm einen gehörigen Schrecken einzujagen.

Alfred Hitchcock: Das will ich meinen. Aber, wissen Sie, manchmal muß man nachhelfen und darauf bestehen, daß bei der Ausführung einer Handlung auf der Filmleinwand auch alles stimmt. So mußte ich für die Szene, wo Grace Kelly sich gegen den hinter ihr stehenden und sie würgenden Verbrecher zur Wehr zu setzen versucht, die Schere, mit der sie ihn schließlich in den Rücken sticht und damit tötet, aufpolieren, damit die Schere wirklich schön strahlt und glänzt. Denn schließlich ist ein Mord ohne glänzende Schere wie Spargel ohne Sauce Hollandaise.

Marquis de Sade: Sehr witzig! Sie sind ein eigenartiger, sehr interessanter Mann.

Alfred Hitchcock: Vielen Dank, ich tue mein Bestes. Um Ihnen noch ein weiteres Beispiel zu geben: Viele Leute sind in dem Irrglauben befangen, einen Menschen umzubringen sei eine einfache Angelegenheit. Mitnichten! In meinem Film ›Torn curtain‹ habe ich einmal zu zeigen versucht, wie schwierig, mühsam und zeitraubend es ist, einen Mann umzubringen. Ein ostdeutscher Spitzel ist dem Hauptdarsteller gefolgt, einem amerikanischen Wissenschaftler, der in die DDR gekommen ist, um von einem ostdeutschen Professor eine Geheimformel zu entwenden und der auf dem Land einen abgelegenen Bauernhof aufsucht, um dort in Kontakt mit einer geheimen Untergrundorganisation zu kommen, und nun stehen die beiden zusammen mit der Bauersfrau in der kleinen Küche. Zunächst bietet die Bauersfrau dem Spitzel namens Gromek Apfelwein an, aber dann, als sich herausstellt, daß man den Spitzel unbedingt loswerden muß und man ihn nicht einfach erschießen kann, weil das den draußen wartenden Taxifahrer, der den Amerikaner hergefahren hat, mißtrauisch machen würde, vereinbaren die beiden durch bloßen Austausch von Blicken, Gromek auf lautlose Weise zu ermorden. Wie macht man das, wenn man sich in einer Küche aufhält? Nun, man bedient sich der Utensilien, die man auch für die Nahrungszubereitung verwendet. Die Bauersfrau ist ganz pragmatisch und schleudert einen Suppentopf, der gleich zur Hand ist, mitsamt der Suppe gegen den Spitzel, aber der tut den beiden Angreifern nicht den Gefallen und bleibt am Leben. So greift die Bauersfrau zu einem großen Küchenmesser und sticht damit auf Gromek ein. Schwer verwundet, quittiert Gromek mit höhnischem Grinsen diese gleichfalls erfolglose Aktion. Auch das Schlagen mit einem Spaten gegen Gromeks Beine erweist sich als zwar schmerzvoll, aber nicht tödlich. Nun aber wird die Küche, kurz zuvor noch ein Ort, der der Erhaltung des Lebens gedient hat, der Ort der Nahrungszubereitung und Nahrungsaufnahme, zu einem Schlachthof. Der amerikanische Professor und die Bauersfrau ergreifen Gromek und schleppen ihn am Boden zum nahegelegenen Ofen, der mit Gas betrieben wird. Die Bauersfrau öffnet die untere Luke und gemeinsam stopfen die beiden Gromek mit dem Kopf voran in den Ofen. Dann dreht die Frau den Gashahn auf und der Zuschauer sieht in Großaufnahme die sich immer noch wehrenden Hände des Opfers, bis schließlich jede Bewegung des Körpers aufhört, und die Hände heruntersinken. Nun erst ist der Mann tot. Sehen Sie, das wollte ich dem Durchschnittsverstand einmal beibringen, sich genau zu überlegen, was man eigentlich alles erledigen und über sich bringen muß, wenn man beschließt, einen Menschen zu ermorden.

Marquis de Sade: Ich bin beeindruckt. Das Theater ist schon ein Instrument, um Menschen zu steuern. Dabei darf man auf die Empfindlichkeiten keine Rücksicht nehmen. In meinem Romanwerk habe ich das auch nicht getan.

Alfred Hitchcock: Wenn ich Sie etwas fragen darf: Was ich in Ihren Romanen nie verstanden habe, das ist die Tatsache, daß die Mörder ihre Opfer gern quälen, dann aber irgendwann doch ermorden. Danach fühlen sie sich elend, denn der Zauber des Quälens und Folterns ist in dem Augenblick verrauscht, wo die Gequälten nicht mehr am Leben sind. Dann hätte man doch besser die Opfer weiter quälen und weiteren Schmerzen aussetzen sollen, denn nur solange sie leben, können die Opfer doch noch etwas empfinden, während sie als Tote nicht mehr interessant sind und die Folterer sich neue Opfer suchen müssen, was sowohl zeitaufwendig wie mühsam ist.

Marquis de Sade: Das stimmt, aber für die Dramaturgie der Handlung ist es wichtig, daß man immer wieder von neuem ansetzt und neue Opfer heranschaffen muß, denn nur dieser ständige Kreislauf belebt die Lust der Henker. Abwechslung ist auch hier entscheidend, irgendwann sieht man sich die immergleichen Gesichter über, deshalb müssen sie nach einer Weile sterben, um Platz für neue Gesichter und Körper zu machen.

Alfred Hitchcock: Ja, das Kino ist auch ein gefräßiges Medium, ständig sind die Produzenten auf der Suche nach neuen Gesichtern, neuen Darstellern.

Marquis de Sade: Ich will Ihnen einmal am Beispiel meines bekanntesten Romans meine philosophischen Konstruktionsprinzipen erläutern. Dazu habe ich zwei Protagonistinnen erfunden, Justine und Juliette, zwei Schwestern, die verschiedener nicht sein könnten. Justine ist, der Name verrät es schon ein wenig, die Gerechte, die Tugendhafte, die selbst unter größten Qualen noch an das Gute im Menschen glaubt und sich auch unter der Folter und der Unausweichlichkeit ihres baldigen Todes nicht korrumpieren läßt. Diese Leiden haben aber keinen Sinn, weder für sie noch für andere Menschen. Sie glaubt an das Gesetz, auch wenn es ihr keinerlei Schutz gewährt und läßt sich auch nicht dazu bewegen, Gesetze zu übertreten. Sie läßt sich nicht unterkriegen. Dabei ist sie vertrauensselig und das Wesen ihrer Tugend besteht darin, daß sie tut, was man ihr sagt. Sie begehrt niemals auf. Sie hält jede Vergewaltigung aus, weil sie meint, es berühre ihr Innerstes, ihre persönliche Ehre nicht. Diese wird der Aggressor niemals erreichen. Sie lernt nichts aus ihren schlimmen Erfahrungen. Ihre Tugend hat damit dieselbe Abgestumpftheit hervorgebracht wie die der sie folternden Verbrecher. Sie glaubt, die Welt würde sie für ihr tugendhaftes Verhalten belohnen, aber diese Methode befördert weit eher ihr Unglück, weil es Wüstlinge gibt, die genau auf diese Sorte Menschen sich spezialisiert haben. Justine ist für sie das perfekte Opfer. Zwar ist dieses Opfer dem Täter immer moralisch überlegen, nur nützt diese Moral ihr überhaupt nichts. Sie bleibt ein Objekt, das deshalb auch unfähig ist, anderen Gutes zu tun, weil sie selbst ganz außerhalb jedes sozialen Zusammenhangs lebt.

Alfred Hitchcock: Wenn ich Sie hier kurz unterbrechen darf? Die Schriftstellerin Angela Carter hat Justine mit Marilyn Monroe verglichen. »Wie sie sich gleichen! Marilyn Monroe ist das Ebenbild der Justine. Marilyn/Justine ist aufrichtig und zutraulich wie ein Kind und von einem leichten Hauch von Melancholie umweht, der aus der steten Enttäuschung ihres stets unbegrenzten Vertrauens entsteht. Diese Fähigkeit zu vertrauen ist das, was die Sadeschen Wüstlinge am meisten fasziniert. Der Typus der Blondine war der kommerziell vielversprechendste auf dem Markt.« Sehen Sie, und das war auch der Grund für mich, in meinen Filmen den Blondinen den Vorzug vor den Brünetten oder Rothaarigen zu geben. Auch wenn der Typus, den die Monroe verkörperte, für mich nicht in Frage kam, da sie nach meinem Geschmack viel zu offensichtlich den Sexappeal repräsentierte. Aus dramaturgischen Gründen habe ich lieber auf kühle Blonde zurückgegriffen, denken Sie an Grace Kelly, ›Tippi‹ Hedren, Kim Novak, Janet Leigh, Eva Marie Saint, weil man von ihnen erst einmal nichts erwartet, aber dann überrascht wird, wenn man mit ihnen auf dem Rücksitz eines Taxis sitzt und sie plötzlich eine Hand in Ihren Hosenschlitz stecken.

Marquis de Sade: Mmhh, ja, ich verstehe, das ist dramaturgisch durchaus verständlich. Aber lassen Sie mich nun noch das Alter ego von Justine kurz erläutern. Juliette ist ein kaltes Ungeheuer, sie begeht Verbrechen, für die sie niemals bestraft wird, sie genießt Lust und Schmerz gleichermaßen, weil beide für sie identisch sind. Sie ist unglaublich reich und von unglaublicher Grausamkeit.

Alfred Hitchcock: »Sades Figuren verkörpern absolute moralische Werte in einer Welt, die keine absoluten moralischen Werte kennt.« Das sagt jedenfalls Angela Carter.

Marquis de Sade: Ja, das trifft zu. Die damalige Gesellschaft, ob nun vor oder nach der Revolution von 1789, hätte in meinen Beschreibungen leicht ihr eigenes verwerfliches Verhalten wiedererkennen können, doch man hat es vorgezogen, mich exemplarisch dafür zu bestrafen, daß ich ohne Beschönigung dargestellt habe, wozu Menschen fähig sind. Und sie sind zu allem fähig. Ich weiß, daß nach 1945 es Autoren gegeben hat, die die Konzentrationslager der deutschen Nazis mit meinem fiktiven Orten, dem Kloster Sainte-Marie-des-Bois und dem Schloß Silling im Schwarzwald, verglichen haben. Natürlich! Es ging ja immer weiter, nur daß ich diese Erfahrungen nicht mehr machen mußte, da ich den Terror, der nach 1789 in ganz Frankreich wütete, als unfreiwilliger Zeuge miterlebt habe. Und damit kommen wir dann auch gleich auf einen Punkt, der mir damals wie heute vorgeworfen wird, nämlich daß die von mir erfundenen Figuren meine ›Meinung‹ darstellen würden. Wer das behauptet, hat von Literatur keine Ahnung. Selbstverständlich sind Einzelzüge der Charaktere inspiriert gewesen von meiner eigenen Lebensgeschichte, aber nicht alles, was ich meine Figuren habe machen lassen, habe ich auch selbst in Wirklichkeit getan. Ich bin niemals zum Mörder geworden, wiewohl es nach 1789, als ich für kurze Zeit sogar ›Revolutionsrichter‹ war, Möglichkeiten gab, unter dem Schutz des ›revolutionären‹ Gesetzes, Menschen durch mein Urteil in den Tod zu schicken. Als ich die Akte meiner Schwiegermutter, die allein dafür verantwortlich war, daß ich mein Leben für so viele Jahre in Gefängnissen zubringen mußte, auf meinem Richtertisch liegen hatte, habe ich alles getan, damit ihr ein Todesurteil erspart blieb.

Alfred Hitchcock: Das ehrt Sie sehr. Es gehört viel moralische Überwindung dazu, auf Rache zu verzichten, wobei sie wie in Ihrem Fall durchaus einige Berechtigung hätte. Was sie ansprechen, ist von allgemeinem Interesse. Auch mir wurde nachgesagt, ich würde in meinen Filmen meine eigene Grausamkeit ausleben und Ersatzhandlungen begehen. Hätte ich nicht den Film gehabt, wäre ich ein Mörder geworden. Mag sein, man weiß nie, was aus einem werden wird, wenn die Umstände anders liegen. Doch meine privaten Späße, in kleiner Runde den Damen an ihrem Hals zu demonstrieren, daß man einen Menschen mit einer Hand erwürgen kann, machen mich noch nicht zu einem Verbrecher. Das ist schwarzer Humor, der hier zur Geltung kommt. Ich habe mir stets erlaubt, mit den Menschen meiner direkten Umgebung einen kleinen Schabernack zu treiben. Wenn der Psychopath Bruno Anthony in meinem Film ›Strangers on a Train‹ den Vorteil des stillen Erdrosselns auf einer Party einigen älteren Ladys der Gesellschaft zu demonstrieren versucht, erreicht er bei den ihm nicht glauben wollenden Damen ein hysterisches Gekicher, und so ist mir zweierlei gelungen: den krankhaften Wahn eines Geistesgestörten gezeigt zu haben und die häufig belustigende Reaktion der Menschen auf solche Figuren, denen man nicht abnimmt, was sie ganz offen aussprechen. Denken Sie an Hitler, der hat doch auch mit seinen Absichten nicht hinter dem Berg gehalten. Und hat man ihn ernst genommen? Nein, man hat ihn als verrückten Clown gesehen.

Marquis de Sade: Ich lasse einen meiner Massenmörder sagen: »Seit langem stehlen und töten wir nur aus Not. Doch alle diese Taten muß man aus Bosheit, aus Geschmack am Bösen tun. Die Welt muß zittern, wenn sie von den Verbrechen hört, die wir begangen haben. Die Menschen müssen im Bewußtsein, zur selben Spezies wie wir zu gehören, vor Scham erröten.«

Alfred Hitchcock: Da haben Sie es. Sie sind ein Diagnostiker und Prophet zugleich gewesen.

Marquis de Sade: Das hört man heute häufiger, nur habe ich als Toter davon gar nichts mehr. Vor einigen Jahren hat der französische Staat mein verschollen geglaubtes Manuskript ›Die 120 Tage von Sodom‹ für den Preis von sieben Millionen Euro aufgekauft. Als ich lebte, hat man mich nicht nur viele Jahre eingesperrt, man hat mir auch kurz vor meinem Tod ein fertiges Romanmanuskript weggenommen und vernichtet. Das sind die grausamen Kontraste, die mein Leben und mein Werk begleiten.

Alfred Hitchcock: Wechseln wir doch das Thema. Wie ich sehe, sind Sie auch nicht gerade ein athletischer Typ. Waren Sie von Kindheit an schon so — entschuldigen Sie den Ausdruck — fett?

Marquis de Sade: Oh nein, ich war ein zarter Junge mit vollem Haar. Erst das Gefängnis hat mich fett gemacht, denn ich durfte mir auf meine Kosten Speisen meiner Wahl in die Zelle schicken lassen. Vor allem Konfekt aus den besten Pariser Confiserien habe ich mir kommen lassen. Da es damals den heute in Gefängnissen üblichen täglichen Spaziergang im Hof der Anstalt nicht gab, nahm ich schnell zu und da Essen ein Ersatz für Sex ist und einem als Gefangenem sexuelle Betätigung nicht erlaubt ist, sehen Sie hier die Folgen dieser erzwungenen Einsamkeit.

Alfred Hitchcock: Man hat mich einmal gefragt, auf welche Art ich gern ermordet werden würde. Na ja, eine typische Journalistenfrage. Ich habe geantwortet: Essen wäre eine gute Methode. Ich brachte es im Laufe meines Lebens auf zweieinhalb Zentner, das sind immerhin 125 Kilogramm, danach wog ich sogar für einige Zeit 136 Kilogramm. Durch mehrere Diäten habe ich mich dann auf 100 Kilo heruntergehungert. Don’t believe what they tell you: Fat people are not jolly. Im Übrigen gilt für mich, daß das Gefühl des Sattseins mir immer wichtiger war als der Akt des Verzehrens selbst, der mir immer irgendwie wenig delikat vorgekommen ist. Aber wenn gegrillte Lammkoteletts auf dem Teller lagen, eines meiner Lieblingsgerichte, dann mußte es immer auch Kartoffeln dazu geben, denn Kartoffeln habe ich geliebt, gekocht, gebraten, es mußte sie zu jeder Mahlzeit dazugeben. Einmal habe ich ›Tippi‹ Hedren anderthalb Zentner Kartoffeln geschickt und auf einem Zettel angemerkt, daß sie ausreichend Kalorien enthalten, wenn man genug davon esse. Bei unseren Drehbuchbesprechungen hielt ich stets die Reihenfolge der Themen nach ihrer Wichtigkeit ein: 1. Essen 2. Trinken 3. Klatsch aus Hollywood 4. Filme. Übers Essen habe ich immer geplaudert als handele es sich um verschiedene Geliebte.

Marquis de Sade: Sie sind ein lustiger Knabe.

Alfred Hitchcock: Was das zweite Thema, das Trinken, angeht, so muß ich leider eingestehen, daß ich Alkohol nie gut vertragen habe, dennoch aber mit zunehmendem Alter immer mehr davon konsumiert habe. Zuzunehmen begann ich, als ich mir das Trinken angewöhnte. Ein halber Liter Champagner zum Mittagessen gehörte immer dazu, aber dann habe ich auch noch ein ganzes Wasserglas Cointreau oder Wodka hinuntergekippt, auf einen Sitz, aber immer mit einem Seitenblick auf Alma, meine Ehefrau, die durfte davon natürlich nichts erfahren. Am liebsten hätte ich in Wein gebadet, aber man weiß natürlich, was sich gehört, ein schöner Tagtraum ist es allemal.

Marquis de Sade: Und nun sitzen wir hier im Elysium und lassen es uns dennoch gut gehen. Was für eine Überraschung das ist und dann noch mit einem Tischfreund, der mir die beste Unterhaltung gewährt. Merci vielmals, Monsieur.

Alfred Hitchcock: Konversation ist der schlimmste Feind von gutem Essen und gutem Wein. Aber bei Ihnen mache ich eine Ausnahme. (Mit verschmitztem Schuljungengesicht und gesenkter Stimme sich zu de Sade herüberbeugend) Psst! Ich habe hier eine Flasche Brandy, die mit einem starken Abführmittel präpariert ist. Die könnten wir jemandem schenken und dann sehen, was passiert. Das war ein practical joke, den ich einmal einem der Studioarbeiter gespielt habe. Ich wettete mit dem Mann einen Wochenlohn, daß er zu ängstlich sei, eine ganze Nacht im dunklen und verlassenen Filmstudio an eine Kamera angekettet zu verbringen. Ich habe ihn dann persönlich angekettet und ihm noch einen großen Brandy für einen schnellen und tiefen Schlaf offeriert. Der Mann nahm das Glas Brandy und trank es aus. Am nächsten Tag fand man ihn weinend und besudelt vor, das Abführmittel hatte über Nacht seine Wirkung getan.

Marquis de Sade: Was für ein grober und grausamer Schabernack. Herr Hitchcock, Sie sind ein Sadist!

Die Öffentliche Meinung

Die Öffentliche Meinung ist die Religion der Neuzeit. Die Öffentliche Meinung tritt immer mit dem Anspruch auf, maßgebend zu sein, sie heischt Zustimmung und macht wenigstens das Schweigen, das Unterlassen des Widerspruchs zur Pflicht. Mit mehr oder weniger Erfolg; je vollkommener der Erfolg, um so mehr bewährt sie sich als die Öffentliche Meinung, trotz des mehr oder minder zum Schweigen gebrachten Widerspruchs. Nachdrücklich werde hier betont, daß die Ausdrucksmittel der Öffentlichen Meinung auch die Ausdrucksmittel der Religion sind, und in der Regel früher der Religion als der ihrem Wesen nach älteren Kulturmacht dienen. Dies gilt von jeder Art der Kunst, von bildenden und redenden Künsten, von Architektur und Tonkunst in hervorragendster Weise, dazu kommt aber, zuweilen überwältigend, die öffentliche Rede, die Predigt, und hinzukommen alle Ausdrucksmittel der Schrift und des Druckes, das Buch, die Flugschrift, die Revue und endlich die Zeitung. Aber nicht minder wirken im Sinne der Religion, wie schon angedeutet wurde, der Verein und die Versammlung, die Prozession, das Fest und die Geselligkeit. Man möchte sagen, daß die Öffentliche Meinung überall in den Bahnen wandelt, die ihr von der Religion vorgezeichnet wurden; wenn nicht den jüngeren proselytischen Religionen schon so vieles beigemischt wäre, was der Öffentlichen Meinung wesensverwandt ist. So ist auch die Mache, die planmäßige, ja gewaltsame Propaganda eine Methode, deren sich die Apostel der Religion wie die der Öffentlichen Meinung bedienen; und das Interesse mächtiger Personen, also der Fürsten, Staatsmänner und Eroberer, knüpft sich an die Ausbreitung politischer Lehren. Jede Art der Öffentlichen Meinung will, wie jede Art der Religion, diejenigen, die zu ihr gehören, verbinden, verpflichten. Alle ihre Ausdrucksmittel haben auch diesen Sinn, daß sie die Gesinnungen der Adepten einer »Meinungsschaft« auf die Probe stellen, wie fortwährend die Kirche und jede religiöse Gemeinde die Glieder ihrer Herde beobachtet, ob sie ihre Pflichten erfüllen. Die abweichende Meinung als Sünde zu verfemen, ist der echten Öffentlichen Meinung mit der Religion gemein; auch wenn beiden nur daran gelegen ist, daß solche abweichende Meinung nicht ausgesprochen, insonderheit nicht verbreitet (»propagiert«) werde, so geht doch die Schätzung, also die Verwerfung, unmittelbar auf die Hegung der Meinung, sie ist die »materia peccans«, und der Richter ist beflissen, sie auf bösen Willen, auf Verstocktheit des Herzens, auf Verschließung des Gemütes gegen die Wahrheit, zurückzuführen. Die Öffentliche Meinung ist in der Regel duldsam in bezug auf religiöse Vorstellungen, aber sie ist in den Gebieten, worauf sie größeren Wert legt, ebenso unduldsam wie irgendeine Religion. Die Religion will die Seelen beherrschen und macht darauf Anspruch, die innerste Gesinnung, ob sie dem Gotte wohlgefällig sei oder nicht, zu erforschen; dem dient auch eine Einrichtung wie die Beichte. Die Öffentliche Meinung hält sich an die Erscheinung, an das Offenbare und Offenkundige, daher auch leicht an den bloßen Schein und läßt sich oft durch den Schein täuschen. Sie will auch im Sittlichen das Vorgeschriebene, das Regelmäßige, das Korrekte. In allen diesen Beziehungen verhalten sich sowohl Religion als Öffentliche Meinung 1. wünschend und verwünschend, billigend und mißbilligend, lobend und tadelnd, bewundernd und verachtend, 2. heischend und hemmend, ge- und verbietend, fordernd und verwehrend, 3. richtend und vergeltend, also freisprechend und verurteilend, belohnend und bestrafend. Vielmehr verlangt die Öffentliche Meinung von jedem, der auf eine führende Stellung in der Gesellschaft oder im Staat Anspruch macht, Bekenntnis zu den »richtigen« (»korrekten«) Meinungen oder wenigstens Vermeiden des Widerspruchs dagegen und ächtet also die Kundgebung entgegenstehender, ungehöriger Ansichten. Die Zukunft der Öffentlichen Meinung ist die Zukunft der Kultur. (Ferdinand Tönnies: Kritik der Öffentlichen Meinung, 1922)

Herbstliche Elegie

Wir waren die Leoparden, die Löwen: unseren Platz werden die kleinen Schakale einnehmen, die Hyänen. (Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Il Gattopardo, 1958)

Prof. Friedrich Lensing (steht am Gartenzaun und sieht seiner Nachbarin, Frau Pannemeyer dabei zu, wie sie mit einer Harke das Herbstlaub unter den Bäumen zusammenkehrt): Tag, Frau Pannemeyer, na, der Sommer ist wohl vorbei. Es wird zwar an manchen Tagen noch etwas wärmer als man es vom Herbst gewöhnt ist, aber die Zeichen sind deutlich, die Blätter fallen von den Bäumen und die Herbstwinde stellen sich ein.

Frau Pannemeyer: Ach Gott, ja, Herr Professor, es fällt mir jedes Jahr schwerer, vom Sommer Abschied zu nehmen, das ist wohl das Alter. Man braucht mehr Wärme, während die Jungen jedes Wetter vertragen und sich über jede Jahreszeit freuen können. Ich nicht. Aber schon als junges Mädchen habe ich die Sommerzeit über alles geliebt, allein schon wegen der vielen Sonne und den Früchten, die der Garten hervorbringt.

Prof. Friedrich Lensing: Das geht mir auch so. Wir sind hier in Hannover auch nicht gerade gesegnet mit einem milden Klima, auch wenn durch die Erderwärmung es dieses Jahr doch außerordentlich heiß während der Sommermonate war. Für mich ist das Ende dieser schönen Jahreszeit immer mit den Gartenschläfern verbunden, den Bilchen, wie sie auch genannt werden, Murmeltierverwandte. Hellgraue Köpfchen mit großen dunklen Perlaugen wie Glasknöpfe, müßiggängerisch und raubgierig, lüstern und böse, menschenscheu und lichtfern, aber von ausgeprägter adeliger Schönheit.

Frau Pannemeyer: Gehen Sie mir los mit diesen Nagetieren! Dieses Gesocks! Dieses Gesindel! Siebenschläfer! Die brauche ich nicht in meinem Garten.

Prof. Friedrich Lensing: Mögen Sie mir verzeihen, aber ich liebe alles, was schön, zierlich und unnütz ist und sogar dann, wenn es einen so hundsmiserablen schlechten Charakter hat wie die Gartenbilche. Sieben Monate lang, von Oktober bis Mai, schlafen sie. Es gibt kein Nagetier, das es ihnen an Gefräßigkeit zuvortut. Sie fressen, solange sie fressen können: Eicheln, Haselnüsse, Bucheckern, Walnüsse, Kastanien, Eier, Weißbrot, Schinken. Und wenn nicht genug da ist, fressen sie auch ihre Verwandten, am liebsten das Murmeltier. Es ist noch niemals gelungen, sie zu zähmen. Ihre größte Tugend ist ihre Schönheit.  Sie sind unendlich schöne und reinliche, aber langweilige Tiere.

Frau Pannemeyer: Sie brechen in die Wohnungen ein und mopsen Eier, Brot, Speck und Schinken. Schöne adelige Existenzen sind das!

Prof. Friedrich Lensing: Sie haben recht, es sind gemeine Verbrecher, Diebe und die verwöhntesten Gourmets! Nur die besten und saftigsten Früchte wählen sie, beißen aber probeweise auch alle andern mal an und zerstören somit mehr, als sie zum Leben nötig haben. Es gibt kein Mittel, sie abzuhalten. Sie vereinen den Blutdurst des Wiesels mit der Nagefreudigkeit der Ratte. Die Bauern und die ganze arbeitende Menschheit hat sich verschworen, die schönen Geschöpfe auszurotten. Man kann schließlich diesen Haß verstehen, denn  sie haben keinen guten Charakter. Aber wer die schönen Geschöpfe in ihrer vornehmen Zurückgezogenheit in den verschollenen Parks und versunkenen Adelsgärten gesehen hat, wer die Schönheit der alten Erde liebt und die Häßlichkeit der neuen durchschaut, der muß meinen Seufzer nachfühlen: »Geliebter Herr v. Bilch, wie schade, daß nun auch Sie aussterben.«

Wiederkehr des Gleichen

Da gibts nichts!

Hitler hat den Eid auf die Verfassung geschworen, das Berliner Tageblatt zitiert unter dem Titel ›Hitlers Eid‹ dessen Wortlaut und bemerkt:
Mit Recht macht der ›Vorwärts‹ darauf aufmerksam, daß niemand Hitler gezwungen hat, Beamter zu werden, daß er den Eid also freiwillig geleistet hat. Es gibt künftig keinerlei Ausflucht. Der neue Regierungsrat wird seinen Eid halten müssen wie jeder andere Beamte.

Jetzt hat man ihn! Bei Nestroy beruhigt sich ein verdachtschöpfender Bräutigam immer mit den Worten: »Sie hat mir ja ewige Liebe geschworen!«, und ohne Zweifel würde der Staatsanwalt an dem ersten Tag, den das dritte Reich besteht, dessen Gründer wegen Verfassungsbruch hoppnehmen. Es ist aber ein alter Jammer, daß, wenn Juden blöd sind, es ausgibt. (Karl Kraus: Da gibts nichts! In: Die Fackel, 34. Jg., Nr. 876–884, Mitte Oktober 1932, 43f.)

Esken: Eintreten für Israel vor Einbürgerung

Für die SPD-Vorsitzende Saskia Esken gehört ein Bekenntnis zum Existenzrecht Israels, zum Schutz jüdischen Lebens und gegen Antisemitismus zu den Voraussetzungen für das Erlangen der deutschen Staatsbürgerschaft. »Ganz klar gehört da ein Bekenntnis mit dazu, wenn man Staatsbürgerin oder Staatsbürger werden will«, sagte Esken am Montag im Deutschlandfunk. Zuvor hatte der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz gefordert, künftig nur noch Personen einzubürgern, die das Existenzrecht Israels anerkennen. »Wer das nicht unterschreibt, hat in Deutschland nichts zu suchen«, sagte Merz am Sonntag im ZDF. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.10.2023, Titelseite)

Neue Gespräche im Elysium VIII

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 v.u.Z – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt. 

Miles Davis meets Gotthilf Fischer

Gotthilf Fischer (und seine Fischer-Chöre stehen auf dem Vorplatz des Plaza-Hotels und fangen an zu singen): Schön ist es auf der Welt zu sein / Wenn die Sonne scheint für groß und klein / Du kannst atmen / Du kannst gehen / Dich an allem freu’n und alles sehn / Schön ist es auf der Welt zu sein / Sagt die Biene zu dem Stachelschwein / Du und ich wir stimmen ein / Schön ist es auf der Welt zu sein.

(An einem der Fenster der obersten Etage erscheint Miles Davis, öffnet eins der Fenster und schreit herunter): Shut the fuck up, you bastards! I want to sleep! Who do you think you are, you bloody fools?

Gotthilf Fischer (ruft mit voller Stimme nach oben): Bitte entschuldigen Sie, Sir, wir sind Gotthilf Fischer und die Fischer-Chöre. Wir wollten dem hier wohnenden Komponisten Werner Twardy, der dieses Lied komponiert hat, ein Ständchen bringen.

Miles Davis: Wörner who? Who gives a fuck? You are crazy! This is dreck! Go home to where you came from. I’m a musician and I need my sleep. Beat it, punk!

Gotthilf Fischer: Sie sind ja ein Neger. Muß ich Sie kennen? Leiten Sie auch einen Chor? Gibt es Schallplatten von Ihnen?

Miles Davis: No way. That is so fresh. Well, tally me banana. You are a racist pig, that’s what you are.

Gotthilf Fischer: Aber verehrter Herr, gottbewahre, ich habe Sie doch nicht beleidigt! Neger ist die deutsche Bezeichnung für Leute aus Afrika. Das sind Menschen wie du und ich.

Miles Davis: Well, send in the clowns. You didn’t notice my American accent? I am Miles Davis. I play the trumpet und have revolutionized jazz music quite a few times.

Gotthilf Fischer: Aber ja doch, Jazz! (Singt): Ice Cream – News Cream – everybody wants Ice cream, / Rock, oh rock my baby roll / When I say Ice Cream – News Cream – everybody wants Ice cream, / Rock, oh rock my baby roll.

Miles Davis: Oh, this is nice. This is my lucky day. Just kill me now! Please, plug in! You’re talking about a kind of ›Jazz‹ that is made for people like you. You can sing this on a sunday morning at your local pub while downing several glasses of bear. God bless your guilty white ass.

Gotthilf Fischer: Ich bitte nochmals vielmals um Entschuldigung, ich bin erst seit kurzem hier und muß mich erst eingewöhnen. Es ist alles so international hier. So viele Sprachen und so viel Musik.

Miles Davis: Time is irrelevant here in the seventh circle of hell. We can do this the easy way or the hard way. Don’t poke the bear.

Gotthilf Fischer: Stellen Sie sich Ihren Ärger als einen roten Luftballon vor, der höher und höher steigt und dann hinter den Wolken verschwindet.

Miles Davis: Well, whoop-di-do! And screw, I may add, you! Maybe later we’ll try out a ›Wagner for Lovers‹-CD. What are the odds? You just bought yourself a little more time. If you let you choir stay where they are now, you can come up for a drink.

Gotthilf Fischer: Herzlichen Dank für Ihre freundliche Einladung! Dann werde ich gleich in Ihrem Apartement sein (bewegt sich in Richtung des Hotel-Eingangs). 

Miles Davis (öffnet die Tür seiner Hotel-Suite und läßt Gotthilf Fischer eintreten): Welcome! Sit down. Be my guest! (Reicht ihm einen Martini-Cocktail). Tell me everything!

Gotthilf Fischer: Ich habe mein Leben der Musik gewidmet. Man nennt mich »Herr der singenden Heerscharen« und »Therapeut der wunden Seelen«. Sie dürfen nicht glauben, daß ich ein provinzieller schwäbischer Musikant bin, der nur deutsche Volkslieder singen läßt. Das haben nur meine Feinde über mich gesagt. Dabei war ich nach allen Seiten offen. So habe ich einmal ›Smoke on the water‹ dirigiert, mit 1800 Gitarristen!

Miles Davis: 1800 guitarists!? Fuck me in both ears! This isn’t music, this is sport at its worst. It’s like a bunch of young boys masturbating together all at the same time in the locker room. Have you lost it, man? This is beyond stupid. Is there any more to that story?

Gotthilf Fischer: Meine Fischer-Chöre wurden überall herzlich empfangen und wir haben den Menschen viel Freude gebracht. Es gibt ein deutsches Sprichwort: »Wo man singt, da laß dich nieder, böse Menschen haben keine Lieder.«

Miles Davis: Well, you a german, aren’t you. Are there still many Nazis in Germany?

Gotthilf Fischer: Aber nein, ganz und gar nicht, wir haben sogar ein neues Wort geschaffen, das dies garantiert: Erinnerungskultur. Wissen Sie, in Deutschland muß alles mit Kultur zu tun haben, sonst wird es nicht anerkannt. Erinnerungskultur heißt, daß wir viele Denkmäler für die ermordeten Juden und andere Minderheiten haben errichten lassen, so viele, daß wir in dieser Kategorie Weltmeister geworden sind. Das macht uns keiner nach, da sind wir Spitze.

Miles Davis: Charming! I can’t believe you just said that. Well, one can see your point of view. Today is trash day. Somehow I am not surprised. Well, forgive me if I don’t throw confetti.

Gotthilf Fischer: Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber ich denke doch, daß ich noch nie in meinem ganzen Leben einen so arroganten Menschen getroffen habe. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ein bißchen mehr Manieren wären schon recht gut.

Miles Davis: Well, we’ve certainly cleared the air. Listen, fellow, the fact that we two are sitting next to each other is the most important fact of your miserable life anyway. Don’t you realize that?

Gotthilf Fischer: Werter Herr, ich habe mir erlaubt ebenso frank und frei zu sprechen wie Sie es sich mir gegenüber herausnehmen. Jeder auf seinem Feld, das ist meine Devise.

Miles Davis: What we’re gonna do? What we’re gonna do? What we’re gonna do? Can I ask you something? Who are you?

Gotthilf Fischer: Wie ich schon sagte, ich habe mein ganzes Leben der Musik und dem Singen von Musik gewidmet. Millionen von Menschen habe ich glücklich gemacht mit meinen Chören, Millionen meiner Schallplatten haben sich verkauft. Ich habe alles, was das Leben bietet, genossen.

Miles Davis: Your energy is inspiring. Well, we established the fact that you think you’re a musician and you’re not.

Gotthilf Fischer: Sehen Sie, da haben wir es wieder. Diese Arroganz! Diese Überheblichkeit! Ich erinnere mich jetzt sogar, daß ich Sie einmal im Fernsehen gesehen habe, da standen Sie die meiste Zeit mit dem Rücken zum Publikum. Das habe ich nie getan, ich habe mich stets meinem Publikum zugewandt und ihnen mein Gesicht gezeigt.

Miles Davis: Is that annoying you? Why do I have to look in the audience when I’m playing my trumpet? It’s the music that counts, not the person who plays it. This is the most boring conversation I’ve ever had.

Gotthilf Fischer: Alles dreht sich nur um Ihre Person, geben Sie es doch zu! Sie sind ein Narziß, wenn auch wohl ein sehr begabter Narziß.

Miles Davis: Do I care? We’re obviously dealing with an amateur here!  You don’t compose music, you execute it, and seems to be not the best music.

Gotthilf Fischer: Volksmusik ist die Musik des ganzen Volkes. Ich wüßte nicht, was mehr umfaßt und umgreift als das Wort Volk. Und Volksmusik schöpft aus allen Quellen des Volksgeistes, aus dem Urquell deutscher Kraft. Meine Musik gibt den Menschen Zuversicht und Selbstvertrauen. Mut zum Leben.

Miles Davis: I didn’t want to upset you. But art is more than having fun and a good time. It’s about suffering and pain.

Gotthilf Fischer: Ich sehe, wir kommen hier auf keinen gemeinsamen Nenner. Wir leben in unterschiedlichen Welten. Und ihre Musik ist nicht meine Welt. (Von draußen hört man plötzlich die immer noch dort stehenden Fischer-Chöre anfangen zu singen): Morgens wenn der Tag angeht / und die Sonn‘ am Himmel steht / so herrlich rot wie Milch und Blut: / Auf, ihr Brüder, laßt uns reisen, / unserm Herrgott Dank erweisen / für die fröhlich‘ Wanderzeit / hier und in die Ewigkeit !

Dafür oder dagegen? Eine Konversation

A.: Und?

B.: Was und?

A.: Und? Ja, wissen Sie es denn nicht?

B.: Was soll ich denn wissen?

A.: Muß ich Ihnen denn ständig alles erklären?

B.: Ich bitte darum.

A.: Also: Sind Sie dafür oder dagegen?

B.: Wofür soll ich sein oder wogegen?

A.: Nicht: wogegen! Dagegen, oder eben dafür.

B.: Haben Sie irgendetwas eingenommen?

A.: Ganz und gar nicht. Wir stehen vor wichtigen Entscheidungen.

B.: Und welche sind das?

A.: Das sage ich doch die ganze Zeit: Dafür oder dagegen?

B.: Sie meinen Pro und Contra.

A.: Klugscheißer. Außerdem sagt man heute nicht mehr Contra. Man sagt: Anti.

B.: Von mir aus. Worum geht es eigentlich?

A.: Das spielt doch gar keine Rolle. Sie müssen sich nur entscheiden: Pro oder Anti.

B.: Aber über welches Thema reden wir hier?

A.: Haben Sie es immer noch nicht begriffen? Das Thema ist völlig gleichgültig. Nur entscheiden müssen Sie sich. Das verlangt man heute von jedem.

B.: Wer verlangt das von jedem?

A.: Darüber möchte ich mich ausschweigen, aber Sie können sich denken, wer gemeint ist.

B.: Ich habe nicht die geringste Ahnung.

A.: Begriffsstutzig bis zum geht nicht mehr. Ich fordere Sie hiermit auf, eindeutig Stellung zu beziehen!

B.: Aber weshalb sollte ich das tun, wenn ich nicht einmal weiß, zu welchem Thema ich ›Stellung beziehen‹ soll. ›Stellung beziehen‹! Was für eine Redensart!

A.: Jeder hat Stellung zu beziehen, das wird von jedem Bürger einer Demokratie erwartet.

B.: Ich denke gar nicht dran, mich von ihnen bedrängen zu lassen.

A.: Sie sind ganz frei in Ihrer Entscheidung. Entweder Pro oder Anti, aber zwischen den beiden Einstellungen müssen Sie sich entscheiden, das ist nun einmal so.

B.: Sie sind ein Spinner. Lassen Sie sich einen Krankenwagen kommen, der Sie in das Irrenhaus zurückfährt.

A.: Sie verkennen den Ernst der Situation. Es geht um Entscheidungen, zu denen alle Bürger aufgerufen sind. Die Demokratie lebt davon, daß die Bürger Entscheidungen treffen, nach der einen oder der anderen Richtung. Allerdings gibt es Fragen, die so wichtig sind, daß im Interesse des großen Ganzen die Entscheidung auf die eine Seite fallen muß und nicht auf die andere.

B.: Wollen Sie damit sagen, es gibt Entscheidungen, bei denen von vornherein feststeht, welches die ›richtige‹ Entscheidung ist?

A.: Das klingt so unfreundlich-totalitär, aber ja, im Prinzip läuft es darauf hinaus.

B.: Dann können Sie mich mal gernhaben.

A.: Aha, Sie haben sich entschieden. Sie sind also dagegen, Sie sind ein Anti-Typ.

B.: Ich bin überhaupt niemandes Typ, weder Anti noch Pro, weder dafür noch dagegen. Dieses ganze Gerede über Entscheidungen wird wirklich sehr überschätzt.

A.: Das ist ausgeschlossen, das gibt es gar nicht, das kann es gar nicht geben, Sie müssen sich entscheiden.

B.: Und wenn ich mich ›falsch‹ entscheide?

A.: Prinzipiell gibt es keine falschen oder richtigen Entscheidungen, aber dennoch ist es für den Bestand der Demokratie wichtig und entscheidend, daß Sie für oder gegen eine Sache sind. Indifferenz gefährdet die Grundlagen unserer Demokratie.

B.: Dann sagen Sie mir um Gottes willen doch endlich, worum es geht! Nur auf der Basis dieser Information kann ich mich doch entscheiden.

A.: Es tut mir leid, aber ich bin nicht autorisiert, solche Informationen weiterzugeben.

B.: Wir drehen uns im Kreise.

A.: Das finde ich nicht, Sie verweigern sich und bekennen sich nicht dafür oder dagegen. Das macht Sie schon verdächtig.

B.: Ach so, daher weht der Wind. Sie sind ein Gesinnungsschnüffler!

A.: Ich verwahre mich auf das entschiedenste gegen diese unglaubliche Insinuation!

B.: Hören Sie doch endlich auf, hier herumzuschwafeln, Sie stehlen mir meine kostbare Zeit.

A.: Ich darf dann mal zu Protokoll geben, daß Sie sich dem demokratischen Meinungsbildungsprozeß entziehen. Das kann schlimme Folgen haben.

B.: Für mich?

A.: Nein, für unsere Demokratie. Wir brauchen jeden einzelnen mit seiner Meinung und bestehen darauf, daß er diese in der geeigneten Form dann auch öffentlich äußert.

B.: Sie meinen, wie damals, als die Jakobiner mit der ›Tugend‹ die ganze Gesellschaft terrorisiert haben? Wissen Sie was: Ich sage gar nichts mehr, ich habe schließlich Familie.

A.: Aber lieber Herr, Sie mißverstehen mich. Sie sind völlig frei in Ihrer Entscheidung. Es gibt allerdings Themen, bei denen ich Ihnen dringend raten muß, sich nicht zu weit herauszulehnen, wenn Sie verstehen, was ich meine, wo eine gewisse Homogenität der Meinungen durchaus demokratiezuträglich sein kann.

B.: Wem soll das nützen, wenn Sie damit sagen wollen, daß es Meinungen und Entscheidungen gibt, die gesellschaftlichen Konformismus erzeugen sollen und es im Grunde gleichgültig ist, welche Überzeugungen der einzelne überhaupt hat. Wenn zum Beispiel die Medien eine Atmosphäre schaffen, in der es niemandem mehr ermöglicht wird, eine eigene Meinung zu bilden, weil die Medien vorab entschieden haben, welche Meinung man zu haben hat.

A.: Ich habe zwei Meinungen über Sie, daß Sie damit falsch liegen. Meine und die von IHM (weist mit einem Zeigefinger nach oben). Im Übrigen: Wen kümmert das? Sind Sie denn so originell, daß Sie zu jedem Thema eine eigene Meinung haben? Ist es nicht viel schöner und nützlicher, wenn man dafür weiß, ob man gegen etwas ist oder dafür?

B.: Wissen Sie was, Sie gehen mir auf die Nerven, und das von Anfang an. Ich muß mich nicht um jedes Thema kümmern und die Demokratie kann mir gestohlen bleiben, wenn ihre Vertreter mich täglich dazu nötigen, eine Meinung haben zu sollen, wenn ich keine haben will.

A.: Das ist bedenklich, denn die Demokratie lebt vom Engagement der Bürger.

B.: Ach, wirklich? Und was kümmert das mich? Und wieso muß ich von Politikern mir Reden anhören, die mich dazu auffordern, gegen etwas oder für etwas zu sein, wenn ich mir am liebsten wünschen würde, daß sie die Klappe halten, weil das, was sie sagen, auch nicht von profundem Wissen und tiefer Einsicht geprägt ist. Schauen Sie sich doch diese Leute einmal an, diese Berufspolitiker! Natürlich müssen die ständig reden und ihre Anhänger anfeuern, sie wiederzuwählen, aber was sind das für Typen, ich frage Sie! Würden Sie denen einen Gebrauchtwagen abkaufen?

A.: Na, jetzt gehen sie aber doch ganz schön aus sich heraus. Wir kommen voran. Doch nun sagen Sie mir nur noch: Sind Sie dafür oder dagegen?

B.: Weder noch. Aber eins weiß ich ganz sicher: Sie sind eine lästige, aufdringliche Person und ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie nicht ein Roboter sind. Und damit ist diese ›Konversation‹ beendet. Whatever happened to small talk!

Ausverkauft!

Kuno Raeber, schweizerischer Waffenhändler, sitzt in seinem Office in Zürich und telefoniert mit einem Journalisten der Großen Frankfurter.

Kuno Raeber: Ja, freilich, wenn Sie das so sehen, ganz klar, ja, ja, sicher, aber ganz gewiß, das können Sie mir glauben, da wird sich nichts dran ändern, ja, Sie sind gut, wem sagen Sie das!

Große Frankfurter: Herr Raeber, in dem Konflikt im Nahen Osten bahnt sich ein langanhaltender Krieg an, den die Hamas mit ihren menschenverachtenden Angriffen gegen den Staat Israel eingeleitet hat. Wie sehen Sie die weitere Entwicklung?

Kuno Raeber: Was soll ich sagen? Sie schreiben in Ihrem heutigen Kommentar selbst: »Menschen leiden. Die Industrie profitiert.« Sowas würde ich natürlich niemals sagen und schon gar nicht in aller Öffentlichkeit, aber die Presse muß sich exponieren und so tun, als sei sie neutral. Aber lassen Sie mich das als Bürger der Schweiz einmal ganz klar formulieren: Es gibt keine Neutralität! Da machen sich auch unsere Landsleute etwas vor, das war doch schon während des Zweiten Weltkriegs so, da hat die Schweiz auch so getan, als ginge sie das ganze grauenhafte Geschehen nichts an. Und was lese ich dann in Ihrem heutigen Kommentar zu den Waffengeschäften auf der ganzen Welt? »Das Geschäft ist gräßlich, aber auf absehbare Zeit notwendig.« Da scheint mir ein weiterer Kommentar überflüssig, nicht wahr?

Große Frankfurter: Wie beurteilen Sie denn die aktuelle Lage aus der Sicht der waffenproduzierenden Industrie?

Kuno Raeber: Lassen Sie mich mal ein paar Facts aufzählen. Die Bundesrepublik Deutschland kaufte vor kurzem aus ihrem Sondervermögen das Raketenabwehrsystem ›Arrow 3‹ für fast 4 Milliarden Euro. Und von wem kaufte sie das? Von Israel. Das war bis dato der größte Rüstungsexport des Landes seit der Gründung des Staates Israel. Wo man früher Israel als Exporteur der palästinensischen Jaffa-Orange kannte, ist das Land heute einer der wichtigsten Waffenentwickler und -verkäufer der Welt. Laut dem ›Global Firepower Index‹ steht Israel auf Platz 18 der Rangliste, während das etwa zehnmal so große Deutschland auf Rang 25 abgestürzt ist. Mit den Worten Ihrer Zeitung: »Israel ist bis an die Zähne bewaffnet.«

Große Frankfurter: Aber dann sind doch die Angriffe der Hamas von vornherein zum Scheitern verurteilt, dann sind das doch die Taten von wahnsinnig gewordenen Verrückten, von Selbstmordattentätern.

Kuno Raeber: Das können Sie laut sagen, sicher, das sind kurzfristig denkende Verbrecher, die sich um den langfristig angerichteten Schaden an Menschenleben und Sachwerten keine Gedanken gemacht haben. Allerdings hat selbst Ihr Blatt in einem längeren Artikel zugegeben: »Israels Waffen befinden sich quasi im Dauertest.« Nun wird es interessant. Interessant für mich und meine Klienten. Denn man kann ja nicht der Stiftung Warentest diese teuren Panzer und Kampfflugzeuge überlassen, um unter künstlichen Testbedingungen diese einem Härtetest zu unterwerfen, nicht wahr? Sicher, bei der weltberühmten Uzi-Maschinenpistole, die von ›Israel Military Industries‹ hergestellt wird, könnte man mal eine Ausnahme machen und einige Exemplare der Stiftung Warentest überlassen, damit die Tester dann voll durchziehen können und sich von der Leistungskraft der MP zu überzeugen. Aber dieser anderen Test-Institution mit ihrer attachierten Zeitschrift ›Öko-Test‹ möchte man diese schöne Waffe nicht in die Hand drücken, denn diese Leute sind ja berufsmäßig geradezu versessen darauf, nachzuweisen, daß ein Produkt ›nicht naturgemäß‹ und ›umweltschädlich‹ sein soll. Die Qualität von Waffen läßt sich aber immer noch am besten unter realen Bedingungen testen.

Große Frankfurter: Wie beurteilen Sie denn die Lage auf dem Nachschubsektor? Ist für ausreichende Munition gesorgt?

Kuno Raeber: Da fragen Sie mich was! Und ich kann Ihre Frage mit einem Wort beantworten: Ausverkauft! So sieht es aus. Nach den Terrorangriffen auf Israel hat dessen Regierung die Bundesrepublik Deutschland um Munition für ihre Kriegsschiffe gebeten. Lieferanten wie beispielsweise Rheinmetall haben wegen des Krieges in der Ukraine dem deutschen Minister dann sagen müssen, daß sie damit leider nicht dienen können, denn die Nachfrage aus der Ukraine war dermaßen stark, daß man die Anfrage nur mit einem Wort beantworten konnte: Ausverkauft!

Große Frankfurter: Das ist ja eine bedauerliche und zugleich beunruhigende Feststellung. Sehen Sie irgendwelche Lichtblicke angesichts dieser desolaten Situation?

Kuno Raeber: Es gibt sie, es gibt sie, aber Sie werden als Anwalt der demokratischen Öffentlichkeit mit meiner Antwort nicht zufrieden sein. Als die Hamas angriff, stieg der Kurs der Rheinmetall-Aktie. Also für die Aktionäre von Rheinmetall war das sicher ein Grund zum Feiern. Schließlich triumphiert im entscheidenden Fall doch stets der individuelle Egoismus über die Sorge für das Allgemeinwohl. Wir alle können von dem Philosophen Bernard Mandeville eine Grundweisheit lernen, die er in seinem Buch ›Die Bienenfabel oder Private Laster, öffentliche Vorteile‹ ausgebreitet hat.  Niemand anders als Karl Marx, den ich immer wieder gern in meiner Freizeit lese, hat die paradoxe These Mandevilles auf den Punkt gebracht. Ich trage das längere Zitat immer bei mir, es ist mein persönliches Credo geworden: Ein Verbrecher produziert Verbrechen. Betrachtet man näher den Zusammenhang dieses letztren Produktionszweiges mit dem Ganzen der Gesellschaft, so wird man von vielen Vorurteilen zurückkommen. Der Verbrecher produziert nicht nur Verbrechen, sondern auch das Kriminalrecht und damit auch den Professor, der Vorlesungen über das Kriminalrecht hält, und zudem das unvermeidliche Kompendium, worin dieser selbe Professor seine Vorträge als ›Ware‹ auf den allgemeinen Markt wirft. Damit tritt Vermehrung des Nationalreichtums ein. Der Verbrecher produziert ferner die ganze Politik und Kriminaljustiz, Schergen, Richter, Henker, Geschworene usw.; und alle diese verschiednen Gewerbszweige, die ebenso viele Kategorien der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit bilden, entwickeln verschiedne Fähigkeiten des menschlichen Geistes, schaffen neue Bedürfnisse und neue Weisen ihrer Befriedigung. Die Tortur allein hat zu den sinnreichsten mechanischen Erfindungen Anlaß gegeben und in der Produktion ihrer Werkzeuge eine Masse ehrsamer Handwerksleute beschäftigt. Der Verbrecher unterbricht die Monotonie und Alltagssicherheit des bürgerlichen Lebens. Er bewahrt es damit vor Stagnation und ruft jene unruhige Spannung und Beweglichkeit hervor, ohne die selbst der Stachel der Konkurrenz abstumpfen würde. Er gibt so den produktiven Kräften einen Sporn. Wären Schlösser je zu ihrer jetzigen Vollkommenheit gediehn, wenn es keine Diebe gäbe? Wäre die Fabrikation von Banknoten zu ihrer gegenwärtigen Vollendung gediehn, gäbe es keine Falschmünzer? Das Verbrechen, durch die stets neuen Mittel des Angriffs auf das Eigentum, ruft stets neue Verteidigungsmittel ins Leben und wirkt damit ganz so produktiv wie strikes auf Erfindung von Maschinen. Ohne nationale Verbrechen, wäre je der Weltmarkt entstanden? Ja, auch nur Nationen? Mandeville in seiner ›Fable of Bees‹ (1705) hatte schon die Produktivität aller möglichen Berufsweisen usw. bewiesen und überhaupt die Tendenz dieses ganzen Arguments. Nur war Mandeville natürlich unendlich kühner und ehrlicher als die philisterhaften Apologeten der bürgerlichen Gesellschaft.

Neue Gespräche im Elysium VII

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 v.u.Z – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.

Georg Christoph Lichtenberg meets Gina Lollobrigida

There’s nothing left to talk about less it’s horizontally. / We know each other mentally. / You’ve gotta know that you’re bringing out the animal in me. / Let’s get physical, physical – / I wanna get physical / let’s get physical / Let me hear your body talk. (Olivia Newton-John: Let’s Get Physical, 1981)

Georg Christoph Lichtenberg: Ja, wer sind Sie denn? Sie sind nicht Marilyn Monroe! Wie soll ich denn meine Gedanken zur »Elektrizität der Mädchen« elaborieren, wenn der Puppenspieler mir jemand anders geschickt hat?

Gina Lollobrigida: Cazzone! Pazzo! Stupido! Der ›Puppenspieler‹ hat mich nicht ›geschickt‹, ich bin doch keine prostituta! Ich bin ›La Lollo‹!

Georg Christoph Lichtenberg: Oh, Verzeihung! Ich hatte mich ganz auf Marilyn Monroe eingestellt, wissen Sie, diese Blonde aus den USA. Sie war eine große Filmschauspielerin.

Gina Lollobrigida: Ha! Das bin ich auch, aber eine wirkliche Schauspielerin, nicht so ein amerikanischer Schnepfenverschnitt. Busen ist nicht alles, obwohl davon bei mir ausreichend vorhanden ist.

Georg Christoph Lichtenberg: Das ist unverkennbar. Sehr hübsch. Bitte helfen Sie mir und sagen Sie mir ihren wirklichen Namen, denn ›La Lollo‹ ist doch sicher nur ein Kosename.

Gina Lollobrigida: Ich bin Gina Lollobrigida, italienische Filmschauspielerin, Fotografin und Bildhauerin. Geboren 1927, gestorben 2023.

Georg Christoph Lichtenberg: Ein Neuzugang, das erklärt manches. Ist nicht ein Kopfsalat nach Ihnen benannt: Lollo rosso?

Gina Lollobrigida: Jaja, und Lollo bianco. Es gibt auch eine Rose, die meinen Namen trägt, aber das sind Nebensächlichkeiten. Ich habe mein Leben der Filmkunst gewidmet. John Huston hat mit mir gedreht.

Georg Christoph Lichtenberg: Oh, den kenne ich, der hat mit Marilyn Monroe einen großartigen Film, ›Misfits‹, gemacht, der spielt in der amerikanischen Wüste.

Gina Lollobrigida: Hören Sie doch endlich auf, immer von dieser Schlampe zu reden.

Georg Christoph Lichtenberg: Ich mag sie sehr, und sie ist so früh gestorben, mit sechsunddreißig Jahren, während Sie doch immerhin fünfundneunzig Jahre alt geworden sind. Ich hatte ein junges Blumenmädchen von zwölf Jahren als meine Geliebte, mit siebzehn Jahren ist sie mir gestorben. Eine Welt ging für mich unter. Ich wollte nicht mehr weiterleben. Sie hat mich mit dem ganzen Menschengeschlecht ausgesöhnt. Aber lassen wir das. Ich hatte vor, über die »Elektrizität der Mädchen« zu sprechen.

Gina Lollobrigida: Sind Sie nicht ein bißchen zu klein für sowas?

Georg Christoph Lichtenberg: Oh, ja, ich bin klein von Größe, aber durchaus erwachsen. Mein Name ist Georg Christoph Lichtenberg. Ich war Experimentalphysiker, müssen Sie wissen.

Gina Lollobrigida: Und da haben Sie an Mädchenkörpern experimentiert?

Georg Christoph Lichtenberg: Weniger als Sie anzunehmen scheinen. Nein, ich habe zum Beispiel die Wolken beobachtet … mmhh, ja, doch, wenn Sie es so sehen wollen, Wolken geben Elektrizität ab und sie sehen bei guter Formung aus wie …

Gina Lollobrigida: Titten?

Georg Christoph Lichtenberg: Aber ja, Wolken können wie zarte Wölbungen des weiblichen Körpers aussehen. Friedrich Schiller nannte sie »Halbkugeln einer besseren Welt«. Aber der Arme hatte auch nicht viel von ihnen, so früh ist er uns gestorben.

Gina Lollobrigida: Nun erzählen Sie mir aber mal etwas mehr von sich, ich kann dabei dann gleich ein paar Fotos von Ihnen machen. (Holt aus ihrer Handtasche eine Spiegelreflexkamera heraus und richtet sie auf Lichtenberg).

Georg Christoph Lichtenberg: Was für ein schöner Apparat, sowas hatten wir damals noch nicht. Ich habe aber versucht, verschiedene mechanische Apparate zu konstruieren. Darf ich das Ding einmal in die Hand nehmen? (Gina reicht Georg den Fotoapparat, der sich blitzschnell mit dem Gerät vertraut macht.) Ich bin dann soweit, stellen Sie sich mal in Positur. (Gina steht auf und stellt sich gerade hin.) So, Baby, dann zeig’ mir mal, was du draufhast. (Der bucklige, zwergwüchsige Lichtenberg hopst herum, geht in die Knie, springt wieder auf und fuchtelt wie wild mit der Kamera) Gib’s mir, Baby! Zeig mir alles! Schieb’ deine Titten zusammen, schwing’ deine Hüften, yeah!

Gina Lollobrigida: Sind Sie nicht mehr ganz bei Trost? Ich bin doch kein zwanzigjähriges Modeflittchen, das dem Fotografen zuliebe zu allem bereit ist. Machen Sie eine schöne Porträtaufnahme von mir.

Georg Christoph Lichtenberg: Oh, Verzeihung! Ich habe in einer Modezeitschrift einmal eine Reportage über ein Fotoshooting gelesen, und da wurden solche Sätze als kennzeichnend für den Jargon am Set zitiert. Die Mannequins haben nichts dagegen gehabt und der Fotograf hat immer wieder gesagt: »mannefick, mannefick«.

Gina Lollobrigida: Magnifique, es heißt magnifique, auf Deutsch: herrlich. Französisch beherrschen Sie wohl nicht?

Georg Christoph Lichtenberg: Ein bißchen schon, aber ein bißchen Spaß mit Worten muß auch sein, finden Sie nicht?

Gina Lollobrigida: Was haben Sie außer Experimentalphysik noch mit Ihrem Leben angefangen?

Georg Christoph Lichtenberg: Ach, die meiste Zeit habe ich in Göttingen verbracht, das war ein Nest mit größtenteils geistig beschränkten Einwohnern. Und diese heimischen Professoren! Die größten Entdeckungen sind seit jeher von Dilettanten und nicht von Professoren gemacht worden. Dafür habe ich aber einen umfangreichen intellektuellen Briefwechsel mit Kollegen aus dem Ausland geführt. Ich bin auch zweimal nach London gereist und habe den englischen König kennengelernt. England war damals meine selige Insel, mein Elysium. Wie gerne wäre ich jedoch nach Italien, dieses göttliche Land gereist, aber mein Freund, mit dem ich schon alles geplant hatte, erkrankte plötzlich und ich fand dann niemanden, der mich begleiten wollte. Und allein wollte ich nicht nach Italien fahren, und so ist dieser große Lebenstraum für mich dann unerfüllt geblieben.

Gina Lollobrigida: Ich habe mein ganzes Leben in Rom verbracht.

Georg Christoph Lichtenberg: Ja, richtig, Sie sind ja Italienerin! Wie ich Sie beneide.

Gina Lollobrigida: Römerin! Wenn es Ihnen nichts ausmacht, diesen Unterschied zu würdigen.

Georg Christoph Lichtenberg: Ganz und gar nicht. Rom! Die Hauptstadt der Welt. Sind Sie eigentlich verheiratet gewesen?

Gina Lollobrigida: Oh ja, von 1949 bis 1971 war ich mit einem Arzt verheiratet, der auch mein Manager war. Aus der Ehe ging ein Sohn hervor, der mich einige Jahre vor meinem Tod hat entmündigen lassen.

Georg Christoph Lichtenberg: Das tut mir leid. Mit mir ging es so im Leben weiter, daß ich nach dem frühen Tod von Maria Dorothea Stechard geheiratet habe, Margarethe Elisabeth Kellner, die mir sechs Kinder schenkte und mich um fast fünfzig Jahre überlebte. Ich hatte aber zusätzlich noch eine kleine Geliebte, Dolly, ein wilder satanischer Bettschatz, eine kleine Teufelin, und ich habe mit meiner Diavolessa noch zehn Tage vor meinem Ableben heftig kopuliert.

Gina Lollobrigida: Das war mir etwas zu sehr ins Detail gehend, aber da Sie ein Wüstling sind, muß man das wohl tolerieren. Aber gut, noch irgendetwas Bemerkenswertes aus ihrem Leben?

Georg Christoph Lichtenberg: Meine Forschungen zur Experimentalphysik sind heute natürlich alle überholt, der wissenschaftliche Fortschritt geht über alles hinweg und das muß er auch. Was dieses Jahrhundert nicht versteht, versteht das nächste. Aber meine sogenannten ›Sudelbücher‹ haben mir bleibenden Ruhm eingetragen und das war von mir gar nicht geplant. In meiner Epoche bemerkte man den Zusammenhang zwischen einem Gewitter und der Elektrizität, und die Kraft, die im geriebenen Bernstein zieht, ist dieselbe, die in den Wolken donnert. In unserem 18. Jahrhundert hat es viel geblitzt und gedonnert. Einmal wurde eine sehr schöne Frau draußen vom Blitz umgeworfen und einige wollte daraus schließen, der Blitz habe Absichten gehabt und sei deswegen von unten gekommen, weil die Weiber nur allein von unten einnähmen. Sexus Electricitatum. Der Blitzableiter müßte bei Damen zwischen ihren Schenkeln angebracht werden. Und der Pöbel hat gewiß nicht so unrecht, wenn er sich hauptsächlich an den Körper hält. Der Bauernknecht schielt nach dem Unterrock-Schlitz und sucht den Himmel dort, den andere in den Augen suchen. Den Ausdruck ›Elektrizität der Mädchen‹ habe ich in einem Brief gebraucht, als ich über meinen lieben Kollegen aus Italien, Alessandro Volta, ein Kompliment machen wollte. Er war ein schöner Kerl und verstand sich auf die Elektrizität der Mädchen. Ja, er war ein rechtes Reibezeug für die Damen.

Gina Lollobrigida: Nun gut, manche Männer bilden sich ein, ihr cazzo sei ein Wunderwerkzeug, aber ich kann Ihnen sagen, daß Größe nicht alles ist.

Georg Christoph Lichtenberg: Die wichtigsten Dinge in der Welt werden durch Röhren ausgerichtet. Dennoch besteht der Mensch doch noch aus etwas mehr als Testikeln. Das gebe ich Ihnen gerne zu. Ist die Macht der Liebe unwiderstehlich, oder kann der Reiz einer Person so stark auf uns wirken, daß wir dadurch unvermeidlich in einen elenden Zustand geraten müssen? Allein ein Mädchen sollte imstande sein, mit ihren Reizen einem Manne seine Ruhe zu rauben, daß kein anderes Vergnügen mehr Geschmack für ihn hätte. Viele Männer halten das weibliche Geschlecht für so schwach, eitel, leichtgläubig und eingebildet, daß sie alles glauben, was man ihnen sagt, sobald es die Macht ihrer Reize angeht. Diese Männer, wenn man sie anders so nennen kann, irren sich aber gar sehr. Nicht wahr, Madam? Was ich mit der Elektrizität der Mädchen bezeichnen will, das ist die Ausstrahlungskraft gewisser junger Mädchen, die mich immer schon fasziniert hat. Das kann ganz auffällig sein oder eher dezent. Alfred Hitchcock hat ja gemeint, Marilyn Monroe sei der Sexappeal ins Gesicht geschrieben, wäre also sehr aufdringlich und deshalb könne er solche Schauspielerinnen in seinen Filmen nicht gebrauchen. Das finde ich aber gerade im Fall von Marilyn Monroe ganz und gar nicht. Vielleicht hat sie nur vorgegeben, sexuell zu sein, und wer weiß, vielleicht ist das viel aufregender als der Sex selbst? So argumentiert jedenfalls Norman Mailer und er hat sie einen »charismatischen Kometen« genannt und das trifft es sehr gut. Auf einer Seefahrt nach Helgoland habe ich etwas Ähnliches erlebt. Es war das Leuchten des Seewassers. Es waren nicht etwa einzelne Funken oder schnell vorübergehende schwache Blitze, sondern der Schaum der Wellen schien völlig zu glühen. Dieses Elektrisierende erschien bei Marilyn Monroe ganz natürlich, auch wenn sie gewiß wußte, wie man mit Make-up den Gesichtsausdruck verändern kann. Und sie konnte anziehen, was sie wollte, ein Kleid ganz aus Spitze mit fleischfarbenem Crêpe de Chine unterlegt und mit Tausenden von Pailletten bestickt oder einen schlichten einteiligen Badeanzug, es sah immer gut an ihr aus und unterstrich ihren natürlichen Charme. Die unterhaltendste Fläche auf der Erde ist für uns vom menschlichen Gesicht und mit Marilyn wurde man stets gut unterhalten, sie konnte strahlen und traurig daherschauen, es wirkte nie stilisiert, es kam immer von innen aus ihr selbst heraus. Sie war im wirklichen Leben unscheinbar, aber auf der Filmleinwand kommt sie groß heraus. Es ist überwältigend. Sie war absolut fotogen, es gibt kein einziges schlechtes Foto von ihr. Das ist die Elektrizität der Mädchen, dieses Mädchens. Und hinter dieser schönen Fassade litt sie unsäglich an wiederkehrenden Depressionen, das arme Ding. Ich bin ja selbst auch nicht von trübsinnigen Stimmungen verschont geblieben. Unser Leben kann man mit einem Wintertag vergleichen, wir werden zwischen 12 und 1 des Nachts geboren, es wird 8 Uhr, ehe es Tag wird, und vor 4 des Nachmittags wird es wieder dunkel, und um 12 sterben wir.

Gina Lollobrigida: Wir Schauspieler müssen Rollen spielen, die mit unserem Leben häufig nicht übereinstimmen. In Hollywood hat man die Monroe als sexuelles Monstrum, als Witzfigur und Hüftenschwenkerin verheizt, als die Schnalle, die den Männern Sex ins Gesicht schüttet. Übrigens hat Humphrey Bogart über mich gesagt, daß ich Marilyn Monroe wie Shirley Temple aussehen lasse. 1955 habe ich einen Film gedreht, der hieß ›La donna più bella del mondo‹, und Sie können sich ausmalen, wie dieser Titel in der Öffentlichkeit aufgenommen wurde. Ich wurde zur ›Sexbombe‹ deklariert. So habe ich Hollywood dann bald hinter mir gelassen und bin nur noch in europäischen Filmproduktionen aufgetreten.

Georg Christoph Lichtenberg: Sie sind wirklich eine schöne Frau und haben sich dann lange nach dem Ende Ihrer Filmkarriere weiterentwickelt. Sie sind Fotografin und Bildhauerin geworden und haben Berühmtheiten der Welt interviewt.

Gina Lollobrigida: Sie meinen das Interview mit Fidel Castro. Ja, das war ein lustiger Aufenthalt auf Cuba. Aber das ist alles schon so viele Jahre her und sehen Sie uns an, wir unterhalten uns hier im Elysium und tun so, als seien wir noch am Leben. Doch wissen Sie was, hören wir auf, in der Vergangenheit herumzustochern, lassen Sie uns in einem Lokal ausruhen von den Strapazen der Erinnerung. Ich kenne ein nettes Weinlokal, ›Zum fröhlichen Weinberg‹, das ein hier ansässiger deutscher Schriftsteller bald nach seiner Ankunft eröffnet hat.

Georg Christoph Lichtenberg: Da ist mir in London doch folgendes passiert: Da bin ich auf der Straße und ein schönes, niedlich angekleidetes Mädchen nimmt mich bei der Hand und sagt zu mir: Come, my Lord, come along, let us drink a glass together, or I’ll go with you if you please.

Gina Lollobrigida: Sie alter Schwerenöter! Wir wollen es bei einem Glas Frascati belassen.

Georg Christoph Lichtenberg: Als Alessandro Volta bei mir zu Gast in Göttingen war, fragte ich ihn, ob er das leichteste Verfahren kenne, ein Glas ohne Luftpumpe luftleer zu machen. Als er sagte, Nein, so nahm ich ein Weinglas, das voll Luft war wie alle leeren Weingläser und goß es voll Wein. Er gestand nun ein, daß es luftleer sei, und dann zeigte ich ihm das beste Verfahren, die Luft ohne Gewalt wieder zuzulassen, und trank es aus. Der Versuch mißlingt selten, wenn er gut angestellt wird. Er freute ihn nicht wenig, und er wurde von uns allen mehrmals angestellt.

Gina Lollobrigida: Andiamo, caro Giorgio! La notte è giovane.