Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog

Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.

Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«

Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.

Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.

Neue Gespräche im Elysium V

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 v.u.Z – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.

Kurt Felix meets Walter Ulbricht

Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten. (Walter Ulbricht, 15. Juni 1961)

Walter Ulbricht: Niemand hat die Absicht …

Kurt Felix: Stop! Halt! Nicht weitersprechen! So geht’s aber nicht. Alles zurück! Sie können hier nicht Ihre uralten Sprüche aufwärmen. Das soll hier eine richtige Unterhaltung werden.

Walter Ulbricht: Die Bauarbeiter unserer Hauptstadt beschäftigen sich hauptsächlich mit Wohnungsbau, und ihre Arbeitskraft wird dafür voll eingesetzt. Niemand hat die Absicht …

Kurt Felix: Halt! Aufhören! Himmel, Arsch und Zwirn, hüt glingt mer au gar nüt! Verehrter Herr Ulbricht, bitte sprechen Sie mich doch direkt an und vergessen Sie für einen Moment Ihre historischen Augenblicke.

Walter Ulbricht: Wenn ich durch die Straßen gehe und etwas Neues, Schönes sehe, weis‘ ich stolz darauf: Das hat mein Freund getan! Mein Freund, der Plan!

Kurt Felix: Du liebe Zeit! Sitzt mir hier eine vorprogrammierte Sprechmaschine gegenüber oder handelt es sich wirklich um den ehemaligen Staatsratsvorsitzenden?

Walter Ulbricht: Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben, ja?

Kurt Felix: Lieber Herr Ulbricht, bitte versuchen Sie sich zu konzentrieren. Sie sind hier im Elysium, Sie brauchen Ihre früheren Funktionen im Leben hier nicht mehr zu aktivieren und können sich ganz entspannt mit mir unterhalten, über alles Mögliche. Haben Sie nicht irgendein Hobby gehabt? Das wäre ein schöner Gesprächseinstieg.

Walter Ulbricht: Wer sind Sie? Ich kenne Sie nicht. (Wendet sich um und sucht vergebens nach Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes, die ihm eine Geheimakte zustecken könnten. Zuckt mit den Achseln.) Je nun, wenn ich Sie bitten darf, sich vorzustellen.

Kurt Felix: Ich bin ein ehemaliger Schweizer Fernsehmoderator, ich heiße Kurt Felix, bin 1941 geboren und 2012 gestorben. Mit der zwischen 1980 und 1990 ausgestrahlten Sendung ›Verstehen Sie Spaß?‹ hatte ich meinen größten Erfolg. Das war eine Unterhaltungssendung, bei der berühmten und unbekannten Personen mit einer versteckten Kamera kleine Streiche gespielt wurden. Die Anregung für diese Sendung erhielt ich aus Amerika, wo seit 1947 die Sendung ›Candid Camera‹ lief. Man brachte die ›Opfer‹ in unerwartete Situationen und der Spaß bestand darin, zu beobachten, wie die darin hineinverwickelten Personen darauf reagiert haben. Sie waren nach der Aufdeckung der gestellten Szene dann wohl oder übel gezwungen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

Walter Ulbricht: Ja, das erinnert mich an den 8. Februar 1950, als bei uns in der Deutschen Demokratischen Republik das Ministerium für Staatssicherheit gegründet wurde. Es folgte dann gleich der Aufbau eines flächendeckenden Überwachungsapparates. Wir hatten hauptamtliche Mitarbeiter, aber auch inoffizielle Mitarbeiter. Diese lasen die Post der verdächtigen Personen, hörten ihre Telefone ab und verschafften sich auch bei Bedarf Zutritt zu den Wohnungen der Beobachtungsobjekte, ja?

Kurt Felix: Ich hatte Sie nach einem Hobby gefragt. Die Aushorchung der gesamten Bevölkerung der DDR gehört nicht dazu oder wollen Sie damit sagen, daß das Ihre schönste Freizeitbeschäftigung war, das heimliche Bespitzeln Ihrer Untertanen?

Walter Ulbricht: Jedermann an jedem Ort jede Woche einmal Sport. Diesen Satz habe ich erfunden und in der DDR propagiert. Ich war ein leidenschaftlicher Turner. Gleich nach dem Aufstehen habe ich für zehn Minuten Gymnastik getrieben. Meine spätere zweite Ehefrau Lotte habe ich beim Schlittschuhlaufen kennengelernt. Wir waren ein gutes Gespann. Wir haben ausgedehnte Spaziergänge und Wanderungen unternommen. Ich bin geschwommen, habe gerudert, Tennis gespielt, bin Ski gefahren. Ich war der Vorturner der DDR, ja?

Kurt Felix: Interessant, wir kommen dem Privatmann Walter Ulbricht doch schon etwas näher. Ich habe gelesen, daß Sie trotz dieser vielen sportlichen Betätigungen dennoch ständig eine Art von Leibarzt dabeihatten.

Walter Ulbricht: Je nun, man muß immer auf der Wacht sein, auch wenn man auf sich selbst aufpaßt. Als führende Person des Staates war es meine Pflicht, einem Ausfall meiner Person vorzubeugen. Das war im Prinzip nichts anderes als die durch die Staatssicherheit durchgeführten Kontrollmaßnahmen gegenüber unserem Volk. Dowerjai, no prowerjai. Vertraue, aber prüfe nach, wie der Genosse Lenin einmal gesagt hat.

Kurt Felix: Als Sie am 1. August 1973 gestorben sind, standen schon lange vor Beginn des offiziellen Staatsaktes kilometerlange Schlangen vor dem Gebäude des Staatsrates. Nach den Berichten über diesen Tag, waren das keineswegs nur abkommandierte Parteimitglieder der SED, sondern erstaunlich viele Bürger der DDR, die Ihnen die letzte Ehre erweisen wollten. Dann wurden Sie also geliebt von Ihrem Volk?

Walter Ulbricht: Ich war nicht beliebt und schon gar nicht geliebt, weil ich mit meiner verschlossenen Art und meinen bescheidenen rhetorischen Möglichkeiten die Massen eigentlich nicht erreicht habe. Aber das hat mich auch nicht gekümmert und die ideologischen Maßnahmen, die meine Partei unternommen hat, mich persönlich aufzuwerten, waren unverzichtbare Maßnahmen zur Etablierung einer Gefolgschaft. Ich bin 1 Meter 65 groß und habe durch ein frühes Kehlkopfleiden eine Fistelstimme bekommen, die durch meinen sächsischen Tonfall noch in ihrer Wirkung verstärkt wurde, ja? Zu runden Geburtstagen wurde ein Personenkult mit mir getrieben, dem ich zugestimmt habe, denn man weiß ja, daß die Massen der Führer bedürfen und daß es besonders wichtig ist, daß diese Massen ihre Führer verehren und lieben, ja? Der Genosse Honecker hat das 1961 in der Formel zusammengefaßt: »Ulbricht wird siegen. Und Ulbricht, das sind wir alle.«

Kurt Felix: In einer der zahlreichen Biographien, die über Sie geschrieben wurden, heißt es: »Er war kalt, abweisend, unbeliebt, verbissen, heimtückisch, selbstherrlich, linkisch, unbeholfen, verkrampft, angestrengt, skrupellos, nachtragend, herrisch und diktatorisch.« Das ist nicht gerade ein netter Nachruf.

Walter Ulbricht: Feindpropaganda muß so sein, nur wenn man den Feind diffamiert und dies immer wieder macht, wirkt es auf das Bewußtsein der Massen. Die wollen sich nicht mit Theorien aus der Arbeiterbewegung beschäftigen, die haben täglich ihre kleinen Sorgen und ihre kleinen Familien, das füllt sie vollkommen aus. Deshalb ist Feindpropaganda so wichtig und deshalb haben die Medien in der BRD auch ständig mich zu diskreditieren versucht und mir diese Eigenschaften zugeschrieben, die Sie eben aufgezählt haben.

Kurt Felix: Als gute Eigenschaften werden ihnen rasche Auffassungsgabe, enormer Fleiß, Neugier und ein hervorragendes Gedächtnis attestiert. Das fabelhafte Personengedächtnis soll ihnen allerdings auch dazu gedient haben, Rache zu nehmen an den Personen, die Ihnen einmal dumm gekommen waren. Die haben Sie dann, wenn die Gelegenheit sich ergab, bestraft. Es wird Ihnen ein untrüglicher Machtinstinkt nachgesagt, der alle äußerlichen Mängel und ihr bei öffentlichen Auftritten eher unbeholfenes Agieren kompensierte.

Walter Ulbricht: Ich habe alle meine Talente stets in den Dienst des Sozialismus gestellt. Als ich versuchte, die DDR zu einem besseren Staat zu machen als es die Sowjetunion jemals gewesen ist, da fiel mir die russische Partei- und Staatsführung in den Rücken und der ständig intrigierende Genosse Erich Honecker hat mich dann mithilfe der russischen Brüder gestürzt.

Kurt Felix: Das muß Sie geschmerzt haben, denn wenn ich es richtig sehe, haben Sie in Ihrem Leben immer nur die aktive Politik als Ihren Lebenssinn empfunden. Auf einmal standen Sie vor dem Nichts.

Walter Ulbricht: Man muß das dialektisch sehen. Das war die List der Geschichte und die List der Gewalt. Dieser Listen habe ich mich bedient, aber es kommt der Zeitpunkt im Leben, wo diese List sich gegen einen wendet. Das muß man akzeptieren, weil es ein objektiver Faktor ist und dennoch ist es natürlich persönlich ein schwerer Schlag ins Kontor, ja?

Kurt Felix: Ich weiß noch, wie ich an Krebs erkrankt bin und alle meine Fernsehaktivitäten aufgeben mußte, um wieder gesund zu werden. Und dann half alles nichts und ich bin dann doch bald an Krebs gestorben.

Walter Ulbricht: Haben Sie denn vor Gericht eine Verurteilung erreichen können gegen die Personen, die Sie mit versteckter Kamera aufgenommen haben?

Kurt Felix: Du liebe Güte! Nein, natürlich nicht, es ging doch gar nicht darum, den heimlich Gefilmten eine Straftat nachweisen zu wollen. Das war doch bloß ein harmloser Spaß. Das war pure Unterhaltung.

Walter Ulbricht: Das verstehe ich nicht. Wie können Sie Ihre kostbare Zeit damit verschwenden, irgendwelche Personen zu filmen, wenn Sie das nicht mit einem Auftrag tun, dessen Ziel es ist, den Personen etwas nachzuweisen, ja?

Kurt Felix: Sie müssen Sich von dieser Verfolgermentalität verabschieden. Es gibt im Leben Dinge, die man ganz zwecklos tut, oder wenigstens nur mit dem bescheidenen Zweck, die Menschen an den Fernsehgeräten gut zu unterhalten, auch wenn man dabei an die Schadenfreude der Zuschauer appelliert.

Walter Ulbricht: Niemand hat die Absicht …

Kurt Felix: Fangen Sie schon wieder damit an?

Walter Ulbricht: Niemand hat die Absicht, aus Spaßvergnügen fremde Personen zu beobachten. Damit ist immer eine Absicht, ein gesellschaftlicher Auftrag verbunden. Und dieser dient der Sicherheit des Staates.

Kurt Felix: Ja, eine Erkenntnis haben Sie mir heute vermittelt: Die Menschen ändern sich nicht, selbst nach ihrem Tod.

Somewhere over the Rainbow way up high

(Aus dem Hintergrund hört man ein Rumoren aus einem der Krankenzimmer der Notfallklinik. Eine Stimme schreit sehr laut.)

»Vitalität, Zuversicht, Freiheit. Substanz, Kompetenz, Sicherheit!«
»Vitalität, Zuversicht, Freiheit. Substanz, Kompetenz, Sicherheit!«
»Vitalität, Zuversicht, Freiheit. Substanz, Kompetenz, Sicherheit!«

1. Pfleger: Nun hör dir das an! Den ganzen Tag geht das nun schon so! Ich kann’s nicht mehr hören. Können wir dem Kerl nicht eine Beruhigungsspritze geben? Oder ihm wenigstens den Mund zukleben?

2. Pfleger: Jaja, ich weiß, es ist furchtbar, was man auf dieser Station manchmal aushalten muß. Aber dieser CDU-Generalsekretär ist doch erst seit gestern hier und in solchen Fällen muß man die langfristige Wirkung der Psychopharmaka abwarten. Das geht nicht ruckzuck, das muß langsam einsinken.

1. Pfleger: Was will dieser Kerl damit eigentlich sagen? Ganz verrückt scheint er mir nicht zu sein, immerhin ist er doch Generalsekretär einer der staatstragenden Parteien geworden. Man stellt doch keinen Irren für eine solche Tätigkeit ein.

2. Pfleger: Ach du liebes Bißchen, du bist aber naiv. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wen ich hier schon auf der Station hatte, und alles scheinbar normale Leute, die ihre Doktortitel und Auszeichnungen hatten. Für manche Berufe ist es sogar zwingend vorgeschrieben, daß man einen Schuß weg hat. Diese Leute vom Marketing haben auch ein Fremdwort dafür. Sie nennen es Kreativität.

1. Pfleger: Kreativität? Ich weiß ja nicht. Der Mann ist doch hierhergekommen, weil er auf einer Pressekonferenz immer wieder gerufen hat: »Vitalität, Zuversicht, Freiheit. Substanz, Kompetenz, Sicherheit!« Was ist daran kreativ? Das kommt mir eher zwanghaft vor, so wie ein Geistesgestörter, der in seinem Bett, wo man ihn festgebunden hat, damit er sich nicht selbst beschädigt, ununterbrochen sein Mantra herausschreit.

2. Pfleger: Paß bloß auf, daß du dir nicht eine Strafanzeige einhandelst! Die von dir zitierten Worte sind Beschreibungen für die neuen Farben der Partei. Damit spaßt man nicht. »Cadenabbia-Blau« und »Rhöndorf-Blau« heißen die neuen Farben der CDU, mit denen sie ihr öffentliches Image aufbessern will.

1. Pfleger: Mit Farben? Im Ernst? Ja, sind wir denn in der Kita? Malen wir uns ein Märchenschloß? Sind wir im Kindergarten?

2. Pfleger: Ich würde vorsichtig mit solchen Behauptungen sein. Für die CDU und ihren Generalsekretär ist das eine ganz ernste Angelegenheit. Die Partei ist jetzt fünfundsiebzig Jahre alt. Da braucht man schon einmal einen neuen Anstrich. Das »Cadenabbia-Blau« geht übrigens auf Konrad Adenauer zurück, der in Cadenabbia am Comer See gern die Sommerferien verbracht und dort das Boccia-Spiel gelernt hat. Es steht da auch ein Bronze-Denkmal von Adenauer, der in der rechten Hand eine Boccia-Kugel hält, aber es sieht eher so aus, als wolle er sich einen runterholen.

1. Pfleger: Und du gibst mir gute Ratschläge, wie man sich nicht eine politisch motivierte Strafanzeige einhandelt!

2. Pfleger: Das ist doch ganz nebensächlich, wichtig ist nur, daß die CDU auf »Cadenabbia-Blau« setzt, was mehr wie ein helleres Türkis aussieht. Und dieser Farbe werden vom CDU-Generalsekretär folgende Eigenschaften zugeschrieben: Vitalität, Zuversicht, Freiheit. Das ist aber nicht alles. Es gibt noch eine zweite Farbe, es ist ein tiefes Dunkelblau. Die nennen sie: »Rhöndorf-Blau«. Das ist ein Stadtteil von Bad Honnef und in Rhöndorf wohnte der spätere erste deutsche Bundeskanzler seit 1935. »Rhöndorf-Blau« ist wie »Cadenabbia-Blau« semantisch aufgeladen. Es soll bedeuten: Substanz, Kompetenz, Sicherheit.

1. Pfleger: Jetzt verstehe ich das ständige Schreien des hospitalisierten CDU-Generalsekretärs. »Vitalität, Zuversicht, Freiheit. Substanz, Kompetenz, Sicherheit!« Er ist daran irre geworden.

2. Pfleger: Das kann man auch. Es ist die reine Willkür. Die amerikanische demokratische Partei hat seit ihrer Gründung sich auf die Farbe Blau festgelegt während die republikanische Partei die Farbe Rot bevorzugt. Rot ist aber in Europa traditionell die Farbe der sozialistischen Arbeiterparteien. Es ist die reine Willkür. Und wenn man bedenkt, daß die CDU in ihren Landesverbänden in der Vergangenheit von Orange, Rot, Blau und sogar Grün und Beige Gebrauch gemacht hat, dann setzt sich diese willkürliche Wahl der Farben munter fort. Nun soll aber die CDU bundesweit vereinheitlicht werden. Alles wird blau.

1. Pfleger: Der Alkoholmißbrauch unter den Politikern ist ein ernstes Thema.

2. Pfleger: Damit hätten wir den Kalauer-Anteil an dieser Unterhaltung hinter uns gebracht. Also, nochmal: Die CDU färbt sich einheitlich blau und ihr Generalsekretär sagt dazu, die Partei »erneuere damit nicht nur den Markenkern, sondern auch ihr Erscheinungsbild.« Mit dem »Markenkern« meint er das neue Grundsatzprogramm, was potentielle Wähler ja immer brennend interessiert.

1. Pfleger: Markenkern? Das haben doch zuerst die Firmen für sich reserviert. Coca Cola ist Coca Cola und nicht Pepsi Cola.

2. Pfleger: Bis in einem anonymisierten Test sich herausstellte, daß nicht einmal die Manager der beiden Süßwasser-Firmen unterscheiden konnten, welches ihre Marke ist.

1. Pfleger: Es wird eben immer schwieriger, Unterscheidungen herzustellen, da alles sich allem angleicht. Wir leben in einem Zeitalter der Monotonisierung.

2. Pfleger: Wer will ernsthaft an solche Aufzählungen glauben? »Vitalität, Zuversicht, Freiheit. Substanz, Kompetenz, Sicherheit!« Man könnte auch andere Synonyme finden und würde damit auch nicht weiterkommen. Es sind völlig sinnentleerte Wörter. Früher sagte man: Friede, Freude, Eierkuchen. Das klang jedenfalls netter und war doch auch nur eine sprichwörtliche Redensart.

1. Pfleger: Das muß dem CDU-Generalsekretär wohl in einem lichten Moment auch aufgegangen sein. So hat er sich dann selbst hier eingeliefert. Das Schlimmste habe ich dir noch gar nicht erzählt. Die CDU hat angekündigt, es soll künftig auch eine »CDU-Melodie« geben.

2. Pfleger: »Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien, Hei-di-tschimmela-tschimmela-tschimmela-tschimmela-bumm!«

1. Pfleger: Haha, das war 1948 die inoffizelle deutsche Nationalhymne. Aber du hast recht, ein Karnevalslied sollte es schon sein, die CDU ist ja eine katholische Partei und im Rheinland fest verankert. »Sie hat uns Alles gegeben. Sonne und Wind. Und sie geizte nie. Wo sie war, war das Leben. Was wir sind, sind wir durch sie. Die Partei hat recht, die Partei hat recht, die hat immer recht.«

2. Pfleger: Das ist die Hymne der ›Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands‹ gewesen, aus dem Jahre 1949.

1. Pfleger: Wenn die CDU schon Adenauer bemüht und ihre Farben nach ihm ausrichtet und alles zurück in die Zukunft geht, dann muß es so etwas Ähnliches sein. Die reine Nostalgie. Ein Karnevalsschlager eben.

2. Pfleger: Ich hab’s. ›Highway To Hell‹.

Neue Gespräche im Elysium IV

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 v.u.Z – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.

Horst Herold meets J. Edgar Hoover

 Horst Herold: Ich begrüße Sie, Mr. Hoover. Es hat lange gedauert, bis ich einen Gesprächstermin mit Ihnen bekommen konnte. Nun ist es soweit. Lassen Sie mich vorab eines klarstellen: Es ist Ihnen hoffentlich bewußt, daß Sie hier ein Sicherheitsrisiko darstellen?

J. Edgar Hoover: What the fuck?! Du german Schweinhund! Nobody fucks with J. Edgar!

Horst Herold: Und schon ist das Eis gebrochen. Was ich gerade gesagt habe, ist nicht aus der Luft gegriffen. Selbstverständlich habe ich mich auf unser Treffen gründlich vorbereitet und ein Dossier über Sie anlegen lassen.

J. Edgar Hoover: Dossier? A set of papers containing information about a person, often a criminal?

Horst Herold: Das ist zutreffend. Sehen Sie, wie Sie sicher aus meinem Dossier, das Sie ganz sicher auch haben anlegen lassen, wissen, war ich von 1971 bis 1981 Präsident des Bundeskriminalamtes der Bundesrepublik Deutschland. Unter meiner Führung habe ich das BKA zu einer modernen Ermittlungsbehörde und zum High Tech-Zentrum der terroristischen Verbrechensbekämpfung entwickelt. Ich bin der Erfinder der Rasterfahndung. Mein Satz »Wir kriegen sie alle« wurde damals während der Jagd auf die Terroristen berühmt. Dieses Selbstbewußtsein konnte ich allein deshalb entwickeln, weil ich die Fahndung auf der Basis von computergestützten Daten durchführen ließ. Natürlich muß man bedenken, daß es zu dieser Zeit noch keine überall verbreiteten Heimrechner gab, sondern klobige Maschinen in großen Räumen, die aber, wenn man sie intelligent fütterte, enorme Erfolge zeitigten. ›Inpol‹ nannte ich das System, mit dem ich viele der deutschen Terroristen festnehmen konnte. Aber dann, nachdem der deutsche Arbeitgeberpräsident entführt worden war, 1977, lagen mir zwar ganz konkrete Hinweise auf den Aufenthaltsort des Entführten vor, doch aufgrund menschlichen Versagens wurde diese Information nicht ins System eingegeben, ein Fernschreiben ging verloren, und so konnten die Terroristen den Arbeitgeberpräsidenten in ihrem Versteck ermorden. Danach bin ich noch bis 1981 beim BKA tätig gewesen, aber meine Datenbanken wurden zunehmend der öffentlichen Kritik unterworfen, mir wurde gesagt, daß ich mit meinen Fahndungsmethoden den bürgerlichen Rechtsstaat untergrabe, und so ließ mich die Politik schließlich fallen. Ich wurde für »dienstunfähig« erklärt und frühzeitig in den Ruhestand versetzt. Das war der Dank des Vaterlandes.

J. Edgar Hoover: Well, das tut mir leid, Sie scheinen ja doch ein ganz vernünftiger Mann gewesen zu sein. Man muß als führender Beamter einer Polizeibehörde immer guten Kontakt zur Politik unterhalten. Das ist mir immer gelungen.

Horst Herold: Sie sind von 1924 bis 1972 Direktor des FBI gewesen. Fast fünfzig Jahre an der Macht einer so bedeutenden Behörde verschafft einem doch einen ungeheuren Wissensvorsprung und versetzt Sie in die Lage, jeden Bürger, der Ihnen etwas Böses will, fertigzumachen, und zwar in ziemlich gründlicher Weise.

J. Edgar Hoover: Ich habe lediglich dem amerikanischen Staat meine Dienste zur Verfügung gestellt.

Horst Herold: Was haben Sie wirklich erreicht? Wenn ich mir die Fälle anschaue und die Resultate danebenhalte, so kann man sagen, daß Sie mit den unzähligen Einbrüchen in Privatwohnungen, dem Abhören von privaten Telefongesprächen, der Verwanzung von Privaträumen, der gewaltigen Sammlung von pornographischen Fotos von Personen, die sie jederzeit damit erpressen konnten, zwar eine ungeheuer umfangreiche Sammlung von Dossiers haben zusammentragen lassen, aber das Ergebnis ist dagegen mehr als bescheiden. Ja, im Falle der fast schon von Besessenheit erfüllten Jagd auf die amerikanische kommunistische Partei, die in der politischen Öffentlichkeit keine Rolle gespielt hat, stelle ich fest, daß Sie vielen Angehörigen dieser Partei die Lebenschancen zerstört haben.

J. Edgar Hoover: Das ist alles kommunistische Propaganda. Ich habe in vielen Artikeln und Büchern auf die kommunistische Weltgefahr hingewiesen und vor dem Untergang der amerikanischen Zivilisation gewarnt.

Horst Herold: Die Bücher, die Sie erwähnen, tragen Titel wie ›Persons in Hiding‹ (1938), ›Masters of Deceit‹ (1947) und ›A Study of Communism‹ (1962). Die haben Sie aber nicht selbst geschrieben, das haben Ghostwriter für Sie erledigt. Und die Einnahmen aus dem Verkauf dieser Titel hat Sie sogar reich gemacht. ›Masters of Deceit‹ ist im Verlag eines sagenhaft reichen texanischen Ölmagnaten erschienen, auf dessen Anwesen in Kalifornien haben Sie und Mr. Tolson häufig Urlaub gemacht, eine anrüchige Angelegenheit, denn Staatsdiener dürfen sich eigentlich nicht von Multimillionären einen extravaganten Bungalow-Urlaub spendieren lassen. (Ich habe diese und andere Details der sehr aufschlußreichen Studie von Tim Weiner über das FBI entnommen.) In fünf Städten der USA standen ständig fünf gepanzerte Cadillacs als Ihre Fahrbereitschaft zu Ihrer Verfügung. Täglich haben Sie sich in Washington im exklusiven Mayflower Hotel eine Mittagsmahlzeit servieren lassen. Sie haben einen recht luxuriösen Lebensstil gepflegt.

J. Edgar Hoover: Was wollen Sie mir vorwerfen? Daß ich wie jeder Amerikaner die Chancen ergriffen habe, die sich mir boten? Soll das kriminell sein? Ich werde Ihnen sagen, was kriminell ist: Wenn Kommunisten versuchen, diese Gelegenheiten für ein schönes Leben systematisch zu bekämpfen und uns alle unter ihre totalitäre Herrschaft zu bringen versuchen.

Horst Herold: Nochmal zurück auf die Erfolgsbilanz Ihrer Jahre beim FBI. Sicher haben Sie in Ihrer Anfangszeit den einen oder anderen Gangster dingfest machen können, doch verblaßt das meines Erachtens im Vergleich zu dem teuren und eigentlich völlig nutzlosen Überwachungskampf gegen einen imaginären inneren Feind. Immer wieder wurde auch deutlich, wie schlecht organisiert das FBI war, ja, daß es Zeiten gab, nach Ihnen, wo der Direktor des FBI sich weigerte, mit dem amtierenden Präsidenten zu sprechen. Als die Anschläge auf die Twin Towers in New York geschahen, bemerkte man hinterher, daß das FBI über viele Informationen verfügt hatte, die zur Verhinderung dieses Verbrechens hätten führen können, aber die Koordination innerhalb des Systems versagte, nicht zuletzt auch deshalb, weil völlig veraltete Computer dies verhinderten.

J. Edgar Hoover: Wie können Sie so etwas behaupten?! Ich habe unter sechs amerikanischen Präsidenten gedient und alle waren sie mit mir mehr als zufrieden. Lyndon B. Johnson hat mir per Präsidialerlaß ermöglicht, daß ich auch nach Erreichen des Rentenalters weiter an der Spitze des FBI stehen konnte. Lyndon B. Johnson und Richard Nixon haben mich häufig mehrmals am Tage angerufen und meinen Rat gesucht.

Horst Herold: Das ist richtig, aber 1973, ein Jahr nach Ihrem Tod, wurden die ›COINTELPRO‹-Papiere publiziert, die das ganze Ausmaß Ihrer seit Jahrzehnten betriebenen verdeckten Ermittlungen gegen unbescholtene amerikanische Staatsbürger offenlegten. Allein von 1956 bis 1971 haben Sie mindestens zweitausend illegale Maßnahmen gegen zivile Organisationen befohlen. Das hat Ihnen in der öffentlichen Wahrnehmung Ihrer Person sehr geschadet. Sie fielen tief, von dem allseits verehrten Herold der Sicherheit zum heimlichen Erschaffer eines Überwachungsstaates.

J. Edgar Hoover: Ich lasse mir doch nicht von Ihnen meinen überaus erfolgreichen Kampf für Recht und Ordnung durch solche Redereien kaputtmachen. Im übrigen: Sie sind bereits nach zehn Jahren von Ihrem Posten als Präsident des BKA entbunden worden.

Horst Herold: Auch das ist richtig, aber ich habe nie versucht, das demokratische Gemeinwesen zu untergraben mit den von Ihnen praktizierten zweifelhaften Methoden, die am Ende nicht einmal irgendeinen Erfolg erbracht haben. Im Vergleich zu Ihrer Machtstellung, bei der Sie vorgesetzte Minister, wenn Entscheidungen anstanden, einfach übergangen haben, war meine Position als Präsident des BKA mehr als bescheiden. Es gab natürlich Kritik an meiner Amtsführung, so von einem bekannten Schriftsteller und Essayisten — den werden Sie jetzt nicht kennen — Hans Magnus Enzensberger, der hämisch über mich gesagt hat: »Seine Macht ist aus der Software eines Computers gewachsen. Von seinem Wiesbadener 40-Millionen-DM-Hauptquartier aus gebietet er über das modernste polizeiliche Datenverarbeitungssystem der Welt. Von diesem ›Lagezentrum‹ aus erreicht er, bei kürzesten ›Zugriffszeiten‹, die Rechner der Landeskriminalämter und das Datennetz der Interpol. Die Gestapo konnte von technischen Mitteln dieser Reichweite nur träumen. Horst Herold will uns einen sozialdemokratischen Sonnenstaat bescheren.« Ja, schön wär’s gewesen oder besser gesagt: das habe ich gar nicht angestrebt. Vieles ist in infamer Weise mißdeutet worden, so die Versuche der Mustererkennung. Wir verfolgten ein System des ›technischen‹ Datenschutzes, das den Computer so konstruiert, daß Mißbräuche von Personendaten bereits physikalisch-technisch ausgeschlossen werden. So wurden zum Beispiel Vorkehrungen getroffen, daß ›Bewegungsbilder‹ schon deshalb nicht entstehen können, weil die Protokollier- und Aufzeichnungsmöglichkeiten für solche Bilder auf Magnetplatten physikalisch unterbrochen wurden. Das BKA ist nur eine Verteilungsstelle der parallel geführten Informationen an die Rechner der Landeskriminalämter, die die Anfragen beantworten. Wer wann über wen anfragt, erfährt das BKA gar nicht. Dies schließt aus, daß das BKA ›Bewegungsbilder‹ erstellen und zentrale Macht gewinnen kann. Die Kriminalpolizei hat in sämtliche Polizeirechner das Prinzip der ›Spurenlosigkeit im System‹ hineinprogrammiert. Dies bedeutet, daß weder Anfragen noch Antworten vom INPOL-System aufgezeichnet werden, sie werden sofort wieder vergessen. Entgegen den Behauptungen der gegen den Begriff ›Rasterfahndung‹ gerichteten Kampagnen ist diese die einzig mögliche Form einer polizeilichen Fahndung, die Unschuldige und Nichtbetroffene dem Fahndungsvorgang fernhält.

J. Edgar Hoover: Mmhh, das scheint mir nicht effektiv zu sein, man will doch alles das, was man aufnehmen kann, auch im Gesamtüberblick vor sich liegen haben.

Horst Herold: Ich glaube, Ihr Impuls, alles aufnehmen und kontrollieren zu wollen, läßt sich zurückführen auf Ihre Zeit in der Library of Congress in Washington, als Sie für eine Weile in der Titelaufnahme beschäftigt waren. Der Schritt von der Erfassung eines Buches mit allen seinen typischen Merkmalen zum Menschen als Objekt der totalen Datenerfassung ist nicht weit. Es kam ihrem instinkthaften Trieb nach absolutem Wissen und der freien Handhabung über dieses Wissen nahe.

J. Edgar Hoover: Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen. Der englische Philosoph Jeremy Bentham hat die Konstruktion eines perfekten Gefängnisses beschrieben. Er hat es ›Panopticon‹ genannt. In der Mitte dieses Panopticons steht ein Wachturm, von dem aus die dort stehenden Wächter die rundherum angeordneten offenen Gefängniszellen einsehen können. Die Konsequenz dieser Konstruktion ist die, daß alle Gefangenen diesen Überwachungsblick in ihr aktuelles Verhalten einbauen. Sie nehmen in Gedanken die zu befürchtende Bestrafung vorweg und orientieren sich an dem Blick des Wächters auf dem Turm. Das ist doch einfach großartig, denn so verringert sich das strafbare Verhalten, einfach durch Selbstkontrolle und die Angst, bei einer Straftat erwischt zu werden. Damit aber auch die Wächter sich an die gesetzlichen Vorschriften halten, hat Bentham vorgesehen, diese Konstruktion zu erweitern, indem weitere Wächter hinzugezogen werden, die wiederum die vor ihnen stehenden Wächter beobachten. Und natürlich wissen die Primärwächter, daß sie von den Sekundärwächtern beobachtet werden, und das kann dann immer weiter fortgeführt werden mit einer dritten und vierten und fünften Dimension, so daß am Ende jeder jeden kontrolliert und für die Einhaltung des Gesetzes sorgt.

Horst Herold: Das ist genau die Gesellschaft, die ich nicht haben will und die ich während meiner Zeit beim BKA auch niemals angestrebt habe. Auf für mich persönlich tragisch-ironische Weise habe ich allerdings nach meiner Versetzung in den Ruhestand von 1981 bis 2017, sechsunddreißig Jahre lang, auf dem Gelände des Bundesgrenzschutzes in einem auf meine Kosten errichteten Haus wohnen müssen, da die Bundesrepublik Deutschland sich nicht in der Lage sah, mich polizeilich vor Terrorangriffen zu schützen. Ich war der letzte Gefangene der ›Rote Armee Fraktion‹ (RAF). Ich wollte ein Buch über die RAF schreiben, aber der zuständige Minister hat mir keine Akteneinsicht gestattet. So bin ich dann ein Jahr vor meinem Tod mit 95 Jahren nach Nürnberg gezogen, wo ich früher als Polizeipräsident gewirkt hatte.

J. Edgar Hoover: Eine traurige Geschichte. Das ist mir erspart geblieben, aber ich hatte auch jederzeit alle Trümpfe in der Hand. Das hätte einer der Politiker wagen sollen, mir Akteneinsicht zu verwehren! Ich habe denen Akteneinsicht verwehrt, natürlich nur aus Sicherheitsgründen, im Interesse des Landes. Sie glauben nicht, was ich mit Kongreßabgeordneten und Senatoren alles erleben mußte. Unsere Behörde hatte aber ausreichend Belastungsmaterial in der Hinterhand, Tonbandmitschnitte von Sexparties und die dazugehörigen Fotos von Politikern in äußerst kompromittierenden Stellungen. Da wagte keiner, mir vor den Karren zu fahren. Den hätte ich zerquetscht wie eine Laus.

Horst Herold: Ich habe einen ganz anderen kriminalsoziologischen Ansatz gehabt. Es ging mir weder um die Erpressung von Politikern noch um die Jagd nach einem imaginären Feind, sondern um eine präzise Bestandsaufnahme einer gegebenen Situation. Wissen Sie, ich war als Kind Teil der kommunistischen Jugendbewegung und als Student Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), und da habe ich auch viel gelesen, Marx zum Beispiel. Das haben längst nicht alle damals gemacht, die sind teilweise nur mitgelaufen, weil sie ein Gemeinschaftserlebnis fühlen wollten. Mein Marx-Studium hat mir gezeigt, daß der sogenannte dialektische Materialismus der wichtigere Teil des Marxismus ist. Das bedeutete für meine polizeiliche Arbeit: Man mußte das Weltbild der Gegenseite kennen und dann die kriminalistischen Grundrechenarten anwenden. Man mußte sich gedanklich in den Gegner hineinarbeiten. Wenn man das machte, und das habe ich gemacht, dann wußte man, daß er so und nicht anders handeln würde. Man mußte den dialektischen Materialismus als Analysehilfsmittel benutzen. Es nutzt nämlich gar nichts, wenn man sich wie die durch die Massenmedien paralysierten Politiker und Wähler von den oberflächlichen Schlagzeilen über die Terroristen verrückt machen läßt, das führt nur zu Gegenterror, nein, indem man sich der anderen Seite anschmiegt und versucht, wie sie zu denken, kommt man ihnen näher, und nur so erzielt man dann auch Fahndungserfolge.

J. Edgar Hoover: So tief wie Sie denke ich nicht. Mir hat es stets gereicht, daß ich wußte, auf welcher Seite ich stand: auf der richtigen.

Horst Herold: Das ist ein schlimmer Fehler. Sie ahmen damit nur die andere Seite nach, auf der gefühlsmäßigen Ebene, erreichen aber niemals ihre Mentalität, die sie vorantreibt. Sie sind damit eigentlich auch nichts anderes als diejenigen, die Sie zu bekämpfen vorgeben. Aber wenden wir uns doch der Seite Ihres Wesens zu, die nach Ihrem Tod bis heute sich gegenüber Ihrer nachrichtendienstlichen Tätigkeit stark in den Vordergrund geschoben haben. Was ist mit Clyde Tolson? Sie haben mit ihm zusammengelebt. Waren Sie ein Paar?

J. Edgar Hoover: Wir haben eine Wohnung miteinander geteilt und sind auch auf vielen sozialen Veranstaltungen gemeinsam aufgetreten. Ein spirituelles Band führte und hielt uns zusammen.

Horst Herold: Tolson war ihr Protégé und stellvertretender FBI-Direktor. Sie sind mit ihm verreist und waren für viele Jahre gemeinsame Bewohner eines Apartments. Er hat nach Ihrem Tode eine halbe Million US-Dollar von Ihnen geerbt, das sind in heutiger Umrechnung immerhin fast vier Millionen US-Dollar. Das alles sieht doch sehr nach einer eheähnlichen Verbindung aus. Präsident Nixon nannte Sie im privaten Rahmen »that old cocksucker«.

J. Edgar Hoover: Was hat Nixon nicht alles gesagt?! Sie kennen doch gewiß die Watergate-Tapes. Das von Ihnen zitierte Wort ist in den Vereinigten Staaten im übrigen weit verbreitet und wird bei vielen Gelegenheit gebraucht, damit ist nicht immer und unbedingt etwas Sexuelles verknüpft.

Horst Herold: Von Ihnen und Ihrem Mitbewohner Clyde Tolson gibt es ein Foto aus dem Jahr 1939, wo Sie beide in Lounge Chairs sitzen, beide mit identischen zweifarbigen Schuhen.

J. Edgar Hoover: Das war ein Sonderangebot, da hat Mr. Tolson zugegriffen. Zwei Paar zum Preis von einem. Sowas hat er sich nie entgehen lassen.

Horst Herold: Was mich an der ganzen Sache sehr irritiert, ist die Tatsache, daß sie beide für viele Jahre eine gemeinsame Wohnung unterhielten und sich auch als Paar in der Öffentlichkeit ungeniert gezeigt haben. Sie haben auch keine Zeit damit verschwendet, eine heterosexuelle Fassade aufzubauen und sich mit Frauen in der Öffentlichkeit gezeigt. Könnte es nicht sein, daß es niemals zu einem von den Medien lancierten ›Outing‹ gekommen ist, weil niemand im Washingtoner Pressekorps es gewagt hätte, Sie öffentlich bloßzustellen? Die Konsequenzen für den Journalisten wären vielleicht sogar letal gewesen. Sie hätten vielleicht etwas veranlaßt, wie es Cary Grant in Alfred Hitchcocks Film ›North by Northwest‹ (1959) geschah, der zuerst mit Whisky abgefüllt und dann in einen Wagen ans Steuer gesetzt wurde, dessen Bremsen vorher außer Funktion gesetzt worden waren?

J. Edgar Hoover: Das sind Hollywood-Phantasien. Wer meine Arbeit im FBI kennt, wird niemals solchen Unsinn vermuten.

Horst Herold: Nun, wenn Sie sich heute über Ihre Person informieren wollen, tauchen diese Geschichten immer wieder auf, sogar Spielfilme handeln davon. Sie sind zu einer Art Frankenstein geworden. Und man zeichnet Sie als eine ›Drag Queen‹, die High Heels trägt und künstliche Wimpern.

J. Edgar Hoover: Wie ich eben schon sagte, das sind Hollywood-Phantasien, das ist die Rache an meiner Person durch diese Liberalen und Linken, die in der Scheinwelt ihrer Filme leben und mich schon zu Lebzeiten immerzu diskreditiert haben.

Horst Herold: Verlassen wir diesen Themenkomplex einfach und lassen die Dinge auf sich beruhen. Ihre Beziehungen zu den amerikanischen Kirchen haben sich einer ganz besonderen Aufmerksamkeit erfreut. Mir liegt eine Studie vor, die gerade erst publiziert wurde, basierend auf vielen bisher unbekannten Dokumenten aus den Archiven des FBI. Die Studie heißt ›The Gospel of J. Edgar Hoover. How the FBI Aided and Abetted the Rise of White Christian Nationalism‹, geschrieben von Lerone A. Martin, Princeton University Press 2023. Darin werden viele bislang unbekannte Dokumente zitiert, zum Beispiel Briefe von Kirchenmitgliedern, die sich an Sie gewendet haben in der Hoffnung, daß Sie ihnen spirituellen Rat geben, aber auch, daß Sie Ihnen vertraulich mitteilten, ihren Pastor zu verdächtigen, ein heimlicher Kommunist zu sein. Das waren praktisch Denunziationen. Sie sind auf solche schriftlichen Anfragen immer gern eingegangen und haben es nicht versäumt, den Fragestellern neben ein paar persönlichen Worten auch, ähem, ›Informationsmaterial‹, per Post zuzustellen, Aufsätze und Artikel, die Sie geschrieben haben oder haben schreiben lassen.

J. Edgar Hoover: Das waren alles gottesfürchtige Menschen, die in ihrer Not sich an mich wandten, um einen Ausweg zu finden.

Horst Herold: Hinter diesen gottesfürchtigen Menschen standen aber weiße Evangelisten, die zusammen mit ihren mächtigen Organisationen einen nicht unerheblichen Einfluß auf das Meinungsklima in den USA ausübten. Sie standen doch nicht nur in Verbindung mit diesen Kirchenleuten, sondern haben für Ihre Agenten alljährliche religiöse Tagungen arrangiert, die auf mich wie ein militärisches Trainingslager für fanatische Christen wirken. Das FBI war auch ein ausschließlich weißer, männlich dominierter Verein. Sie sahen sich als Soldaten in der Armee Gottes, und dieser Soldat kämpft sein Leben lang dafür, daß Amerika eine weiße christliche Nation bleibt. Wer da nach Ihrer Einschätzung nicht dazugehörte, der war Teil der Blasphemie und Subversion und mußte unnachsichtig überwacht und, wenn nötig, ausgeschaltet werden. So entstand dann der Glaube, daß es bei der Ausübung des täglichen Dienstes als FBI-Agent nicht so sehr darauf ankam, das Gesetz nicht zu brechen, sondern vor allem Gott zu folgen. Das war praktisch ein Freifahrtschein für alles das, was man dem FBI später an illegalen Aktionen nachweisen konnte.

J. Edgar Hoover: Wenn es aus den richtigen Gründen geschieht, sind alle Mittel erlaubt, die zu einem gesetzten Ziel führen. Die christlichen Werte hatten immer Vorrang vor den legalen Prinzipien. My help cometh from the Lord. Das war mein Grundsatz. Amerika mußte gerettet werden vor der weltkommunistischen Flutwelle. Das FBI war die legitime Erweiterung des christlichen Staates.

Horst Herold: Sie haben das FBI als Ihre eigene Kirche mißbraucht, und das alles auf Kosten des Steuerzahlers. So wurde Ihr Buch ›Masters of Deceit. The Story of Communism in America and How to Fight It‹ von einem Team ihrer Mitarbeiter verfaßt, und das während der Dienststunden. »Alles was wir brauchen ist Glaube« — solche Allgemeinplätze stehen in diesem billigen Machwerk. Es verkaufte sich phänomenal, stand auf Platz 1 der New York Times-Bestseller-Liste für zehn Wochen. Ein pseudoreligiöses Pamphlet, das Ihnen den Ruf eines evangelikalen Kalten Kriegers eintrug. Einer Ihrer Gefolgsleute formulierte es so: »What the Communist party is in the vanguard of the world revolution, the evangelical movement must be in the world revival.«

J. Edgar Hoover: Was Sie da alles vorbringen, berührt mich ganz und gar nicht. Ich kenne Leute wie Sie, ich habe sie mein ganzes Leben lang beobachtet und beobachten lassen.

Horst Herold: Wie schade, ich hatte doch ein wenig gehofft, daß Sie nun, nachdem Ihr weltliches Leben seit langem beendet ist, in der Unterwelt vielleicht doch in manchen Dingen ein Einsehen haben und sogar manche Dinge, die Sie in Gang gesetzt haben, aus der Distanz kritisch betrachten könnten.

J. Edgar Hoover: Diese Rhetorik ist mir nur zu gut bekannt. Vergessen Sie’s. Es handelt sich um ein welthistorisches Ringen zwischen den Kräften des Guten und des Bösen. Da gibt es keinen Mittelweg.

Horst Herold: Ja, ich verstehe. Dann leben Sie wohl, Mr. Hoover. Bei Ihnen ist Hopfen und Malz verloren.

J. Edgar Hoover: Ich muß zu meinem Bibeltreffen. Wir haben ein wöchentliches Treffen aller ›Hooverites‹. Sie waren ja als Kind dem Kommunismus ausgesetzt. Kommen Sie doch mit, es ist nie zu spät für eine Umkehr, wir können auch Jugendsünden vergeben. Das kriegen wir hin. Wir drehen Sie um. Es ist immer Zeit für eine Entscheidung. Finden wir nicht den Weg zurück zu Gott, so werden wir vom Virus der Sünde zerstört werden. Jede individuelle Seele kann gerettet werden. Amen and Hallelujah!

Unterm nuklearen Schutzschirm

Unter einem Regenschirm am Abend, / hängt man sich zum ersten Male ein. / Unter einem Regenschirm am Abend, / kann es Gottseidank, nicht anders sein! / Mancher Wunsch wird wach, / manches Herz wird schwach, / wenn es tropft, wenn es klopft / auf ein Regendach. / Und dann denkt sich so ein Schirm am Abend: / Sagt euch ruhig du, ich deck euch zu.
(Alexander Steinbrecher: Unter einem Regenschirm am Abend, 1942)

Der Verteidigungsminister wirbt für einen ›Veteranentag‹ und hält es für »eine richtig gute Idee«, so als würde das zum ersten Mal in der politischen Öffentlichkeit diskutiert werden, wiewohl bereits im Jahre 2011 der damalige Verteidigungsminister den in Deutschland historisch belasteten Begriff des Veteranen (Kriegervereine) ins Spiel gebracht und für einen Veteranentag sich ausgesprochen hatte, dann aber der Vorschlag wieder in der Versenkung verschwand; im Jahre 2018 war es dann die damalige Verteidigungsministerin, die verkündete, daß »alle Veteranen eint, ob sie in Auslandseinsätzen, im Kalten Krieg oder im Grundbetrieb gedient haben, daß sie sich in der Uniform der Bundeswehr für Frieden und Freiheit eingesetzt haben«  — und damit wurden plötzlich alle Soldaten der Bundeswehr zu Veteranen erklärt. In einem Tagesbefehl bestimmte sie, daß von nun an »Veteranin oder Veteran der Bundeswehr ist, wer als Soldatin oder Soldat der Bundeswehr im aktiven Dienst steht oder aus diesem Dienstverhältnis ehrenhaft ausgeschieden ist, also den Dienstgrad nicht verloren hat.« — und während nach diesen Absichtserklärungen erneut weiter nichts geschah, wird nun 2023 zum drittenmal ein Vorstoß unternommen, die im Kriegseinsatz versehrten Soldaten mit einem Veteranentag zu ehren. Damit nicht genug, die seit 2014 bestehenden, auf eine Anregung des Duke of Sussex zurückgehenden ›Invictus Games‹ sollen den verwundeten Veteranen das Gefühl geben, daß sie von der Gesellschaft nicht vergessen worden sind. Diese Veteranen müssen mit Prothesen und Rollstühlen zurechtkommen und sind durch kontinuierliches sportliches Training in der Lage, unter Wettkampfbedingungen Sportarten wie Leichtathletik, Bogenschießen, Hallenrudern, Gewichtheben, Straßenradrennen, Sitzvolleyball, Schwimmen, Rollstuhlbasketball, Rollstuhlrugby und Tischtennis auszuführen.

Invictus heißt auf Deutsch: unbezwungen, unbesiegt. So begrüßte im Dezember 1918 der damalige ›Volksbeauftragte‹ Friedrich Ebert die aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrenden deutschen Soldaten mit den Worten: »Kameraden, willkommen in der Deutschen Republik. Eure Opfer und Taten sind ohne Beispiel. Kein Feind hat Euch überwunden. Erhobenen Hauptes dürft Ihr zurückkehren.« Es ist wohl unvermeidlich und liegt tief in der menschlichen Psyche begründet, daß man selbst nach einer katastrophalen militärischen Niederlage diese Niederlage in einen moralischen Sieg umzuwandeln bestrebt ist. Nach dieser Logik hat es niemals einen Verlierer gegeben, sondern alle am Krieg beteiligten Nationen haben am Ende einen Sieg davongetragen.

Wer aber könnte gegen solche Sport-Veranstaltungen wie die ›Invictus Games‹ etwas einwenden, wo die Soldaten, die durch den Krieg zu Krüppeln geworden sind, ihre sportliche Tüchtigkeit unter Beweis stellen? Man könnte höchstens fragen, ob Gesellschaften, die militärische Aufträge ausführen, überhaupt der Soldaten noch bedürfen, zumal unter Bedingungen der »nuklearen Teilhabe«, worunter zu verstehen ist, daß die Bundesrepublik Deutschland im Falle eines Atomkriegs von den USA unter deren Fittiche genommen würde und die deutsche Luftwaffe dann »taktische« Atomwaffen als todbringende Fracht abzuladen hätte. Das soll der »nukleare Schutzschirm« gewährleisten. Man darf diesem Schirm nicht zu viel zumuten, denn das feindliche Lager wird ebenfalls über einen solchen Schirm verfügen, doch wenn eine Seite mit der Anwendung von Nuklearwaffen beginnt, ist es schon sinnlos geworden, dies nachzuahmen, denn mit dem Erstschlag stehen dann beide Lager im Regen. Ein »nuklearer Schutzschirm« ist eben nur Semantik, kein wirkliches Sicherheitssystem. Und auch wenn der Einsatz solch furchtbarer Waffen in der offiziellen Rhetorik gern als Mittel der »Abschreckung« deklariert wird, so bleibt doch die Frage, auch angesichts der vorhandenen fliegenden Tötungsmaschinen, wieso die Fortsetzung heutiger Kriege unter Beteiligung von Soldaten am Boden noch erforderlich erscheint.

Es gibt heute autonome Waffensysteme, Killer-Roboter und Killer-Drohnen, deren Entscheidungsgrundlage für die Kriegsführung ein Algorithmus ist. Die Weltgesellschaft ist fasziniert von der Macht vollautomatisierter Systeme, die aus der Ferne zu bedienen sind und die mit mehr oder weniger hoher Präzision ihre Ziele erreichen. Die Sprengkraft heutiger Nuklearbomben übertrifft überdies die der Hiroshima-Bombe um ein Vielfaches.

Des Verteidigungsministers Soldaten sollen keine Helden mehr sein, das ist von gestern, Veteranen sollen sie sein, Opfer kriegerischer Einsätze, denen er einen schönen Gedenktag einrichten will, keinen Heldengedenktag, denn das ist nicht mehr zeitgemäß. Helden nennt man heute vorzugsweise Sportmannschaften wie die deutsche Basketballmannschaft, die gerade Weltmeister in dieser Sportart geworden ist. Ein Veteranentag ist ein anachronistisches Unterfangen, denn der einzelne Soldat bedeutet nichts mehr im Vergleich zu den Tötungsmaschinen, die in immer größerer Zahl auf der ganzen Welt lagern und auf ihren Einsatz warten.

Was macht man nach einem thermonuklearen Krieg? Man weist jedenfalls nicht mehr auf den Atomwaffensperrvertrag hin, an den sich viele Länder heute nicht mehr gebunden fühlen. Kommt der »nukleare Winter«, braucht man keinen »nuklearen Schutzschirm« mehr. Wie sagte Wolfgang Neuss 1965? »Was mache ich im Falle eines Atomangriffs? Ich hülle mich in mein Bettlaken und gehe gemächlich zum Friedhof. Warum gemächlich? Damit keine Panik ausbricht.«

Neue Gespräche im Elysium III

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 v.u.Z – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.

Groucho Marx meets Erich und Mathilde Ludendorff

In dem mit Zehntausend überfüllten Riesensaal steht auf der Rednertribüne ein gepflegter, strammer Herr. Das starre Willensgesicht etwas gedunsen. Schlohweiß das Haar. Am schwarzen Zivilrock trägt er er nur das Eiserne Kreuz. Er spricht schwerfällig, monoton, einfältig. Dieser ungeistigste Mensch, der über gar nichts in der Welt wirklich klar ist, hat doch in seiner Enge einen Hang zum Geist, fast möchte ich sagen: ›Angst vor dem Geist‹. Er wurde hörig, als der Geist ihm entgegentrat in der Gestalt einer wirklich bedeutenden Frau. Alles, was er seitdem orakelte, über Rückkehr zu Wodan, volkstümlichen Mythos und deutsche Sendung, das hieß: ›Mathilde v. Kemnitz‹. (Theodor Lessing, 1931)

Groucho Marx: Ojemine! Wer sind denn die beiden? (schaut auf ein älteres Ehepaar, das auf einer Holzbank in einem Biergarten sitzt). Mit denen soll ich mich unterhalten? Was hat mein Agent sich nur dabei gedacht? (tritt näher) Guten Tag, meine Herrschaften! Schönes Wetter heute?

Erich Ludendorff: Guten Tag, mein Herr, mit wem haben wir das Vergnügen?

Groucho Marx: Mein Name ist Groucho Marx und ich bin Komiker.

Mathilde Ludendorff: Nur das nicht! Wir sind hier in der Unterwelt, da ist kein Platz für Komik. Groucho? Was ist das für ein Vorname? Habe ich noch nie gehört. Und Marx? Wie in Karl Marx, dem Juden? Sind Sie Jude?

Erich Ludendorff: Na, Mathilde, nun sei man nicht so. Er scheint doch ein ganz verträglicher Knabe zu sein. Angezogen ist er jedenfalls wie ein feinerer Herr. Sind Sie auf dem Weg zu einem Opernball?

Groucho Marx: Sehr freundlich von Ihnen, aber das ist meine Berufskleidung. Und wie darf ich Sie anreden?

Erich Ludendorff: Ich bin General Erich Ludendorff. Ich war Erster Generalquartiermeister im Ersten Weltkrieg. 1920 und 1923 habe ich zusammen mit anderen Gesinnungsfreunden einen Putsch zum Sturz der ›Weimarer Republik‹ unternommen. Später habe ich mit meiner Frau Mathilde eine politische Zeitschrift herausgeben und mit ihr Bücher geschrieben. Wir waren die politischen Führungspersonen des von mir gegründeten ›Tannenbergbundes‹ und dessen Zeitschrift, der ›Volkswarte‹.

Groucho Marx: Ja, sowas! Da sind sie ja eine Berühmtheit! Was für eine Ehre, ihre Bekanntschaft machen zu dürfen.

Erich Ludendorff: Und welche Art von Berühmtheit haben Sie?

Groucho Marx: Wenn Sie schon einmal in einem Lichtspieltheater gewesen sind, haben Sie vielleicht einen meiner Filme gesehen, die ich zusammen mit meinen Brüdern gemacht habe.

Mathilde Ludendorff: Wir haben immer nur das Theater und die Oper besucht. Das kinematographische Theater bleibt dem Plebs vorbehalten.

Erich Ludendorff: Na, Mathilde, nun ereifere dich mal nicht so. Bedenke doch, daß ich während des Krieges maßgeblich dafür verantwortlich war, den Film als Propagandamittel, als weitere Kriegswaffe zum Einsatz zu bringen.

Groucho Marx: Ich habe mich in meinen Filmen eigentlich über alles lustig gemacht, vor meinem Humor war nichts sicher.

Erich Ludendorff: Humor hat man mir schon als junger Kadett auf der Militärschule nicht nachsagen können und deshalb wollen wir es jetzt, nach meinem Tode, auch nicht dazu kommen lassen.

Mathilde Ludendorff: Wir sind beide führende Persönlichkeiten der völkischen Bewegung. Da hat man keinen Humor zu haben. Das führt in der Politik auch zu nichts. Sie sind ein Hofnarr, nehme ich an, und können sich solche Abweichungen erlauben. Wir haben ernstere Ziele verfolgt.

Groucho Marx: Den Totalen Krieg, nehme ich an?

Erich Ludendorff: ›Der totale Krieg‹ ist in der Tat der Titel meines 1935 erschienenen Buches. Alle meine Gedanken kreisen um den Krieg. 1919 habe ich ›Meine Kriegserinnerungen‹ herausgeben, 1922 folgte ›Kriegführung und Politik‹, 1928 ›Kriegshetze und Völkermorden in den letzten 150 Jahren‹, 1930 ›Weltkrieg droht auf deutschem Boden‹, nicht zu reden von kleineren Schriften und dem, was ich in Periodika veröffentlicht habe. Mit meiner Frau habe ich weitere Bücher geschrieben, vor allem aber mit ihr die politische Zeitschrift ›Ludendorff’s Volkswarte‹ geschrieben, die 1929 begründet wurde und 1933 von diesem unseligen Hitler verboten wurde. Wir haben sie dann unter einem neuen Titel, ›Am Heiligen Quell Deutscher Kraft‹ erscheinen lassen. Es war ein Katz-und-Maus-Spiel mit dem NS-Regime.

Groucho Marx: Meine Lebenserinnerungen sind 1959 unter dem Titel ›Groucho und ich‹ erschienen, dann folgte 1965 noch ein weiterer Band, der heißt: ›Memoiren eines spitzen Lumpen‹.

Mathilde Ludendorff: Sie sind Jude, richtig?

Groucho Marx: Ich möchte keinem Verein angehören, der mich als Mitglied aufnimmt.

Erich Ludendorff: Der junge Herr macht Witze. Die Art, wie er antwortet, weist auf jüdischen Humor hin.

Groucho Marx: Ich gebe mich geschlagen.

Mathilde Ludendorff: Mein Mann und ich haben unser ganzes Leben dem Kampf gegen das Weltjudentum, das römisch-katholische Christentum und die internationale Freimaurerei gewidmet. Die überstaatlichen Kräfte, Sie verstehen?

Erich Ludendorff: Das wird Sie als Jude sicherlich nicht interessieren, Sie feiern ja nicht Weihnachten, aber wir haben gemeinsam unter vielen anderen auch eine kleinere Schrift verfaßt, die den Titel ›Weihnachten im Lichte der Rasseerkenntnis‹ trägt. Das ist 1933 zuerst erschienen. Ich zitiere aus meinem Vorwort »Das Rasseerwachen infolge der Todesnot des Volkes im Weltkriege und nach ihm hat sich in dem Gotterkennen, das meine Frau uns schenkte, zur letzten Klarheit durchgerungen. Das Gottahnen unserer Vorfahren hat Erfüllung gefunden. Eng verwoben lebt unser Geschlecht jetzt wieder mit den Ahnen.«

Mathilde Ludendorff: Das Weihnachtsfest ist nämlich urdeutsch und nicht christlich. Das Christentum ist eine jüdische Erfindung. Meine ›Deutsche Gotterkenntnis‹ sollte dem entgegentreten.

Groucho Marx: Wow, das wußte ich nicht. Da dreht sich die Weltkugel plötzlich ganz anders herum.

Erich Ludendorff: Nicht wahr, das müssen selbst Sie zugeben. Und bis 1933 haben wir in ›Ludendorff’s Volkswarte‹ auch immer wieder gedrängt, schärfer gegen die Juden vorzugehen.

Groucho Marx: Wenn ich richtig informiert bin, sind Sie 1937 gestorben, da haben Sie die später getroffenen Maßnahmen des neuen Regimes gar nicht mitbekommen.

Erich Ludendorff: Ja, das habe ich erst im Totenreich erfahren müssen, wie Hitler und seine Schergen vorgegangen sind. Alle meine Reden gegen die Juden haben doch immer nur die eine Richtung gehabt: Weist sie aus deutschen Landen aus! Aber diese Konzentrations- und Vernichtungslager, daran habe ich nie gedacht, das war monströs. Ich habe auch vor einem weiteren Weltkrieg, dem totalen Krieg, gewarnt. Und der ist dann 1939 auch eingetreten, ich hatte ihn immerhin für das Jahr 1941 vorhergesagt.

Mathilde Ludendorff: Mein Mann hat gleich nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler an Hindenburg geschrieben: »Sie haben durch die Ernennung Hitlers zum Reichskanzer einem der größten Demagogen aller Zeiten unser heiliges deutsches Vaterland ausgeliefert. Ich prophezeie Ihnen feierlich, daß dieser unselige Mann unser Reich in den Abgrund stoßen, unsere Nation in unfaßliches Elend bringen wird, und kommende Geschlechter werden Sie verfluchen in Ihrem Grabe, daß Sie das getan haben.«

Erich Ludendorff: Ja, Mathilde, das habe ich zwar so schon gedacht, aber dieser Brief ist nie geschrieben worden. Dieser Hans Frank, der sich ›König von Polen‹ hat nennen lassen, hat in seinen Erinnerungen ›Im Angesicht des Galgens‹ diese Sätze angeführt und mir in den Mund gelegt. Sachlich stimmt das aber und ähnlich lautende Sätze habe ich damals mehrfach ausgesprochen.

Groucho Marx: Haben Sie denn vor 1933 irgendwann einmal den Sprung in die große Politik gewagt?

Erich Ludendorff: Ja, durchaus, das war während der Kandidatur für das Amt des Reichspräsidenten, 1925.

Groucho Marx: Und wieviel Prozent der Stimmen haben Sie erhalten?

Erich Ludendorff (errötend): 1% der Stimmen.

Groucho Marx: Ich habe auf Drängen meiner Freunde einmal auf das Amt des Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika kandidiert. Meine Gönner meinten, das wäre genau der richtige Job für mich, weil Vizepräsidenten grundsätzlich die Klappe halten müssen und ich ja gern schwafele. Während des Wahlkampfs habe ich dann eine Äußerung eines ehemaligen Vizepräsidenten aufgegriffen, der gemeint hatte, was das Land wirklich brauche, das sei eine gute 5-Cent-Zigarre, und ich habe das dann umformuliert in den Slogan: Was das Land wirklich braucht, ist eine gute 5-Cent-Münze. Weitere Forderungen waren die Einführung eines guten Schinkensandwich. Ohne alles. Denn diese Kleinkrämerdrogisten haben das gute alte Schinkensandwich verhunzt durch Zutaten wie Tomaten, Speck oder Brokkoli. So weit war es in unserem Land gekommen. Eine weitere Forderung war die nach unbegrenzter Polygamie. Denn seien wir ehrlich, der schöne Brauch der Vielweiberei verschwindet allmählich selbst in den Ländern, wo das seit langem eine alte Tradition war.

Mathilde Ludendorff: Ja, schämen Sie sich denn nicht? Was reden Sie denn da? Die Ehe ist eine von Gott gewollte und durch Gott geheiligte Einrichtung. Wir haben doch damals in der sogenannten ›Weimarer Republik‹ erleben müssen, wie die zügellosen Kreise der Boheme unser schönes Deutschland in den Schmutz gezogen haben, natürlich unter kräftiger Mitwirkung des internationalem Judentums und der katholischen Mafia.

Groucho Marx: Ich bin bloß ein unbedeutender Vaudeville-Schauspieler. Machen Sie mich nicht haftbar für Dinge, auf die ich keinen Einfluß gehabt habe. Ihre Ansicht vom allgegenwärtigen Schmutz teile ich aber nicht. Jede durchschnittliche Ehefrau sehnt sich doch nach vielen Ehejahren nach etwas Jüngerem und Frischerem als ihrem Gatten. Jemand ohne Bauch und mit Haaren (nimmt Erich Ludendorff dabei ins Visier), und zwar nicht auf dem Bauch, sondern auf dem Kopf.

Erich Ludendorff:  Wissen Sie, ich hatte einmal einen Zusammenstoß mit einem gewissen Subjekt namens Karl Tschuppik, der hat ein Buch über mich veröffentlicht, das hieß: ›Ludendorff. Die Tragödie des Fachmanns‹, das ist 1931 erschienen und das hatte ich gerade angewidert gelesen, da traf ich diesen Herrn zufällig auf der Straße und da habe ich ihm gedroht, meinen Schäferhund auf ihn zu hetzen. Da hat er Fersengeld gegeben. Und das werde ich Ihnen nun auch androhen, wenn Sie nicht unverzüglich das Weite suchen.

Groucho Marx: Du meine Güte, an wen bin ich denn hier geraten?

Mathilde Ludendorff: Mein Mann hat schon kurz vor dem Zusammenbruch der militärischen Front vor dem Dolchstoß in den Rücken der deutschen Nation gewarnt. Und so ist es dann ja auch gekommen. Niemals hätten wir den Krieg verloren, wenn nicht der innere Feind mit seiner politischen Wühlarbeit unseren Zusammenhalt geschwächt und uns damit dem äußeren Feind wehrlos ausgeliefert hätte.

Erich Ludendorff: Das war wie in der Nibelungensage, als Hagen von Tronje dem deutschen Helden Siegfried den Speer in die verwundbare Stelle auf dem Rücken gestoßen hat. Auch solche Strolche wie Sie haben mit dazu beigetragen, daß Deutschland ohnmächtig vor der Macht des Feindes gefallen ist. Ich mußte 1918 nach Schweden fliehen und war gezwungen zur Tarnung eine blaugetönte Sonnenbrille zu tragen. Aber als ich 1926 Mathilde von Kemnitz geheiratet habe, da fand Siegfried seine Kriemhild.

Groucho Marx: Seien Sie mir nicht bös, aber übertreiben Sie nicht mehr als nur ein wenig? Ihr zwei beide seid das, was man in Amerika einen ›fruitcake‹ nennt, ihr seid zwei große Spinner.

Mathilde Ludendorff: Scheren Sie sich zum Teufel, Sie gehören überhaupt nicht hierher, das Elysium, die Insel der Seligen ist nur wirklich ehrbaren Mitgliedern der Menschheit vorbehalten. Ich weiß gar nicht, wie Sie hier hereingekommen sind. Ich werde höheren Orts Meldung machen und für Ihre Entfernung plädieren. 1949 hat man mich vor eine sogenannte ›Spruchkammer‹ geladen, um herauszufinden, ob ich das Nazi-Regime gefördert habe. Man stelle sich vor! Und ein österreichischer Jude namens Alfred Polgar schmutzte über mich: »Die Angeklagte ist zweiundsiebzig, entsprechend grau, bebrillt. Vortrag und Tonfall sind die einer Kartenaufschlägerin. Einer Wahrsagerin vom Rummelplatz«. Solche Schweinehunde haben nach 1945 meinen untadeligen Ruf als deutsche Gotteserkennerin zu besudeln versucht! Zuerst wurde ich als ›Hauptschuldige‹ verurteilt, in einem Revisionsverfahren dann als ›Belastete‹ eingestuft. Ja, ich mußte mich sogar einer psychiatrischen Untersuchung unterziehen, ich, die ich ursprünglich als Nervenärztin praktiziert habe! Diese ›Untersuchung‹ ergab, daß ich nicht krank bin und daß meine Schriften »ein normales System der Propaganda« gewesen seien. Solchen Demütigungen wurde ich ausgesetzt durch das neu installierte demokratische Regime bis zu meinen Tod im Jahre 1966, dem Jahr, als ein Gericht das Verbot meines ›Bundes für Gotteserkenntnis‹ bestätigte. Dahinter steckte natürlich das überall sich einmischende internationale Juden- und Katholikentum. Aber 1977 hob man das Verbot auf, darüber konnte ich mich dann nur noch posthum freuen.

Groucho Marx: Ich habe mich nicht um ein Gespräch mit euch Verrückten beworben, das war die Idee meines Agenten. Wenn ich gewußt hätte, was mich hier erwartet, wäre ich ganz bestimmt nicht gekommen. Zu euch Ludendorffern fällt selbst einem Komiker nichts mehr ein (steht auf und eilt mit schnellen Schritten dem Ausgang zu).

 Mathilde Ludendorff: Wir sehen uns in der Hölle!

Stärker aufstellen

Der Vertreter des deutschen Außenministeriums, der seit Amtsantritt hauptsächlich durch das Tragen von häufig wechselnden modischen Kleidern und Schuhen aufgefallen ist, hat bei der jährlich wiederkehrenden Botschafterkonferenz im Auswärtigen Amt eine Rede vor den versammelten zweihundertsechsundzwanzig Vertretern im Ausland gehalten. Durch den russischen Angriffskrieg habe man »auf brutale Art und Weise« verstehen müssen, daß die eigene Sicherheit, also die der Bundesrepublik Deutschland, »nicht selbstverständlich« sei. Aus dieser Bestandsaufnahme, die die Existenz eines Ministeriums vergißt, das für den Erhalt der Bundeswehr, des Militärs, zuständig ist, ergaben sich folgende Forderungen: »Erstens müssen wir uns neu und stärker aufstellen – politisch, wirtschaftlich, militärisch, zivil und mental.« Dazu müsse man »in die eigene Stärke investieren«. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs las Karl Kraus in den Zeitungen vermehrt von einer immer wiederkehrenden Redewendung: Ausgebaut und vertieft. Zwischen den Staaten wurden ständig die Beziehungen »ausgebaut und vertieft«. Das klang wie eine Beschwörungsformel und war doch nur eine Phrase, die zur Illustration der selbstverständlichen Praxis diente, daß Staaten normalerweise Beziehungen unterhalten, die der Verständigung dienen und überdies den Handel und Verkehr fördern. Die zweite Forderung des deutschen Außenministeriums ist es, daß man »nach außen in unsere europäischen und transatlantischen Allianzen investieren« müsse. Man müsse immer wieder den Mut haben, »Dinge anzustoßen und auch bei Gegenwind nicht einfach einzuknicken«. Die Begründung: »Weil wir es uns nicht leisten können, die Hände in den Schoß zu legen und beim kleinsten Hauch von Widerstand aufzugeben«. Mit der Stärke verhält es sich wie mit dem Ausbau und der Vertiefung: es mag solche Stärke vorhanden sein und sie mag des Ausbaus und der Vertiefung bedürfen, vor allem wenn von außen eine Bedrohung zu registrieren ist. »Nie aber ist so der ganze Inhalt einer Zeit Geräusch geworden, nie so der Bund von Ton und Ding, einer hoffnungslosen Welt und eines verzweifelten Rhythmus, ausgebaut und vertieft gewesen« liest man bei Karl Kraus. Stärker aufstellen,  auch wenn Gegenwind droht, das ist so, als ob man dazu dann sowohl »politisch, wirtschaftlich, militärisch, zivil und mental« stärker aufgestellt, ausgebaut und vertieft werden müßte, und das kann nur heißen: so tun, als sei man stark, als sei man unbezwingbar, aber nur, wenn man immer stärker sich aufstellt, auch wenn niemand weiß, wie man sich so etwas vorstellen soll. Natürlich ist der letzte Punkt in der Reihe der Felder, auf denen man sich stärker aufzustellen anschicken muß, von besonderer Bedeutung: die mentale Aufstellung. Das ist die geistige Aufrüstung, die nicht viele Milliarden wie die Anschaffung von schweren Waffen kosten wird, sondern die jeder Bürger in sich aufstellen kann, wenn er nur will und wenn er bereit ist, bei Gegenwind nicht umzufallen und die Hände nicht in den Schoß zu legen, weil dann der äußere Feind Witterung aufnimmt und sich zum Angriff bereit hält. Wir müssen seit geraumer Zeit mit der Phrase von der »starken Frau« leben, die davon lebt, so zu tun, als sei es erstrebenswert, daß Frauen sich nach dem überkommenen Bild der mächtigen Männer zu formen haben und ebenso rücksichtslos und brutal auftreten wie uns dies die Geschichte des Patriarchats gelehrt hat. Statt »starke Frau« hat sich dann das Wort von der »Powerfrau« durchgesetzt, das noch stärker betont, wozu die erworbene Stärke, »politisch, wirtschaftlich, militärisch, zivil und mental« gut ist: Uneingeschränkt Macht auszuüben und den eigenen Vorteil stets im Blick zu haben. Das bewundert man nun an Frauen in Führungspositionen und an Staaten, die nicht einknicken und bereit sind, sich stärker aufzustellen.

Neue Gespräche im Elysium II

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 v.u.Z – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.

Alfred Biolek meets Hildegard von Bingen

Alfred Biolek: Mmmhh! Mmmhh! Mmmhh! (Herr Biolek kostet vom heutigen Tagesgericht, welches die Crew für ihn gekocht hat. Dabei schenkt er sich immer wieder ein Glas des ›Hausweins‹ ein und nimmt einen ordentlichen Schluck.) Ooch, da kann man sich dran gewöhnen. Ah, wunderbar! Ja, liebe Frau von Bingen, oder darf ich Hildegard sagen? Vielleicht Hilde oder Hildchen?

Hildegard von Bingen: Das konnte schon Hildegard Knef auf den Tod nicht ausstehen, und ich mag es auch nicht, wenn man mich ›Hildchen‹ nennt. Solche Anreden gab es zu meiner Zeit nicht und ich bin auch nicht gewillt, in meinem Nachleben damit anfangen zu wollen, verehrter Herr Biolek.

Alfred Biolek: Oh, das tut mir aber furchtbar leid, bitte entschuldigen Sie vielmals, das sollte keine Herabsetzung Ihrer Person sein, wir hier in Köln haben uns in unserer kleinen Gemeinde einen sehr lockeren Umgangston angewöhnt.

Hildegard von Bingen: In Köln? Wissen Sie nicht, wo wir uns befinden?! In der Unterwelt! Oder, wie manche Schriftsteller, die Dialoge mit bekannten Menschen aus der Geschichte erfanden, es euphemistisch genannt haben: im Elysium.

Alfred Biolek: Huch! Sie haben recht, ich vergesse das immer wieder. Es ist schwierig geworden, sich auf ein anderes Leben einzustellen, besonders wenn alle Welt annimmt, man sei tot.

Hildegard von Bingen: Aber Sie sind doch tot! Ich bin es sogar schon seit achthundertvierundvierzig Jahren. Sie hingegen haben sich uns erst vor zwei Jahren angeschlossen.

Alfred Biolek: Ich scheine mich immer noch in der Eingewöhnungsphase zu befinden. Doch das Essen schmeckt mir weiterhin vorzüglich.

Hildegard von Bingen: Das hört man gern. Was haben Sie denn da auf dem Herd stehen?

Alfred Biolek: Ooch, das ist nur ein ganz gewöhnliches Gericht, ich finde, man muß gar nicht so übertriebene Sachen kochen (man hört im Hintergrund die Koch-Crew lauthals lachen, denn Herr Biolek kocht niemals selbst, sondern läßt für seine Koch-Show kochen, wie seine Mitarbeiter auch die Rezepte für ihn heraussuchen), das kann was ganz Schlichtes sein, aber mit guten Zutaten natürlich. Ja, heute habe ich einen Albanischen Hammeltopf vorbereitet, da kommt auch hundertundfünfzig Milliliter Rotwein daran, aber ich messe da nie so genau nach (schnappt sich die vor ihm stehende Rotweinflasche und kippt unbedenklich Rotwein in den Topf). So! Ja, vorhin habe ich 500g mageres Lammfleisch in gulaschgroße Würfel geschnitten, das Ganze mit Butter und etwas Öl erhitzt und dann bei starker Hitze die Stücke portionsweise kurz angebraten. Es kommt dann soviel Rotwein und Wasser dazu, bis das Fleisch so eben bedeckt ist. Dann habe ich Salz, Pfeffer und Kräuter der Provence dazugetan und es ungefähr zwanzig Minuten schmoren lassen. Und eben habe ich dann noch ein klein wenig Rotwein nachgegossen. Wir müssen jetzt das Fleisch aus dem Topf nehmen und es in eine Auflaufform legen. Dann wird die stark reduzierte Restflüssigkeit dazugegeben. Wenn Sie mir eben behlflich sein könnten und saure Sahne, Joghurt und zwei Eier aus dem Kühlschrank entnehmen? Das muß nämlich nun verquirlt werden. Ja, danke schön, Frau von Bingen. Jetzt salze und pfeffere ich das und gieße es über das Lammfleisch. Dann kommt es ins vorgeheizte Rohr und ist in dreißig Minuten servierfertig.

Hildegard von Bingen: Ich esse kein Fleisch.

Alfred Biolek: Oh Gott! Was hat mir meine Crew da wieder angetan! (Blickt verbiestert in den Hintergrund und schickt böse Blicke ins Dunkle.) Das ist ja furchtbar, eine Katastrophe! Wie kann ich das nur gutmachen?! Frau von Bingen, das war ganz und gar nicht meine Absicht, Ihnen etwas vorzusetzen, was Sie nicht goutieren!

Hildegard von Bingen: Das ist nicht schlimm, ich bin von damals, so um die Jahrtausendwende, also die zwischen 1098 und 1179, ganz andere Kost gewohnt. Wir haben uns mit einfachen Suppen begnügt, so habe ich ein Rezept für eine Kürbissuppe entwickelt, oder auch viele Sorten von Keksen, wie sie heute genannt werden. Darunter auch meine berühmteste Mischung, die Galgant-Plätzchen. Es ist kaum zu glauben, wieviele Verlage heute Bücher herausbringen, auf denen mein Name steht und die als ›Hildegard-Kochbücher‹ verkauft werden. Natürlich werden mir ins Jenseits keinerlei Nachdruckhonorare überwiesen. Aber damit muß man sich abfinden, hier im Elysium gelten ohnehin ganz andere Gesetze.

Alfred Biolek: Ich habe auch mehrere Kochbücher geschrieben (Lachen der Crew aus dem Hintergrund), das erste heißt ›Die Rezepte meines Lebens‹, dem ist ein weiterer Band gefolgt mit dem Titel ›Meine neuen Rezepte‹. Eine Autobiographie habe ich auch geschrieben, ›Bio. Mein Leben‹, dabei hat mir Veit Schmidinger ein bißchen geholfen (Lachen aus dem Hintergrund). Tja, und dann bin ich auch im deutschen Fernsehen präsent gewesen mit meinen Sendungen ›Bio’s Bahnhof‹, ›Boulevard Bio‹ und ›Alfredissimo‹.

Hildegard von Bingen: Ich habe schon davon gehört, daß man sich im 20. Jahrhundert nicht mit einem Medium begnügt hat, man mußte überall zugegen sein. Darüber haben wir damals noch nicht verfügt. Allerdings habe ich tatsächlich auch eine Autobiographie verfaßt, sie trägt den Titel ›Scivias‹, das heißt auf deutsch: ›Wisse die Wege des Herrn‹. Ich beschreibe darin sechundzwanzig religiöse Visionen. »Die Lebensspeise der göttlichen Schriften ist lau geworden« konstatiere ich darin, und das Buch endet mit dem ›Tag der großen Offenbarung‹, worin sich der neue Himmel und die neue Erde ankündigen. Das ist mein bekanntestes Werk geworden, aber ich habe dem noch zwei weitere Bände folgen lassen. In allen diesen Texten geht es um die Erlösung. Dazu habe ich einen neuen Begriff gebildet, die ›Viriditas‹, abgeleitet von ›viridis‹, grün. Das ist eine Grundkraft, die in der ganzen Natur vorkommt. Diese ist die Basis aller Heilung. So bin ich dann auch darauf gekommen, Speisen zu entwickeln, die dem Menschen wohltun, zum Beispiel Dinkelflocken mit Flohsamen, Galgant, Zimt und Apfel. Ich habe mich aber auch in vielen Dingen geirrt, so habe ich die Kartoffeln und Linsen als schädlich angesehen, was ich nach heutiger Prüfung als unsinnig bewerten muß. Wir sind alle nur Kinder unserer Zeit. Wir würden viel Zeit verlieren, wenn ich alle meine Rezepte aufzählen sollte, heute reicht ein Klick ins Internet, um sehr viele davon kennenzulernen. Neben der Ernährung spielte aber natürlich das Gebet eine große Rolle für uns damals.

Alfred Biolek: Da hätten Sie hier in Köln, wo der berühmte Kölner Dom steht, heute die beste Gelegenheit.

Hildegard von Bingen: Sie scheinen sich immer noch in der Phase der Verleugnung zu befinden. Ich bedauere, in Ihren Augen zum Überbringer schlechter Nachrichten zu werden, aber: Ich bin tot und Sie sind tot. Wir sind Gespenster, die um einen Albanischen Hammeltopf herumstehen.

Alfred Biolek: Mein Gott, der Hammel muß aus dem Rohr! (Läuft zum Herd, zieht sich rasch Topfhandschuhe über und öffnet die Klappe.) Hach, das ist gerade noch Mal gutgegangen! So, dann wollen wir den Topf mal auf den Tisch stellen. Sie wollen wirklich nicht kosten? Das machen eigentlich alle meine Gäste. (Zieht einen leicht beleidigten Flunsch.) Auch nicht ein kleines bißchen?

Hildegard von Bingen: So leid es mir tut, aber davon kriege ich keinen Bissen hinunter, auch als Gespenst nicht.

Alfred Biolek: Tja, dann sollten wir uns darüber unterhalten, was die ›Hildegard- Küche‹ eigentlich ausmacht. Sie sind Ihrer Zeit doch weit voraus gewesen.

Hildegard von Bingen: Das habe ich doch gerade eben bereits ausgeführt. Sind Sie etwas vergeßlich? Außerdem weigere ich mich, auf die Küche festgelegt zu werden, ich habe noch ganz andere Dinge in die Welt gesetzt. Ich bin Komponistin, vor allem aber als Mystikerin bekannt, auch habe ich eine Geheimsprache entwickelt. Zudem habe ich ein Kloster gegründet, das heute leider nicht mehr erhalten ist. Vor kurzem hat mich Papst Benedikt XVI. zur Heiligen erklärt, na ja, dagegen kann man wohl nichts unternehmen, die Menschen benötigen anscheinend ständig Götzen, um ihr schwach entwickeltes Selbstbewußtsein daran aufzurichten.

Alfred Biolek: Ich hatte im Jahre 2002 in meiner Talkshow ›Boulevard Bio‹ Gerhard Schröder und Wladimir Putin zu Gast.

Hildegard von Bingen: Und?

Alfred Biolek: Ich wollte nur sagen: Ich hatte im Jahre 2002 in meiner Talkshow ›Boulevard Bio‹ Gerhard Schröder und Wladimir Putin zu Gast.

Hildegard von Bingen: Ist Ihnen nicht wohl? Hier, versuchen Sie mal einen meiner Nervenkekse (greift in ihre Handtasche und holt einen Plastikbeutel mit dunkelbraunen Keksen hervor).

Alfred Biolek: (beißt in einen Keks) Mmhh! Mmhh! Ja, die sind ja vorzüglich, da müssen Sie mir das Rezept dalassen, die werde ich nachbacken, obwohl ich eigentlich gar nicht gern backe, denn da muß man sich so streng an die Vorschriften halten. Ich koche lieber, da kann man improvisieren und es in allem nicht so genau nehmen.

Hildegard von Bingen: Ich bin zu meiner Zeit häufig angefeindet worden. Wenn ich gegen zu langes Beten und eine überlange Liturgie mich aussprach, oder auch was die Mahlzeiten im Kloster anbetraf, mich für eine gemischte Kost, für Fisch, Fleisch, Käse und Eier ausprach, so wurde ich von der oberen Geistlichkeit dafür gerügt. Na, und lassen sie mich gar nicht erst anfangen, wenn es um die Berechtigung einer Frau geht, in religiösen und kirchlichen Dingen mitzureden, das war vielleicht eine Ochsentour, die man durchstehen mußte. Man hat mir vorgeworfen, daß meine Gedanken »unmittelbar aus der List des Teufels entsprungen« seien. Den Teufel hat man damals gern benutzt, um jemanden fertigzumachen.

Alfred Biolek: Ogottogott! Hildegard! Das tut mir so leid! Diese Männer! Damals wie heute! Das Patriarchat war und ist eine schlimme Einrichtung.

Hildegard von Bingen: Man darf sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Und die Zeit wendet alle Dinge. Heute bin ich in der ganzen Welt bekannt, und die hinterhältigen Verleumder meiner Person sind als anonyme Asche in alle Winde verstreut.

Alfred Biolek: Ja, da haben Sie recht. Aber was bleibt von einem, wenn man nicht mehr ist? Das ist die Frage, die mich mein ganzes Leben umgetrieben hat. Deshalb habe ich eine Sendung nach der anderen produziert und auf alle erdenkliche Weise die Flucht in die Öffentlichkeit angetreten. Doch die Medienpräsenz ist eine flüchtige Sache. Sie bleibt nur bestehen, wenn man immer wieder neue Dinge lanciert und sich so den Leuten ins Gedächtnis gräbt.

Hildegard von Bingen: Beruhigen Sie sich, die Tatsache, daß Sie sich mit mir unterhalten dürfen, spricht doch dafür, daß Sie eine gewisse Prominenz behalten haben. Schließen wir unsere Unterhaltung mit einem Satz von mir: »Wie gewöhnliche Speisen durch den Geschmack der Gewürze in besser schmeckende verwandelt werden, so wird durch das Feuer des Heiligen Geistes die gewöhnliche Natur des Menschen in eine bessere umgewandelt.«

Kriegsmüdigkeit

In einer ehemaligen Waffenfabrik in Toledo trafen sich die EU-Außenminister. Seit 1761 waren dort Schwerter, später Patronen hergestellt worden. Man beriet über weitere Gelder für die Ukraine. Der spanische Außenminister sagte: »Das ist doch eine großartige Metapher für das, was wir mit unserer Unterstützung der Ukraine erreichen wollen.« Die Begriffe Metapher und Symbol werden von Außenministern, nicht nur denen aus Spanien, gern durcheinandergebracht. Es mag ein symbolischer Ort sein, wenn man zum Thema von politischen Verhandlungen eine ehemalige Waffenfabrik wählt, und wenn es um die Finanzierung eines Krieges geht, der nach den jüngsten Einschätzungen mindestens bis ins Jahr 2027 andauern wird. So sind fünf Milliarden Euro von 2024 bis 2027 fest eingeplant. Der litauische Außenminister gab eine Prognose ab: »Wir werden an der Seite der Ukraine stehen bis zum ukrainischen Sieg.« In der Frage von Krieg und Frieden geht es auf beiden Seiten immer darum, für die eigene Seite den Sieg davonzutragen, auch wenn es schon vorgekommen ist, daß sich der Krieg unter solchen unbedingten Voraussetzungen lange hingezogen hat. Krieg macht offensichtlich müde und das gilt nicht nur für die Soldaten auf den Schlachtfeldern, sondern in ebenso großem Maße für die kriegsführende Öffentlichkeit, die für ihr Geld auch Erfolge sehen möchte. Sowohl der litauische Außenminister wie der EU-Außenbeauftragte spüren dies und konstatieren eine Ermüdung auf seiten der den Krieg finanzierenden Länder. Das viele Geld sei eine »Investition in den Frieden Europas«. Deshalb müsse man Geduld haben und der Ukraine nicht mangelnde Erfolge beim Zurückdrängen des Feindes vorwerfen. Das naheliegende Wort ›Durchhalten‹ fiel dabei nicht, dafür aber überschrieb die Große Frankfurter ihren Bericht aus Toledo mit der Überschrift: »Ein Mittel gegen Kriegsmüdigkeit«.
In der ›Fackel‹ vom 23. Mai 1918 (20. Jg., Heft 474–483, 153) hat Karl Kraus in einer Glosse sich des Wortes angenommen:

Kriegsmüde
— das ist das dümmste von allen Worten, die die Zeit hat.
Kriegsmüde sein das heißt müde sein des Mordes, müde des
Raubes, müde der Lüge, müde der Dummheit, müde des Hungers,
müde der Krankheit, müde des Schmerzes, müde des Chaos. War man
je zu all dem frisch und munter? So wäre Kriegsmüdigkeit wahrlich
ein Zustand, der keine Rettung verdient. Kriegsmüde hat man immer
zu sein, das heißt, nicht nachdem, sondern ehe man den Krieg
begonnen hat. Aus Kriegsmüdigkeit werde der Krieg nicht
beendet, sondern unterlassen. Staaten, die im vierten Jahr der
Kriegführung kriegsmüde sind, haben nichts besseres verdient
als — durchhalten!

Neue Gespräche im Elysium I

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 v.u.Z – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.

Klaus Kinski meets Karl Lagerfeld

(Aus dem Hintergrund hört man lautes Schreien. »Du blödes Schwein, wo ist mein Geld?!« — »Aber Klaus, ich bin doch dein Agent und wir sind hier doch auf der Insel der Seligen, da brauchen wir alle kein Geld, wieso verstehst du das denn nicht? Du bist tot!« — »Ich hau’ dir eins in die Fresse, du dumme Sau!«. Klaus Kinski betritt ein Café, immer noch sichtlich erregt darüber, daß er ohne Geld sich zu einer Unterhaltung mit dem bereits eingetroffenen Karl Lagerfeld bereitfinden soll.)

Karl Lagerfeld: Guten Tag, Herr Kinski! Wie schön, daß Sie Zeit gefunden haben, sich mit mir hier zu treffen, wenn auch die Umstände des Ortes nicht die allervorteilhaftesten sind. (Wendet den Kopf hin und her und zuckt leicht mit den Schultern ob der nicht ganz standesgemäßen Umgebung.)

Klaus Kinski: Mmhh, ja, Hi, Mister Lagerfeld. Nice to meet you.

Karl Lagerfeld: Ich nehme an, es ging bei der Unterhaltung eben um das Honorar, habe ich recht? Na ja, wir befinden uns auf der Insel der Seligen, und bekanntlich sind die Seligen auch ohne Geld selig. Es wäre aber doch schön, wenn man etwas gezahlt bekäme, denn man weiß ja nicht, ob man es irgendwann später doch einmal braucht. Auch im Elysium bleibt die Zeit nicht stehen.

Klaus Kinski: What the fuck?! Was quasselst du mich so an? Weißt du, ich habe früher Interviews gegeben und war in Talkshows, wo diese Modera-Toren! so taten, als würden sie mich was fragen, ja? Da sagt diese Alida, Herr Kinski, warum spielen Sie bloß immer diese Bösewichte, warum wollen Sie nicht mal eine andere Rolle übernehmen. Ich verstand gar nicht, wovon sie überhaupt redete. Sie hörte gar nicht mehr auf. Klaus, sagte sie, wieso mußt du immer diese kaputten Typen spielen, Psychotiker, Mörder. Dabei hat schon Goethe gesagt, daß wir alle nur zufällig nicht Mörder geworden sind. Wir sind alle Mörder.

Karl Lagerfeld: Ja, ich kann Sie gut verstehen, dieses Leben im Lampenlicht, leicht war es nicht, aber was blieb mir übrig, wenn ich meine Klamotten gut verkaufen wollte, mußte ich da mitmachen. Anders ging es gar nicht. Ohne den Medienzirkus bist du niemand. Und dann kam das viele Geld herein durch meine Kollektionen und so habe ich mich dann darauf eben eingestellt. Und dann mußte ich mich auch gegen den Neid der Kollegen aus der Modebranche immunisieren. So hat Oscar de la Renta über mich geagt: »Karl hat beachtlichen Einfluß, weil er die Damen von der Presse mit aller Macht überzeugt hat, daß das, was er entwirft, ganz wundervoll ist«. Im Vertrauen gesagt, etwas ganz Neues habe ich auch nicht erfunden, visionäre Schöpfungen durfte man von mir nicht erwarten. Ich habe für meine Kollektionen die Traditions-Bestände ausgebeutet, immer auf der Suche nach dem noch nie Dagewesenen. Dazu habe ich alles herbeizitiert, alles zusammengemischt, es konnte gar nicht eklektisch genug sein. Ich habe den Leuten eine Karikatur meiner selbst geboten. Ich bin eine Karikatur. Schwarzer Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte, dunkle Brille, dazu Fächer und Zopf, das war für Jahrzehnte die Maskerade meines Lebens.

Klaus Kinski: Wo bin ich hier? Was faselst du denn da? Worüber reden wir eigentlich? Es geht doch um Geld, nur darum geht es. Wenn ich ein Angebot für einen Film bekommen habe, da habe ich doch nicht das Drehbuch gelesen, das habe ich meinem Agenten gegeben und habe ihm gesagt: Hole so viel Geld wie möglich heraus, ja? Die Rollen waren mir scheißegal, Hauptsache, sie brachten Geld, nur das Geld interessiert mich. Aber die Leute reden ständig von Kunst. Diese blöden Arschlöcher.

Karl Lagerfeld: Als Modedesigner mußte ich mich zu einer Maschine machen, die kalt und unbeteiligt das Leben beobachtet. Mein Innenleben geht die Leute gar nichts an. Wie Warhol hatte ich ein Credo der Oberflächlichkeit. Das bedeutet nicht, banal und seicht zu sein. Ich wußte nur, welche Macht die Mode, der Inbegriff des Oberflächlichen, des Substanzlosen, auf das tägliche Leben hat. Um das zu verkaufen, mußte ich pausenlos Konversation treiben, was mir nicht schwergefallen ist, weil ich nun mal von Hause aus eine Plaudertasche bin. Das Amüsement für die Masse der Leute bestand dann darin, daß sie immer erwartungsvoll an meinen Lippen hingen und ständig Bonmots von mir verlangten. Deshalb bin ich auch in jede Talkshow gegangen, weil das der beste Ort war, um den Käufern meiner Kollektionen zu zeigen, wie amüsant ich bin und wie perfekt ich mich selbst darzustellen vermag.

Klaus Kinski: Du gehst mir auf den Senkel mit deinem Gequatsche, was soll das hier werden, wir haben hier nicht mal Kameras, die uns aufnehmen, was soll das hier alles eigentlich. Du bist ein Pretender, das bist du.

Karl Lagerfeld: Ich hatte eine Bibliothek mit mehr als dreihunderttausend Bänden.

Klaus Kinski: Pretender!

Karl Lagerfeld: Ich habe jeden Tag zehn Bücher gelesen.

Klaus Kinski: Du hast gebrowst, die Bücher durchgeblättert. Da kommt man schnell auf zehn Stück am Tag.

Karl Lagerfeld: Marcel Proust. Ich habe Marcel Proust gelesen. Ich finde den Stil toll, aber den Inhalt finde ich nicht so toll. In Bezug auf Worte, Satzstellung und so ist das schon genial. Das Thema interessiert mich nicht, aber die Art, wie es geschrieben ist, ist genial.

Klaus Kinski: Hörst du dir eigentlich zu, wenn du was sagst?! »Ich finde den Stil toll«. Was ist das für eine Sprache, wo man den Stil als »toll« bezeichnet? Und das Thema interessiert den feinen Herrn nicht, aber das Thema ist doch dein Thema, lieber Herr Schwuchtel! Der Baron Charlus, ja, kennst du den nicht, das ist doch ein Verwandter von dir. Das ist dein Thema. Aber nein, Mister Lagerfeld steht auf Stil, auf tollen Stil, er ist scharf auf die Satzstellung, das Thema ›Sodom und Gomorra‹ interessiert ihn nicht die Bohne. Du mieser kleiner Heuchler, du!

Karl Lagerfeld: Ich denke, wir müssen doch versuchen, auf einer zivilen Ebene zu verbleiben, diese Insolenz und diese Insulte mag ich gar nicht.

Klaus Kinski: Du blöde Sau, du dumme Sau! Wen markierst du denn hier? (Aus dem Hintergrund ruft dessen Agent: »Klaus, bitte, mäßige dich doch!«) Was ist los? Du hast mich doch hier reingeritten! Was soll ich hier? Was will dieser Modefuzzi? Ich will mein Geld! Wo ist mein Geld?

Zum 31. August 1933

»Ich bin der König«, sagte Reichsminister Frank, Generalgouverneur von Polen, indem er die Arme breit von sich streckte und eine stolzen, selbstgefälligen Blick auf seinen Tafelgästen ruhen ließ. […] Ich saß an der Tafel Franks, des deutschen Königs von Polen, im Wawel, der alten polnischen Königsburg von Krakau. […] Um die reichbedeckten Tische sah ich wieder die Nacken, die Bäuche, die Münder, die Ohren, wie Grosz sie zeichnete; jene kalten starren Augen, jene Fischaugen. […] Doch jetzt öffnete sich langsam die Flügeltür, und auf einer Silberplatte hielt eine gebratene Gans ihren Einzug, auf dem Rücken liegend, inmitten einer Girlande buttergebräunter Kartoffeln. […] Ich weiß nicht warum, aber ich mußte denken, daß sie nicht in der guten alten Weise mit dem Messer abgestochen, sondern an die Wand gestellt und von einem SS- Exekutionskommando erschossen worden war. […] Die Gans war sicherlich mit erhobener Stirn gefallen, den grausamen Unterdrückern Polens ins Gesicht blickend. […] Gouverneur Fischer erzählte, während er sich mit dem Löffel seine Hirschfleischscheiben mit einer goldgelben Sauce beträufelte, wie die Juden im Ghetto begraben wurden: »Eine Schicht Leichen und eine Schicht Kalk«, wie wenn er sage: »Eine Scheibe Fleisch und eine Schicht Sauce, eine Scheibe Fleisch und eine Schicht Sauce.«

(Curzio Malaparte [eigtl. Kurt Erich Suckert (1898–1957)]: Kaputt [zuerst Neapel 1944], [dt. Karlsruhe 1951; ²1961], 63, 67, 73, 75, 104)