Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog

Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.

Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«

Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.

Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.

Neue Gespräche im Elysium III

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 v.u.Z – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.

Groucho Marx meets Erich und Mathilde Ludendorff

In dem mit Zehntausend überfüllten Riesensaal steht auf der Rednertribüne ein gepflegter, strammer Herr. Das starre Willensgesicht etwas gedunsen. Schlohweiß das Haar. Am schwarzen Zivilrock trägt er er nur das Eiserne Kreuz. Er spricht schwerfällig, monoton, einfältig. Dieser ungeistigste Mensch, der über gar nichts in der Welt wirklich klar ist, hat doch in seiner Enge einen Hang zum Geist, fast möchte ich sagen: ›Angst vor dem Geist‹. Er wurde hörig, als der Geist ihm entgegentrat in der Gestalt einer wirklich bedeutenden Frau. Alles, was er seitdem orakelte, über Rückkehr zu Wodan, volkstümlichen Mythos und deutsche Sendung, das hieß: ›Mathilde v. Kemnitz‹. (Theodor Lessing, 1931)

Groucho Marx: Ojemine! Wer sind denn die beiden? (schaut auf ein älteres Ehepaar, das auf einer Holzbank in einem Biergarten sitzt). Mit denen soll ich mich unterhalten? Was hat mein Agent sich nur dabei gedacht? (tritt näher) Guten Tag, meine Herrschaften! Schönes Wetter heute?

Erich Ludendorff: Guten Tag, mein Herr, mit wem haben wir das Vergnügen?

Groucho Marx: Mein Name ist Groucho Marx und ich bin Komiker.

Mathilde Ludendorff: Nur das nicht! Wir sind hier in der Unterwelt, da ist kein Platz für Komik. Groucho? Was ist das für ein Vorname? Habe ich noch nie gehört. Und Marx? Wie in Karl Marx, dem Juden? Sind Sie Jude?

Erich Ludendorff: Na, Mathilde, nun sei man nicht so. Er scheint doch ein ganz verträglicher Knabe zu sein. Angezogen ist er jedenfalls wie ein feinerer Herr. Sind Sie auf dem Weg zu einem Opernball?

Groucho Marx: Sehr freundlich von Ihnen, aber das ist meine Berufskleidung. Und wie darf ich Sie anreden?

Erich Ludendorff: Ich bin General Erich Ludendorff. Ich war Erster Generalquartiermeister im Ersten Weltkrieg. 1920 und 1923 habe ich zusammen mit anderen Gesinnungsfreunden einen Putsch zum Sturz der ›Weimarer Republik‹ unternommen. Später habe ich mit meiner Frau Mathilde eine politische Zeitschrift herausgeben und mit ihr Bücher geschrieben. Wir waren die politischen Führungspersonen des von mir gegründeten ›Tannenbergbundes‹ und dessen Zeitschrift, der ›Volkswarte‹.

Groucho Marx: Ja, sowas! Da sind sie ja eine Berühmtheit! Was für eine Ehre, ihre Bekanntschaft machen zu dürfen.

Erich Ludendorff: Und welche Art von Berühmtheit haben Sie?

Groucho Marx: Wenn Sie schon einmal in einem Lichtspieltheater gewesen sind, haben Sie vielleicht einen meiner Filme gesehen, die ich zusammen mit meinen Brüdern gemacht habe.

Mathilde Ludendorff: Wir haben immer nur das Theater und die Oper besucht. Das kinematographische Theater bleibt dem Plebs vorbehalten.

Erich Ludendorff: Na, Mathilde, nun ereifere dich mal nicht so. Bedenke doch, daß ich während des Krieges maßgeblich dafür verantwortlich war, den Film als Propagandamittel, als weitere Kriegswaffe zum Einsatz zu bringen.

Groucho Marx: Ich habe mich in meinen Filmen eigentlich über alles lustig gemacht, vor meinem Humor war nichts sicher.

Erich Ludendorff: Humor hat man mir schon als junger Kadett auf der Militärschule nicht nachsagen können und deshalb wollen wir es jetzt, nach meinem Tode, auch nicht dazu kommen lassen.

Mathilde Ludendorff: Wir sind beide führende Persönlichkeiten der völkischen Bewegung. Da hat man keinen Humor zu haben. Das führt in der Politik auch zu nichts. Sie sind ein Hofnarr, nehme ich an, und können sich solche Abweichungen erlauben. Wir haben ernstere Ziele verfolgt.

Groucho Marx: Den Totalen Krieg, nehme ich an?

Erich Ludendorff: ›Der totale Krieg‹ ist in der Tat der Titel meines 1935 erschienenen Buches. Alle meine Gedanken kreisen um den Krieg. 1919 habe ich ›Meine Kriegserinnerungen‹ herausgeben, 1922 folgte ›Kriegführung und Politik‹, 1928 ›Kriegshetze und Völkermorden in den letzten 150 Jahren‹, 1930 ›Weltkrieg droht auf deutschem Boden‹, nicht zu reden von kleineren Schriften und dem, was ich in Periodika veröffentlicht habe. Mit meiner Frau habe ich weitere Bücher geschrieben, vor allem aber mit ihr die politische Zeitschrift ›Ludendorff’s Volkswarte‹ geschrieben, die 1929 begründet wurde und 1933 von diesem unseligen Hitler verboten wurde. Wir haben sie dann unter einem neuen Titel, ›Am Heiligen Quell Deutscher Kraft‹ erscheinen lassen. Es war ein Katz-und-Maus-Spiel mit dem NS-Regime.

Groucho Marx: Meine Lebenserinnerungen sind 1959 unter dem Titel ›Groucho und ich‹ erschienen, dann folgte 1965 noch ein weiterer Band, der heißt: ›Memoiren eines spitzen Lumpen‹.

Mathilde Ludendorff: Sie sind Jude, richtig?

Groucho Marx: Ich möchte keinem Verein angehören, der mich als Mitglied aufnimmt.

Erich Ludendorff: Der junge Herr macht Witze. Die Art, wie er antwortet, weist auf jüdischen Humor hin.

Groucho Marx: Ich gebe mich geschlagen.

Mathilde Ludendorff: Mein Mann und ich haben unser ganzes Leben dem Kampf gegen das Weltjudentum, das römisch-katholische Christentum und die internationale Freimaurerei gewidmet. Die überstaatlichen Kräfte, Sie verstehen?

Erich Ludendorff: Das wird Sie als Jude sicherlich nicht interessieren, Sie feiern ja nicht Weihnachten, aber wir haben gemeinsam unter vielen anderen auch eine kleinere Schrift verfaßt, die den Titel ›Weihnachten im Lichte der Rasseerkenntnis‹ trägt. Das ist 1933 zuerst erschienen. Ich zitiere aus meinem Vorwort »Das Rasseerwachen infolge der Todesnot des Volkes im Weltkriege und nach ihm hat sich in dem Gotterkennen, das meine Frau uns schenkte, zur letzten Klarheit durchgerungen. Das Gottahnen unserer Vorfahren hat Erfüllung gefunden. Eng verwoben lebt unser Geschlecht jetzt wieder mit den Ahnen.«

Mathilde Ludendorff: Das Weihnachtsfest ist nämlich urdeutsch und nicht christlich. Das Christentum ist eine jüdische Erfindung. Meine ›Deutsche Gotterkenntnis‹ sollte dem entgegentreten.

Groucho Marx: Wow, das wußte ich nicht. Da dreht sich die Weltkugel plötzlich ganz anders herum.

Erich Ludendorff: Nicht wahr, das müssen selbst Sie zugeben. Und bis 1933 haben wir in ›Ludendorff’s Volkswarte‹ auch immer wieder gedrängt, schärfer gegen die Juden vorzugehen.

Groucho Marx: Wenn ich richtig informiert bin, sind Sie 1937 gestorben, da haben Sie die später getroffenen Maßnahmen des neuen Regimes gar nicht mitbekommen.

Erich Ludendorff: Ja, das habe ich erst im Totenreich erfahren müssen, wie Hitler und seine Schergen vorgegangen sind. Alle meine Reden gegen die Juden haben doch immer nur die eine Richtung gehabt: Weist sie aus deutschen Landen aus! Aber diese Konzentrations- und Vernichtungslager, daran habe ich nie gedacht, das war monströs. Ich habe auch vor einem weiteren Weltkrieg, dem totalen Krieg, gewarnt. Und der ist dann 1939 auch eingetreten, ich hatte ihn immerhin für das Jahr 1941 vorhergesagt.

Mathilde Ludendorff: Mein Mann hat gleich nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler an Hindenburg geschrieben: »Sie haben durch die Ernennung Hitlers zum Reichskanzer einem der größten Demagogen aller Zeiten unser heiliges deutsches Vaterland ausgeliefert. Ich prophezeie Ihnen feierlich, daß dieser unselige Mann unser Reich in den Abgrund stoßen, unsere Nation in unfaßliches Elend bringen wird, und kommende Geschlechter werden Sie verfluchen in Ihrem Grabe, daß Sie das getan haben.«

Erich Ludendorff: Ja, Mathilde, das habe ich zwar so schon gedacht, aber dieser Brief ist nie geschrieben worden. Dieser Hans Frank, der sich ›König von Polen‹ hat nennen lassen, hat in seinen Erinnerungen ›Im Angesicht des Galgens‹ diese Sätze angeführt und mir in den Mund gelegt. Sachlich stimmt das aber und ähnlich lautende Sätze habe ich damals mehrfach ausgesprochen.

Groucho Marx: Haben Sie denn vor 1933 irgendwann einmal den Sprung in die große Politik gewagt?

Erich Ludendorff: Ja, durchaus, das war während der Kandidatur für das Amt des Reichspräsidenten, 1925.

Groucho Marx: Und wieviel Prozent der Stimmen haben Sie erhalten?

Erich Ludendorff (errötend): 1% der Stimmen.

Groucho Marx: Ich habe auf Drängen meiner Freunde einmal auf das Amt des Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika kandidiert. Meine Gönner meinten, das wäre genau der richtige Job für mich, weil Vizepräsidenten grundsätzlich die Klappe halten müssen und ich ja gern schwafele. Während des Wahlkampfs habe ich dann eine Äußerung eines ehemaligen Vizepräsidenten aufgegriffen, der gemeint hatte, was das Land wirklich brauche, das sei eine gute 5-Cent-Zigarre, und ich habe das dann umformuliert in den Slogan: Was das Land wirklich braucht, ist eine gute 5-Cent-Münze. Weitere Forderungen waren die Einführung eines guten Schinkensandwich. Ohne alles. Denn diese Kleinkrämerdrogisten haben das gute alte Schinkensandwich verhunzt durch Zutaten wie Tomaten, Speck oder Brokkoli. So weit war es in unserem Land gekommen. Eine weitere Forderung war die nach unbegrenzter Polygamie. Denn seien wir ehrlich, der schöne Brauch der Vielweiberei verschwindet allmählich selbst in den Ländern, wo das seit langem eine alte Tradition war.

Mathilde Ludendorff: Ja, schämen Sie sich denn nicht? Was reden Sie denn da? Die Ehe ist eine von Gott gewollte und durch Gott geheiligte Einrichtung. Wir haben doch damals in der sogenannten ›Weimarer Republik‹ erleben müssen, wie die zügellosen Kreise der Boheme unser schönes Deutschland in den Schmutz gezogen haben, natürlich unter kräftiger Mitwirkung des internationalem Judentums und der katholischen Mafia.

Groucho Marx: Ich bin bloß ein unbedeutender Vaudeville-Schauspieler. Machen Sie mich nicht haftbar für Dinge, auf die ich keinen Einfluß gehabt habe. Ihre Ansicht vom allgegenwärtigen Schmutz teile ich aber nicht. Jede durchschnittliche Ehefrau sehnt sich doch nach vielen Ehejahren nach etwas Jüngerem und Frischerem als ihrem Gatten. Jemand ohne Bauch und mit Haaren (nimmt Erich Ludendorff dabei ins Visier), und zwar nicht auf dem Bauch, sondern auf dem Kopf.

Erich Ludendorff:  Wissen Sie, ich hatte einmal einen Zusammenstoß mit einem gewissen Subjekt namens Karl Tschuppik, der hat ein Buch über mich veröffentlicht, das hieß: ›Ludendorff. Die Tragödie des Fachmanns‹, das ist 1931 erschienen und das hatte ich gerade angewidert gelesen, da traf ich diesen Herrn zufällig auf der Straße und da habe ich ihm gedroht, meinen Schäferhund auf ihn zu hetzen. Da hat er Fersengeld gegeben. Und das werde ich Ihnen nun auch androhen, wenn Sie nicht unverzüglich das Weite suchen.

Groucho Marx: Du meine Güte, an wen bin ich denn hier geraten?

Mathilde Ludendorff: Mein Mann hat schon kurz vor dem Zusammenbruch der militärischen Front vor dem Dolchstoß in den Rücken der deutschen Nation gewarnt. Und so ist es dann ja auch gekommen. Niemals hätten wir den Krieg verloren, wenn nicht der innere Feind mit seiner politischen Wühlarbeit unseren Zusammenhalt geschwächt und uns damit dem äußeren Feind wehrlos ausgeliefert hätte.

Erich Ludendorff: Das war wie in der Nibelungensage, als Hagen von Tronje dem deutschen Helden Siegfried den Speer in die verwundbare Stelle auf dem Rücken gestoßen hat. Auch solche Strolche wie Sie haben mit dazu beigetragen, daß Deutschland ohnmächtig vor der Macht des Feindes gefallen ist. Ich mußte 1918 nach Schweden fliehen und war gezwungen zur Tarnung eine blaugetönte Sonnenbrille zu tragen. Aber als ich 1926 Mathilde von Kemnitz geheiratet habe, da fand Siegfried seine Kriemhild.

Groucho Marx: Seien Sie mir nicht bös, aber übertreiben Sie nicht mehr als nur ein wenig? Ihr zwei beide seid das, was man in Amerika einen ›fruitcake‹ nennt, ihr seid zwei große Spinner.

Mathilde Ludendorff: Scheren Sie sich zum Teufel, Sie gehören überhaupt nicht hierher, das Elysium, die Insel der Seligen ist nur wirklich ehrbaren Mitgliedern der Menschheit vorbehalten. Ich weiß gar nicht, wie Sie hier hereingekommen sind. Ich werde höheren Orts Meldung machen und für Ihre Entfernung plädieren. 1949 hat man mich vor eine sogenannte ›Spruchkammer‹ geladen, um herauszufinden, ob ich das Nazi-Regime gefördert habe. Man stelle sich vor! Und ein österreichischer Jude namens Alfred Polgar schmutzte über mich: »Die Angeklagte ist zweiundsiebzig, entsprechend grau, bebrillt. Vortrag und Tonfall sind die einer Kartenaufschlägerin. Einer Wahrsagerin vom Rummelplatz«. Solche Schweinehunde haben nach 1945 meinen untadeligen Ruf als deutsche Gotteserkennerin zu besudeln versucht! Zuerst wurde ich als ›Hauptschuldige‹ verurteilt, in einem Revisionsverfahren dann als ›Belastete‹ eingestuft. Ja, ich mußte mich sogar einer psychiatrischen Untersuchung unterziehen, ich, die ich ursprünglich als Nervenärztin praktiziert habe! Diese ›Untersuchung‹ ergab, daß ich nicht krank bin und daß meine Schriften »ein normales System der Propaganda« gewesen seien. Solchen Demütigungen wurde ich ausgesetzt durch das neu installierte demokratische Regime bis zu meinen Tod im Jahre 1966, dem Jahr, als ein Gericht das Verbot meines ›Bundes für Gotteserkenntnis‹ bestätigte. Dahinter steckte natürlich das überall sich einmischende internationale Juden- und Katholikentum. Aber 1977 hob man das Verbot auf, darüber konnte ich mich dann nur noch posthum freuen.

Groucho Marx: Ich habe mich nicht um ein Gespräch mit euch Verrückten beworben, das war die Idee meines Agenten. Wenn ich gewußt hätte, was mich hier erwartet, wäre ich ganz bestimmt nicht gekommen. Zu euch Ludendorffern fällt selbst einem Komiker nichts mehr ein (steht auf und eilt mit schnellen Schritten dem Ausgang zu).

 Mathilde Ludendorff: Wir sehen uns in der Hölle!

Stärker aufstellen

Der Vertreter des deutschen Außenministeriums, der seit Amtsantritt hauptsächlich durch das Tragen von häufig wechselnden modischen Kleidern und Schuhen aufgefallen ist, hat bei der jährlich wiederkehrenden Botschafterkonferenz im Auswärtigen Amt eine Rede vor den versammelten zweihundertsechsundzwanzig Vertretern im Ausland gehalten. Durch den russischen Angriffskrieg habe man »auf brutale Art und Weise« verstehen müssen, daß die eigene Sicherheit, also die der Bundesrepublik Deutschland, »nicht selbstverständlich« sei. Aus dieser Bestandsaufnahme, die die Existenz eines Ministeriums vergißt, das für den Erhalt der Bundeswehr, des Militärs, zuständig ist, ergaben sich folgende Forderungen: »Erstens müssen wir uns neu und stärker aufstellen – politisch, wirtschaftlich, militärisch, zivil und mental.« Dazu müsse man »in die eigene Stärke investieren«. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs las Karl Kraus in den Zeitungen vermehrt von einer immer wiederkehrenden Redewendung: Ausgebaut und vertieft. Zwischen den Staaten wurden ständig die Beziehungen »ausgebaut und vertieft«. Das klang wie eine Beschwörungsformel und war doch nur eine Phrase, die zur Illustration der selbstverständlichen Praxis diente, daß Staaten normalerweise Beziehungen unterhalten, die der Verständigung dienen und überdies den Handel und Verkehr fördern. Die zweite Forderung des deutschen Außenministeriums ist es, daß man »nach außen in unsere europäischen und transatlantischen Allianzen investieren« müsse. Man müsse immer wieder den Mut haben, »Dinge anzustoßen und auch bei Gegenwind nicht einfach einzuknicken«. Die Begründung: »Weil wir es uns nicht leisten können, die Hände in den Schoß zu legen und beim kleinsten Hauch von Widerstand aufzugeben«. Mit der Stärke verhält es sich wie mit dem Ausbau und der Vertiefung: es mag solche Stärke vorhanden sein und sie mag des Ausbaus und der Vertiefung bedürfen, vor allem wenn von außen eine Bedrohung zu registrieren ist. »Nie aber ist so der ganze Inhalt einer Zeit Geräusch geworden, nie so der Bund von Ton und Ding, einer hoffnungslosen Welt und eines verzweifelten Rhythmus, ausgebaut und vertieft gewesen« liest man bei Karl Kraus. Stärker aufstellen,  auch wenn Gegenwind droht, das ist so, als ob man dazu dann sowohl »politisch, wirtschaftlich, militärisch, zivil und mental« stärker aufgestellt, ausgebaut und vertieft werden müßte, und das kann nur heißen: so tun, als sei man stark, als sei man unbezwingbar, aber nur, wenn man immer stärker sich aufstellt, auch wenn niemand weiß, wie man sich so etwas vorstellen soll. Natürlich ist der letzte Punkt in der Reihe der Felder, auf denen man sich stärker aufzustellen anschicken muß, von besonderer Bedeutung: die mentale Aufstellung. Das ist die geistige Aufrüstung, die nicht viele Milliarden wie die Anschaffung von schweren Waffen kosten wird, sondern die jeder Bürger in sich aufstellen kann, wenn er nur will und wenn er bereit ist, bei Gegenwind nicht umzufallen und die Hände nicht in den Schoß zu legen, weil dann der äußere Feind Witterung aufnimmt und sich zum Angriff bereit hält. Wir müssen seit geraumer Zeit mit der Phrase von der »starken Frau« leben, die davon lebt, so zu tun, als sei es erstrebenswert, daß Frauen sich nach dem überkommenen Bild der mächtigen Männer zu formen haben und ebenso rücksichtslos und brutal auftreten wie uns dies die Geschichte des Patriarchats gelehrt hat. Statt »starke Frau« hat sich dann das Wort von der »Powerfrau« durchgesetzt, das noch stärker betont, wozu die erworbene Stärke, »politisch, wirtschaftlich, militärisch, zivil und mental« gut ist: Uneingeschränkt Macht auszuüben und den eigenen Vorteil stets im Blick zu haben. Das bewundert man nun an Frauen in Führungspositionen und an Staaten, die nicht einknicken und bereit sind, sich stärker aufzustellen.

Neue Gespräche im Elysium II

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 v.u.Z – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.

Alfred Biolek meets Hildegard von Bingen

Alfred Biolek: Mmmhh! Mmmhh! Mmmhh! (Herr Biolek kostet vom heutigen Tagesgericht, welches die Crew für ihn gekocht hat. Dabei schenkt er sich immer wieder ein Glas des ›Hausweins‹ ein und nimmt einen ordentlichen Schluck.) Ooch, da kann man sich dran gewöhnen. Ah, wunderbar! Ja, liebe Frau von Bingen, oder darf ich Hildegard sagen? Vielleicht Hilde oder Hildchen?

Hildegard von Bingen: Das konnte schon Hildegard Knef auf den Tod nicht ausstehen, und ich mag es auch nicht, wenn man mich ›Hildchen‹ nennt. Solche Anreden gab es zu meiner Zeit nicht und ich bin auch nicht gewillt, in meinem Nachleben damit anfangen zu wollen, verehrter Herr Biolek.

Alfred Biolek: Oh, das tut mir aber furchtbar leid, bitte entschuldigen Sie vielmals, das sollte keine Herabsetzung Ihrer Person sein, wir hier in Köln haben uns in unserer kleinen Gemeinde einen sehr lockeren Umgangston angewöhnt.

Hildegard von Bingen: In Köln? Wissen Sie nicht, wo wir uns befinden?! In der Unterwelt! Oder, wie manche Schriftsteller, die Dialoge mit bekannten Menschen aus der Geschichte erfanden, es euphemistisch genannt haben: im Elysium.

Alfred Biolek: Huch! Sie haben recht, ich vergesse das immer wieder. Es ist schwierig geworden, sich auf ein anderes Leben einzustellen, besonders wenn alle Welt annimmt, man sei tot.

Hildegard von Bingen: Aber Sie sind doch tot! Ich bin es sogar schon seit achthundertvierundvierzig Jahren. Sie hingegen haben sich uns erst vor zwei Jahren angeschlossen.

Alfred Biolek: Ich scheine mich immer noch in der Eingewöhnungsphase zu befinden. Doch das Essen schmeckt mir weiterhin vorzüglich.

Hildegard von Bingen: Das hört man gern. Was haben Sie denn da auf dem Herd stehen?

Alfred Biolek: Ooch, das ist nur ein ganz gewöhnliches Gericht, ich finde, man muß gar nicht so übertriebene Sachen kochen (man hört im Hintergrund die Koch-Crew lauthals lachen, denn Herr Biolek kocht niemals selbst, sondern läßt für seine Koch-Show kochen, wie seine Mitarbeiter auch die Rezepte für ihn heraussuchen), das kann was ganz Schlichtes sein, aber mit guten Zutaten natürlich. Ja, heute habe ich einen Albanischen Hammeltopf vorbereitet, da kommt auch hundertundfünfzig Milliliter Rotwein daran, aber ich messe da nie so genau nach (schnappt sich die vor ihm stehende Rotweinflasche und kippt unbedenklich Rotwein in den Topf). So! Ja, vorhin habe ich 500g mageres Lammfleisch in gulaschgroße Würfel geschnitten, das Ganze mit Butter und etwas Öl erhitzt und dann bei starker Hitze die Stücke portionsweise kurz angebraten. Es kommt dann soviel Rotwein und Wasser dazu, bis das Fleisch so eben bedeckt ist. Dann habe ich Salz, Pfeffer und Kräuter der Provence dazugetan und es ungefähr zwanzig Minuten schmoren lassen. Und eben habe ich dann noch ein klein wenig Rotwein nachgegossen. Wir müssen jetzt das Fleisch aus dem Topf nehmen und es in eine Auflaufform legen. Dann wird die stark reduzierte Restflüssigkeit dazugegeben. Wenn Sie mir eben behlflich sein könnten und saure Sahne, Joghurt und zwei Eier aus dem Kühlschrank entnehmen? Das muß nämlich nun verquirlt werden. Ja, danke schön, Frau von Bingen. Jetzt salze und pfeffere ich das und gieße es über das Lammfleisch. Dann kommt es ins vorgeheizte Rohr und ist in dreißig Minuten servierfertig.

Hildegard von Bingen: Ich esse kein Fleisch.

Alfred Biolek: Oh Gott! Was hat mir meine Crew da wieder angetan! (Blickt verbiestert in den Hintergrund und schickt böse Blicke ins Dunkle.) Das ist ja furchtbar, eine Katastrophe! Wie kann ich das nur gutmachen?! Frau von Bingen, das war ganz und gar nicht meine Absicht, Ihnen etwas vorzusetzen, was Sie nicht goutieren!

Hildegard von Bingen: Das ist nicht schlimm, ich bin von damals, so um die Jahrtausendwende, also die zwischen 1098 und 1179, ganz andere Kost gewohnt. Wir haben uns mit einfachen Suppen begnügt, so habe ich ein Rezept für eine Kürbissuppe entwickelt, oder auch viele Sorten von Keksen, wie sie heute genannt werden. Darunter auch meine berühmteste Mischung, die Galgant-Plätzchen. Es ist kaum zu glauben, wieviele Verlage heute Bücher herausbringen, auf denen mein Name steht und die als ›Hildegard-Kochbücher‹ verkauft werden. Natürlich werden mir ins Jenseits keinerlei Nachdruckhonorare überwiesen. Aber damit muß man sich abfinden, hier im Elysium gelten ohnehin ganz andere Gesetze.

Alfred Biolek: Ich habe auch mehrere Kochbücher geschrieben (Lachen der Crew aus dem Hintergrund), das erste heißt ›Die Rezepte meines Lebens‹, dem ist ein weiterer Band gefolgt mit dem Titel ›Meine neuen Rezepte‹. Eine Autobiographie habe ich auch geschrieben, ›Bio. Mein Leben‹, dabei hat mir Veit Schmidinger ein bißchen geholfen (Lachen aus dem Hintergrund). Tja, und dann bin ich auch im deutschen Fernsehen präsent gewesen mit meinen Sendungen ›Bio’s Bahnhof‹, ›Boulevard Bio‹ und ›Alfredissimo‹.

Hildegard von Bingen: Ich habe schon davon gehört, daß man sich im 20. Jahrhundert nicht mit einem Medium begnügt hat, man mußte überall zugegen sein. Darüber haben wir damals noch nicht verfügt. Allerdings habe ich tatsächlich auch eine Autobiographie verfaßt, sie trägt den Titel ›Scivias‹, das heißt auf deutsch: ›Wisse die Wege des Herrn‹. Ich beschreibe darin sechundzwanzig religiöse Visionen. »Die Lebensspeise der göttlichen Schriften ist lau geworden« konstatiere ich darin, und das Buch endet mit dem ›Tag der großen Offenbarung‹, worin sich der neue Himmel und die neue Erde ankündigen. Das ist mein bekanntestes Werk geworden, aber ich habe dem noch zwei weitere Bände folgen lassen. In allen diesen Texten geht es um die Erlösung. Dazu habe ich einen neuen Begriff gebildet, die ›Viriditas‹, abgeleitet von ›viridis‹, grün. Das ist eine Grundkraft, die in der ganzen Natur vorkommt. Diese ist die Basis aller Heilung. So bin ich dann auch darauf gekommen, Speisen zu entwickeln, die dem Menschen wohltun, zum Beispiel Dinkelflocken mit Flohsamen, Galgant, Zimt und Apfel. Ich habe mich aber auch in vielen Dingen geirrt, so habe ich die Kartoffeln und Linsen als schädlich angesehen, was ich nach heutiger Prüfung als unsinnig bewerten muß. Wir sind alle nur Kinder unserer Zeit. Wir würden viel Zeit verlieren, wenn ich alle meine Rezepte aufzählen sollte, heute reicht ein Klick ins Internet, um sehr viele davon kennenzulernen. Neben der Ernährung spielte aber natürlich das Gebet eine große Rolle für uns damals.

Alfred Biolek: Da hätten Sie hier in Köln, wo der berühmte Kölner Dom steht, heute die beste Gelegenheit.

Hildegard von Bingen: Sie scheinen sich immer noch in der Phase der Verleugnung zu befinden. Ich bedauere, in Ihren Augen zum Überbringer schlechter Nachrichten zu werden, aber: Ich bin tot und Sie sind tot. Wir sind Gespenster, die um einen Albanischen Hammeltopf herumstehen.

Alfred Biolek: Mein Gott, der Hammel muß aus dem Rohr! (Läuft zum Herd, zieht sich rasch Topfhandschuhe über und öffnet die Klappe.) Hach, das ist gerade noch Mal gutgegangen! So, dann wollen wir den Topf mal auf den Tisch stellen. Sie wollen wirklich nicht kosten? Das machen eigentlich alle meine Gäste. (Zieht einen leicht beleidigten Flunsch.) Auch nicht ein kleines bißchen?

Hildegard von Bingen: So leid es mir tut, aber davon kriege ich keinen Bissen hinunter, auch als Gespenst nicht.

Alfred Biolek: Tja, dann sollten wir uns darüber unterhalten, was die ›Hildegard- Küche‹ eigentlich ausmacht. Sie sind Ihrer Zeit doch weit voraus gewesen.

Hildegard von Bingen: Das habe ich doch gerade eben bereits ausgeführt. Sind Sie etwas vergeßlich? Außerdem weigere ich mich, auf die Küche festgelegt zu werden, ich habe noch ganz andere Dinge in die Welt gesetzt. Ich bin Komponistin, vor allem aber als Mystikerin bekannt, auch habe ich eine Geheimsprache entwickelt. Zudem habe ich ein Kloster gegründet, das heute leider nicht mehr erhalten ist. Vor kurzem hat mich Papst Benedikt XVI. zur Heiligen erklärt, na ja, dagegen kann man wohl nichts unternehmen, die Menschen benötigen anscheinend ständig Götzen, um ihr schwach entwickeltes Selbstbewußtsein daran aufzurichten.

Alfred Biolek: Ich hatte im Jahre 2002 in meiner Talkshow ›Boulevard Bio‹ Gerhard Schröder und Wladimir Putin zu Gast.

Hildegard von Bingen: Und?

Alfred Biolek: Ich wollte nur sagen: Ich hatte im Jahre 2002 in meiner Talkshow ›Boulevard Bio‹ Gerhard Schröder und Wladimir Putin zu Gast.

Hildegard von Bingen: Ist Ihnen nicht wohl? Hier, versuchen Sie mal einen meiner Nervenkekse (greift in ihre Handtasche und holt einen Plastikbeutel mit dunkelbraunen Keksen hervor).

Alfred Biolek: (beißt in einen Keks) Mmhh! Mmhh! Ja, die sind ja vorzüglich, da müssen Sie mir das Rezept dalassen, die werde ich nachbacken, obwohl ich eigentlich gar nicht gern backe, denn da muß man sich so streng an die Vorschriften halten. Ich koche lieber, da kann man improvisieren und es in allem nicht so genau nehmen.

Hildegard von Bingen: Ich bin zu meiner Zeit häufig angefeindet worden. Wenn ich gegen zu langes Beten und eine überlange Liturgie mich aussprach, oder auch was die Mahlzeiten im Kloster anbetraf, mich für eine gemischte Kost, für Fisch, Fleisch, Käse und Eier ausprach, so wurde ich von der oberen Geistlichkeit dafür gerügt. Na, und lassen sie mich gar nicht erst anfangen, wenn es um die Berechtigung einer Frau geht, in religiösen und kirchlichen Dingen mitzureden, das war vielleicht eine Ochsentour, die man durchstehen mußte. Man hat mir vorgeworfen, daß meine Gedanken »unmittelbar aus der List des Teufels entsprungen« seien. Den Teufel hat man damals gern benutzt, um jemanden fertigzumachen.

Alfred Biolek: Ogottogott! Hildegard! Das tut mir so leid! Diese Männer! Damals wie heute! Das Patriarchat war und ist eine schlimme Einrichtung.

Hildegard von Bingen: Man darf sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Und die Zeit wendet alle Dinge. Heute bin ich in der ganzen Welt bekannt, und die hinterhältigen Verleumder meiner Person sind als anonyme Asche in alle Winde verstreut.

Alfred Biolek: Ja, da haben Sie recht. Aber was bleibt von einem, wenn man nicht mehr ist? Das ist die Frage, die mich mein ganzes Leben umgetrieben hat. Deshalb habe ich eine Sendung nach der anderen produziert und auf alle erdenkliche Weise die Flucht in die Öffentlichkeit angetreten. Doch die Medienpräsenz ist eine flüchtige Sache. Sie bleibt nur bestehen, wenn man immer wieder neue Dinge lanciert und sich so den Leuten ins Gedächtnis gräbt.

Hildegard von Bingen: Beruhigen Sie sich, die Tatsache, daß Sie sich mit mir unterhalten dürfen, spricht doch dafür, daß Sie eine gewisse Prominenz behalten haben. Schließen wir unsere Unterhaltung mit einem Satz von mir: »Wie gewöhnliche Speisen durch den Geschmack der Gewürze in besser schmeckende verwandelt werden, so wird durch das Feuer des Heiligen Geistes die gewöhnliche Natur des Menschen in eine bessere umgewandelt.«

Kriegsmüdigkeit

In einer ehemaligen Waffenfabrik in Toledo trafen sich die EU-Außenminister. Seit 1761 waren dort Schwerter, später Patronen hergestellt worden. Man beriet über weitere Gelder für die Ukraine. Der spanische Außenminister sagte: »Das ist doch eine großartige Metapher für das, was wir mit unserer Unterstützung der Ukraine erreichen wollen.« Die Begriffe Metapher und Symbol werden von Außenministern, nicht nur denen aus Spanien, gern durcheinandergebracht. Es mag ein symbolischer Ort sein, wenn man zum Thema von politischen Verhandlungen eine ehemalige Waffenfabrik wählt, und wenn es um die Finanzierung eines Krieges geht, der nach den jüngsten Einschätzungen mindestens bis ins Jahr 2027 andauern wird. So sind fünf Milliarden Euro von 2024 bis 2027 fest eingeplant. Der litauische Außenminister gab eine Prognose ab: »Wir werden an der Seite der Ukraine stehen bis zum ukrainischen Sieg.« In der Frage von Krieg und Frieden geht es auf beiden Seiten immer darum, für die eigene Seite den Sieg davonzutragen, auch wenn es schon vorgekommen ist, daß sich der Krieg unter solchen unbedingten Voraussetzungen lange hingezogen hat. Krieg macht offensichtlich müde und das gilt nicht nur für die Soldaten auf den Schlachtfeldern, sondern in ebenso großem Maße für die kriegsführende Öffentlichkeit, die für ihr Geld auch Erfolge sehen möchte. Sowohl der litauische Außenminister wie der EU-Außenbeauftragte spüren dies und konstatieren eine Ermüdung auf seiten der den Krieg finanzierenden Länder. Das viele Geld sei eine »Investition in den Frieden Europas«. Deshalb müsse man Geduld haben und der Ukraine nicht mangelnde Erfolge beim Zurückdrängen des Feindes vorwerfen. Das naheliegende Wort ›Durchhalten‹ fiel dabei nicht, dafür aber überschrieb die Große Frankfurter ihren Bericht aus Toledo mit der Überschrift: »Ein Mittel gegen Kriegsmüdigkeit«.
In der ›Fackel‹ vom 23. Mai 1918 (20. Jg., Heft 474–483, 153) hat Karl Kraus in einer Glosse sich des Wortes angenommen:

Kriegsmüde
— das ist das dümmste von allen Worten, die die Zeit hat.
Kriegsmüde sein das heißt müde sein des Mordes, müde des
Raubes, müde der Lüge, müde der Dummheit, müde des Hungers,
müde der Krankheit, müde des Schmerzes, müde des Chaos. War man
je zu all dem frisch und munter? So wäre Kriegsmüdigkeit wahrlich
ein Zustand, der keine Rettung verdient. Kriegsmüde hat man immer
zu sein, das heißt, nicht nachdem, sondern ehe man den Krieg
begonnen hat. Aus Kriegsmüdigkeit werde der Krieg nicht
beendet, sondern unterlassen. Staaten, die im vierten Jahr der
Kriegführung kriegsmüde sind, haben nichts besseres verdient
als — durchhalten!

Neue Gespräche im Elysium I

Im Jahr 1683 erschienen die ›Dialogues des morts‹, Autor war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757). In diesen fiktiven Gesprächen wurden Personen der Geschichte zusammengebracht, die sich während ihres Lebens niemals begegnet waren. Es gab neben Fontenelle eine ganze Reihe anderer Autoren, die dieses Konversationsspiel pflegten, so Boileau, Fénelon, Voltaire, Henry Fielding und Christoph Martin Wieland (›Gespräche im Elysium‹, 1780). Aller Vorbild war aber Lukian (um 120 v.u.Z – um 180 n.u.Z.), der neben ›Göttergesprächen‹, ›Hetärengesprächen‹, ›Meergöttergesprächen‹ auch ›Totengespräche‹ verfaßte. Hier wird diese lange Tradition fortgeführt.

Klaus Kinski meets Karl Lagerfeld

(Aus dem Hintergrund hört man lautes Schreien. »Du blödes Schwein, wo ist mein Geld?!« — »Aber Klaus, ich bin doch dein Agent und wir sind hier doch auf der Insel der Seligen, da brauchen wir alle kein Geld, wieso verstehst du das denn nicht? Du bist tot!« — »Ich hau’ dir eins in die Fresse, du dumme Sau!«. Klaus Kinski betritt ein Café, immer noch sichtlich erregt darüber, daß er ohne Geld sich zu einer Unterhaltung mit dem bereits eingetroffenen Karl Lagerfeld bereitfinden soll.)

Karl Lagerfeld: Guten Tag, Herr Kinski! Wie schön, daß Sie Zeit gefunden haben, sich mit mir hier zu treffen, wenn auch die Umstände des Ortes nicht die allervorteilhaftesten sind. (Wendet den Kopf hin und her und zuckt leicht mit den Schultern ob der nicht ganz standesgemäßen Umgebung.)

Klaus Kinski: Mmhh, ja, Hi, Mister Lagerfeld. Nice to meet you.

Karl Lagerfeld: Ich nehme an, es ging bei der Unterhaltung eben um das Honorar, habe ich recht? Na ja, wir befinden uns auf der Insel der Seligen, und bekanntlich sind die Seligen auch ohne Geld selig. Es wäre aber doch schön, wenn man etwas gezahlt bekäme, denn man weiß ja nicht, ob man es irgendwann später doch einmal braucht. Auch im Elysium bleibt die Zeit nicht stehen.

Klaus Kinski: What the fuck?! Was quasselst du mich so an? Weißt du, ich habe früher Interviews gegeben und war in Talkshows, wo diese Modera-Toren! so taten, als würden sie mich was fragen, ja? Da sagt diese Alida, Herr Kinski, warum spielen Sie bloß immer diese Bösewichte, warum wollen Sie nicht mal eine andere Rolle übernehmen. Ich verstand gar nicht, wovon sie überhaupt redete. Sie hörte gar nicht mehr auf. Klaus, sagte sie, wieso mußt du immer diese kaputten Typen spielen, Psychotiker, Mörder. Dabei hat schon Goethe gesagt, daß wir alle nur zufällig nicht Mörder geworden sind. Wir sind alle Mörder.

Karl Lagerfeld: Ja, ich kann Sie gut verstehen, dieses Leben im Lampenlicht, leicht war es nicht, aber was blieb mir übrig, wenn ich meine Klamotten gut verkaufen wollte, mußte ich da mitmachen. Anders ging es gar nicht. Ohne den Medienzirkus bist du niemand. Und dann kam das viele Geld herein durch meine Kollektionen und so habe ich mich dann darauf eben eingestellt. Und dann mußte ich mich auch gegen den Neid der Kollegen aus der Modebranche immunisieren. So hat Oscar de la Renta über mich geagt: »Karl hat beachtlichen Einfluß, weil er die Damen von der Presse mit aller Macht überzeugt hat, daß das, was er entwirft, ganz wundervoll ist«. Im Vertrauen gesagt, etwas ganz Neues habe ich auch nicht erfunden, visionäre Schöpfungen durfte man von mir nicht erwarten. Ich habe für meine Kollektionen die Traditions-Bestände ausgebeutet, immer auf der Suche nach dem noch nie Dagewesenen. Dazu habe ich alles herbeizitiert, alles zusammengemischt, es konnte gar nicht eklektisch genug sein. Ich habe den Leuten eine Karikatur meiner selbst geboten. Ich bin eine Karikatur. Schwarzer Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte, dunkle Brille, dazu Fächer und Zopf, das war für Jahrzehnte die Maskerade meines Lebens.

Klaus Kinski: Wo bin ich hier? Was faselst du denn da? Worüber reden wir eigentlich? Es geht doch um Geld, nur darum geht es. Wenn ich ein Angebot für einen Film bekommen habe, da habe ich doch nicht das Drehbuch gelesen, das habe ich meinem Agenten gegeben und habe ihm gesagt: Hole so viel Geld wie möglich heraus, ja? Die Rollen waren mir scheißegal, Hauptsache, sie brachten Geld, nur das Geld interessiert mich. Aber die Leute reden ständig von Kunst. Diese blöden Arschlöcher.

Karl Lagerfeld: Als Modedesigner mußte ich mich zu einer Maschine machen, die kalt und unbeteiligt das Leben beobachtet. Mein Innenleben geht die Leute gar nichts an. Wie Warhol hatte ich ein Credo der Oberflächlichkeit. Das bedeutet nicht, banal und seicht zu sein. Ich wußte nur, welche Macht die Mode, der Inbegriff des Oberflächlichen, des Substanzlosen, auf das tägliche Leben hat. Um das zu verkaufen, mußte ich pausenlos Konversation treiben, was mir nicht schwergefallen ist, weil ich nun mal von Hause aus eine Plaudertasche bin. Das Amüsement für die Masse der Leute bestand dann darin, daß sie immer erwartungsvoll an meinen Lippen hingen und ständig Bonmots von mir verlangten. Deshalb bin ich auch in jede Talkshow gegangen, weil das der beste Ort war, um den Käufern meiner Kollektionen zu zeigen, wie amüsant ich bin und wie perfekt ich mich selbst darzustellen vermag.

Klaus Kinski: Du gehst mir auf den Senkel mit deinem Gequatsche, was soll das hier werden, wir haben hier nicht mal Kameras, die uns aufnehmen, was soll das hier alles eigentlich. Du bist ein Pretender, das bist du.

Karl Lagerfeld: Ich hatte eine Bibliothek mit mehr als dreihunderttausend Bänden.

Klaus Kinski: Pretender!

Karl Lagerfeld: Ich habe jeden Tag zehn Bücher gelesen.

Klaus Kinski: Du hast gebrowst, die Bücher durchgeblättert. Da kommt man schnell auf zehn Stück am Tag.

Karl Lagerfeld: Marcel Proust. Ich habe Marcel Proust gelesen. Ich finde den Stil toll, aber den Inhalt finde ich nicht so toll. In Bezug auf Worte, Satzstellung und so ist das schon genial. Das Thema interessiert mich nicht, aber die Art, wie es geschrieben ist, ist genial.

Klaus Kinski: Hörst du dir eigentlich zu, wenn du was sagst?! »Ich finde den Stil toll«. Was ist das für eine Sprache, wo man den Stil als »toll« bezeichnet? Und das Thema interessiert den feinen Herrn nicht, aber das Thema ist doch dein Thema, lieber Herr Schwuchtel! Der Baron Charlus, ja, kennst du den nicht, das ist doch ein Verwandter von dir. Das ist dein Thema. Aber nein, Mister Lagerfeld steht auf Stil, auf tollen Stil, er ist scharf auf die Satzstellung, das Thema ›Sodom und Gomorra‹ interessiert ihn nicht die Bohne. Du mieser kleiner Heuchler, du!

Karl Lagerfeld: Ich denke, wir müssen doch versuchen, auf einer zivilen Ebene zu verbleiben, diese Insolenz und diese Insulte mag ich gar nicht.

Klaus Kinski: Du blöde Sau, du dumme Sau! Wen markierst du denn hier? (Aus dem Hintergrund ruft dessen Agent: »Klaus, bitte, mäßige dich doch!«) Was ist los? Du hast mich doch hier reingeritten! Was soll ich hier? Was will dieser Modefuzzi? Ich will mein Geld! Wo ist mein Geld?

Zum 31. August 1933

»Ich bin der König«, sagte Reichsminister Frank, Generalgouverneur von Polen, indem er die Arme breit von sich streckte und eine stolzen, selbstgefälligen Blick auf seinen Tafelgästen ruhen ließ. […] Ich saß an der Tafel Franks, des deutschen Königs von Polen, im Wawel, der alten polnischen Königsburg von Krakau. […] Um die reichbedeckten Tische sah ich wieder die Nacken, die Bäuche, die Münder, die Ohren, wie Grosz sie zeichnete; jene kalten starren Augen, jene Fischaugen. […] Doch jetzt öffnete sich langsam die Flügeltür, und auf einer Silberplatte hielt eine gebratene Gans ihren Einzug, auf dem Rücken liegend, inmitten einer Girlande buttergebräunter Kartoffeln. […] Ich weiß nicht warum, aber ich mußte denken, daß sie nicht in der guten alten Weise mit dem Messer abgestochen, sondern an die Wand gestellt und von einem SS- Exekutionskommando erschossen worden war. […] Die Gans war sicherlich mit erhobener Stirn gefallen, den grausamen Unterdrückern Polens ins Gesicht blickend. […] Gouverneur Fischer erzählte, während er sich mit dem Löffel seine Hirschfleischscheiben mit einer goldgelben Sauce beträufelte, wie die Juden im Ghetto begraben wurden: »Eine Schicht Leichen und eine Schicht Kalk«, wie wenn er sage: »Eine Scheibe Fleisch und eine Schicht Sauce, eine Scheibe Fleisch und eine Schicht Sauce.«

(Curzio Malaparte [eigtl. Kurt Erich Suckert (1898–1957)]: Kaputt [zuerst Neapel 1944], [dt. Karlsruhe 1951; ²1961], 63, 67, 73, 75, 104)

Baisers volés

Ein Kuß ist eine symbolische Handlung. Zu einem vollständigen Kuß ist erforderlich, daß die Handelnden ein Mädchen und ein Mann sind. (Søren Kierkegaard: Beiträge zur Theorie des Kusses, 1843)

A.: In Spanien ist der Teufel los.

B.: Ach, und ich dachte Franco ist 1975 gestorben.

A.: Nein, nein. Der spanische Fußball-Verbandspräsident Luis Rubiales hat nach dem Sieg der spanischen Fußballerinnen bei der Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen der Spielerin Jennifer Hermoso einen Kuß auf den Mund aufgedrückt, nachdem er sie zuvor schon auf die Wangen geküßt hatte.

B.: Und?

A.: Nun, die Fußballerin hat erklärt, daß das nicht abgesprochen war und daß sie es als Angriff wahrgenommen habe.

B.: Küssen sich Fußballspieler nicht sehr häufig, wenn sie ein Tor geschossen haben? Ich glaube mich zu erinnern, daß die männlichen Fußballer nach einem Tor sogar übereinander herfallen und sich auf dem Rasen wälzen, als wären sie dabei, sich zu begatten.

A.: Na ja, das ist doch nur die ganz harmlose Freude über einen gelungenen Spielzug. Fußball ist ein sehr körperlicher Sport und als Mannschaftssport auf das Interagieren der Beteiligten angewiesen. Niemand auf den Zuschauerrängen glaubt, es handele sich dabei um sexuelle Handlungen.

B.: Ah, so! Und was war nach dem Gewinn der Frauen-Fußball-Weltmeisterschaft in Australien anders gegenüber den von Ihnen eben berichteten normalen Vorgängen?

A.: Die Darstellungen gehen auseinander. Während der Fußballfunktionär sagt, die Spielerin habe ihn angefaßt und leicht in die Höhe gehoben und ihn dann durch gestische Zeichen praktisch zu dem Schmatzer eingeladen, sagt die Spielerin, er habe sie an sich gezogen und ihr einen Kuß auf die Lippen verabfolgt.

B.: Gibt es nicht Videoaufnahmen von der Szene?

A.: Doch, schon, aber so ganz deutlich wird der Vorgang dadurch auch nicht.

B.: Ist das Ganze nicht ein Sturm im Wasserglas? Könnte es nicht sein, daß der Verbandspräsident einfach überwältigt war von dem Sieg seiner Mannschaft, oder sollen wir sagen: Frauschaft?, nein, das klingt irgendwie falsch und erzwungen. So wie die männlichen Fußballspieler auf dem Feld sich spontan umarmen oder, was ich schon öfter gesehen habe, wenn der Siegespokal überreicht wird und dann alle Spieler dem Ding einen Kuß geben?

A.: Ja, so könnte man argumentieren. Doch in Spanien ist der Teufel los. Die Mitspielerinnen der unfreiwillig geküssten Spielerin haben damit gedroht, nicht mehr für Spanien aufs Feld zu gehen, wenn der Verbandspräsident nicht seines Postens enthoben wird.

B.: Könnten andere Gründe eine Rolle gespielt haben?

A.: In der Tat, es scheint, als würde dieser Vorfall dazu benutzt werden, alte Rechnungen zu begleichen. Die öffentlichen Erklärungen gehen alle in die Richtung, daß es im spanischen Frauenfußball in der Vergangenheit immer wieder zu sexuellen Übergriffen gekommen ist.

B.: Und der Kuß des Verbandspräsidenten ist nur der Anlaß, um über diese Vorfälle öffentlich zu sprechen.

A.: Das könnte man so sagen.

B.: Was mich daran noch interessiert wäre die Frage, ob der Kuß zu tonsil hockey geführt hat.

A.: Was ist los?

B.: French kissing. Ein Zungenkuß!

A.: Oh, das meinen Sie. Nein, es wäre alles um vieles leichter, wenn es zu diesem Akt gekommen wäre, denn das wäre ein glattes Überschreiten der Grenze des Schicklichen gewesen. Da wäre der Mann nicht zu retten gewesen.

B.: Dann verstehe ich die ganze Aufregung nicht. In einem Moment höchster Erregung über einen unerwarteten Sieg gibt der Verbandspräsident einer der siegreichen Spielerinnen einen Kuß. Das kann man auch damit erklären, daß man in einem Siegesrausch ist und in diesem Moment eine grenzenlose Verbundenheit mit den Trägerinnen des Sieges verspürt und dann seine Freude durch diese Geste zum Ausdruck bringt, so wie die männlichen Fußballspieler ja auch gelegentlich sich dadurch gratulieren, indem sie sich küssen, ohne damit auch nur irgendeine sexuelle Handlung einleiten zu wollen. Das ist einfach lächerlich.

A.: Die Gegenseite erklärt, es sei ein Akt der Aggression gewesen.

B.: Es hat sich doch nicht um den Todeskuß des Judas gehandelt.

A.: Ich weiß auch nicht, was sich die spanische Spielerin dabei gedacht hat. Der Verbandspräsident hat ausgesagt, es sei ein Dankeskuß gewesen, so wie er einen solchen auch seiner Tochter gegeben hätte, um ihr zu so etwas Großartigem zu gratulieren.

B.: Dann können wir den Fall ja zu den Akten legen.

A.: Nicht so schnell. Wir brauchen doch einen amüsanten Abschluß nach diesem tragikomischen Gespräch.

B.: Unterhalten Sie mich!

A.: Es gibt von Theodor Lessing einen Text, der heißt: ›Der Theaterkuß‹. Im Kommentar zu diesem Aufsatz hat der Herausgeber eine lustige Episode aus dem Wiener Theaterleben ausgegraben. Die Geschichte spielt im Jahre 1872 und handelt von einer Hofschauspielerin und ihrem männlichen Conterpart, der ihr auf der Bühne einen derben Kuß applizierte, statt ihn, wie sonst üblich, nur zu markieren. Und schon war ein ›Kuß-Conflict‹ entstanden. Die Hoftheater-Direktion verbreitete ein Papier, in dem Verhaltensmaßregeln niedergelegt waren, wie man auf der Bühne sich zu küssen habe, wenn das im jeweiligen Stück vorgeschrieben ist. »Der Kuß auf den Mund muß so ins Werk gesetzt werden, daß in demselben Augenblicke, als sich die Nasenspitzen der Liebenden berühren, zwei Theaterarbeiter hinter der Szene mit der Zunge schnalzen. Zuwiderhandelnde sollen mit Geldstrafen belegt werden.«

B.: Das ist doch reine Erfindung, oder?

A.: Oh nein, Sie können das in der Ausgabe einer Wiener Zeitung nachlesen. Es kommt aber noch besser. In einer Szene muß die Schauspielerin, nachdem der Kollege ihr bereits auf die rechte und die linke Hand geküßt hat, sagen: »Nun küsse Er mir auch den Mund.« Der Schauspieler folgte dieser Aufforderung, doch die Kollegin war über den Kuß so erbittert, daß sie sich bei der Theaterdirektion darüber beschwerte. Es half alles nichts, sie darauf hinzuweisen, daß der Kollege durchaus nicht als Mann ihr diesen Kuß gegeben hatte, sondern bloß dem Rollentext gefolgt und als Berufsschauspieler sie geküßt habe. Sie erklärte, sie fühle sich in ihrer weiblichen Ehre gekränkt und wenn ihr von Seiten der Theaterdirektion kein Recht widerführe, werde sie sich an die Gerichte wenden. Alles war in Aufruhr. Dann kam die nächste Vorstellung und man wartete gespannt darauf, wie die beiden die Szene über die Bühne bringen würden. Wieder küßte der Kollege zuerst die rechte und dann die linke Hand und als er dann auf den Satz der Kollegin wartete: »Nun küsse Er mir auch den Mund.«, sagte die Dame statt dessen: »Nun, den Kuß auf den Mund schenke ich euch.« Der Kollege erstarrte nicht lange über diesen im Stück nicht vorkommenden Satz, sondern erwiderte schlagfertig, wenn auch ein wenig boshaft: »Gott sei Dank, daß ich die alte Schachtel nicht zu küssen brauche.« Fräulein Gindele, so hieß die Schauspielerin mit der starken Aversion geküßt zu werden, geriet darüber derart in Aufregung, daß sie auf offener Bühne in Ohnmacht fiel und in ihre Garderobe getragen werden mußte. Abermals beklagte sie sich bei der Theaterdirektion. Die ›Neue Freie Presse‹, in der diese Geschichte berichtet wurde, beschloß ihren Artikel mit der Erwägung, die Theaterfreunde sähen dem Urteil in dieser Frage mit Spannung entgegen, da hier zum ersten Male die Frage zur Entscheidung kommen muß, ob ein Kuß auf der Bühne eine Beleidigung einer Dame involviere.

Vgl. Theodor Lessing: Der Theaterkuß. In: ders.: Kultur und Nerven. Kleine Schriften 1908–1909, herausgegeben und kommentiert von Rainer Marwedel, Göttingen: Wallstein Verlag, 2021, 2 Bde., Bd. 1 328–335 (Text); Bd. 2, 334–337 (Kommentar).

»Indien ist jetzt auf dem Mond«

Streets full of people, all alone
Roads full of houses, never home
Church full of singing, out of tune
Everyone’s gone to the moon
(Jonathan King: Everyone’s gone to the moon, 1965)

Der indische Staatspräsident schwenkte ein indisches Fähnchen und rief den versammelten Medien der Welt zu: »India is now on the Moon. We have reached where no other country could.« Die indische Raumsonde ›Chandrayaan-3‹ hatte kurz zuvor auf einer bisher wenig erforschten Gegend des Mondes sicher aufgesetzt. Weltraumflüge sind kostspielige Transaktionen des weltweiten Nationalismus. Vor Indien gelang es nur den USA, der UdSSR und China, auf dem Mond zu landen. Man spricht in Medienkreisen von einem ›Elite-Club‹. Natürlich sind weder Indien noch die anderen genannten Staaten wirklich auf dem Mond, sie erheben jedoch unmißverständlich kommerzielle und politische Ansprüche auf dieses extraterristrische Terrain. Die Lebensbedingungen in diesen Staaten zu verbessern, ist für die politischen Entscheidungsträger weniger wichtig als solche Prestigeprojekte, die zugleich dem nationalen Narzißmus huldigen. Ausgerechnet Indien, in dem es sehr viele Menschen und nicht so viele Möglichkeiten gibt, ein menschenwürdiges Dasein zu fristen, ist auf dem Mond. Im April 2021 las man, daß wohlhabende indische Familien fünfzigtausend Euro für ein Charterflugzeug bezahlten, nicht um bis zum Mond zu fliegen, aber um ihr Land schnellstens zu verlassen, auf der Flucht vor dem Corona-Virus. Die damals auf dem Markt angebotenen Impfstoffe überstiegen die 2000 Rupien (22,15 €), die ein Inder auf dem Land im Durchschnitt verdient, bei weitem.

Der indische Staatspräsident aber schwadroniert im August 2023 über Indiens Staatsziele: »The sky is not the limit.« Indien verfolgt damit das Konzept, anderen Staaten, die nicht die enormen Startkosten vorschießen können, Wege in den Weltraum zu bereiten. Der globale Markt für Weltraumstarts ist ein Milliardengeschäft. 2023 belief sich der Etat auf 9 Milliarden US-Dollar, im Jahr 2030 sollen es zwanzig Milliarden US-Dollar sein. Und alles zielt ab auf eine Rückkehr zum Mond.

1979 kam der elfte Film aus der James Bond-Serie, ›Moonraker‹, in die Kinos. Die Titelsequenz zeigt ein wiederkehrendes Bild des Mondes, davor schweben Silhouetten von Frauenkörpern schwerelos im Weltraum. Das war eine für sehr viel Geld produzierte Illusion, die durch den ganzen Film erhalten wurde und bei der man keinen special effect scheute: Für die Kulissen der Raumstation gab die Produktionsfirma fünfhunderttausend US-Dollar aus und für den Sprengstoff, der zu den dramatischen Explosionen im Film gebraucht wurde, zwanzigtausend US-Dollar. Winzige Beträge im Vergleich zu dem, was die sogenannten Weltraum-Nationen für ihre bisherigen Himmelfahrtskommandos verpulvert haben. Man kann sich den Film im Kino oder zuhause per Stream oder digitaler Kopie immer wieder ansehen und teilhaben an der elektronisch erzeugten Weltraum-Illusion, man sitzt selber im Raumschiff und schwebt durch einen imaginären Raum. Schwarzer Samt im Wert von sechzigtausend US-Dollar wurde verwendet, um die im Weltall spielenden Szenen aufzunehmen. So schön und sanft und resourcenschonend kann die Raumfahrt sein. Man erlebt einen Schiffbruch mit Zuschauer, und ganz unverletzt geht man aus dem Spielwerk der cinematographischen Illusionsbühne wieder hervor. Anders als der moderne Ikarus, der in seiner Rakete sitzt und damit rechnen muß, daß sie schon kurz nach dem Start explodiert (sieben Astronauten starben am 28. Januar 1986 kurz nach dem Start des ›Space Shuttle Challenger OV-099‹), hingegen ist man als Zuschauer von ›Moonraker‹ sicher. Kein Übermut verleitet uns dazu, höher der Sonne entgegenzufliegen, um das Risiko des Absturzes einzugehen, keine Strafe der Götter ereilt uns für den Griff nach den Sternen, nach Sonne und Mond.

1865 erschien der Science-Fiction-Roman ›De la Terre à la Lune‹ von Jules Verne, 1870 folgte die Fortsetzung ›Autour de la Lune‹. Statt einer Rakete wird eine Kanone eingesetzt. Ein ›Kanonenclub‹ in Baltimore, dessen Mitglieder den Club während des Sezessionskrieges gegründet hatten, fühlt sich nach dem Ende des Bürgerkrieges nicht ausgelastet und so plant man einen neuen Krieg, damit neu entwickelte Waffen zum Einsatz kommen können. Für die Finanzierung sammelt man Geld in der ganzen Welt. Das abgefeuerte Geschoß landet nicht auf dem Mond, es umkreist ihn in einer Umlaufbahn. Jules Verne schrieb diese Romane, die manche Details der hundert Jahre später (1969) erst stattfindenden Mondlandung vorwegnahmen, auch mit der Absicht, den damals in den USA grassierenden Kanonenwahn zu persiflieren. In ›Autour de la Lune‹ kreisen die in das Geschoß eingeschlossenen drei Personen um den Mond und können aufgrund technischen Versagens nicht auf dem Mond landen; da die Umlaufbahn die Form einer Ellipse angenommen hat, gelingt es ihnen aber schließlich, zur Erde zurückzukehren.

Am 20. Juli 1969 setzte eine Landesonde der ›Apollo 11‹-Rakete auf dem Mond auf. Die beiden amerikanischen Astronauten hißten ihre National-Flagge und legten einen Gedenkstein nieder, auf dem zu lesen ist: »Hier betraten Menschen vom Planeten Erde zum ersten Mal den Mond, 1969 A.D. Wir kamen in Frieden für die gesamte Menschheit.«

Nun ist die Zeit erreicht, daß man mit indischen Billigfliegern dem Mond die friedliche Absicht der Menschheit mit einer Unzahl von weiteren Mondflügen nachhaltig zur Kenntnis bringt.

»Damit rechnet niemand.«

Er betrachtet es als seine Pflicht, jeden zu hintergehen, der ihn für so dumm hält, daß man ihm vertrauen kann. Er glaubt, es gibt keinen Weg, um so schnell und so sicher Erfolg zu haben, als durch Betrug an der Öffentlichkeit reich zu werden: denn öffentliche Diebstähle sind sicherer und werden weniger verfolgt als private. Denn Unverfrorenheit ist keine zu unterschätzende Methode, um Größe und Autorität in der Meinung der Welt zu gewinnen. Unter allen Tugenden gibt es keine, die er so hoch schätzt wie die Unverfrorenheit: sie ist ihm nützlicher und nötiger als die Maske dem Straßenräuber. Wer unverfroren ist, ist kugelsicher. (Samuel Butler [1613–1680]: Ein zeitgemäßer Politiker, 1759)

Jedem Journalisten wird zu Anfang seiner Lehrzeit beigebracht, daß man einen Artikel mit einem interessanten, die Aufmerksamkeit des Lesers weckenden Satz beginnen soll. Das sollte schon die Überschrift besorgen, gewiß, aber da man in der Vorstellungswelt des Journalismus sehr unsicher ist, ob das auch ausreicht, muß der Artikel-Anfang, wie es im Branchenjargon heißt, den Leser »mitnehmen«. In der neuesten Ausgabe der Großen Frankfurter wird ein langer Artikel abgedruckt, der von den vier Gerichtsverfahren (und 91 Straftatbeständen) gegen einen ehemaligen US-Präsidenten berichtet. Doch schon im ersten Absatz, noch bevor die einzelnen Verfahren in peinlicher Ausführlichkeit dargestellt werden, steht da ein aus drei Worten bestehenden Satz: »Damit rechnet niemand.« Gemeint ist ein Haftaufenthalt des ehemaligen US-Präsidenten. Als Erklärung wird die Bemerkung nachgeschoben, der Angeklagte erreiche schon bald (in drei Jahren) das Alter von achtzig Jahren.

Viele, ja, eigentlich alle der noch bis in die Jetztzeit vor Gericht stehenden (oder, wegen Krankheit, sitzenden) Angeklagten, denen man Verbrechen vorwarf, die in deutschen Konzentrationslagern begangen wurden,  waren in sehr hohem Alter. Würde ein deutscher Journalist noch vor Beginn solcher Prozesse schreiben, niemand rechne damit, daß sie die Haftstrafen, zu denen sie möglicherweise verurteilt werden, wirklich antreten müßten? Und in der Tat, viele, wenn nicht die meisten der 80 bis 90jährigen Mitglieder des KZ-Personals, mußten nicht ins Gefängnis, weil sie das Strafgericht viel zu spät einholte und sie als gebrechliche Greise wieder in ihren kleinbürgerlichen Haushalt zurückkehren durften, da man ihnen »Haftunfähigkeit« bescheinigte, aber erst, nachdem man ihnen in einem Gerichtsverfahren ausführlich nachgewiesen hatte, daß sie sich an Verbrechen mitschuldig gemacht hatten. Ein symbolischer Prozeß, der Gerechtigkeit konnte wegen der fortgeschrittenen Zeit nicht Genüge getan werden.

Der ehemalige US-Präsident geht zwar auf die achtzig zu, doch sein Auftreten in der Öffentlichkeit läßt nicht den Schluß zu, daß er sich nach einem Rollstuhl umsehen müßte, im Gegenteil, seit seinem Auftauchen in der politischen Öffentlichkeit demonstriert er mit unverhohlener Unverfrorenheit einen aggressiven Macht- und Herrschaftsdurst mit seinem fast gottgegebenen Anspruch auf das höchste politische Amt in den USA. Doch wer will eigentlich heute auch nur eine Zeile über diesen politischen Typus mehr lesen?

Dennoch hat es Fälle gegeben, wo angeklagte Politiker, ausschließlich in Großbritannien, nicht nur zu einer Haftstrafe verurteilt wurden, sondern diese auch antreten mußten. Der sicher berühmteste Fall ist der von Jeffrey Archer, der im Jahre 2000 wegen Meineids und Behinderung der Justiz zu vier Jahren Haft verurteilt wurde, die ihm nach Absitzen der Hälfte der Zeit erlassen wurde. In dieser Zeit schrieb er ein Tagebuch, das nach seiner frühzeitigen Entlassung in drei Bänden publiziert wurde, angelehnt an Dantes Divina Commedia.  Archer war nicht nur ein bekannter Tory-Politiker, sondern hat bis heute über vierzig Bücher (mit Übersetzungen in 33 Sprachen und einer Gesamtverkaufszahl von mehr als 320 Millionen Exemplaren) veröffentlicht, allesamt aus dem Thriller- und Drama-Genre. Seine Schriftsteller-Karriere begann 1974, als er durch einen Finanzskandal, an dem er beteiligt war, für Bankrott erklärt wurde. Das Buch wurde ein Bestseller und er in der Folge ein reicher Mann.

Dann ist da Jonathan Aitken, auch er ein Tory, der wie Archer eine Menge Bücher geschrieben hat und wie Archer wegen Meineids und Behinderung der Justiz im Jahre 1999 in Haft genommen wurde, wo er sich zu einem vielschreibenden Christen entwickelte. Nach seiner Entlassung übertrug man ihm die Ehrenpräsidentschaft der ›Christian Solidarity Worldwide‹; auch wurde er, nachdem er ein Diakon der anglikanischen Kirche geworden war, zum Priester ordiniert.

Damit rechnet niemand, in der Bundesrepublik Deutschland, daß ein führender Politiker wegen begangener Straftaten ins Kittchen wandert. Ein ehemaliger deutscher Bundeskanzler war nahe daran, aber alles belastende Aktenmaterial (Spendenaffäre) wurde nicht zum Anlaß genommen, ihn wegen nachweislicher Straftaten zu einer Gefängnisstrafe zu verurteilen. Denn in Deutschland köpft man den König nicht. Der letzte deutsche Kaiser floh nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, 1918, bei Nacht und Nebel über die Grenze nach Holland, wo man ihm Asyl gewährte. Als es 1926 in der Öffentlichkeit darum ging, was mit dem beschlagnahmten Vermögen der deutschen Fürstenhäuser geschehen sollte, erreichte man mit einer Kampagne gegen die geplante Fürstenenteignung, daß in einem ›Volksentscheid‹ dies verhindert wurde.

In England wurde König Charles I. im Jahre 1649 enthauptet, Wochen später erklärte das Unterhaus England zur Republik.

In Deutschland kennt man nur die Redewendung, daß bald Köpfe rollen werden, wenn damit erfolglosen Führungskräften aus Wirtschaft und Politik die Entlassung angedroht werden soll. Danach tritt dann gern die segensreiche Wirkung des goldenen Handschlags in Kraft.

Und damit rechnet jedermann.

Eine gepfefferte Angelegenheit

Paradoxien treten in Graden auf – je nachdem, wie gut der Schein die Wirklichkeit verbirgt. Vagheit ist ein weit verbreiteter Zug unseres Denkens. Wir werden diese Frage verschieden beantworten, ja sie verschieden verstehen, je nachdem ob wir der epistemischen Auffassung von Vagheit (sie ist nichts als Unwissenheit) oder der semantischen Auffassung (sie beinhaltet ein spezielles Verhältnis Wort–Welt) zuneigen. Vagheit ist ein Zug unserer Wirklichkeit und nicht ein bloßes Merkmal unseres Denkens und Sprechens. (R. M. Sainsbury: Paradoxien. Erweiterte Ausgabe, 1995)

A.: In der Nacht vom 3. zum 4. Juni wurde der Hauptbahnhof Hannover zu einer ›Waffenverbotszone‹. Neben dem ohnehin schon verbotenen Mitführen von Schuß- u. Stichwaffen wurden auch verboten: Schraubenzieher, Hammer, Messer und Pfeffersprays. Die Bundespolizei hatte eine Allgemeinverfügung ausgesprochen, die den Vertretern der Polizei das Recht gab, ohne konkreten Grund Personenkontrollen durchzuführen. Es ist nicht das erste Mal, daß es eine solche Allgemeinverfügung gab. Als Grund wurde ein vermehrtes Aufkommen von Körperverletzungsdelikten angegeben.

B.: Aha, und ich habe gelesen, daß am 11. August und am 11. September auch solche Allgemeinverfügungen erlassen werden.

A.: Das ist richtig, und das Resultat der Allgemeinverfügung vom 11. August war, daß die Polizei bei insgesamt 155 Durchsuchungen zwei Einhandmesser, einen Teleskopschlagstock und ein Pfefferspray sichergestellt hat.

B.: Was ist daraus zu folgern? Daß die potentiellen Gewalttäter regelmäßig die Mitteilungen der hannoverschen Polizei lesen und sich darauf einstellen, an diesen speziellen Tagen die Handfeuerwaffen und scharfen Messer, mit denen man unliebsamen Mitmenschen Schaden zufügen könnte, zuhause zu lassen? Und daß sie sich dann gesagt haben: Na, warten wir den kommenden Tag ab, da gilt die Allgemeinverfügung nicht mehr, da bewaffnen wir uns wieder und, falls es sich ergibt, stechen wir im Hauptbahnhof jemanden, der uns komisch kommt, nieder?

A.: Wenn man den gesunden Menschenverstand hier einmal für kurze Zeit walten läßt, dann muß man sagen, daß dies höchst unwahrscheinlich ist. Gerade solche Vorkommnisse wie das Niederstechen eines Menschen geschehen meist im Affekt und ohne lange Planung, allerdings ist eben das Vorhandensein eines Messers ein Faktor, der zu solchen Taten leichter führen kann.

B.: Gut, aber wäre es dann nicht von Vorteil, wenn das ganze Jahr über ein Verbot solcher Schuß- und Stichwaffen gälte? So würde man den potentiellen Verbrechern das Signal geben, den Hauptbahnhof generell unbewaffnet zu passieren, wobei dann immer noch die Möglichkeit gegeben ist, jemanden auch durch körperliche Gewalt, einen Faustschlag beispielsweise, niederzustrecken. Die präventive Entfernung von Armen und Händen als potentiell gefährliche Waffen wird man nicht durchsetzen können. So bleibt immer ein gewisser Unsicherheitsfaktor bestehen, trotz aller bundespolizeilichen Verordnungen.

A.: Da haben Sie recht. Mir ist aufgefallen, daß Pfeffersprays ausdrücklich in die Allgemeinverfügung mit aufgenommen worden sind, wo doch jeder Kinobesucher oder Fernsehserien-Zuschauer vielfach Szenen vorgespielt bekommen hat, wo eine von einem Vergewaltiger bedrohte Frau sich mithilfe eines Pfeffersprays gewehrt hat.

B.: Das schon, nur spielt sich das in der Realität manchmal, wenn die Frau mit dem Pfefferspray die richtige Handhabung nicht geübt hat, nicht so ab wie im Film, und zwar immer dann, wenn man die Windverhältnisse nicht richtig einkalkuliert und der gesprühte Pfeffer der Frau ins Gesicht zurückgeweht wird. Aber davon einmal abgesehen, ist juristisch eindeutig geklärt, daß Pfeffersprays nicht unter das Waffengesetz fallen. Vorausgesetzt, auf der Spraydose ist der Aufdruck ›Zur Tierabwehr‹ gedruckt. Fehlt dieser Warnhinweis, fällt das Pfefferspray unter das Waffengesetz und Sie bekommen Schwierigkeiten, wenn Sie sich gegen einen Angreifer wehren und auf der Dose nicht vermerkt ist, daß diese Dose nur der Abwehr von Tieren dient.

A.: Man könnte argumentieren, daß der Vergewaltiger eine tierische Handlung begehen will, und er so gesehen unter die Kategorie ›Tier‹ fällt.

B.: Mmhh, ja, aber das ist eher eine kulturkritische Floskel, die das deutsche Waffengesetz nicht akzeptiert. Interessanterweise erlaubt das Gesetz auch den Gebrauch von Pfeffersprays gegen Menschen, aber nur, wenn eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben besteht. Wogegen der Einsatz von Pfeffersprays gegen einen unliebsamen Nachbarn verboten ist, denn damit begehen Sie eine vorsätzliche Handlung, bei der Sie gegen einen Menschen aktiv vorgehen und damit sich wegen gefährlicher Körperverletzung strafbar machen.

A.: Nun ist aber bei der Polizeiaktion in Hannover auch ein Pfefferspray beschlagnahmt worden. Es wird in dem Bericht darüber nicht verraten, ob es sich bei dem Besitzer um eine Frau oder einen Mann gehandelt hat. Aber unterstellen wir einmal, daß eine Frau dieses Pfefferspray besessen hätte, und unterstellen wir des weiteren, daß diese Frau nach dem Verlassen des Hauptbahnhofs von einem Angreifer überwältigt worden ist. Hätte sie das Pfefferspray zu diesem Zeitpunkt noch bei sich gehabt, hätten sich die Chancen einer erfolgreichen Abwehr doch beträchtlich erhöht, natürlich immer unter der Voraussetzung, daß sie es richtig gehandhabt hätte. Könnte man daraus nicht folgern, daß die Polizei mit der Entnahme ihres Pfeffersprays sich schuldig gemacht hat an der kurz danach erfolgten Straftat?

B.: Das könnte man sagen. Für einen Rechtsanwalt ein schöner Fang. Stellen Sie sich nur die Schlagzeilen vor: ›Polizei beschlagnahmt das Pfefferspray einer Frau – 5 Minuten später wird sie in der Nähe des Hauptbahnhofs vergewaltigt‹ Das wäre ein PR-Desaster ersten Ranges für die hannoversche Polizei. Da könnte sogar der Kopf der Polizeipräsidentin rollen. Der Hauptkommissar und Zugführer der letzten Durchsuchungsaktion der Polizei hat über den Einsatz gesagt: »Die meisten Menschen hatten keine Waffen dabei. Das ist für uns natürlich ein Erfolg.« Dasselbe würde er ganz sicher sagen, wenn sehr viele Waffen beschlagnahmt worden wären, denn dann wäre nachträglich der Erfolg des polizeilichen Einsatzes gerechtfertigt, weil man vielleicht die Benutzung mancher dieser Waffen verhindert hätte. Aber wenn zum Schutz von Frauen mitgeführte Pfeffersprays in hoher Zahl von diesen eingezogen worden wären, und wenn es im Anschluß daran zu einer Vergewaltigung gekommen wäre und die Frau sich nicht mit einem Pfefferspray hätte wehren können, dann wäre das kein Erfolg, sondern ein Zeichen dafür, wie unverhältnismäßig diese Präventivmaßnahmen sind und wenn man jetzt zwei Einhandmesser, einen Teleskopschlagstock und ein Pfefferspray als Ausbeute der nächtlichen Aktion als Erfolg wertet, so ist das eher ein Indiz dafür, wie die Polizei jedes Resultat zu ihren Gunsten auslegt. Aber das ist noch nicht alles. Hören Sie sich einmal an, was der Sprecher der Bundespolizeidirektion Hannover über die Art der Ermittlungstechnik gesagt hat: »Erfahrungs- und Gefühlswerte zeigen uns, daß Menschen mit Migrationshintergrund eher Waffen mit sich tragen.«

A.: Ich kenne diese Argumentation, und die Polizei hat dann auch betont, daß man ihr immer wieder den Vorwurf gemacht hat, einseitig zu ermitteln und bei Personenkontrollen darauf zu achten, sich auf das äußere Erscheinungsbild zu konzentrieren, womit natürlich eine gewisse Stereotypenbildung einhergeht.

B.: Da kann ich Ihnen eine Geschichte vom Frankfurter Flughafen erzählen. Ich unterhielt mich mit einem Drogenfahnder und er sagte mir, seine Leute seien darauf angewiesen, auf besonders schick gekleidete Herren ein Augenmerk zu werfen, denn entgegen der landläufigen Meinung, wonach man Dealer eher mit hippiemäßigen Figuren, mit langen Haaren und schlampigem Äußeren assoziiert, sind die wirklichen Drogenkuriere vom besten Herrenausstatter ausstaffiert und treten wie Personen aus dem Bankenviertel auf.

A.: Im Falle des Messerbesitzes sind es nach Aussagen der Polizei im überwiegenden Maße junge Männer, die nicht ›deutsch‹ aussehen. So hat man sich dann auch über dieses ›Racial Profiling‹ beschwert, also daß man Haar- und Hautfarbe als Entscheidungsgrundlage für Kontrollen herangezogen hat. Ein Beamter hat das wie auch sein Chef von der Bundespolizeidirektion damit begründet, daß man »ziemlich genau wisse, bei wem wir bei einer Kontrolle mit größerer Wahrscheinlichkeit fündig werden«.

B.: Das mag durchaus zutreffen, es ist aber eine paradoxe Angelegenheit, »Erfahrungs- und Gefühlswerte« zur Entscheidungsgrundlage zu nehmen. Das wird auch nicht dadurch entkräftet, daß der Polizeisprecher beschwichtigend hinzugefügt hat, »deutschstämmige Personen können genauso kriminell sein wie Menschen aus anderen Kulturen«. Das ist für die Galerie gesprochen, man will sich natürlich nicht den Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit zuziehen, aber wenn dann betont wird, wie sich die Entscheidungen vor Ort abspielen, dann wird offen eingestanden, daß »Menschen mit Migrationshintergrund« es sind, die ins Fadenkreuz der Ermittler geraten. Aber jetzt kommt’s: Der Polizeisprecher hat hinzugefügt, »statistisch belegen« lasse es sich nicht, »daß eine bestimmte Bevölkerungsgruppe mehr Waffen mit sich führe.«

A.: Auch dieser Zusatz ist nicht mehr als eine vordergründige Entlastungsstrategie, denn es wurde ja vorher die Art der Methode bekanntgegeben, mit der die Polizei ihre Kontrollen vornimmt: »Erfahrungs- und Gefühlswerte« seien es, die ihr polizeiliches Handeln bestimmen.

B.: Damit sind wir wieder bei dem Drogenfahnder, der mir versicherte, daß man die nachlässig gekleideten Personen im Frankfurter Hauptbahnhof weniger beachten müsse als die Herren im Maßanzug, die in ihren teuren Lederköfferchen die kostbaren Drogen herumtransportieren.

A.: Wenn nun aber die Drogenbosse sich zu einer paradoxen Strategie entschließen und auf das Wahrnehmungsraster der Drogenfahnder reagieren und ihre Drogenkuriere künftig weder als Dressmen noch als Hippies herumlaufen lassen, sondern als ganz unauffällige, durchschnittlich gekleidete Personen, die aber vielleicht nicht zu orientalisch ausschauen, was dann?

B.: Dann sind alle Kategorien aufgehoben. Dann führen auch die »Erfahrungs- und Gefühlswerte« in die Irre. Dann sind alle verdächtig. Dann müssen demzufolge auch alle Personen, die den hannoverschen Hauptbahnhof passieren, angehalten, abgetastet und verhört werden.

A.: Da wird bei der hannoverschen Polizei wohl bald eine massive Stellenausschreibung erforderlich sein.

B.: Ja, aber was mich ganz besonders irritiert, das ist die bizarre Tatsache, daß die Polizei die genannten Waffen an vorher bekanntgegebenen Tagen zu suchen sich anschickt, an den anderen Tagen aber der normale Passant den Übergriffen möglicher Attentäter schutzlos ausgeliefert ist. Das hört sich so an, als wäre es eine Lösung des Problems, wenn an ausgewählten Tagen die Polizei, wie sie selber sagt, »eine besondere Präsenz« zeige, an den restlichen anderen Tagen aber der durch den Hauptbahnhof schlendernde Bürger auf sich selbst angewiesen ist.

A.: Und sich vorsorglich mit einer Waffe versieht.

B.: Das wäre dann die ironische Schlußpointe.