Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog
Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.
Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«
Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.
Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.
Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei
In der Sommerzeit fühlen sich die Massenmedien verpflichtet, dem lesenden und wählenden Volk über die Psychologie ihrer politischen Herrscher detaillierte Auskunft zu geben. Die Große Frankfurter hat das jetzt getan, indem sie auf einer ganzen Seite ihres kostbaren Anzeigen- und Nachrichtenraumes dem derzeitigen Bundeskanzler nähergerückt ist. Die Überschrift des Porträts ist in erheblichem Maße anmaßend: »So funktioniert Olaf Scholz«. Ohne Ausrufezeichen zwar, aber dennoch, die Große Frankfurter traut sich allerhand zu und das in jeder ihrer Ausgaben. Während man in der Regel eine Bedienungsanleitung unter dem Begriff der Funktion zu subsumieren gewöhnt ist, wird hier der Anspruch erhoben, auf einer Zeitungsseite eine ganze Person zu verstehen und zu erklären. Ja, wir sind alle nur Rädchen im großen Weltgetriebe und so mag man vielleicht auch vom Funktionieren eines Menschen sprechen dürfen, analog zu der im 18. Jahrhundert recht beliebten Metapher vom Menschen als einer Maschine. Wer die Große Frankfurter aus früheren Jahren kennt, wird sich jedoch gewiß wundern über die weiteren Untertitel: »Wir erklären schon mal: Wie spricht er? Wie führt er? Und: Steht er eigentlich auf Autos?« Bordelljargon, und dann noch falsch, ruft Kommerzienrat Treibel nach der Lektüre der Morgenzeitung (so gesprochen in der von Walter Jens bearbeiteten Fernsehfassung von Fontanes Roman ›Frau Jenny Treibel‹). Man sieht aber, wie auch ein seit seiner Gründung, 1949, auf hohem Kulturbewußtsein sich etwas zugute haltendes Blatt, gezwungen ist — die Zeiten für Zeitungen sind schlecht, und das schon seit etlichen Jahren — sich einen Zeitgeist-Jargon zuzulegen, der dem Leser, und wir bedienen uns jetzt einmal kurz dieses Jargons, auf die Pelle rückt.
Als erstes Merkmal fällt der Großen Frankfurter die Lautstärke des Kanzlers beim Sprechen auf. Er hat eine leise Stimme. Was aber daran bemerkenswert ist, das ist nicht so sehr die leise Stimme an sich, sondern daß er auf Zurufe, doch etwas lauter zu sprechen, nicht reagiert. Die Große Frankfurter enthält sich einer Wertung dieses Vorgangs, doch darf man bei diesem Verhalten ein Machtinstrument vermuten, denn wer konstant leise spricht und weiß, daß die Zuhörenden am Kabinettstisch aufgrund ihrer berufsmäßigen Anwesenheitspflicht genau verstehen müssen, was der Kanzler zu sagen hat, der übt subtile Macht über seine Kollegen aus. Wenn ich rede, dann haben alle still zu sein und auf meine Worte zu lauschen. Wer nicht die Ohren spitzt und etwas nicht mitbekommt, ist später selber schuld, wenn eine Information bei ihm nicht angekommen ist, und für alle darauf beruhenden Fehlentscheidungen ist der jeweilige Minister selbst schuld, denn er hat dann eben nicht aufgepaßt. Zu diesem autoritären Stil paßt das Credo, das der Kanzler mit dem britischen Könighauses teilt: Never complain, never explain. Wie die Große Frankfurter aus dem Umfeld des Kanzlers hat erfahren können, wird über ihn eine Geschichte kolportiert, die einst Bismarck zugeschrieben worden ist. Gesetze seien wie Würste, man solle besser nicht dabei sein, wenn sie gemacht werden. Am Ende zähle doch nur dir schmackhafte Wurst. Bekanntlich war Bismarck kein ausgesprochener Freund des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens, und so ist die Wurstmetapher eher eine Erinnerung daran, wie lange ein demokratisches Prozedere in der deutschen Politik von der Obrigkeit verhindert worden ist, und weniger ein amüsantes Beispiel dafür, daß »entscheidend ist, was hinten rauskommt«, wie es ein früherer Kanzler auf einer Pressekonferenz 1984 erläuterte, ohne damit auf die Wurstmetapher wörtlich, aber doch sachlich zurückgegriffen zu haben. Aus der Philosophiegeschichte wird ein Satz von Schelling überliefert, daß man über dem Produkt den Prozeß nicht vergessen dürfe, aber solche Unterscheidungen haben für den derzeitigen Kanzler keinerlei Bedeutung, wie er auch sich erst kürzlich von Karl Marx »distanziert« hat, wie die Große Frankfurter weiß. Nun ist allein ein solcher Vorgang, wo ein Politiker sich von einem Philosophen distanziert, komisch zu nennen, denn dieser Politiker hat absolut nichts vorzuweisen, mit dem er mit dem Philosophen in eine theoretische Erörterung eintreten könnte. Ja, der Kanzler glaubt sogar zu wissen, was das Wesentliche des Marxschen Werkes, immerhin vierzig Bände der ›Marx-Engels-Werke‹ (MEW), und viele weitere in der ›Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), ausmacht: Mit seiner Theorie, daß »erst alles gut sei«, wenn die Menschen nicht mehr entfremdet arbeiteten und sich ihre Arbeit komplett aussuchen könnten, habe der Philosoph »danebengelegen«. »Das ist ja Quatsch, das darf uns auch nie wieder reinrutschen ins Denken.« wird der Kanzler von der Großen Frankfurter zitiert. Sehen wir davon ab, ob der Kanzler damit dem Marxschen Gesamtwerk auch nur im entferntesten gerecht geworden ist, so ist ein Wort wie »Quatsch« kein Argument, sondern das, was man in der Rhetorik als Widersprechen bezeichnet. Quatsch versteht jeder als Wort und man ist beruhigt, daß die Obrigkeit damit ein für alle Mal geklärt hat, in welchem Verhältnis sie zur Theorie steht. Quatsch klingt volkstümlich, und so kann die Große Frankfurter dann auch erfreut berichten, daß der Kanzler, wiewohl kinderlos, auch mit Kindern so reden kann, »daß es nicht zu sehr nach Bundeskanzler klingt.« Vor Kindern einer Grundschule hat der Kanzler unlängst das Wort »bekloppt« gebraucht, ein Wort, daß in einem deutschen Aufsatz nichts zu suchen hat, es sei denn, die Schüler zitieren damit den derzeitigen Kanzler. Als der Kanzler noch jung war, war er politisch »bei den ganz Harten«, womit der damals so genannte ›Stamokap‹-Flügel innerhalb der Jungsozialisten gemeint ist. Von der »kommunistischen Ideologie« habe sich der Kanzler gleich nach dem »Zusammenbruch des Kommunismus« getrennt, woraus hervorgeht, daß die dem Kanzler nachgesagte pragmatische Haltung vollauf zutreffend ist, denn wenn die Staaten, die man bisher als Vorbilder gesehen hat, nicht mehr existieren, so ist das der beste Anlaß, sich von diesen loszusagen. Der Kanzler, der sich von Marx distanziert, kann sich auch vom Sowjetkommunismus distanzieren, wenn er verschwunden ist, während es natürlich viel glaubwürdiger gewesen wäre, wenn er es schon vor dem Fall der Mauer getan hätte. »Aber aus Anarchisten werden Sozialdemokraten, aus Sozialdemokraten Redakteure, aus Redakteuren Theaterdirektoren.« hat Karl Kraus 1912 über Stefan Großmann gesagt. Im Falle des derzeitigen Kanzlers kann man sagen, daß er immer schon darauf geachtet hat, den Zug der Zeit nicht zu verpassen. In einer schärferen Version des kolportierten Bismarck-Spruchs über das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren heißt es, »das Volk solle besser nicht dabei sein, wenn Gesetze oder Würste gemacht würden, sonst werde ihm schlecht.« Es reicht manchmal aber schon die Lektüre der Großen Frankfurter dafür aus.
Wikipedia als biographischer Ort
Wie bei einer Pflanze, an der die Blüten zu verschiedener Zeit zu Früchten reifen, sah ich am Strande von Balbec bereits die alten Damen, die harten Fruchtschoten, die schwammigen Wurzelknollen vor Augen, zu denen meine Freundinnen eines Tages zwangsläufig werden mußten. Aber was tat das? Noch war Blütezeit. (Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit / Im Schatten junger Mädchenblüte 2, Bd. 3, Frankfurt/M. 1977 [1958], 612)
Seit es Wikipedia gibt, kann man im Nu wissen, ob die Person, die man sucht, noch am Leben ist oder vielleicht schon vor Jahren gestorben ist. Biographische Informationen gibt es in Hülle und Fülle. Doch die Art der biographischen Darstellung ist großen Schwankungen unterworfen. Das beginnt schon damit, daß man sich vorab entscheiden muß, über welche Art von Personen man etwas mehr wissen will. Gilt das Interesse einer Person der Zeitgeschichte, einer Person der lange zurückliegenden Vergangenheit oder will man mehr über eine Person der Gegenwart erfahren. Außerdem gilt es, sich zu entscheiden, welchen Beruf diese Person ausgeübt hat oder noch ausübt. Die Wikipedianer stellen in vielen Sprachen der Welt, wir beschränken uns hier auf die englische und deutsche Sprache, dazu durchaus verläßliche Informationen bereit. Will man eine Phänomenologie des biographischen Wikipedia-Eintrags schreiben, sollte man auch ein Gespür dafür haben, ob vielleicht im Hintergrund die zu biographierende Person selbst Hand an den Text gelegt hat oder ob es ihr völlig gleichgültig ist, was man über sie geschrieben hat. So bemerkt man bei Wissenschaftlern der geisteswissenschaftlichen Richtungen immer wieder, wie die manchmal etwas zu ausführlich geratene Darstellung der eigenen ›Philosophie‹ aus deren Feder stammt und das Ganze wie ein Referat der von ihnen publizierten Bücher aussieht. Entsprechend wächst die Hochachtung vor der Person und ihrem Werk, jedenfalls bei unbedarften Lesern, die alles glauben, was man ihnen weitschweifig darlegt. Im Gegensatz dazu gibt es aber auch Wissenschaftler, zumeist in fortschrittenem Alter, die weder auf die Erweiterung der Bibliographie Wert legen noch bereit sind, etwas mehr zu ihrer persönlichen Biographie beizutragen. Und es gibt dann auch in solchen Fällen meist kein Foto der betreffenden Person. Hier sind wir an einer entscheidenden Stelle des Wikipedia-Eintrags angekommen. Das Foto oder sogar die über den Eintrag verstreuten Fotos aus unterschiedlichen Lebensabschnitten markiert einen wesentlichen Differenzpunkt, der nicht unbedingt unter Eitelkeitsverdacht zu stellen ist. Man darf mit Recht vermuten, daß ›Fans‹, vornehmlich von Schauspielerinnen, sehr genau darauf achten, daß ihre Heldin ausschließlich mit sehr vorteilhaften Fotos abgebildet wird und man bei der Auswahl auch bedenkt, daß, sollte die Schauspielerin noch am Leben, aber doch schon die Siebzig oder Achtzig erreicht haben, man geschmackvolle Schnappschüsse von ihr der Öffentlichkeit präsentiert. Das geht in manchen Fällen durchaus bis hin zu der Entscheidung, nur ein Foto auszuwählen und das ist dann aus der frühen Phase der Schauspielkarriere entnommen worden. In Fällen, wo die mehr oder weniger berühmte Darstellerin verstorben ist, wird gern ein Foto aus der Zeit genommen, als sie in den Zwanziger oder Dreißigern war, und das bleibt dann für immer die Ikone, unter der man sich die Person vorzustellen hat. Doch gibt es auch Fälle, wo die Schauspielerinnen sich nicht scheuen, eine falsche Entscheidung in ihrem Leben zu dokumentieren, zum Beispiel eine mißglückte Schönheitsoperation, wobei dann neben anklagenden Fotos (nach der Operation) die Belege (vor der Operation) angeführt werden, begleitet von Worten, die den Operateur angreifen, und, wenn man das Ergebnis betrachtet, mit Recht. Doch auch in den Fällen, wo die Schauspielerinnen sich einer kosmetischen Operation unterzogen haben, kann es vorkommen, daß ganz und gar nicht diese Tatsache als Skandal (wegen eines mißlungenen Eingriffs nämlich) empfunden wird, sondern recht selbstbewußt das allerneueste Foto nach der Gesichts-Straffung auf der Wikipedia-Seite präsentieren, obwohl das Ergebnis zu großen Zweifeln an dem erzielten Erfolg berechtigt. Unterschwellig könnte man vermuten, daß diese Darstellerinnen insgeheim mit ihrem neuen Gesicht auch nicht zufrieden sind und vielleicht den Gang zum kosmetischen Chirurgen zutiefst bereuen, aber nach dem Motto: Was geschehen ist, ist geschehen, nun so tun, als seien sie glücklich mit dem Ausgang und deshalb auch keine Scham empfinden, das verunstaltete Gesicht vorzuzeigen. Wir alle wissen, daß ein Entschluß zu einer Gesichtsoperation in Hollywood nicht auf einer freien Entscheidung der um ihre Karriere fürchtenden Darstellerinnen beruht. Aber die manchmal grotesk verschnittenen Gesichtszüge, die falsche Glattheit der Wangen, zeigen ganz offensichtlich, daß man besser bei dem alten Gesicht geblieben wäre, als sich auf diese grauenerregenden und schmerzhaftes Mitgefühl hervorrufenden Operationen eingelassen zu haben. Dagegen ist der Satz vom Altern mit Würde ebenso mit Vorsicht zu genießen. Ja, wir alle sind dem Zahn der Zeit unterworfen und würden auf unserem Wikipedia-Eintrag lieber ein Foto aus unserer Jugendzeit sehen als ein Bild, das uns als einen gebeugten Alten zeigt, mit schütterem Haar und eingefallenen Zügen. Nur wer jung stirbt, bleibt von diesem Unbehagen freigestellt. Die anderen müssen entweder auf Fotos ganz verzichten oder, wenn sie berühmt und weiblich sind, das beste Foto aus der Jugend auswählen und so zu tun, als würden sie immer noch so aussehen. Doch gibt es auch Schauspielerinnen, die sich keiner Schönheitsoperationen unterziehen und einfach so bleiben wie sie gerade sind, und der Anblick ist nicht in allen Fällen der gleiche. Manche sind kaum wiederzuerkennen, so sehr hat das Alter an ihnen sich vergangen, sie strahlen zwar unverändert in die Kamera, aber unser inneres Auge rekonstruiert das Gesicht aus fernen Tagen, als man die Darstellerin aus der Ferne verehrte, bewunderte, liebte, und wird nun mit einer ganz anderen Person konfrontiert, die man besser nicht mehr sehen möchte, so sehr hat sie sich zum Schlechteren verändert. Das alles wußte nur eine, die sich rechtzeitig aus dem Leben der Öffentlichkeit zurückzog und keine aktuellen Fotos von ihrer Erscheinung mehr erlaubte: Greta Garbo. Nicht jeder weiß eben, wann es Zeit ist, abzutreten und der ewigen Schönheit zu opfern, indem man sich von der grausamen Gegenwart verabschiedet.
Optimismus ist Pflicht!
– Und wie überschreiben wir die Rede des Reichskanzlers? Los, Herrschaften. Zehn Pfennige für eine gute Schlagzeile.
– Der Kanzler fordert Vertrauen.
– Mäßig.
– Deutschland oder die Trägheit des Herzens.
– Reden Sie keinen Unsinn! rief der politische Redakteur. Dann schrieb er eine Zeile groß mit Bleistift über das Manuskript.
– Was haben Sie denn geschrieben?
– Optimismus ist Pflicht, sagt der Kanzler!
(Erich Kästner: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten, 1931)
Dr. Anneliese Sendler: Ja, willkommen bei unserer heutigen Talkrunde, die diesmal unter der Überschrift steht: ›Optimismus und Pessimismus in unserer heutigen Welt‹. Wie jedesmal haben wir fachkundige Gäste zu uns eingeladen, die uns beim Verständnis dieses Themas helfen sollen. Ich begrüße zunächst einmal ganz herzlich Herrn Prof. Dr. Ernest Cassoulet, er ist Philosophiehistoriker an der University of East Anglia.
Prof. Dr. Ernest Cassoulet: Guten Abend, Frau Doktor Sendler, vielen Dank für Ihre Einladung.
Dr. Anneliese Sendler: Ja, gern geschehen. und vielen Dank, Herr Professor, daß Sie sich von so weit her hierher bemüht haben. So! Unser nächster Gast ist eigentlich gar nicht anwesend. Dafür dürfen wir von uns stolz behaupten, daß wir mit diesem Gast etwas bisher im deutschen Fernsehen nicht Gezeigtes präsentieren dürfen. Wie Sie sicherlich wissen, gibt es seit letztem Jahr ›ChatGTP‹. Unter diesem schwer auszusprechenden Kürzel verbirgt sich ein ungeheuer potentes Medium, man könnte es als Wahrscheinlichkeitsmaschine bezeichnen. Jeder Nutzer des Internets kann es seit einem halben Jahr verwenden und es hat auch schon besorgte Stimmen gegeben, die vor ChatGPT warnen und den Untergang des schriftlichen Abendlandes vorhersagen. Wir hier, das heißt unsere fleißigen Techniker im Hintergrund haben ChatGPT installiert und mit sämtlichen Schriften von Ludwig Marcuse gefüttert. Ludwig Marcuse, das darf ich für die nicht philosophiehistorisch Gebildeten unter unseren Zuschauer sagen, lebte von 1894 bis 1971 und war ein ungemein produktiver philosophischer Schriftsteller, der auch als Biograph sich hervorgetan hat. 1953 hat er ein Buch veröffentlicht, das den Titel trägt: ›Pessimismus – ein Stadium der Reife‹. Und damit sind wir schon wieder bei unserem heutigen Thema, ›Optimismus und Pessimismus in unserer heutigen Welt‹. Ludwig Marcuse wird heute Abend unter uns weilen in Gestalt seiner sämtlichen Gedanken, die unsere Techniker in den ChatGPT eingespeist haben. Das war das. Ähem, damit kommen wir gleich zu unserem nächsten Gast, der hier ganz lebendig und leibhaftig mir gegenüber sitzt. Ich begrüße Herrn Dr. Torben Fasolt, Leiter der Studie ›Future Government‹, die im Auftrag der Stiftung ›Neues Europa‹ erstellt wurde. Vielleicht können Sie unser Gespräch damit in Gang bringen, indem Sie die wesentlichen Punkte Ihrer Studie kurz darlegen?
Dr. Torben Fasolt: Ja, das kann ich gerne tun. Die Jugend verliert ihren Optimismus, so könnte man plakativ die Ergebnisse unserer Studie zusammenfassen. Und das liegt nicht an Corona oder dem Ukraine-Krieg, wie man vielleicht vordergründig schließen könnte. Ganz und gar nicht. Das Lebensgefühl junger Europäer und Europäerinnen trübt sich längerfristig und kontinuierlicher ein. Wir haben junge Leute im Alter zwischen 16 und 26 Jahren befragt, wie Sie die Zukunft sehen. Mehr als die Hälfte der Befragten war der Meinung, daß es ihnen schlechter gehen werde als ihren Eltern. Selbst in den Ländern Europas, wo eigentlich immer eine deutlich optimistischere Stimmung vorherrschte, wie in Polen, ist diese positive Grundstimmung vorüber.
Dr. Anneliese Sendler: Das sind betrübliche Daten, die Sie uns hier präsentieren.
Prof. Dr. Ernest Cassoulet: Wenn ich mich hier gleich zu Wort melden darf? So verständlich solche Umfragen aus der Sicht von Wirtschaft und Politik sind, und man darf doch annehmen, daß solche Umfragen auch gemacht werden, um die Konsummärkte zu erforschen und um das politische Verhalten der jungen Generation berechenbarer zu machen, so ist mit diesem Wort Optimismus doch sehr vorsichtig umzugehen. Was wissen 16 bis 26 Jährige über die Herkunft dieses Wortes und wie verbinden sie dieses mit ihrem Lebensgefühl? Das scheinen mir doch wesentliche Vorfragen zu sein, wenn man zu zuverlässigen Aussagen kommen will.
Dr. Anneliese Sendler: Das wäre jetzt wohl der Zeitpunkt, wo wir unseren hochgenerierten Ludwig Marcuse als Spezialist für Pessimismus zuschalten sollten. Wir haben hier im unserem Studio einen riesengroßen Plasma an der Wand anbringen lassen, wobei ich mich bei dieser Gelegenheit bei unseren Kollegen vom Sport herzlich bedanken möchte, denn dieser Riesenbildschirm wird sonst nur für aktuelle Sportübertragungen genutzt. So, dann wollen wir mal. Vorab darf ich noch sagen, daß ChatGPT für jeden neuen Lernvorgang eine gewisse Eingewöhnungszeit braucht, das ist wie beim Menschen, der mit neuen Freunden auch erst einmal langsam warm werden muß. So auch hier, ChatGPT ist zunächst vom ersten Ergebnis her betrachtet nicht sehr überzeugend, aber je mehr Wiederholungsschritte gegangen werden, um so besser wird er. Dann darf ich die Technik dann bitten, ChatGPT zu starten.
(Auf dem Monitor erscheint:) Ludwig Marcuse ChatGPT: Pessimismus ist Reife und Resignation, Optimismus ist Jugend und Hoffnung.
Prof. Dr. Ernest Cassoulet: Haha, großartig, das ist nicht von Ludwig Marcuse, sondern von Johannes Scherr. Ich erspare Ihren Zuschauern die Antwort auf die nicht gestellte Frage, wer das ist. Sie sehen hier aber schon, wie wir mit Festlegungen und Definitionen nicht viel weiterkommen werden.
Ludwig Marcuse ChatGPT: Aber aus welchen Motiven der Pessimismus auch erwachsen mag, er ist in allen Formen das Vorrecht und die Entwicklungskrankheit der Jugend, die im Mannesalter als Antrieb zur praktischen Verbesserungsarbeit dienen muß und im Greisenalter abgelöst wird durch eine heroische Resignation, die nicht mehr anklagt und verzweifelt, sondern begreift und Schmerz und Untergang klaglos annimmt als das natürliche und unvermeidliche Ende der Reifen.
Prof. Dr. Ernest Cassoulet: Zu komisch, das ist nicht von Marcuse, sondern aus Theodor Lessings philosophischem Erstling ›Schopenhauer, Wagner, Nietzsche. Einführung in moderne Philosophie‹ aus dem Jahr 1906. Sie sehen hier aber auch, daß die optimistische Grundhaltung nicht so ohne weiteres der Jugend zugerechnet wird, im Gegenteil, hier wird umgekehrt ein Schuh daraus, hier wird der Jugend eine ihr inhärente Tendenz zur pessimistischen Sicht der Welt konzediert.
Dr. Torben Fasolt: Überfrachten Sie mit solchen Differenzierungen nicht das Problem? Es geht hier doch um etwas ganz Anderes, um die Zukunftshoffnungen der europäischen Jugend, und der ist es, glaube ich, völlig egal, wie welche Philosophen auch immer diese Wörter mit Sinn beladen.
Ludwig Marcuse ChatGPT: Kant katalogisiert die Metaphern der Verdammung. Die Welt, ein Wirtshaus, ein Tollhaus, ein Zuchthaus, eine Kloake. Kant und sein Schüler Schopenhauer (der in der Welt eine Kollektion von Karikaturen sah, ein Asyl von Narren, eine Spitzbuben-Herberge sahen vor allem die moralische Kloake. Der Mensch ist aus krummen Holz gemacht, klagte Kant. Er war der Vater des modernen moralischen Pessimismus.
Prof. Dr. Ernst Cassoulet: Bingo! Bingo! Das ist Ludwig Marcuse im Originalton. Da hat Ihr ChatGPT dann doch noch die Kurve gekriegt. Na ja, es versteht ja überhaupt nicht, was es von sich gibt und sagt. Es ist eben eine Wahrscheinlichkeitsmaschine, die nur reproduzieren kann, was man in sie eingibt. Ein hochgerüsteter High Tech Papagei.
Dr. Anneliese Sendler: Verehrter Herr Professor, das mag ja alles sein, aber ich erhalte gerade von der Regie die Mitteilung, daß unsere Techniker, die das ChatGPT für unseren heutigen Abend installiert und gewartet haben, ein bißchen enttäuscht über ihre sarkastischen Bemerkungen sind. Man versucht doch das Beste, damit man den Zuschauern diese neue faszinierende Technologie vorzuführen.
Prof. Dr. Ernest Cassoulet: Dann entschuldige ich mich in aller Form bei ihren Technikern, es war nicht meine Absicht, sie zu beleidigen oder anzugreifen, aber man muß doch Fehler, die eine Maschine begeht, auch als Fehler benennen dürfen, sonst leben wir ja in einer Scheinwelt und überlassen den Apparaten die Herrschaft über den Diskurs.
Dr. Torben Fasolt: Völlig d’accord, Herr Professor Cassoulet! Dennoch bin ich unglücklich über den bisherigen Verlauf unserer Debatte. Wie kann man diesem Trend gegensteuern, das scheint mir doch die Frage zu sein, die man sich stellen muß. Da sind die europäischen Regierungen aufgefordert, aber auch die jeweilige heimische Wirtschaft, Abhilfe zu schaffen und den jungen Leuten nicht nur mit allgemeinen Phrasen über den Mund zu fahren, sondern wirkliche Strukturreformen in Gang zu bringen, die dann langfristig auch zu einer Tendenzwende bezüglich der optimistischen beziehungsweise pessimistischen Stimmung führen können.
Prof. Dr. Ernest Cassoulet: Ich glaube, daß der Grund für meine Einladung aber darin liegt, über die Tagespolitik hinaus grundlegende Einsichten in die Wortgeschichte von Optimismus und Pessimismus zu bieten. Dazu fühle ich mich jedenfalls verpflichtet. Uns deshalb lassen Sie mich sagen: Nur wenn man die Herkunft und den Inhalt solcher in der öffentlichen Meinung häufig unbedacht verwendeten Begriffe hinreichend klärt, kann man anschließend auch sich zu politischen Prognosen aufschwingen. Der Philosophiehistoriker und Sprachphilosoph Fritz Mauthner, hat gesagt: »Optimismus und als ein danach gebildetes Witzwort Pessimismus sind von den superlativischen Adjektiven optimus und pessimus abgeleitet. Damit mag sich ein Kinderbuch begnügen. Der Optimismus als System ist ein einziges großes Mißverständnis. Weltverachtung ist das Wesen des Christentums. Und nur die Hoffnung auf die Freuden des Jenseits bildet für lebensfreudige Geister eine Inkonsequenz. Die Theodicee von Leibniz erschien 1710, 1758 machte Voltaires ›Candide‹ dem Optimismus für das gebildete Europa den Garaus. Wir verstehen die Sprache von Leibniz’ Buch nicht mehr. Gott ist allweise: also weiß er auch, wie die beste Welt beschaffen zu sein habe. Gott ist allgütig: also ist es seine Absicht, unter allen möglichen Welten just die beste zu schaffen. Gott ist allmächtig: also hat er seine Absicht auch ausgeführt. Darüber mögen Lehrer und Schüler im Konfirmationsunterricht sich unterhalten.«
Dr. Anneliese Sendler: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann ging also der Begriff Optimismus dem Begriff Pessimismus philosophiehistorisch gesehen, voraus.
Prof. Dr. Ernest Cassoulet: So ist es, und ganz am Anfang der Begriffsbildung steht eigentlich ein Scherz, den die französischen Jesuiten sich machen wollten. Es ist eine ironische Wendung gegen Leibniz, weil er einen theologischen Gegenstand mit einer geometrischen Beweisführung behandelte. Die Epigonen des Optimismus haben den bis heute aufrechterhaltenen Fortschrittsglauben fortgeführt, der am verwerflichsten und irreführendsten in den heutigen politischen Parteiprogrammen weiterwuchert. Es ist von trauriger Ironie, wenn 1939 ein Herr namens Johannes Neumann ein 154 Seiten umfassendes Büchlein schreibt, das den Titel trägt: ›Optimismus macht lebenstüchtig! Ein praktischer Führer zum Optimismus für Jung und Alt‹. 1942 singt dann Zarah Leander: »Davon geht die Welt nicht unter / Sieht man sie manchmal auch grau / Einmal wird sie wieder bunter / Einmal wird sie wieder himmelblau.« Im selben Jahr singt sie dann noch ›Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n‹, aber das Jahr 1942 war der Wendepunkt im Kriegsglück des NS-Regimes, Stalingrad und die Folgen. Optimismus wurde wie schon im Ersten Weltkrieg zur Durchhalteideologie.
Dr. Torben Fasolt: Ich kann nicht verstehen, was so falsch daran sein soll, den Menschen Mut zur Zukunft zu machen. Wenn die Meinungsführer in unserer Gesellschaft alles grau in grau malen, dann haben wir keine moralischen Reserven mehr, auf die wir in Krisensituationen zurückgreifen könnnen.
Prof. Dr. Ernest Cassoulet: Aber sehen Sie denn nicht, daß die Form von Optimismus in eine Sackgasse führt, wenn man die Menschen mit leeren Phrasen abspeist und vorgibt, es seien inhaltsreiche Beschreibungen der Welt und Orientierungspunkte für das eigene Leben?! Insofern muß ich Schopenhauer zustimmen, der den Optimismus »eine ruchlose Weltanschauung« genannt hat und sich damit an Voltaire anlehnt. Unter den Positionen von Leibniz, sagt Fritz Mauthner, war keine so schwach wie sein Lehrgebäude des Optimismus.
Dr. Anneliese Sendler: Ich glaube, wir werden heute abend diese Frage nicht lösen können, aber immerhin haben wir doch die Gegensätzlichkeiten deutlich herausgestellt. Als ich mich für diese Sendung vorbereitet habe, bin ich auf eine kleine Schrift von Kant gestoßen, die er 1759 als Vorlesung ankündigte: ›Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus‹. Er beginnt damit, zu sagen, daß der geläufige Begriff von Gott der eines Wählers ist, der, »wenn er wählt, nur das Beste wählt.« …
Dr. Torben Fasolt: Gott als Konsument! Ist ja toll!
Dr. Anneliese Sendler: … und er führt weiter aus, daß Leibniz nichts Neues vorzutragen geglaubt hat, wenn er sagte: Diese Welt sei unter allen möglichen die beste.
Prof. Dr. Ernest Cassoulet: Das war damals auch ein vorsichtiger Schachzug, auch wenn Leibniz den Gottesbegriff allein schon weil er eben auch ein Kind der Zeit war, nicht fallenlassen konnte, dagegen standen objektive Gründe, die ihm das verwehrten. Erstaunlich ist nur, wie das Erdbeben von Lissabon, 1755, in der damaligen öffentlichen Meinung eine solche Wirkung hatte, denn die Jahre und Jahrhunderte davor waren nicht weniger geprägt durch Unglück und Zerstörung. Ein vernünftiger Grund lag, so Fritz Mauthner, nicht vor, »gerade dieses furchtbare Unglück zu einer Gegeninstanz gegen Gott und den Optimismus zu machen. Das Mittelalter war durch Pest und Krieg nur noch frommer geworden.« Außerordentlich interessant ist Kants Reaktion. Er konzediert den kirchenlichen Mächte die Gelegenheit, dieses Erdbeben für ihre theologischen Zwecke auszubeuten, wäre er in ihrer Lage, würde er es auch tun. Aber er ist eben kein Theologe, er ist ein moderner bürgerlicher Denker. Und der sagt, er wolle als Naturwissenschaftler nur der Natur ihre Geheimnisse ablauschen, und das geht nur durch strenge Forschung. »Die Natur entdeckt sich nur nach und nach.« schreibt Kant. Der Optimismus einer noch zu entwickelnden Erdbebenforschung kündigt sich damit an. Nur durch die Verwissenschaftlichung des Schreckens kann man zu den Gründen für die Naturkatastrophe vorstoßen. Es ist Voltaire, der die moralischen Konsequenzen für die Menschheit untersucht in seinem berühmten ›Candide‹ von 1759. Das Axiom ›Alles ist gut‹ wird einer scharfen Analyse unterzogen und das Resultat ist dann eben der uns heute bekannte Gedanke, daß keineswegs alles zum Besten bestellt ist und daß daran nicht nur die Natur beteiligt ist, sondern auch der Mensch mit seinen vielen unberechenbaren und grausamen Taten. Die Glanzleistung Voltaires bestand darin, daß er das Grauen und Entsetzen über das Erdbeben in ein nicht endenwollendes Lachen über die naiven Annahmen des Menschen über die Welt verwandelte. Als Folge davon entstand der Pessimismus als Dogma. In dem Artikel ›Optimismus (Pessimismus)‹, der Teil eines dreibändigen Werkes namens ›Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache‹ (1901–1902. 2. überarb. Auflage 1906–1913, 3. Auflage 1923, Neuauflage 1982) ist, hat Mauthner dann noch weitere höchst bemerkenswerte Ausführungen zum weiteren Schicksal des Optimismus gemacht, die ich hier natürlich nicht alle referieren kann. Ich empfehle unseren Zuschauern unbedingt die Lektüre dieses sehr originellen Werkes, das ich im übrigen den Schriften von Ludwig Marcuse vorziehe, die alle doch immer ein bißchen ins Feuilletonistische und Schwafelnde abgleiten.
Dr. Anneliese Sendler: Tja, dann wollen wir aber doch zum Abschluß unserer Sendung noch einmal dem ChatGTP ›Ludwig Marcuse‹ um ein Abschlußwort bitten. Wenn die Technik so freundlich wäre …
Während der Abspann läuft, erscheint auf dem Riesenplasma-Bildschirm:
🤔😱🖕
Aus dem Hintergrund stürmt eine Gruppe von Technikern ins Studio und ruft: »Es lebt!«, »Es lebt!«
Heute aus dem Hangar: Air Defender 2023
Aber es gibt ein Reservoir, eine unendliche Stoffquelle, die noch Niemand vor mir ausgeschöpft haben kann : meine eigene Zeit nämlich! Die ist immer neu, mit neu zu schildernden kuriosen Geräten : das Erlebnis eines Düsenjägers kann Goethe mir nicht vorweggenommen haben! (Arno Schmidt, Die Meisterdiebe, 1958)
Dr. Anneliese Sendler: Einen wunderschönen guten Abend, meine meine lieben Zuschauer und hoffentlich auch viele Zuschauerinnen, zu unserer heutigen Sendung, die diesmal nicht aus unserem gewohnten Studio in Unterföhring kommt, sondern aus einem Hangar in der Nähe von Wunstorf. Das liegt etwa 25 Kilometer westlich von Hannover, also in Norddeutschland. Wunstorf ist eine Stadt mit etwas über 41. 000 Einwohnern. Wunstorf ist berühmt durch seine psychiatrische Fachklinik, aber vor allem, und deswegen sind wir heute hier, wegen des Fliegerhorsts, der 1934 für die Reichsluftwaffe angelegt wurde. Wie Sie sicher aus den Medien wissen, läuft hier seit einigen Tagen die große Flugübung ›Air Defender‹, und für unsere Zuschauer, die nicht des Englischen mächtig sind — das heißt übersetzt: Luftverteidigung. So, dann möchte ich gleich unseren ersten Gast begrüßen, bei dem ich mich zuerst einmal herzlich bedanken möchte für die große Gastfreundschaft, die er unserem gesamten Team erwiesen hat. Herr Joachim Hartlaub, Oberstleutnant bei der Bundeswehr und Flugsicherheitsstabsoffizier beim Taktischen Luftwaffengeschwader.
Oberstleutnant Joachim Hartlaub, Flugsicherheitsstabsoffizier beim Taktischen Luftwaffengeschwader: Keine Ursache, Frau Doktor Sendler, wir freuen uns, Sie bei uns begrüßen zu dürfen. Ich hoffe, alles war zu Ihrer Zufriedenheit.
Dr. Anneliese Sendler: Hach, Herr Oberstleutnant, wo denken Sie hin. Vor der Sendung wurden wir hier ganz fürstlich bewirtet, das glaubt man gar nicht, was da an Speisen aufgetragen wurde. Keine Rede von bundeswehrtypischer Gulaschkanone, nein, ich habe vorhin ein Boeuf à la mode zu mir genommen, also sowas von zart, das zerfiel ja praktisch im Mund. Ein Hochgenuß! Ja, da müssen sich manche dann doch von der überholten Vorstellung, daß man bei der Bundeswehr nur von Kommißbrot und Eintopf lebt, verabschieden.
Oberstleutnant Joachim Hartlaub, Flugsicherheitsstabsoffizier beim Taktischen Luftwaffengeschwader: Oder Fischstäbchen mit Bratkartoffeln in Remouladensauce. Haha.
Dr. Anneliese Sendler: Ja, man kann sagen, die Bundeswehr hat kulinarisch aufgeholt, sie ist richtig cool. Und das ist es ja auch, was sie bei der Nachwuchswerbung versucht: Ein zwar realistisches Bild vom Leben als Soldat zu zeichnen, aber doch auch die großen Möglichkeiten den jungen Menschen, gerade auch den jungen Mädchen, vorzuführen.
Oberstleutnant Joachim Hartlaub, Flugsicherheitsstabsoffizier beim Taktischen Luftwaffengeschwader: Der alte OKW-Stil ist passé. Wir sind schon seit langem in der Gegenwart angekommen. Wir sind ein patriotischer Dienstleister. Da die Wehrpflicht abgeschafft wurde, müssen wir uns auch um die jungen Menschen bemühen und ihnen eine Orientierung mit auf den Lebensweg geben. Dazu bieten wir auf unseren Truppenübungsplätzen Camps an, wo man an drei Tagen testen kann, wie ein Leben als Soldat aussieht. Da heißt es dann zwar immer noch: Stillgestanden! Rührt euch! Aber es wird nicht mehr gebrüllt und der junge Mensch zu einem willenlosen Glied degradiert wie das früher der Fall war. Auch für junge Mädchen haben wir einiges zu bieten. Man kann bei uns Tierärztin oder Hufschmiedin werden und zugleich am regulären militärischen Ausbildungsgang teilnehmen. Denn den Dienst an der Waffe wollen wir natürlich nicht den Männern vorbehalten, wir sind da für die volle Gleichberechtigung und weibliche Emanzipation.
Dr. Anneliese Sendler: Ja, freilich, Herr Hartlaub, nur müssen wir für die jüngeren unter unseren Zuschauer doch erklären, was OKW bedeutet. Es heißt ausgeschrieben: Oberkommando der Wehrmacht. Das liegt gottseidank hinter uns. Aber jetzt schnell wieder in die Gegenwart geschaltet. Wir haben ja noch weitere Gäste, die darauf warten, vorgestellt zu werden. Ich darf begrüßen Frau Renate Meusel von der Friedensinitiave ›Diplomatie statt Luftkrieg‹.
Renate Meusel: Guten Abend, Frau Sendler. Die Wehrbeauftragte, die der SPD angehört, hat unlängst in einem Interview vorgeschlagen, zwar nicht die Wehrpflicht wieder einzuführen, aber sie sagt, man müsse künftig alle jungen Menschen eines Jahrgangs zur Musterung einladen. Das kommt doch sehr einem Etikettenschwindel nahe, wenn ich das mal so sagen darf, denn zugleich will die Wehrbeauftragte ein verpflichtendes ›Dienstjahr für Deutschland‹ einführen. Das ist doch Wehrpflicht durch die Hintertür, wenn Sie mich fragen.
Dr. Anneliese Sendler: Ja, danke für ihre Meinung. Nun aber zu meinem nächsten Gast, Herrn Wilfried Neugebauer von der Wehrsportgruppe ›Endkampf‹ …
Wilfried Neugebauer. Wehrsportgruppe ›Erdkampf‹: Erdkampf! Erdkampf!! Erdkampf!!! Es heißt Erdkampf.
Dr. Anneliese Sendler: Sie müssen hier nicht alles wiederholen. Wir sind hier nicht beim Militär. Ach, übrigens, wie ich gerade meinen Notizen entnehme: Ganz genau so heißt eins der beteiligten Air Fighter: ›Erdkampfflugzeug A-10‹. Na sowas. Das dürfte Sie doch freuen, Herr Neugebauer. So, und zuguterletzt darf ich herzlich begrüßen Herrn Professor Martin Wettbergen. Er lehrt Militärgeschichte an einer unserer Bundeswehrhochschulen. In München, nicht wahr?
Prof. Martin Wettbergen: So ist es. Ja, vielen Dank für ihre Einladung, Frau Dr. Sendler.
Dr. Anneliese Sendler: So, nachdem nun alle Teilnehmer vorgestellt worden sind, nun aber gleich zum Thema, das gerade hier in Wunstorf und Umgebung manche Anwohner etwas verstört hat. Herr Hartlaub, vielleicht erläutern Sie uns und unseren Zuschauern an den heimischen Schirmen einmal, was mit dieser militärischen Großveranstaltung eigentlich bezweckt werden soll.
Oberstleutnant Joachim Hartlaub, Flugsicherheitsstabsoffizier beim Taktischen Luftwaffengeschwader: Jawoll, ähem …
(Frau Meusel hat kurz zuvor aus ihrer Handtasche eine Brötchentüte gezogen, entleert sie, legt vier Brötchen auf den neben ihr stehenden Beistelltisch, führt die Papiertüte zum Mund, bläst hinein, die Tüte bläht sich, und dann nimmt sie beide Hände und zerknallt mit einem parallel geführten kurzen harten Schlag die Tüte. Peng!!! Alle Gäste im Hangar schrecken zusammen. Flugsicherheitsstabsoffizier Hartlaub schaut sich blitzartig nach allen Seiten um und scannt schlagartig das Umfeld.)
Oberstleutnant Joachim Hartlaub, Flugsicherheitsstabsoffizier beim Taktischen Luftwaffengeschwader: Na, wissen Sie, verehrte Frau Meusel, das wäre nun aber nicht nötig gewesen, uns hier auf diese kindische Weise so zu erschrecken. Was sollte das denn?
Renate Meusel. Sprecherin der Friedensinitiative ›Diplomatie statt Luftkrieg‹: Lärm! Herr Oberstleutnant. Lärm! Und nicht zu knapp. Wir Anwohner hier müssen seit Tagen unter dem unerträglichen Flugzeuglärm leiden. Aber das ist nicht alles. Nach Berichten der Medien werden innerhalb dieses militärischen Abenteuers 2,4 Millionen Kerosin verbrannt, das sind, ich habe die exakten Zahlen hier: 35. 235 Tonnen CO2. Eine Luftverpestung sondergleichen und eine Gefährdung unserer aller Gesundheit! Ich protestiere auf das entschiedenste gegen diesen militärischen Aufmarsch in der Luft, diese wahnwitzige Vorstellung, man könnte für den nächsten Krieg proben.
Oberstleutnant Joachim Hartlaub, Flugsicherheitsstabsoffizier beim Taktischen Luftwaffengeschwader: Nur immer sachte, werte Madame. Die multinationale Großübung Air Defender 23 dient unser aller Sicherheit und ist unerläßlich für eine noch sichere Zukunft. Ein guter Grund, um sich auch auf den im schlimmstmöglichen Fall bestmöglichst vorzubereiten. Wenn es zu einem Zwischenfall oder einem Flugunfall kommt, müssen Meldewege funktionieren und die richtigen Personen zur richtigen Zeit alarmiert werden, damit effektive Hilfe geleistet werden kann. Dafür müssen alle Zahnräder ineinandergreifen. Die Übung Air Defender 23 ist die größte Verlegeübung von Luftstreitkräften seit Bestehen der NATO. Sie demonstriert Solidarität im Bündnis und transatlantische Verbundenheit: Vom 12. bis 23. Juni trainieren bis zu 10.000 Übungsteilnehmer aus 25 Nationen mit 250 Luftfahrzeugen unter der Führung der Luftwaffe Luftoperationen im europäischen Luftraum. 25 Nationen und die NATO üben die gemeinsame Reaktionsfähigkeit ihrer Luftstreitkräfte in einer Krisensituation. Deutschland übernimmt dabei die führende Rolle und ist logistische Drehscheibe.
Wilfried Neugebauer. Wehrsportgruppe ›Erdkampf‹: Das ist alles schön und gut und ich befürworte diese kämpferische und entschlossene Einstellung. Nur: Man darf sich bei einem Krieg eben nicht nur auf die Luftüberlegenheit verlassen und alles auf eine Karte setzen. Das geht nach hinten los. Es gibt eben auch die Infanterie bei einem Krieg, und wir von der Wehrsportgruppe ›Erdkampf‹ bereiten uns schon jetzt auf eine Unterstützung der fliegenden Einheiten auf dem Boden vor. Letzten Endes muß ja das Terrain erobert werden, das kann man aus der Luft nicht, es müssen doch Bodentruppen vorhanden sein, die nach erfolgter Luftschlacht gezielt ins feindliche Gebiet vorrücken und Brückenköpfe bilden, damit der errungene Sieg nicht bald schon wieder verlorengeht. Deshalb üben wir von der Wehrsportgruppe schon jetzt den Ernstfall, der ja irgendwann sich einstellen wird, das können diese friedensliebenden Vereinigungen mit ihrem pazifistischen Gesäusel nicht verhindern.
Renate Meusel. Sprecherin der Friedensinitiative ›Diplomatie statt Luftkrieg‹: Halten Sie doch den Mund! Das ist ja unglaublich, wie dieser Mensch hier daherschwafelt und Kriegsstimmung verbreitet. Wo kommen Sie denn her? Aus einem Erdloch? ›Wehrsportgruppe Erdkampf‹!! Hören Sie doch auf, Sie Hinterwäldler!!!
Prof. Martin Wettbergen: Wenn ich da vielleicht einhaken darf. Es gab tatsächlich von 1973 bis 1982 die ›Wehrsportgruppe Hoffmann‹, eine rechtsterroristische Vereinigung, die 1980 als verfassungsfeindlich verboten wurde. Ich kann mich noch daran erinnern, wie die ›Frankfurter Allgemeine‹ in Gestalt des damaligen Politikredakteurs Friedrich Karl Fromme laufend rechtfertigende Artikel über diese sogenannte Wehrsportgruppe publiziert hat. Das war keine Glanzleistung des deutschen Qualitätsjournalismus.
Dr. Anneliese Sendler: Meine lieben Teilnehmer, bitte schweifen Sie doch nicht zu weit von unserem heutigen Thema ab. Es geht doch um das gerade stattfindene Verlegemanöver ›Air Defender‹, nicht um irgendwelche Splittergruppen der rechtsradikalen Szene.
Renate Meusel. Sprecherin der Friedensinitiative ›Diplomatie statt Luftkrieg‹: Aber Sie sehen doch, das wir das eine vom anderen nicht trennen können, die Vergangenheit und die Gegenwart bilden doch ein Ganzes. Und von dem von der Bundesregierung angekündigten sogenannten ›Sondervermögen‹ von sage und schreibe einhundert Milliarden Euro sollen allein 40,9 Milliarden Euro für das Nachfolgemodell des Tornado, den amerikanische Tarnkappen-Jet F-35, angeschafft werden. Was viele Menschen aber nicht wissen: Dieser Jet ist auch Teil der sogenannten ›nuklearen Teilhabe‹. Das wiederum geht aus dem von der NATO entwickelten Abschreckungskonzept hervor, wonach die Verbündeten Zugriff auf US-Atombomben haben und diese im Ernstfall transportieren. Wir von der Friedensinitiative ›Diplomatie statt Luftkrieg‹ lehnen diese Schritte zur Vorbereitung eines Atomkriegs kategorisch ab. Es gibt genug gut ausgebildete Diplomaten im Auswärtigen Amt, die ihre Intelligenz dazu verwenden sollten, damit ein solcher Albtraum niemals Wirklichkeit wird.
Oberstleutnant Joachim Hartlaub, Flugsicherheitsstabsoffizier beim Taktischen Luftwaffengeschwader: Mit dieser Art von Polemik kommen wir nicht weiter. Sie tun ja gerade so, werte Frau Meusel, als ob die Bundeswehr es gar nicht erwarten kann, einen Atomkrieg auszulösen. Unsere Generalität besteht nicht aus suizidalen Wahnsinnigen. Nur müssen wir unserer vom Staat vorgegebenen Aufgabe gerecht werden und dazu gehören in gewissen Abständen eben Manöver und diese transatlantische Großübung ›Air Defender‹. Es geht doch niemals um Angriff und Krieg, sondern immer um Verteidigung und den Erhalt des Friedens. Mit Air Defender 23 zeigen wir, beweisen wir, und demonstrieren wir die Verteidigungsfähigkeit dieses Bündnisses. Diese Übung ist im Signal gegen niemanden gerichtet. Es ist ein Signal an uns, nach innen gerichtet. In die NATO hinein. Es sind überwiegend NATO-Staaten, die sich an der deutsch-geführten Übung beteiligen. Es ist ein Signal gegen niemand.
Prof. Martin Wettbergen: Das ist, bitte entschuldigen Sie den Ausdruck, semiotischer Kokolores. Ein Signal ist niemals gegen niemanden gerichtet. Das Wort Signal schließt das von vornherein aus. Ein Signal kann niemals nur nach innen gerichtet sein. Ohne ein Außen gibt es auch kein Innen. Das Szenario von ›Air Defender‹ besteht nach offiziellen Angaben darin, daß ein östliches Militärbündnis mit dem fiktiven Namen ›Occasus‹ nach jahrelanger Konfrontation das Bündnisgebiet der NATO angreift. Occasus hatte zunächst seine Energielieferungen verknappt und über Sympathisanten in Deutschland die öffentliche Debatte manipuliert. Dann überfiel Occasus das Land Otso, das nicht zur NATO gehört. Nun greifen die regulären Truppen von Occasus zusammen mit der ›Organisation Brückner‹ Deutschland an. Kommt Ihnen das nicht bekannt vor? Also militärische Phantasie wurde in dieses Szenario nicht investiert, es ist eine platte Kopie der heutigen Lage, eine schlichte Nachahmung, und nicht einmal eine Überraschungsvariante wurde eingebaut. Und dennoch verkünden die politisch und militärisch Verantwortlichen allen Ernstes, und ich zitiere: »Ähnlichkeiten mit real existierenden Machthabern oder echten Staaten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.« Ja, für wen halten diese Leute die Öffentlichkeit eigentlich, uns etwas dermaßen primitiv Gestricktes aufzutischen? Aber von dieser durchsichtigen Beschwichtigungstaktik einmal abgesehen, schmerzt es mich als alter Sozialdemokrat, wenn ich sehen muß, wie ein sozialdemokratischer Bundeskanzler das viele Geld so ohne weiteres auszugeben bereit ist, nur weil die russische Politik sich für einen für alle Beteiligten verheerenden Krieg entschieden hat. Das hängt natürlich mit dem alten Vaterlandskomplex zusammen, damals, als die SPD noch als innerer Feind von den regierenden Klassen des wilhelminischen Kaiserreichs angesehen und auch so behandelt wurde. Das hat jahrzehntelang auf die sozialdemokratische Psyche eingewirkt, und im August 1914, als die sozialdemokratische Reichstagsfraktion die Kriegskredite bewilligte, meinte man, nun endlich vom deutschen Vaterland aufgenommen worden zu sein, aber denkste! Es hat ihnen nicht viel genützt und nach dem Zusammenbruch 1918 ging es dann erneut darum, vaterlandsgetreu sich zu verhalten. Und so haben führende Sozialdemokraten dann mit dem Militär und den Freikorpsverbänden die deutsche Revolution von 1918 in einem Blutbad enden lassen. An dieser Mentalität hat sich auch nach 1945 nichts geändert. Die SPD war immer national, und dennoch hat man sie über einen langen Zeitraum als international orientierte Partei angesehen, dabei war sie nur die größte und am besten organisierte politische Partei der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Manchmal habe ich schon gedacht, daß nur eine am Parteikörper vorgenommene Elektroschocktherapie diesen von dem nationalistischen Wahn befreien könnte.
Renate Meusel. Sprecherin der Friedensinitiative ›Diplomatie statt Luftkrieg‹: Ja, sehr schön gesagt, Herr Professor. Der Kanzler kriegt die Krise und schleudert 100 Milliarden Euro in die Atmosphäre! Und welche gesellschaftlichen Strukturen werden damit zum Guten verändert, wenn die eine Hälfte für atomwaffentragende Düsenjäger ausgegeben werden, und die andere Hälfte auch militärischen Zwecken dienen wird. 19,3 Milliarden Euro sollen für weitere Korvetten und Fregatten zur Verfügung stehen, ein neues Jagd-U-Boot steht ebenso auf der Liste wie Mehrzweckkampfboote. Und natürlich Raketen, marinetaugliche Raketen und U-Boot-Flugabwehrkörper. Das ist noch nicht das Ende. Den Landstreitkräften hat man 16,6 Milliarden Euro versprochen, damit Nachfolgemodelle für den Schützenpanzer Marder und den Truppentransporter Fuchs produziert werden können. Und Mittel für die Entwicklung des Nachfolgers des Leopad-2-Panzers. Und weiter im Text. Für die sogenannte Führungsfähigkeit der Bundeswehr werden 20,7 Milliarden Euro in Aussicht gestellt, dabei geht es um Digitalisierungsprojekte, neue Funkgeräte und Verbesserung der Satellitenkommunikation. 500 Millionen Euro werden bereitgestellt für die militärische Forschung, darunter zählen neue Navigationssysteme zu Land und zu Wasser sowie die Bereitstellung von Überwachungsapparaten zur Sicherung großer Räume mittels Künstlicher Intelligenz. Schließlich bleiben noch 2 Milliarden für die Bekleidung und persönliche Ausrüstung, dazu gehören neue Nachtsichtgeräte und sogenannte Sprechsätze mit Gehörschutz, die im ›Gefechtshelm‹ untergebracht sind. Und da die Soldatinnen und Soldaten Menschen sind, die immer noch auf zwei Beinen gehen, werden neue Stiefel der Bundeswehr angeschafft, die den albernen Namen ›Kampfschuhsystem Streitkräfte‹ tragen. Wohin man auch sieht, hier wird der alte Satz »Si vis pacem para bellum«, auf deutsch: Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor, aufs Greulichste bestätigt und zugleich in Frage gestellt. Wenn man ins Endlose Kanonen und Maschinengewehre baut, gehen sie eines Tages von selber los.
Oberstleutnant Joachim Hartlaub, Flugsicherheitsstabsoffizier beim Taktischen Luftwaffengeschwader: Sie sind ja bestens informiert. Ihre Schlußfolgerungen teile ich selbstverständlich nicht.
Wilfried Neugebauer. Wehrsportgruppe ›Erdkampf‹: Wenn so viel Geld für die Streitkräfte übrig ist, warum zweigt man dann für solche paramilitärischen Verbände wie unsere Wehrsportgruppe nicht einen kleinen Betrag ab? Es wird glatt übersehen, daß wir hier am Boden direkte Aufklärung betreiben und die Bevölkerung einstimmen auf bestehende Gefahrensituationen.
Dr. Anneliese Sendler: Ja, meine lieben Zuschauer, ein Blick auf unsere Uhr sagt uns, daß unsere Zeit um ist …
Renate Meusel. Sprecherin der Friedensinitiative ›Diplomatie statt Luftkrieg‹: Sehr witzig, bemerken Sie nicht die unfreiwillige Ironie in Ihrem Satz?
Dr. Anneliese Sendler: … daß unsere Sendezeit um ist, und wir leider die recht lebhaft gewordene Diskussion nicht mehr fortsetzen können. Aber das ist auch gar nicht nötig, denn es sind ja unsere Zuschauer, die wir zu Gesprächen anregen wollen, und das haben wir dann heute wohl doch erreicht. Also, einen herzlichen Dank an alle Teilnehmer unserer Talkrunde, und Ihnen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, noch einen schönen Abend. Wiederschaun!
(Während der Abspann läuft, entrollt Renate Meusel ein großes Spruchband, das zwischen zwei Holzstäben befestigt ist): Wissen Sie vielleicht — im baldigen dritten Weltkrieg – – : n sicheres Eckchen ? ?
(Arno Schmidt, 1957)
Frau Fanto trägt ein Ecru-Creme-Crepe-Souplekleid
Wann entsteht in Wien ›ein fast beängstigendes Gedränge‹? Auf dem Concordiaball. Wo ist es unmöglich, alle die aufzuzählen, die anwesend waren? Auf dem Concordiaball. Was entwickelte sich alsbald? Die anregendste Conversation. Wieder mischte sich das vornehme Wiener Bürgertum unter das temperamentvolle Theatervölkchen. Wieder gab es ein beängstigendes Gedränge. Wieder walzte der Übermut mit der Lebensweisheit, wieder plauderte die hohe Politik mit der heiteren Muse. Mit einem Wort: wieder übertraf der Concordiaball alle seine Vorgänger. Denn das haben sie alle gemeinsam, die Concordiabälle, daß sie einander an Glanz übertreffen. Er übertrifft ganz gewiß seine Vorgänger weit. (Karl Kraus, 1923)
Der Presseclub ›Concordia‹ wurde 1859 als Verein gegründet. Alljährlich gab er sogenannte ›Concordiabälle‹, zu denen die »Vertreter aller Gesellschaftskreise« erschienen. Den Reportern der Wiener Zeitungen war es beschieden, in ihren Berichten über den Ball alle bekannten ›Persönlichkeiten‹ aufzuzählen und dem Leser zu versichern, daß sich alle »glänzend unterhalten« hätten. Da es ein Ball war, wurde auf die Garderobe insbesondere der Damen der Gesellschaft ein besonderes Augenmerk geworfen. Dies führte zu detailgenauen Beschreibungen der extra für diesen Ball angefertigten Kleider, deren Besitzerinnen darauf bedacht waren, ihre mitanwesenden Konkurrentinnen auszustechen. In dem 1923 in der ›Fackel‹ erschienen Aufsatz ›Frau Fanto trägt ein Ecru-Creme-Crepe-Souplekleid‹ hat Karl Kraus diese Beschreibetechnik dokumentiert. »Frau Präsident Goldstein wirkt in amethystfarbigem Crèpe de Chine mit weißen Perlstifteln ungemein distinguiert«. Es folgen viele weitere detaillierte Beschreibungen der allerneuesten Modekleider. Dann zieht Kraus die Bilanz: »Einem ehrlosen Staat bleibt nichts übrig als der Zuhälter einer ehrlosen Presse zu werden, die als ein Aussatz der ehrlosesten Zunft die Sprache zum Handwerk des Toilettendienstes prostituiert.« Was die ›Neue Freie Presse‹ für Karl Kraus war, der wichtigste Gegenstand seiner Presse- und Sprachkritik in den Jahren zwischen 1899 und 1936, das ist die Große Frankfurter für uns heute. Sie gibt alljährlich zwar keinen Presseball, aber lädt die ›Spitzen der Gesellschaft‹ in Berlin ins altehrwürdige ›Borchardt‹ ein, wo schon die ›Spitzen‹ der wilhelminischen Gesellschaft sich zu Speis und Trank eingefunden haben. »Je mehr sich verändert, desto wichtiger wird, was bleibt.« stellt die Gesellschaftsreporterin der Großen Frankfurter als Eingangsmotto vor ihren Bericht. Und da sie die journalistische Manier der Alliteration auch lange nach ihren Lehrjahren als entscheidendes Mittel bei der Überschriften-Findung nicht vergessen hat, schreibt sie: »Beschwingt, beschleunigt, beschwipst« — um in der nächsten Zeile, fast ein wenig erschrocken über ihren Wagemut, gleich wieder normalbürgerliche einschränkende Bedingungen zu setzen: »… aber alles in Maßen!« Das entschiedene Ausrufezeichen soll alle diejenigen Leser, die schon empört die Hände in die Hüften gestemmt hatten, davor bewahren, einen Leserbrief an die Redaktion zu senden, des Inhalts, wie denn in der renommiertesten Zeitung der Bundesrepublik solcherart Ausschweifungen überhaupt denkbar, ja durchführbar seien. Aber das ist eben das Charakteristische an Gesellschaftsberichten: Sie kommen mit einem Zwinkern in einem Auge daher und wollen in erster Linie unterhalten. Aber es soll auch die Zeitung selbst im Mittelpunkt des Interesses verbleiben, weswegen der Satz »Je mehr sich verändert, desto wichtiger wird, was bleibt.« denn auch die Concordiaballberichte widerspiegelt, insofern auch damals immer wieder betont wurde, daß der diesjährige Ball seinen Vorgänger übertroffen habe. Die Große Frankfurter hält sich ganz an die vorgegebenen Traditionen der Berichterstattung. »Manche Männer in Sakkos schielen neidisch zu denen, die die Sakkos schon abgelegt haben.« Wir werden zwar nicht mit einer detaillierten Beschreibung der jeweiligen Sakkos versorgt, dafür aber sogleich entschädigt durch die Versicherung, daß alle Gäste, an die fünfhundert waren erschienen, »geübt losplaudern«. Der Leser ist dankbar für diese Information, und wenn er auch selbst nicht eingeladen war, so ist es ihm doch eine Beruhigung, daß die anwesenden fünfhundert geladenen Gäste allesamt nicht nur ungezwungen miteinander plaudern konnten, sondern dies sogar »geübt« taten. Was nun den Inhalt der Gespräche betrifft, so hat die Berichterstatterin sich ganz nahe an die Gäste gedrängt, um dem Abonnenten der Großen Frankfurter nicht nur mit nichtssagenden Allgemeinplätzen zu versorgen, sondern ganz konkret zu werden. Schon hat sie einen Satz aufgeschnappt. Eine Ministerin, frisch aus Tunesien eingeflogen, berichtet ihrem Gesprächspartner, dort sei es »noch heißer« gewesen als hier im überfüllten ›Borchardt‹. Ein weiterer Minister sucht gezielt das Gespräch der Berichterstatterin und schenkt ihr und ihrer Zeitung den Satz, daß er schon deshalb gern komme, »weil das die erste Zeitung gewesen ist, die er als Oberstufenschüler las.« Eine beistehende Dame läßt sich nicht lumpen und vertraut der Berichterstatterin ganz im Vertrauen, hier vor allen Leuten an, daß auch sie eine andere Party »sausen« gelassen habe, um mit der Großen Frankfurterin zu feiern, die sie jeden Morgen als erste Zeitung lese. Um diese Schmeicheleien noch etwas mehr zu objektivieren, zitiert die Berichterstatterin einen hohen Herrn, der für den Schutz der Verfassung zuständig ist, und er sagt ihr ganz ungeniert, er habe gestern auf der Sommerparty des großen Nachrichtenmagazins aus Hamburg gesagt, er werde morgen zur Großen Frankfurterin sich hinbegeben, weil das »meine Lieblingsparty« sei. So wie die Damen auf den Concordiabällen einander mit noch schöneren und vor allem teureren Kleider auszustechen versuchten, so ist man als Gesellschaftsreporterin natürlich dankbar für solche qualitätsbewußten Vergleiche, und man unterläßt es denn auch nicht, sie drucken zu lassen, damit der weder da noch dort eingeladene Leser wenigstens von ferne aus in den Stand versetzt wird, sich durch Vergleich ein Urteil bilden zu können. Dann ist der Augenblick da, wo der Vorsitzende der ›Herausgeberkonferenz‹ das Wort ergreift. Das Wort ›Transformation‹ fällt. Stille im Saal. Der Herausgeber der Großen Frankfurter beruhigt seine Gäste und fügt hinzu, daß wir uns alle »in irgendeiner Transformation« befinden. Dann folgt der schwere, aber nicht zu unterdrückende Satz: »Der Zeitung werde auch nichts geschenkt.« Man hört förmlich die Eiswürfel in den Whiskygläsern schmelzen. Doch dann, nach dieser Sekunde der Besinnlichkeit und eingedenk der schweren wirtschaftlichen Lage der Großen Frankfurterin, schwingt sich der Herausgeber zu frohgemuten Optimismus auf und ruft in den Saal, daß man ungeachtet aller Schwierigkeiten die Lage beherrschen werde. »Yes, we can. And we will.« Mancher unter den Gästen mag sich dabei an die von einem damals gerade gewählten amerikanischen Präsidenten gesprochenen Sätze aus dem Jahr 2008 erinnert haben, aber was damals schon für viele zündend geklungen haben mag, kann auch wiederverwendet werden, vor allem, wenn einem Herausgeber nichts Besseres einzufallen scheint.
Im alten Wien legte man noch besonderen Wert auf eine feine Garderobe, das ist im Berlin dieser Jahre kein so großer Faktor mehr, auch wenn man natürlich einen Presseball nicht mit einer Sommerparty vergleichen darf. Aber halt, da stimmt was nicht. Und richtig, da fällt es dann doch auf. Eine Dame »im apricotfarbenen Kleid aus Italien, wie gemacht für diese Sommernacht«. Dagegen fällt der »hemdsärmelige« Minister dann doch merklich ab. Aber die Männer sollen ja auch, so war es jedenfalls noch im alten Wien, vor allem dazu da sein, die kostspielige Abendkleidung ihrer Damen zu bezahlen, selbst aber unauffällig bleiben. Frau Fanto trägt ein Ecru-Creme-Crepe-Souplekleid.
Triumph im Tode
›Nient’altro che la verità‹ — Nichts als die Wahrheit (2023) — so nennt sich ein Buch der Erinnerung von Erzbischof Georg Gänswein. ›Der Wahrheit eine Gasse‹ (1952), so nannte Franz von Papen (1879–1969) seine Autobiographie. Man hat ihm von Historikerseite aus bescheinigt, daß sein Buch weder einen Quellenwert besitzt noch die Wahrheitsliebe enthält, die im Titel so plakativ erscheint. Das haben natürlich alle Autobiographien an sich, daß sie zwar von der Hingebung zur reinen Wahrheit motiviert sein können, am Ende aber doch diesen Anspruch nicht einzulösen vermögen, weil die Kategorie der Wahrheit überhaupt keinen Platz in einer Autobiographie finden kann. Nun aber gar noch die Wahrheit als allein dominierendes und das Buch prägendes Erkenntnisziel im Titel (Nient’altro) auszugeben, grenzt an einen autobiographischen Wahnglauben. Gemeint ist allenfalls, daß man sich ehrlich bemüht hat, die Wahrheit über bestimmte Vorgänge auszusprechen, aber damit ist nicht ausgeschlossen, daß sich nicht nur flüchtige Irrtümer in die Darstellung einschleichen, sondern auch, daß man gar nicht vor sich selber so aufrichtig und rein und wahr sein kann, wie man das dem zahlenden Publikum weismachen will. Seit den ›Konfessionen‹ von Rousseau hat das Genre der Autobiographie immer wieder versucht, sich auf diesen Pfad der Wahrheit zu begeben, meist mit dem Resultat, daß daraus ein Elaborat der Selbstlegitimation geworden ist.
Als Joseph Ratzinger zum Papst gewählt war, erlebte Gänswein diesen Vorgang nach seiner Erinnerung folgendermaßen: »In einer Mischung aus Ergriffenheit und Angst wurde mir plötzlich ganz schwarz vor den Augen.« In all den Jahren hatte Gänswein als sein zweiter Schatten Ratzinger auf seinem Weg nach oben innerhalb der weltkatholischen Hierarchie begleitet. Nun war der Gipfel des Möglichen erreicht. Gänswein attestiert Ratzinger einen »heroischen Tugendgrad«.
Der neue Papst selbst beschrieb sich in seiner ersten Ansprache als »einen einfachen und bescheidenen Arbeiter im Weinberg des Herrn«. Und dazu wolle er »auf Wort und Wille des Herrn lauschen«. Das ist das Fabelhafte an der katholischen Kirche, daß man mit dem Verweis auf eine höchste, unsichtbare Instanz sich Legitimation gegenüber den Gläubigen verschafft und anschließend nach Gutdünken seine eigenen Pläne verfolgt, stets abgesichert durch die imaginäre überirdische Instanz.
Ohne Frage müssen, es geht schließlich um die reine Wahrheit, die letzten Tage des sterbenden Papstes ausführlich beschrieben werden, denn, wie Theodor Lessing einmal sagte: »Von jeher knüpft die Religion an die gebrechlichen Momente des Daseins. Die Kirche feiert ihre Triumphe im Tode«. Und so werden wir, wenn wir denn weiterlesen wollen, Zeuge des Todeskampfes des alten Mannes, der bis in die letzte Sekunde dem ›Herrn‹ sich verpflichtet fühlt. Lange vorher schon galt die Treue zu diesem imaginären Herrn alle Aufmerksamkeit. »Bleiben Sie als Bischof immer dem Herrn treu.« flüsterte Ratzinger nach dessen Bischofsweihe Gänswein zu. Für einen Außenstehenden ist das mehr als verwunderlich, es könnte als Beleg dafür dienen, daß solche Glaubensdiener tief gestörte Individuen sind, die einem erdachten Herrn ihr Leben weihen, unter Zuhilfenahme vieler alter Schriften, die alle vom selben ›Glauben‹ beherrscht sind. Glaube ist Aberglaube, die Unterscheidung, die die Kirchen gegenüber ihren Konkurrenten machen, dient nur der Hervorhebung ihrer eigenen Glaubwürdigkeit, die wiederum bloße Fabrikation ist. Es ist eine geschlossene Wahnwelt. Man soll einem Herrn treu bleiben, den es gar nicht gibt. Die katholische Kirche ist eine Irrenanstalt, wo die Irren frei herumlaufen dürfen und für ihre sinnlosen Tätigkeiten gut bezahlt werden. Wenn kleine Mädchen mit Puppengeschirr ihre Freundinnen zu Tee und Gebäck einladen und so tun, als seien noch viele andere Gäste eingeladen, mit denen sie sich auch eifrig unterhalten während sie unausgesetzt Tee nachschenken, der in der bereitstehenden Teekanne nicht enthalten ist und sich am Gebäck gütlich tun, das nur in ihrer Imagination vorhanden ist, so ist das ›süß‹ und ein Zeichen dafür, daß diese kleinen Mädchen in der Lage sind, für eine Weile ohne Teile der Wirklichkeit auszukommen und am Spiel unendliche Freude haben, wohlwissend, daß alles nur ein Spiel der Einbildung ist, so verfahren die Angehörigen des Vatikans zwar nach einem oberflächlich betrachtet ähnlichen Muster, doch sind die Dinge, die sie täglich erledigen, eingewurzelt in einer Organisation, die diesem Betrieb den Anschein der Realität verleiht, dabei aber doch nur das müßige Treiben großgewordener Kinder darstellt, die um Plätze innerhalb der Kirchenhierarchie kämpfen und nebenbei ein heimliches Doppelleben führen, vor deren Öffentlichwerden sie sich mit Recht fürchten.
Gänswein berichtet auch über mit Gefängnisstrafe belegte Mitglieder der »Päpstlichen Familie«, und es liest sich, als wenn ein Mitglied einer italienischen Mafia-Familie darüber schreibt, wie die vor dem baldigen Ableben stehenden, straffällig gewordenen Mitglieder der Familie doch eben immer noch Mitglieder der Familie geblieben sind, und Gänswein und sein Papst dabei von Vergebung und Verzeihung erfüllt sind.
In seiner religionskritischen Schrift ›Die Zukunft einer Illusion‹ (1927) beschreibt Freud die infantile Hilflosigkeit der Menschheit, die sich einen schützenden Vater sucht. Religion ist eine kollektive Zwangsneurose, sagt er. Der italienische Kardinal Giacomo Biffi (1928–2015) hat diese religöse Obsession in einem Buchtitel zusammengefaßt: ›Die Frage, die wirklich zählt: Was kommt nach dem Tod?‹ (1993). Und so widmen sich die das Leben der Menschen verhindernden religiösen Fanatiker weiterhin der bewußtlosen Phase des Lebens, wenn alles Leben vorbei ist. Sie sind auf die Welt gekommen, um ihre Zeit damit zu verschwenden, die ewige Zeit zu besprechen, die mit dem Tod anfängt. Natürlich können sie nicht fündig werden, aber die Macht, die sie mit der Todesvorstellung auf ihre ›Herde‹ ausüben, ist beträchtlich.
In der Popularvorstellung wird Joseph Ratzinger wohl immer mit dieser im nationalistischen Darstellungwahn fußenden Schlagzeile in Erinnerung bleiben: ›Wir sind Papst‹; und kürzlich hat der Erfinder dieses Satzes in einer Autobiographie sich selbst in diese semantische Linie gestellt mit dem Buchtitel: ›Ich war BILD‹. Das auf solchen ›Büchern‹ abgebildete obligatorische Foto des Autors zeigt eine schmierig grinsende Visage, wie man es aus den klischeehaften Vorstellungen über einen typischen Zuhälter kennt.
Die katholische Kirche hat im Verlaufe ihrer schrecklich langen Geschichte Millionen Menschen das Leben genommen, entweder durch physische Vernichtung oder durch die alles Leben behindernde Glaubensideologie, aber im Gegensatz zu dem Staat Preußen, der 1945 durch Beschluß der Allierten aufgelöst wurde, bleibt sie bis heute bestehen. Dabei erfüllt sie alle Voraussetzungen einer zu verbietenden politischen Partei wie der NSDAP, die nach 1945 verboten wurde. Gänswein und Ratzinger beklagen den innerhalb der katholischen Kirche durch ihre Angehörigen begangenen sexuellen Mißbrauch, aber sie schweigen, wenn es darum geht, die Ursachen dieses Mißbrauchs zu erforschen. Der sexuelle Trieb ist ein machtvoller Trieb, der nicht durch Gebete abgewiesen werden kann. Indem man den Priestern und Funktionären der katholischen Kirche ihre naturgegebene Triebstruktur abspricht, stellt man die besten Bedingungen für sexuellen Mißbrauch her. Das Verbot des Gebrauchs der Genitalien bedingt den Mißbrauch dieser tabuisierten Genitalien. Der Vatikanstaat ist die Heimat der ›Invertierten‹, wie sie Marcel Proust unnachahmlich genau beschrieben hat, in der alle Beteiligten »nach allen Richtungen Blicke werfen, in denen sich Furcht und Begierde mit Stumpfsinn mischt«.
Heiratet nicht! Werdet Hetären!
Heiratet nicht! Werdet Hetären! (Theodor Lessing an seine Studentinnen während einer Vorlesung in den 1920er Jahren)
Dr. Anneliese Sendler: Ja, einen schönen guten Abend, meine lieben Zuschauer. Heute haben wir ein Thema für Sie vorbereitet, das sicher keinen von Ihnen kalt lassen wird: die Heirat. Auch wenn manche unter unseren Zuschauern vielleicht noch nicht verheiratet sind, oder durch eine Scheidung die Ehe hinter sich gelassen haben, so wird man gewiß davon ausgehen können, das dieses Thema niemanden gleichgültig sein läßt. Wir haben, um mehr über das Thema zu erfahren, wieder eine Reihe ausgewählter Experten und Zeugen eingeladen, die ich jetzt kurz vorstellen möchte. Da ist zunächst, unseren Sender regelmäßig einschaltenden Zuschauern ein wohlbekannter Gast, Professor Friedrich Lensing, der zum Thema Heirat mehrere hochinteressante Aufsätze veröffentlicht hat, darunter die sich ergänzenden Beiträge mit den Titeln ›Theater der Liebe‹ und ›Theater der Ehe‹.
Prof. Friedrich Lensing: Ja, guten Abend, Frau Doktor. Wenn ich gleich eine Eingangsthese aufstellen darf? »Liebe ist der Vorgang der Illusion einer Person bezüglich einer andern.« »Ehe ist ein Vorgang (nicht Zustand) der Desillusionierung einer Person bezüglich einer andern.« Dr. Anneliese Sendler: Hui, das wird aber eine kontrovers geführte Diskussion heute abend werden. Shocking! Aber nun gleich zu unserem nächsten Gast. Ich begrüße Herrn Tobias Knopp, der schon auf eine lange Reihe von Ehejahren zurückblicken kann und als Augenzeuge der ehelichen Gemeinschaft sicher einiges Wissenswertes dazu beitragen wird.
Tobias Knopp: Guten Abend, Frau Doktor Sendler! Vielen Dank für Ihre Einladung. Ja, ich kann mich noch recht genau an meinen Hochzeitstag erinnern. Ach Gott, wie lang ist das her! Meine Frau, Gott hab sie selig, weilt ja schon lange nicht mehr unter den Lebenden. Sie war meine einzige große Liebe.
Dr. Anneliese Sendler: Als nächsten Gast darf ich begrüßen Herrn Olaf Pfeiffer. Er ist Repräsentant der niedersächsischen Firma ›Wedding Event‹, die sich auf ungewöhnliche Hochzeiten spezialisiert hat. Herr Pfeiffer, nennen Sie uns doch einmal ein paar Beispiele!
Olaf Pfeiffer, Wedding Event KG: Sehr gerne, Frau Sendler! Wir wollen ja wegkommen von den langweiligen kirchlichen Trauungszeremonien, womit ich absolut nichts gegen unsere Kirchen gesagt haben will! Aber es ist doch all die Jahre ein bißchen dröge gewesen, dieser Gang zum Traualtar und die steifen Gesten des Pastors oder Pfarrers. Das wird zwar immer noch gemacht, aber es kommt bei unseren jüngeren Kundinnen und Kunden doch nicht mehr so gut an. Ein ganz großer Trendsetter war bekanntlich Mick Jagger, der schon 1971 seine damalige Freundin Jerry Hall auf Bali am Strand geheiratet hat. Das war damals das Privileg von Rockstars, aber heute kann das bei uns jede Frau und jeder Mann haben. Und man muß dazu auch gar nicht bis Bali fliegen, denn wir in Niedersachsen haben auch schöne Strände, und vielleicht sind die auch ein bißchen sauberer als die in Indonesien, naja, man weiß es nicht so genau. Was Mick und Jerry Bali war, das ist unseren Kunden die Insel Juist, wo das Standesamt Strandhochheiten anbietet und wo man unter freiem Himmel und in der untergehenden Abendsonne ja zueinander sagen kann.
Prof. Friedrich Lensing (ironisch zitierend): »In der untergehenden Abendsonne« … Ja, freilich, da ist schon das passende Vorzeichen gesetzt.
Dr. Anneliese Sendler: Na, lieber Herr Professor, Sie müssen doch nicht gleich zu Anfang hier die Saalstimmung herunterdrücken! Das ist doch romantisch, in der untergehenden Abendsonne den Bund fürs Leben zu schließen.
Prof. Friedrich Lensing: Bei Nestroy beruhigt sich ein verdachtschöpfender Bräutigam immer mit den Worten: »Sie hat mir ja ewige Liebe geschworen!« Dr. Anneliese Sendler: Nun geben Sie aber Ruhe, Herr Professor, wir haben Sie hier doch nicht als kaspernden Zwischenrufer engagiert. So! Dann wollen wir mal! Herr Knopp, Sie als erfahrener Ehemann können uns bestimmt einiges über ihre Heirat und Ehe mit ihrer Frau berichten.
Tobias Knopp: Ja, gerne. Ich will aber doch gleich sagen, daß mich die Äußerungen des Herrn Professors ein bißchen schmerzen, denn so negativ, wie er die Ehe darstellt, ist sie doch ganz gewiß nicht. Ich kann ja nur von mir erzählen, das ist ja naheliegend, aber was so alles in den Büchern steht, nicht nur von dem Herrn Professor, sondern auch in diesen Romanen, die die Ehe behandeln, also ich weiß nicht, das ist doch zum Großteil alles erfunden, nicht wahr? Vor allem diese Darstellung von diesem Wilhelm Busch, der diese Zeichnungen gemacht hat mit diesen witzig sein sollenden beigeschriebenen Versen und dessen Hauptfigur zufälligerweise meinen Namen trägt, nein, das ist doch eine grobe Entstellung des normalen ehelichen Zusammenlebens. Die Zeiten haben sich doch auch geändert, das waren doch ganz andere Verhältnisse um 1875, als dieser Busch diese Bildergeschichten gemacht hat.
Olaf Pfeiffer, Wedding Event KG: Darf ich darauf gleich antworten? Herr Knopp hat völlig recht, die Zeiten, sie haben sich geändert, wie Bob Dylan schon vor vielen Jahren gesungen hat. Das gilt jedenfalls insbesondere für Niedersachsen, wo unsere Wedding Event KG eine ganze Menge toller Sachen auf die Beine stellt. Das wäre für den Spießer der damaligen Gesellschaft, so um 1875, ganz bestimmt nichts gewesen. Man sagt heute auch nicht mehr militärisch ›Jawoll!‹, sondern ganz zivil ›Ja!‹. Und was gibt es Schöneres als das Bejahren. Das wußte schon Nietzsche, der sich damit gegen den pessimistelnden Schopenhauer absetzte. Sie sehen, unsere Wedding Event KG ist auch philosophisch unterfüttert und überhaupt immer auf dem letzten Stand der Dinge. Es darf auch ein klein bißchen verrückt sein. So haben wir in Osnabrück jetzt die Möglichkeit geschaffen, sich im Schimpansenhaus des hiesigen Zoos trauen zu lassen.
Prof. Friedrich Lensing: Der Kasus macht mich lachen, könnte man mit Goethes ›Faust‹ darauf erwidern. Aber Spaß beiseite, ich habe in einem Büchlein, benannt ›Jäö. Studienblätter. Humoristische hannoversche Sitten- u. Sprachstudien‹ eine Szene im Raubtierhause spielen lassen, wo ein kleiner französischer Junge namens Théodore die hiesige hannoversche junge Dame Helene trifft und unter vielen Qualen versucht, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Da ist eine Trauung im Schimpansenhaus nur die Fortsetzung meiner kleinen erdachten Geschichte, wenn auch mit einem kleine Schwenk ins Groteske. Aber Affen sind ja vielleicht die besseren Menschen. Kein Tier ist so sehr Affe als der Mensch, heißt es bei Nietzsche. Affen sind sehr empfindlich gegen das Lachen der Menschen. Sie haben ein genaues Wissen davon, ob sie ernst genommen werden. Sie gesellen sich nie zu Leuten, die über sie lachen. Der Schimpanse besonders wünscht fortwährend bewundert zu werden. Jedoch: Humor setzt eine größere und kühlere Distanz zu den Dingen voraus, und das geht dem Schimpansen doch ab. Man stelle sich die Menschenseele im Bilde eines riesenhaften botanisch-zoologischen Gartens vor.
Dr. Anneliese Sendler: Ja, vielen Dank, Herr Professor Lensing, ihr Wissen und ihre Einsicht in die komplexe Seele des Menschen ist immer wieder überwältigend und ganz enorm.
Olaf Pfeiffer, Wedding Event KG: Wenn ich hier noch kurz unsere anderen Angebote erwähnen darf. Hier kommt noch ein weiteres Highlight der ganz besonderen Art. Nicht jeder will sich eine frische Brise um die Nase wehen lassen und meidet daher den Strand und die Insel. Und der geht dann tiefer, im buchstäblichen Sinne. Es gibt nämlich auch die Möglichkeit, in einem Bergwerksstollen zu heiraten. Und zwar im Harz, genauer gesagt: Im Rammelsberg.
Tobias Knopp: Hoho, ähem, das ist aber … mpf … delikat.
Olaf Pfeiffer, Wedding Event KG: Wir können gegen historisch entstandene Namen keinen Widerstand aufbauen. So heißt er nun einmal: Rammelsberg.
Prof. Friedrich Lensing: Na ja, lassen wir Herrn Knopp diese kleine frivole Wortassoziation, das ist harmlos. Was aber passiert, wenn die Hoch-Zeit der Hochzeit vorüber ist, wenn der Ehealltag eingekehrt ist? Der französische Schriftsteller Guy de Maupassant hat es gewußt. Er sagt über die Ehe: »Am Tag der Austausch schlechter Launen, bei Nacht der Austausch schlechter Gerüche.« Nicht jede neugegründete Familie besitzt ein Schloß, wo die Ehepartner in einander gegenüberliegenden Flügeln wohnen und so die Distanz bewahren, die für das Funktionieren einer Ehe unabdingbar ist.
Tobias Knopp: Hören Sie doch auf, die Ehe schlecht zu machen. Diese gemeinen Geschichten, die dieser Wilhelm Busch geschrieben und gezeichnet hat, wie in seiner erfundenen Familie Knopp die Ehepartner sich gegenseitig quälen und daran auch noch eine besondere Freude haben, das ist doch erstunken und erlogen!
Prof. Friedrich Lensing: »Die Dichter lügen so viel« hat schon Platon gesagt. Aber beruhigen Sie sich doch, werter Herr Knopp, ich glaube nicht, daß hinter den Darstellungen der bürgerlichen Ehe eine gemeine und hinterhältige Absicht steckt. Im übrigen gilt der Grundsatz: Jeder Jeck ist anders. Was Sie als Herabsetzung empfinden, ist in vielen anderen gleichgelagerten Fällen die reine Wahrheit. Denken Sie an die berühmten Ehedramen, die Ibsen und Strindberg auf die Bühne gebracht haben. Wenn die Ehepartner nur mit etwas praktischer Phantasie ins Theater gehen würden, dann könnten Sie von diesen dramaturgischen Großmeistern eine Menge für ihren Ehealltag lernen und gewisse, beide anödende Gewohnheiten aufgeben.
Dr. Anneliese Sendler: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes haben im vergangenen Jahr rund 390.800 Paare geheiratet. Das sind fast zehn Prozent mehr als im Vorjahr. So gesehen, scheint die Heirat doch weiter eine Zukunft zu haben. Und ohne sie wären die daraus hervorgehenden Kinder auch gar nicht lebensfähig.
Prof. Friedrich Lensing: Dann müssen Sie aber daneben die Scheidungsraten stellen, sonst ergibt das ein falsches Bild.
Tobias Knopp: Bis daß der Tod uns scheidet! Das ist doch immer noch die beste Anleitung für eine glückliche Ehe!
Olaf Pfeiffer, Wedding Event KG: Habe ich schon erwähnt, daß wir auch Trauungen im Space planen?
Prof. Friedrich Lensing: Nach dem Moto: Ehen werden im Himmel geschlossen, aber auf Erden gelebt.
Dr. Anneliese Sendler: Ja, meine lieben Zuschauerinnen und Zuschauer. Und schon ist unsere Zeit wieder um. Oder, wie es bei Wilhelm Busch heißt: »Einszweidrei, im Sauseschritt, Läuft die Zeit; wir laufen mit.« Bis zum nächsten Mal. Allen verheirateten und noch nicht verheirateten Paaren wünsche ich eine gute Zeit!
Prof. Friedrich Lensing (in den Abspann hineinrufend): »Na, jetzt hat er seine Ruh! Ratsch! Man zieht den Vorgang zu.«
Tod eines Schmierenkomödianten
Ich habe Mussolini und Hitler erlebt, die faschistischen Götter meiner Tage; es waren geistig und seelisch völlig leere, unglückliche Menschen, vorangepeitscht vom Größenwahn. (Theodor Lessing, 1933)
Er war ein Schmierenkomödiant und ein Verbrecher. Das hielt die italienische Wählerschaft nicht davon ab, ihn in politische Ämter zu wählen. Er ging in die Politik, weil er wußte, daß man durch Gesetze, die man auf sich selbst zuschneidert, man beschützt ist vor der realistischen Möglichkeit, wegen kriminineller Geschäfte ins Gefängnis gehen zu müssen. Er war dreist in seinem Auftreten und scheute nicht vor wahnwitzigen Vergleichen zurück. »Ich bin der Jesus Christus der Politik« verkündete er ungeniert auf allen seinen Fernsehsendern. Und er zögerte auch nicht davor, denjenigen, die mit dem Namen Jesus Christus nichts anfangen konnten, zu erklären, wie das gemeint war. »Ich bin ein geduldiger Patient, ich ertrage alles, ich opfere mich für alle auf.« Während man in anderen Ländern gern ganz allgemein von ›den Medien‹ redet, wenn man das Konglomerat von Pressehäusern, Fernsehanstalten und Reklameagenturen meint, so zerschmolz das pauschale Gerede über die Macht der Medien in Italien zu einem einzigen Wort: Berlusconi. Er war nach Mussolini in Italien der Politiker, der alles auf Nichts setzte, eine Politik der leeren Worte und der theatralischen Gesten. Und so wie Mussolini seinem Land mit dem Faschismus schadete, so schadete Berlusconi Italien mit einer verheerend wirkenden ökonomischen Politik, mit Geldwäsche und der Komplizenschaft von Auftragsmördern, mit Verbindungen zur Mafia, Steuerhinterziehung und der schamlosen Bestechung von Politikern, Richtern und der Steuerbehörden. »Die Mehrheit der Italiener würde gern so sein wie ich.« sagte er. Und darin hatte er vielleicht sogar recht. Die Ohnmacht der allermeisten Menschen besteht ja gerade darin, eigentlich überhaupt nichts an einem politischen System ändern zu können, nur die ständig Reden schwingenden, wechselnden Politiker wollen ihnen weißmachen, daß das nicht so ist. Aber die Masse der Wähler ist nicht so dumm, und wenn sie nicht überhaupt das Wählen von politischem Führungspersonals sein läßt und zuhause bleibt, dann geht sie den Weg, den auch ihre verbrecherischen Führer gehen: den Weg des Individualismus. Was so ein Krimineller in großem Stil erreicht hat, das will man im kleinen Format auch für sich erreichen. Vielleicht nicht unbedingt mit einem Auftragskiller, aber ganz sicher mit Schwindelei bei der Steuererklärung, der Vorzugsbehandlung bei den städtischen Behörden, des ohne Arbeit erreichten Wohlstands. Das macht solche Figuren wie Berlusconi groß und mächtig. Sie sind die furchtbaren Vorbilder für einen beschränkten Egoismus und Parasitismus, der bei den ohnmächtigen Massen immer wieder ankommt, weil es für sie der einzige Ausweg aus ihrer eigenen Misere zu sein scheint. Für weiteren Nachschub ist gesorgt.
Die Bügelfalte als Kunstprinzip
Kürzlich ist eine weitere, eintausendfünfhundert Seiten umfassende Biographie über Thomas Mann erschienen. In den vergangenen fünfzig Jahren sind bereits vier ebenso umfängliche Biographien herausgekommen. Ich werde auch die neueste nicht lesen. Mir reicht das Diktum Alfred Döblins, das er anläßlich von Thomas Manns Tod geprägt hat: »Es gab diesen Thomas Mann, welcher die Bügelfalte zum Kunstprinzip erhob.« Wolfdietrich Schnurre hat in seinem Buch ›Der Schattenfotograf‹ (1978) eine selbsterfundene Anekdote über Thomas Mann eingefügt, die die Biographie Thomas Manns auf ebenso kurze wie zeitschonende Weise illustriert: »Thomas Mann wird von Marlene Dietrich um einen Songtext gebeten. Beleidigt schickt er ihr sein Gesamtwerk, um darauf hinzuweisen, wer er sei. Marlene Dietrich ruft daraufhin bei ihm an. An sich habe sie sich den Songtext lockerer vorgestellt.«
The American Taliban
Im Januar dieses Jahres, wenn die Temperaturen im Bundesstaat Missouri (USA) um den Gefrierpunkt liegen und man immer mit Schnee rechnen muß, hat die der Republikanischen Partei angehörende Abgeordnete Ann Kelley beantragt, in einem Gesetz zu verordnen, daß Frauen im ›Missouri House of Representatives‹ künftig bei den Beratungen ihre Schultern bedeckt halten müssen. Es war keine vorsorgliche Maßnahme gegen die vielleicht zu niedrigen Temperaturen in der parlamentarischen Kammer, es war ein todernst gemeinter politischer Vorstoß, der die Sittlichkeit im Bundesstaat Missouri fernerhin gewährleisten soll. Zwar gab es erwartungsgemäß empörte Reaktionen, zumal von seiten der Demokratischen Partei, und da vornehmlich von seiten der weiblichen Abgeordneten, dergestalt, daß die aufgebrachte Kollegin fragte, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn von nun an die männlichen Abgeordneten ihre weiblichen Counterparts tagtäglich daraufhin ins Fadenkreuz ihrer Aufmerksamkeit nähmen und insbesondere den oberen Teil ihres Körpers ganz genau studieren müßten, um feststellen zu können, ob dort eine nackte Schulter zu sehen ist oder nicht. Aus den Presseberichten geht nicht hervor, was die männlichen (aber auch weiblichen) Abgeordneten bei einer unzulässigen Offenlegung der Schultern zu tun hätten. Eine Anzahl von Wolldecken sollte zu diesem Zweck im Parlamentsgebäude ständig bereitliegen, mit der die ertappten schulterfreien Frauen dann unverzüglich eingehüllt werden könnten, um den hohen Standard der Sittlichkeit in Missouri gewährleisten zu können. Frau Kelley ist nicht nur republikanische Abgeordnete, sie ist auch Mitglied in der ›National Rifle Association‹, der größten Organisation der Vereinigten Staaten, in der das Recht zum Tragen von Waffen (the right to bear arms) mit allen Kräften am Leben erhalten wird. Nachdem in Missouri wie in den meisten anderen Bundesstaaten der USA durch Entscheid des Obersten Gerichtshof das Recht auf Abtreibung aufgehoben worden ist, wird mit diesem gewissermaßen ergänzenden juristischen Handstreich den Frauen des Landes unmißverständlich deutlich gemacht, daß nur bei einer ausreichenden textilen Bedeckung ihrer Schultern die Konsequenz, die aus solch libertären Verhalten in der Regel folgt — eine ungewollte Schwangerschaft — vermieden werden kann. Das als Gottesgesetz wahrgenommene ›right to bear arms‹ bleibt in den USA trotz weiterhin anhaltender Massaker in allen Teilen des Landes unberührt, hingegen wird es ein ›right to bare arms‹ (das Recht auf unbekleidete Arme [und Schultern]) nicht geben.
In einer Folge der amerikanischen Serie ›Newsroom‹ (2012–2014) hält der politische Moderator eine kleine Rede in Gegenwart des Fernsehpublikums dieses fiktiven Nachrichtensenders. Und er zählt die Dinge auf, die die vor über zehn Jahren virulente ›Tea Party‹ (eine rechtsextremistische Organisation) ganz besonders auszeichnen:
– Ideological purity
– Compromises as weakness
– A fundamentalist belief in scriptural literalism
– Denying science
– Unmoved by facts
– Undeterred by new information
– A hostile fear of progress
– A demonisation of education
– A need to control women’s bodies
– Severe xenophobia
– Tribal mentality
– Intolerance of dissent
– Pathological hatress of US government
They can call themselves ›The Tea Party‹. They can call themselves conservatives. And they can even call themselves Republicans, though Republicans certainly shouldn’t. But we should call them what they are: The American Taliban.