Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog
Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.
Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«
Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.
Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.
Alle Kindlein sind schon da, alle Kindlein, alle
Ich war schwanger / Mir ging’s zum Kotzen / Ich wollt’s nicht haben, mußte gar nicht erst nach fragen / Ick freß’ Tabletten / Und überhaupt, Mann / Ich schaff’ mir keine kleinen Kinder an. (Nina Hagen: Unbeschreiblich weiblich, 1978)
Dr. Anneliese Sendler: Ja, grüß Gott, meine Damen und Herren an ihren Fernsehgeräten. Heute haben wir ein ganz ernstes Thema gewählt, die Bevölkerungsexplosion. Wenn wir im Vorspann Nina Hagen als provokantes Punkmädchen ihr Lied vom Schwangersein haben singen lassen, dann ist das so zu erklären, daß wir Medienleute immer einen Aufmacher brauchen, wie wir das in der Fachsprache nennen, damit unsere Zuschauer am Ball, sprich am Bildschirm bleiben. Also, nicht ausschalten, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, wir werden jetzt gleich ganz seriös. Ich darf unsere heutigen Gäste kurz vorstellen. Da haben wir zu meiner Rechten eine Familie in Gestalt von Hubert und Birgit, Vater und Mutter, das ist die Familie Reichenhalt, und das ganz Besondere an ihr ist, daß sie aus neun Kinder besteht. Die sind heute aber alle zuhause und sitzen vor dem Fernsehapparat, nicht wahr, Frau Reichenhalt?
Birgit Reichenhalt: Ja, freilich, das wäre doch etwas viel hier in ihrem kleinen Fernsehstudio, Kinder brauchen Platz.
Dr. Anneliese Sendler: Ja, das ist schön, daß Sie heute bei uns sind, Frau und Herr Reichenhalt. Jetzt gleich zu unserem nächsten Gast. Das ist ein Fachwissenschaftler aus dem Bereich der Demographie, das ist ein Wort aus dem Griechischen und bedeutet: Bevölkerungswissenschaft. Herr Professor Birger Häusler lehrt an einer Universität und ist im Beirat im ›Verein für Kinderfreundlichkeit‹.
Prof. Birger Häusler: Guten Abend, Frau Doktor.
Dr. Anneliese Sendler: Als nächstes darf ich in unserer Gesprächsrunde willkommen heißen Herrn Professor Friedrich Lensing, der inzwischen schon zu einem Dauergast in unseren Sendungen geworden ist. Professor Lensing hat in seinen Veröffentlichungen immer wieder der Frage der Bevölkerungspolitik seine Aufmerksamkeit gewidmet, deshalb freue ich mich auch, ihn heute hier wieder bei uns zu haben.
Prof. Friedrich Lensing: Vielen Dank für ihre Einladung.
Dr. Anneliese Sendler: Schließlich möchte ich noch unseren letzten Gast vorstellen, er ist der jüngste in unserer Runde, Herr Tim Hummel. Er ist Student der Biologie und Mitglied in einer Musikband namens ›Wicked Witch‹.
Tim Hummel (trägt ein T-Shirt mit den Aufdruck: ›My father didn’t wear a condom!›): Ja, Hi.
Dr. Anneliese Sendler: Nun aber gleich zur ersten Frage, die ich an Herrn Professor Häusler richten will. Können Sie uns kurz einen Überblick über die derzeitige Bevölkerungslage geben?
Prof. Birger Häusler: Ja, Frau Sendler, das ist kein schönes Bild, das ich Ihnen und uns allen jetzt malen werde. Wir stehen vor dem Kollaps. Der Geburtenrückgang in den westeuropäischen Ländern, insbesondere aber Deutschland, ist bestürzend. Wenn wir die Menschen als natürliche Spezies erhalten wollen, muß es zu drastischen Veränderungen in der Bevölkerungspolitik kommen. Seit meinem 2005 in der ›Frankfurter Allgemeinen‹ publizierten ›Grundkurs Demographie‹, in dem ich eindringlich einen bevölkerungspolitischen Kurswechsel gefordert habe, ist die Entwicklung bis heute noch katastrophaler geworden. In meiner 2014 erschienen Studie ›Die alternde Republik und das Versagen der Politik‹ habe ich die Bilanz meiner bisherigen Bemühungen gezogen. Wir sind ein Land ohne Zukunft, und das sage nicht nur ich, sondern das sagen mir auch Statistiken aus Italien, wo 2019 ein neuer Negativrekord bezüglich der Geburtenrate erreicht wurde.
Dr. Anneliese Sendler: Ja, die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Nach den mir vorliegenden Erhebungen hat sich seit 1945 die Weltbevölkerung mehr als verdreifacht, von damals 2,5 Milliarden Menschen auf 7,9 Milliarden. Dabei hat sich der Anteil Afrikas an der Weltbevölkerung von 17 auf 39 Prozent mehr als verdoppelt, der Anteil Asiens hingegen wird von aktuell 60 Prozent auf 43 Prozent kräftig schrumpfen. Eine Frau in Afghanistan bringt knapp viermal so viel Kinder auf die Welt wie eine Japanerin.
Prof. Friedrich Lensing: Und dennoch will die japanische Regierung jetzt 23 Milliarden Euro ausgeben, mit der die Geburtenrate in Japan gesteigert werden soll. Das ist doch völliger Wahnsinn. Die sollten doch froh darüber sein, daß ein Geburtenrückgang zu verzeichnen ist. Die Verminderung der Geburtenziffer ist ein Wesensgesetz der Kultur. Nur so kann auch die Menschheit als Ganze noch etwas Hoffnung auf ihr Überleben haben. Stattdessen klagen diese kurzsichtigen Politiker über das Aussterben der Japaner, und nicht nur sie, auch in anderen Ländern wird so getan, als ob mit weniger Menschen der Untergang des Abendlandes beschlossene Sache ist. Es ist rassischer Nationalismus.
Prof. Birger Häusler: Da muß ich sowohl Ihnen, Frau Doktor, wie Ihnen, Herr Professor Lensing entschieden entgegentreten. Das stimmt so alles nicht. Sie können nicht mit der Weltbevölkerung kommen und so tun, als gäbe es eine Überbevölkerung unseres Planeten. Wir müssen uns doch stets an die eigene Nation wenden und überlegen, wie wir ihren Fortbestand sichern können. Sonst würden wir ja fordern, daß die ganze Welt ein Einwanderland wird, und, glauben Sie mir, das wollen die Japaner ganz sicher nicht. Die wollen die Identität ihrer nationalen Eigenheit erhalten, und das geht nur mit einer gezielt gesteuerten Bevölkerungspolitik.
Tim Hummel: Ey, also jetzt muß ich aber mal dazwischenfunken. Als Biologe studiere ich das Leben in allen seinen Formen und da muß ich feststellen, daß die Natur zwar ununterbrochen versucht, sich selbst zu reproduzieren — auf Masse legt sie Wert, nicht? — und das hat sich für viele Menschen als ein Weg ins Elend erwiesen. Viele Kinder bedeuten immer viele Münder, die man zu füttern hat. Woher das Geld nehmen und nicht stehlen? Der Evolutionsbiologe George Williams hat seinen berühmten Aufsatz aus dem Jahre 1993 betitelt: ›Mother Nature is a Wicked Old Witch‹. Damit will er sagen: Von wegen ›Kinderwunsch‹, das bilden sich die Menschen nur ein, daß es ihr persönlicher Wunsch ist, Kinder zu bekommen, das spielt sich doch alles hinter ihrem Rücken ab. Nichts davon ist gewünscht, man wird durch einen biochemischen Cocktail, der wie eine Droge wirkt, dazu gezwungen, mittels der persönlichen Illusion, daß das aus ›Liebe‹ geschieht, die Gattung fortzupflanzen. Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins hat das 1976 in dem Buch ›Das egoistische Gen‹ nachgewiesen.
Prof. Friedrich Lensing: Bravo, Herr Hummel. Damit bringen Sie die Problematik auf den Punkt. Schon mein großes philosophisches Vorbild Arthur Schopenhauer hat in seiner ›Metaphysik der Geschlechtsliebe‹ geschrieben, daß, sobald ein Paar sich gefunden hat und sich verliebt in die Augen schaut, das Werk der Gattungsvernunft vollendet wird. »Daß dieses bestimmte Kind erzeugt werde, ist der wahre, wenn gleich den Teilnehmern unbewußte Zweck des ganzen Liebesromans: die Art und Weise, wie er erreicht wird, ist Nebensache.« So Schopenhauer.
Dr. Anneliese Sendler: Das ist starker Tobak, den Sie uns da zumuten, Herr Professor. Aber warum fragen wir nicht die Familie Reichenhalt einmal, was sie dazu denken?
Birgit Reichenhalt: Ja, also Ich und mein Mann, wir können dazu nur sagen, daß wir diese Art, über Kinder zu reden, nicht mögen. Nein, so kann man doch nicht über den wertvollsten Schatz reden, den man hat, die Kinder, ohne die das Leben so einsam und eintönig wäre.
Hubert Reichenhalt: Wir haben zum zehnjährigen Bestehen unseres Vereins, dem ›Verein für Kinderfreundlichkeit‹ zahlreiche Grußschreiben von bekannten Politikern unseres Landes erhalten. Ich lese mal aus einem Brief vor: »Kinderreiche Familien braucht unser Land, also jene Eltern, die sich ganz bewußt für drei und mehr Kinder entschieden und damit aus freien Stücken große Verantwortung übernommen haben. Schon deshalb sorgt die Landesregierung in zahlreichen Bereichen dafür, daß Familien bei uns in vielfältiger Weise unterstützt und gefördert werden. Wir wissen, starke Familien sind das Fundament unserer Gesellschaft. Familien, in denen Liebe, Geborgenheit und Werte vermittelt werden, sind die beste Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben.«
Tim Hummel: Das ist doch ganz primitive Propaganda, ganz typisch auch die Redeweise dieser Politiker, die Leuten, die nicht wissen, was sie tun, um den Bart schmieren und sie loben dafür, daß sie viele Kinder in die Welt setzen. Und diese Betonung, daß das ›ganz bewußt‹ geschehen ist. Wer so viele Kinder hat wie hier diese Familie Reichenhalt, der ist doch das beste und deprimierendste Beispiel dafür, daß eben überhaupt kein bewußtes Handeln vorliegt, sondern man ist einfach dem jedem Menschen inhärenten Trieb gefolgt, ohne auf die Folgen zu achten. Ein Egotrip ist das, allein diese Vorstellung, daß man sich so viele Male zu vervielfältigen glaubt, als sei das ein Segen für die Umwelt, grotesk ist das.
Dr. Anneliese Sendler: Lieber Herr Hummel, ich muß ihren jugendlichen Überschwang nun aber bremsen, so geht es doch nicht, wir sind hier doch unter zivilisierten Menschen, die sich zu benehmen wissen.
Tim Hummel: Was heißt hier Benehmen? Diese Leute, die ein Kind nach dem anderen in die Welt setzen, die sollen sich einmal benehmen und darüber nachdenken, was das für ein Unfug ist, den sie betreiben.
Prof. Friedrich Lensing: Da muß ich nun aber meinem jungen Kollegen beispringen, verehrte Frau Doktor Sendler. Sein Argument sticht. Die Weltbevölkerung wird bis zum Jahr 2050 um 29 Prozent von 7,55 Milliarden auf 9,77 Milliarden wachsen. In Afrika werden im Jahr 2050 etwa 2,5 Milliarden Menschen leben, doppelt so viele wie im Jahr 2017, und die Bevölkerung der zweiundzwanzig Staaten der Arabischen Liga wird von 414 Millionen um 63 Prozent auf 676 Millionen Menschen wachsen. Ist ein Land stabil und wächst die Bevölkerung nicht zu schnell, kann die Demographie der Impuls für einen Wohlstandsimpuls sein. In der arabischen Welt gibt es jedoch sehr viele Jugendliche ohne Arbeit. Sie sind die Ursache für Unruhen. Die wirksamsten Faktoren, um die Geburtenrate zu senken, sind Bildung und Arbeit für die Frauen.
Tim Hummel: Wenn Herr Reichenhalt eben zitiert hat, dann will ich das jetzt auch einmal tun. In seinem 2005 erschienenen Buch ›Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen‹ schreibt der Evolutionsbiologe Jared Diamond: »Beim derzeitigen Wachstum der Weltbevölkerung wären wir in 774 Jahren bei 10 Menschen je Quadratmeter Landfläche angelangt, in knapp 2000 Jahren wäre die Masse der Menschen ebenso groß wie die Masse der Erde, in 6000 Jahren hätte die Masse der Menschen die gesamte Masse des Universums erreicht.«
Prof. Birger Häusler: Ich wende mich ganz entschieden gegen diese Rechenbeispiele, die ideologisch motiviert sind und uns nicht weiterbringen. Wir leben doch hier in Deutschland, und dank der Wiedervereinigung sind wir auch wieder ein zahlenmäßig größeres Volk geworden. Und das sollen wir auch bleiben, aber dazu müssen seitens der Regierung auch stärkere finanzielle Anreize gegeben werden, damit wir als deutsche Nation nicht weiter schrumpfen. Vor über zwanzig Jahren habe ich in einem Buch vor der ›demographischen Zeitenwende‹ gesprochen, die auf uns in Deutschland und Europa zukommt. Wenn seit neuestem der jetzige Bundeskanzler das Wort von der ›Zeitenwende‹ aufgegriffen hat, um damit verstärkt den Blick auf die Ukraine und Rußland zu wenden, so muß ich in meiner Verantwortung als Demograph darauf pochen, daß auch auf dem Gebiet der Bevölkerungspolitik eine Zeitenwende in Gang gesetzt wird.
Tim Hummel: Na klar doch, Professorchen, wir brauchen Menschenmaterial, damit wir die Panzer und Raketenwerfer auch bedienen können, wenn wir einen lange andauernden Krieg gewinnen wollen.
Prof. Birger Häusler: Unverschämter Lümmel!
Dr. Anneliese Sendler: Meine lieben Gäste, bitte bleiben Sie doch alle auf dem Teppich. Das ist hier doch nur eine Talkshow. Auch wenn ich die Lebhaftigkeit, mit der hier diskutiert wird, schon toll finde. Aber ein Blick auf die Studiouhr sagt mir, daß wir schon wieder das Ende unserer Sendezeit erreicht haben. Im Namen des Senders bedanke ich mich bei allen Teilnehmern für ihre Mitwirkung und sage Auf Wiederschaun bis zum nächsten Mal.
Prof. Friedrich Lensing (ruft während des Abspanns, den Schluß von Goethes ›Faust. Erster Teil› zitierend): O, wäre ich nie geboren!
Ein Laster kommt selten allein
Dr. Anneliese Sendler: Ja, einen schönen guten Abend, meine lieben Zuschauerinnen und Zuschauer. Heute haben wir wieder einen hochinteressanten Themenabend für Sie vorbereitet. Der Sender hat keine Kosten und Mühen gescheut, und deshalb sehen Sie heute auch einmal ein ganz anderes Bühnenbild in unserem Sendestudio. Ja, wird sich vielleicht mancher unter den Zuschauern fragen, was machen denn die vielen Aschenbecher da auf den Beistelltischen? Diese Frage können wir beantworten, denn heute geht es um das Laster des Rauchens. Dazu haben wir hier eine illustre Runde versammelt. Ich darf gleich einmal vorstellen. Zunächst einmal begrüße ich Frau Professor Lydia Scherling, sie hat einen Lehrstuhl für Toxiologie an der Universität Eggenfelden inne.
Prof. Lydia Scherling (locker gekleidet in Blue Jeans und schwarzer, leicht angewetzer Lederjacke): Hi, Frau Sendler! (schnippt dabei die Asche ihrer glimmenden Zigarette in einen Aschenbecher). Lustiger Gag, ihre Sendung heute, am Welt-Nichtrauchertag, zu bringen.
Dr. Anneliese Sendler: Ja, grüß Gott, Frau Professor! (Zu den Zuschauern im Studio gewandt:) Sie merken schon, wir dürfen heute auch einen ganz lockeren Ton erwarten, aber das ist dem Thema ja auch angemessen. Als nächstes darf ich ebenso herzlich begrüßen Herrn Kuno Raeber, den manche unter unseren Zuschauern vielleicht noch von unserer letzten Sendung in Erinnerung haben, als es um das Thema Wölfe und Bären ging. Auch hier wird man überrascht sein, denn eigentlich ist Herr Raeber im Hauptberuf Waffenhändler und militärischer Berater von vielen kleineren Staaten, die sich im Wettkampf der Nationen gegenüber den großen Nationen zu behaupten versuchen.
Kuno Raeber: Ja, Gruezi, Frau Doktor! Vielen Dank für ihre Einladung. Vielleicht darf ich kurz erklären, weshalb mich der Sender heute hergebeten hat. In den Vereinigten Staaten gibt es, was nicht jeder weiß, eine dem Justizministerium unterstellte Bundesbehörde, die heißt, und ich sage es nun gleich einmal auf deutsch: ›Amt für Alkohol, Tabak, Schußwaffen und Sprengstoffe‹. Sie sehen, der Amerikaner hat Humor, denn diese Zusammenstellung ist für europäische Ohren denn doch sehr merkwürdig. Wir erfreuen uns des Abends zuhause an einem gepflegten Glas Bier oder einem Glas Rotwein und erleben das als kein zu bekämpfendes Verbrechen, aber der Amerikaner denkt da anders. Für ihn ist auch die Zigarette eine verabscheuungswürdige Sache, was allerdings die amerikanischen Firmen nicht davon abhält, die Weltspitze in der Produktion von Zigaretten einzunehmen. Und die Chinesen danken es ihm, denn China ist Hauptabnehmer dieser kleinen glühenden Stangen, der Chinese, vor allem der männliche Chinese raucht nämlich wie ein Schlot.
Dr. Anneliese Sendler: Verehrtester! Wie gewohnt sind Sie ein Born des Wissens, aber ich muß Sie hier unterbrechen, denn wir haben ja noch andere Gäste hier, die ich vorstellen muß. Als da wäre Herr Professor Friedrich Lensing, den wir auch schon in unserer vergangenen Sendung begrüßen durften. Er ist hauptberuflich Philosophieprofessor, aber er hat auch viel Psychologisches geschrieben, darunter einen höchst interessanten Essay mit dem Titel ›Psychologie des Rauchens‹.
Prof. Friedrich Lensing: Guten Abend, Frau Sender! (Zieht an einer Havanna und bläst kleine Ringe in den Raum).
Dr. Anneliese Sendler: Und dann darf ich noch herzlich willkommen heißen Herrn Dr. Hugo Marrobuto. Er ist Repräsentant der Zigarettenindustrie für Europa und den asiatischen Raum.
Dr. Hugo Marrobuto (mit leicht amerikanischen Akzent): Guten Abend, Frau Doktor Sendler.
Dr. Anneliese Sendler: Und dann haben wir noch einen ganze besonderen Studiogast eingeladen, er ist ein Symbol der Anti-Raucher-Bewegung geworden und keine Talkshow kommt ohne ihn aus. Ich begrüße Herrn Jörg Wollseif.
Jörg Wollseif: Mpf. Mpf. Mpf.
Dr. Anneliese Sendler: Ja, freilich, meine lieben Zuschauer, Herr Wollseif hat nach einer Kehlkopfkrebserkrankung sich einer totalen Laryngektomie unterziehen müssen. Für die Nichtmediziner unter unseren Zuschauern möchte ich erklären, daß Laryngektomie bedeutet, daß man dem Patienten den Kehlkopf operativ entfernt hat. Was Sie jetzt von Herrn Wollseif hören, ist eine Ösophagusstimme, das ist eine Ersatzstimme, die es dem Patienten ermöglicht, weiter sprechen zu können, wenn auch mit gewissen Einschränkungen.
Dr. Hugo Marrobuto: Well, Ich möchte protestieren gegen diese stimmungmachende Auswahl der Gäste. Das ist eine völlig tendenziöse Linie, die Sie hier einschlagen. Als ob die Zigarettenhersteller auf die Anklagebank gestellt werden sollen und man sie verantwortlich macht für einzelne, sehr zu bedauernde Einzelfälle.
Prof. Lydia Scherling: Rauchen ist für Männer und Frauen in der Geschichte immer etwas ganz anderes gewesen. Warum trinken Männer Wein und Frauen Wasser? Diese Frage hat Virginia Woolf in ihrem Roman ›A room of one’s own‹ gestellt. Alles, was es an Schönem gibt auf der Welt, das kriegen die Männer. Rauchende Frauen galten damals als nuttig und undiszipliniert. Rauchen war aber für die Frauenbewegung ein Teil ihrer Emanzipation. Rauch strömt aus, greift Raum. Und Frauen sind eben traditionell nicht raumgreifend. Rauchen ist eine Form von Souveränität. Ich nehme mir von der Zigarette nur das, was frei und schön daran ist.
Dr. Anneliese Sendler: Wenn ich eben aus meiner Rolle als Moderatorin herausschlüpfen darf? Ich hatte mal einen Freund, der war ein ganz starker Raucher, und ich habe die Beziehung dann auch bald wieder beendet, weil der ja nicht nur die Wohnung verpestet hat, sondern wenn man ihm einen richtigen Kuß geben wollte, dann war das so, daß ich den Nikotingeschmack direkt im Mund zu spüren bekam. Nein, habe ich mir damals gesagt, das brauchst du nicht. Als ich ihn dann aber immerhin noch vor die Wahl gestellt hatte: Entweder die Zigaretten oder mich, da hat er sich sofort für das Rauchen entschieden. Das war eben seine wahre Geliebte.
Prof. Friedrich Lensing: Liebe Frau Sendler, ich fühle mit ihnen, auch wenn ich in meiner ›Psychologie des Rauchens‹ ein Lob auf die Zigarre ausgesprochen habe. Übrigens sind Zigarren ein Sonderkapitel in der Geschichte des Rauchens, es sind eigentlich gar keine Nikotinträger, sondern helfen beim Träumen im Alltag. Es ist nichts Körperliches und zugleich das einzige Mittel, um Leidenschaften zu unterdrücken. Wie der wirkliche Weinkenner nicht den Wein herunterschüttet, sondern zunächst langsam mit der Nase genießt und die Blume prüft, so wird der richtige Raucher nicht während des Rauchens sprechen, sondern wunschlos glücklich versinken.
Dr. Hugo Marrobuto: Was für ein schönes friedliches Bild Sie da uns vor die Augen gestellt haben, Herr Professor! Wir von der Zigarettenindustrie haben ja auch mittlerweile eingesehen, daß die Zigaretten auf lange Sicht für die Menschen nicht verträglich sind und man sie ihnen kaum noch zumuten kann. Deshalb hat unser Executive Officer auch in einer Pressemitteilung vor kurzem bekanntgegeben, daß wir die Produktion traditioneller Zigaretten einstellen werden.
Prof. Lydia Scherling: Waaas? Sind Sie wahnsinnig geworden?
Dr. Hugo Marrobuto: Nein, nein. Wir wollen eine rauchfreie Zukunft, a smoke-free future! Wir werden nur noch risiko-reduzierte Produkte anbieten, aber bei vollem Genuß und mit exzellentem Handling. Tabakerhitzer und elektronische Zigaretten wird es bald ausschließlich zu kaufen geben. Das ist unser Beitrag für ein gesünderes Leben auf unserem Planeten.
Kuno Raeber: Dann müssen Sie ehrlichkeitshalber aber auch die letzten Zahlen nennen. Im Jahr 2021 wurden weltweit noch 927 Milliarden Zigaretten verkauft, 2022 waren es nur noch 622 Zigaretten.
Dr. Hugo Marrobuto: Sind Sie jetzt zu den Kommunisten emigriert oder weshalb machen Sie hier mit Zahlen Propaganda? Warum wird der Industrie immer gleich unterstellt, daß es ihr nur um den Profit geht und man menschliche Motive von vornherein völlig ausschließt?
Dr. Anneliese Sendler: Nun beruhigen Sie sich mal, Herr Doktor Marrobuto, der Herr Raeber ist doch aus ihrem Stall, er legt aber Wert auf Genauigkeit und solche Absatzzahlen sind doch ein Indikator, daß sich etwas bewegt hat auf dem Rauchermarkt, nicht wahr, Herr Raeber?
Kuno Raeber: Als Wirtschaftsfachmann muß man sich an den Zahlen orientieren, und die sprechen eine deutliche Sprache, auch wenn der chinesische Markt sicher noch auf lange Sicht mit den herkömmlichen Zigaretten beliefert werden könnte, aber wer kann denn wollen, daß die vielen Millionen Wanderarbeiter in China irgendwann für die Produktion ausfallen, weil der Kehlkopfkrebs zugeschlagen hat?
Jörg Wollseif: Daß sich die … Zigarettenindustrie als Retter der Raucher … der ganzen Welt ausgibt, ist doch … ein Witz der Weltgeschichte. (Die rumpelnde Ersatzstimme bricht ab, man hört nur noch ein knisterndes Rauschen). Mpf. Mpf. Mpf.
Prof. Lydia Scherling: Schon als Jugendliche, spätestens mit der Lektüre des ›Steppenwolf‹, habe ich Rausch und Rauschmittel als etwas Gutes verstanden. Ich habe damals gemerkt, daß Rauchen helfen kann beim Runter- und Rauskommen. Ja, ich weiß, nach vielen Jahren des regelmäßigen Rauchens sieht man das im Gesicht, wie es langsam ledern wird, aber ich finde es cool, wenn ich solche ledernen Typen sehe. Die Zigarette ist für mich ein Memento mori und zugleich Memento vivere. Bedenke, daß du sterben mußt, und: Vergiß nicht zu leben!
Dr. Hugo Marrobuto: Darf ich vielleicht einmal auf die Alternativen kommen, die wir statt der konventionellen Zigarrette anbieten? Viele kennen sicher die E-Zigarette, die wir natürlich auch herstellen, aber die 2016 zuerst auf den Markt gebrachten sogenannten Tabakerhitzer sind wirklich eine vollwertige Alternative für das bisherige Päckchen Zigaretten. Der Zug an einem Tabakerhitzer kommt dem an einer Tabakzigarette deutlich näher. Wir registrieren eine Zunahme beim Verkauf dieses Produkts, man sieht in den Aschenbechern vor den Bankzentralen und Versicherungsgesellschaften schon wesentlich mehr Tabaksticks als die bisher übliche Zigarettenkippe.
Prof. Friedrich Lensing: Sie haben vergessen, hinzufügen, daß auch diese Produkte nicht gesundheitsfördernd sind, ja, sie schädigen auch und sie machen auch abhängig. Wenn man wirklich gesund leben will, muß man aufs Rauchen ganz verzichten, oder es wie ich mit meiner Havanna machen: ich rauche nicht, ich paffe! Und während ich den aus meiner Zigarre entweichenen Rauchkringeln nachschaue, komme ich in eine philosophische Stimmung.
Dr. Anneliese Sendler: Da hat unser Professor aber einen schön Abschluß für unsere heutige Sendung am Welt-Nichtrauchertag gefunden! Ich bedanke mich bei allen Gesprächsteilnehmern und wünsche unseren Zuschauerinnen und Zuschauern noch einen geruhsamen Abend.
Unless he condemns
A. Haben Sie gehört? Der russische Dirigent Valery Gergiev ist fristlos entlassen worden!
B. Ja, von dem habe ich schon gehört. »The world’s busiest conductor«, schrieb die ›New York Times‹ über ihn. Zum Arbeitsamt muß der nicht.
A. Das ist richtig, aber die Umstände seiner Entlassung sind interessant. Der sozialdemokratische Oberbürgermeister von München hat dem Dirigenten nämlich vor die Alternative gestellt, entweder die russische Invasion in der Ukraine öffentlich zu verurteilen oder aus seinem Amt als Dirigent der Münchner Philharmoniker entfernt zu werden.
B. Hat er sich denn während seiner Tätigkeit etwas zuschulden kommen lassen? In diesem Kulturbereich läßt man sich ja gerne gehen. Sexuelle Belästigung ist immer noch en vogue.
A. Wo denken Sie hin! Ich habe doch eben gesagt, er wurde vom Oberbürgermeister mit einer Entscheidung konfrontiert: Entweder-Oder. Nichts ist vorgefallen, er hat keine silbernen Löffel gestohlen und niemanden betatscht.
B. Ah, ich verstehe. Dann hat er aber für Rußlands brutalen Krieg unter den Orchesterkollegen Reklame gemacht. Oder hat er eine Rede in München vor Publikum gehalten, wo er den Krieg als gerechtfertigt verteidigt hat?
A. Durchaus nicht, ganz und gar nicht. Er ist aber seit vielen Jahren ein Protegé des Herrn Putin, wenn Sie verstehen, was ich meine: Der Dirigent ist durch ihn unglaublich reich geworden, und er absolviert ja nicht nur in Rußland Dirigate, er ist ein Tausendsassa, er dirigiert praktisch auf allen Kontinenten.
B. Das bedeutet dann aber, daß er zwar ein Freund des Herrn Putin ist, er aber sich während seiner Arbeitszeit in München mit politischen Äußerungen zurückgehalten hat.
A. Ja, das reichte aber dem Oberbürgermeister von München nicht, es drängte ihn danach, ihn zu fragen, wie er sich entscheiden möchte.
B. Entscheiden möchte? Hat man ihm mit dieser Frage, oder genauer: dieser Forderung, nicht die Pistole auf die Brust gesetzt? Entweder-Oder? Und wenn er nun dem Verlangen des OB nachgekommen wäre, wieviel wert wäre denn diese Aussage gewesen, wenn alle Welt weiß, daß der Dirgent und Putin seit langem Spezis sind?
A. Wenn der Dirigent nur ein mittelloser Kapellmeister mit einer Frau und vier Kindern gewesen wäre, wäre seine Entscheidungsfreudigkeit sicher in Richtung Verdammung des Ukraine-Überfalls geleitet worden, denn Kunst geht bekanntlich nach Brot, und wer so grade von seiner Kunst leben kann, riskiert nicht seinen Arbeitsplatz nur wegen einer simplen Meinungsäußerung.
B. Sie meinen, wenn er bloßen Lippendienst abgeleistet hätte und jeder wüßte, daß man auf diese Meinung nichts geben kann, weil sie nicht aus voller Überzeugung gesagt worden ist. Ja, wenn man die Umstände, die zu dieser Äußerung geführt haben, berücksichtigt, man sogar sagen könnte, das Bekenntnis wäre erpreßt worden?
A. In der Tat, so sieht es aus. Das hat aber den Oberbürgermeister nicht davon abgehalten, vor allen Leuten, in aller Öffentlichkeit zu erklären, es sei die einzige Option für ihn gewesen, den Dirigenten zu entlassen, nachdem er auf das vom OB gestellte Ultimatum nicht geantwortet hatte. Wenn er nicht den Überfall verurteilt, habe man keine andere Wahl als die, ihn sofort zu entlassen.
B. Man fragt sich, für wie realistisch der Oberbürgermeister es überhaupt gehalten hat, daß er von dem Dirigenten die ihm genehme Antwort bekommen würde.
A. So ist es. Wenn man weiß, daß jemand in vielfältiger Weise mit einem Politiker verbunden ist und er bis heute von dieser Beziehung ungeheuer profitiert, finanziell profitiert, wie ernst ist es dann einem Stadtoberhaupt mit seinem Ansinnen, und hat er jemals erwartet, daß er die gewünschte Antwort, ja die Unterwerfung unter seine Forderung erhalten würde.
B. Diesem schwerreichen Dirigenten geht doch, wie meinem Freund, dem Hinrainer Rudi, der gleichfalls unglaublich viel Geld hat, die Demokratie am Arsch vorbei.
A. Ja, das kann man mit dieser volkstümlichen Drastischkeit wohl so sagen. Und es schließt sich die Frage an, was es den von den Russen beschossenen Ukrainern eigentlich bei ihrem Widerstand gegen die Invasoren praktisch hilft.
B. Ich glaube, das ist Menschen, die in täglicher Not um ihr Leben und ihre Existenz kämpfen, schnurzegal. Das ist eine rein ideologische Angelegenheit, bei der die eine Seite die andere Seite in die Knie zwingen will, einfach aus dem Motiv heraus, daß man im Moment die öffentliche Meinung hinter sich weiß. Denn es haben sich inzwischen auch andere Veranstalter von dem Dirigenten getrennt, ja sogar sein Manager hat sich von ihm verabschiedet. Man will nicht in Kontaktschuld geraten. Das ist Gift in der reinsten Form.
A. Es ist Gesinnungsjustiz. Und was hilft es, wenn man dem einem Regime verpflichteten Musiker, der finanziell nichts zu befürchten hat, mit einem Glaubenseifer sinnlose Bekenntnisse abverlangt. Arbeitsrechtlich ist das jedenfalls noch nicht gelöst, denn ich kann mir nicht vorstellen, daß, wenn der Dirigent vor dem Arbeitsgericht gegen die Stadt München klagt, das Gericht sich einfach auf die Seite eines Politikers schlägt, der als Oberbürgermeister einen Beschäftigten völlig losgelöst von feststellbaren Vorkommnissen wegen einer unterstellten falschen Gesinnung schuldig spricht.
B. Das wird teuer. Die richtige Gesinnung ist aber in Deutschland immer schon eine ganze besondere Spezialität gewesen. Dafür hat man Geld, Leben und Existenz gerne geopfert. Gesinnungsidealismus führt immer zum Gesinnungsterror. So kommt es zu einem selbst importierten Kriegszustand inmitten einer zivilen Gesellschaft. Die Abschwörung vom Glauben ist eine Hinterlassenschaft des Mittelalters, aber manchmal hat man das Gefühl, daß dieses Mittelalter noch lange nicht vorbei ist.
A. Die Abschwörung war ja in der römisch-katholischen Kirche ein Teil der Aufnahme in ihrem Schoß. Abrenuntiatio diaboli, Absage an den Teufel, nannte man das, wenn jemand vor der Aufnahme oder Wiederaufnahme in die alleinseligmachende Kirche stand. So konnte sich der Gläubige, der unter den Verdacht der Häresie gekommen war, freischwören von der ihm zur Last gelegten Ketzerei.
B. Eppur si muove! (Und sie bewegt sich doch!) soll der Astronom Galileo Galilei nach seiner Verurteilung durch die katholische Inquisition beim Verlassen des Gerichts gemurmelt haben.
Einsatz für die Menschlichkeit
Dr. Anneliese Sendler: Ja, Grüß Sie Gott aus dem Fernsehstudio in Unterföhring, meine Damen und Herren und herzlich willkommen zu einer neuen Ausgabe unserer Sendung ›Deutsche Demokratie jetzt!‹. Und es ist mir eine ganz besondere Freude heute in unserer Sendung einen Ehrengast begrüßen zu dürfen, unseren derzeitigen Bundespräsidenten, Herrn Frank-Walter Steinmeier!
Frank-Walter Steinmeier: Ja, guten Abend Frau Doktor Sendler, vielen Dank für Ihre Einladung.
Dr. Anneliese Sendler: Ich darf gleich noch unsere anderen Gäste in unserer heutigen Talk-Runde vorstellen. Da haben wir zunächst Herrn Dr. Ludolf von Mannstein, stellvertretender Vorsitzender des Vereins ›Gemeinnutz e. V.‹
Dr. Ludolf von Mannstein: Äh, ja, guten Abend, Frau Doktor Sendler.
Dr. Anneliese Sendler: Als weiteren Gast begrüße ich Herrn Professor Rolf Papperger vom ›Zentralinstitut für soziales Wesen‹.
Prof. Rolf Papperger: Guten Abend.
Dr. Anneliese Sendler: Und schließlich noch als Vertreter des ›Luhmann meets Nietzsche-Forums‹, Herrn Dr. Ulrich Ohneigen.
Dr. Ulrich Ohneigen: Ja, vielen Dank für ihre Einladung.
Dr. Anneliese Sendler: So, nun aber gleich zu heutigen Thema: Sozialer Pflichtdienst. Herr Bundespräsident, Sie haben vor einem Jahr dieses Thema in die Öffentlichkeit gebracht und wollen nun für eine Verfassungsänderung werben, damit junge Menschen die Gelegenheit erhalten, freiwillig in den Dienst der Demokratie treten zu können.
Frank-Walter Steinmeier: Ja, das ist richtig. Und wissen Sie, seit diesem Jahr habe ich folgende Erfahrung gemacht. Viele Menschen sind regelrecht elektrisiert von der Vision: eine Zeit des Miteinanders, eine gleiche Pflicht für alle, ein Dienst für unsere Demokratie.
Dr. Ludolf von Mannstein: Lassen Sie mich hier gleich einhaken, Frau Doktor! Das haben wir vom Verein ›Gemeinnutz e.V.‹ schon seit vielen Jahren vorgeschlagen, sind aber immer wieder durch beleidigende Äußerungen gerade auch von Vertretern ihrer Partei, Herr Bundespräsident, der SPD, verunglimpft worden. Man hat uns Nazis geschimpft, weil wir Arbeitsdienste anbieten wollten, und das nur, weil damals die nationalsozialistische Regierung den so genannten ›Reichsarbeitsdienst‹ eingeführt hat. Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun. Wir wollen doch keine Arbeitslager haben, wo die jungen Menschen militärisch gedrillt werden, weit davon entfernt, das soll doch freiwillig auf gesetzlicher Grundlage geschehen, die zeitlich begrenzte Verpflichtung im Dienste des sozialen Gemeinwesens.
Prof. Rolf Papperger: Wenn ich dazu ergänzend zu den völlig richtigen Ausführungen meines Vorredners anfügen darf: Den Arbeitsdienst hat doch nicht die NSDAP erfunden, das war doch schon gegen Ende der Weimarer Republik eine verdienstvolle Tat des damaligen Reichskanzlers Brüning, der damit die verheerende Arbeitslosigkeit in den Griff bekommen wollte. Der FAD, der Freiwillige Arbeitsdienst bestand schon seit 1931. »Zum Nutzen der Gesamtheit in gemeinsamen Dienste freiwillig ernst Arbeit leisten«, das war das Motto damals, und viele junge Menschen waren dem Staat dankbar, daß er ihnen die Möglichkeit gab, etwas zu leisten und den sozialen Zusammenhalt damit zu stärken.
Dr. Ulrich Ohneigen: Sie dürfen aber nicht unterschlagen, daß Brüning das damals gemacht hat als ein politisches Zugeständnis an die NSDAP, die seit Beginn der Wirtschaftskrise 1929 immer wieder eine Arbeitsdienstpflicht gefordert hat und daß die rechtliche Grundlage nur auf einer verfassungsrechtlich problematischen Notverordnung beruht hat.
Frank-Walter Steinmeier: Und das ist auch der Grund, weswegen ich um eine verfassungsändernde Mehrheit in unserem Parlament werbe. Dies soll keine diktatorische Maßnahme des demokratischen Staates sein, es soll auf der Zustimmung einer großen Mehrheit der Bürger beruhen. Meine Meinungsforscher haben mir mitgeteilt, daß inzwischen schon 65 Prozent der Gesamtbevölkerung sich für die soziale Pflichtzeit aussprechen, bei den jungen Menschen fällt die Zustimmung etwas geringer aus, bei knapp über 50 Prozent. Das ist für mich ein ermutigender Ansporn.
Dr. Ludolf von Mannstein: Da muß sich nun aber bald etwas bewegen, die demokratischen Parteien müssen endlich Flagge zeigen und ihre Mitglieder mobilisieren, damit das Ganze nicht im medialen Zirkus untergeht. Wir haben doch heute Themen in der Öffentlichkeit, da fragt man sich: ja, brauchen wir jetzt noch diese Diskussion über den Wolf, der sich über ein paar Schafe hermacht, ja wo sind wir denn?
Prof. Rolf Papperger: Naja, Sie können aber auch nicht ein anderes Thema besetzen und monopolisieren, das wäre dann genauso einseitig. Aber lassen Sie mich zum heutigen Thema noch etwas Historisches beitragen. Es war nicht der Nationalsozialismus, der dann auch die jungen Mädchen der ›Frauendienstpflicht‹ unterwarf, das gab es als Idee schon in der bürgerlichen Frauenbewegung vor dem Ersten Weltkrieg. Übrigens waren es die Bulgaren, die zuerst einen nationalen Pflichtdienst eingeführt haben, 1920 war das, und auch in konservativen und linken Kreisen fand man, daß staatsbürgerliche Erziehung und körperliche Ertüchtigung durchaus in Ordnung waren.
Dr. Ulrich Ohneigen: Auffällig war damals wie heute die Tatsache, daß immer von Freiwilligkeit geredet wurde, dabei war das überhaupt keine freie Entscheidung der jungen Leute, wenn sie plötzlich einen Spaten in die Hand gedrückt bekamen und im Rahmen eines Programms zur Bodenverbesserung herangezogen wurden. Auch heute tut man so, als ob dann, wenn es einen im Grundgesetz verankerten Artikel gibt, damit die Tätigkeit eine Wahlfreiheit enthält. Das ist nicht zutreffend, und wenn Sie, verehrter Herr Steinmeier, in einem Beitrag für die ›Frankfurter Allgemeine‹ schreiben: »Eine Pflicht ist nicht einfach nur Zwang.«, so ist das bloße Wortklauberei und eine Spitzfindkeit, die so tut, als würde sie differenzieren, dabei aber nur die bestehende Differenz zwischen Freiheit und Zwang einebnet.
Frank-Walter Steinmeier: Mit der Pflicht sagt der demokratische Staat: Du zählst, du trägst Verantwortung, und du bist Teil dieser Demokratie! Du wirst gebraucht! Und zwar für eine gerechtere, menschliche und nachhaltige Gesellschaft. Die Pflichtzeit ist praktischer Einsatz für die Demokratie und für eine lebenswerte Zukunft. Wir geben mit der sozialen Pflichtzeit eine Antwort auf die destruktiven Auswirkungen sozialer Zersplitterung. Ich mache mir Sorgen, daß die Abwendung der Menschen voneinander früher oder später die Grundlage unserer Demokratie aushöhlt.
Dr. Ludolf von Mannstein: »Du bist Deutschland« Das war doch vor vielen Jahren, ich glaube das lief zwischen den Jahren 2005 und 2006, eine tolle Kampagne, die mein alter Freund von der Bertelsmann AG, Gunter Thielen, initiiert hat. Da gab es TV-Spots auf allen Fernsehkanälen und in den Kinos, großformatige Anzeigen in den Printmedien, Flugblätter, Plakate. Das war die bisher größte Social-Marketing-Kampagne in der Bundesrepublik. Es sollte für mehr Zuversicht und Eigeninitiative in Deutschland geworben werden und die Bundesbürger zu mehr Selbstvertrauen und Motivation anstoßen. Man hat sich auch nicht gescheut, etwas volkstümlich zu werden, wie etwa in dem Slogan: »Dein Wille ist wie Feuer unterm Hintern«. Na, wer sagts denn, es muß auch mal urig und spaßig zugehen, sonst kommt man bei den Leuten nicht an.
Dr. Ulrich Ohneigen: Einer dieser von Ihnen so gelobten Slogans hieß: »Behandle Dein Land doch einfach wie einen guten Freund. Meckere nicht über ihn. Du bist Deutschland.« Der Meckerer war im nationalsozialistischen Deutschland eine von der Propaganda aufgebaute Feindfigur. Das hieß damals ›Aktion gegen Miesmacher und Kritikaster‹. 1934 hielt Goebbels persönlich im Berliner Sportpalast eine Hetzrede gegen »Miesmacher und Kritikaster, gegen Gerüchtemacher und Nichtskönner, gegen Saboteure und Hetzer.« Die Identifikationsformel ›Du bist Deutschland‹ gab es damals auch schon, sie wurde 1935 auf den ›Führer‹, Adolf Hitler, angewandt.
Dr. Anneliese Sendler: Meine lieben Talkgäste, bitte versuchen Sie doch sachlich zu bleiben und solche Ausflüge in die Historie zu vermeiden.
Dr. Ulrich Ohneigen: Was heißt hier unsachlich? Ohne historische Vergleiche und Analysen darüber, woher ein politisches Phänomen herkommt, ist doch jede Diskussion zum oberflächlichen Geschwafel verurteilt. Wir müssen doch Parallelen zur Vergangenheit ziehen, sonst bleiben wir an der Oberfläche der tagesaktuellen Politik kleben. 2006 fand die Fußballweltmeisterschaft in der Bundesrepublik statt, das war doch kein Zufall, daß die Bertelsmann AG im Vorjahr mit der nationalistischen Kampagne ›Du bist Deutschland‹ den Äther verschmutzt hat.
Prof. Rolf Papperger: Ich muß Ihnen zugestehen, das an ihrem Argument was dran ist, aber wie soll man die Menschen heute anders mobilisieren als durch auf die Einheit der Nation zugeschnittene Aktionen. Die Massengesellschaft ist kein Kammerspiel, da muß grob geklotzt werden, sonst dringt man nicht durch. Emotionen sind das Hartgeld jeder Werbung, das mag man beklagen, aber ändern werden sie daran nichts. Das haben uns die Franzosen vorgemacht, seit 1789 ist die politische Sprache eine andere geworden, da wird auf dem Altar des Nationalen die Vernunft geopfert. Alles im Dienst des Gemeinwohls, der einzelne verschwindet in einem Dunst des Allgemeinen, des Vaterlands.
Frank-Walter Steinmeier (räuspert sich vernehmlich): Ahem, damit unsere Demokratie funktioniert, sind Fähigkeiten nötig, die lebendige Beziehungen zu anderen Menschen herstellen, und das soll man nicht nur durch Worte, sondern durch Taten und damit alles stärken, was uns miteinander verbindet. Eine allgemeine Pflichtzeit führt zur Begegnung mit Leuten, denen wir sonst wenig oder nie begegnen oder die wir nur im Vorbeigehen in ihrer beruflichen Funktion erleben, aber nicht in ihrer Menschlichkeit. Die Pflichtzeit wäre ein Gewinn für die innere Festigkeit unserer demokratischen Lebensweise in unsicheren Zeiten.
Dr. Ulrich Ohneigen: Lieber Herr Steinmeier! Ich bin mir sicher, daß Sie das alles ganz ernst meinen und auch an ihre Argumente, die Sie vorzubringen versuchen, fest glauben, aber was Sie da sagen, ist soziologisch naiv. Die moderne Gesellschaften sind so organisiert, daß der ökonomische Sektor am besten weiß, wie er ökonomisch vorgeht, das Recht wird nach internen Regeln gehandhabt, die Kunst geht nach ihren immanenten Strukturen vor, die Politik handelt innerhalb eines ihr eingeschriebenen Gesetzes, und auch wenn die einzelnen Bereiche einer Gesellschaft notwendigerweise miteinander interagieren und interagieren müssen, so heißt das noch lange nicht, daß zum Beispiel die Politik befugt werde, Entscheidungen der Ökonomie für sich zu reklamieren, was daraus geworden ist, hat man am Beispiel der Sowjetunion und der DDR erlebt. Und so sind auch Steuerungsversuche des Staates, in der Gesellschaft ein Gemeinschaftsprinzip durchsetzen zu wollen, entweder per Diktat oder per Verfassungsänderung, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dies verkennt einfach die Eigengesetzlichkeit der Moderne. So funktionieren Gesellschaften nicht mehr, das ging noch, als es Ordungsmodelle gab wie im Mittelalter, als es allgemeingültige Verpflichtungen gab, die an eine Ständeordnung gebunden waren. Doch schon der nationalsozialistische Staat konnte nur mithilfe von extremer Gewalt und Terror die so genannte Volksgemeinschaft partiell durchsetzen. Letztlich blieb es ein ideologisches Schauspiel, denn hinter den Kulissen ging die Ausbeutergesellschaft munter weiter, ja, sie wurde durch die Vermehrung der bürokratischen Stellenhierarchien noch um einiges vergrößert.
Dr. Anneliese Sendler: Ja, Herr Doktor Ohneigen, das ist ja sehr interessant, was Sie da so vorbringen, aber doch halt eher etwas für Ihr Seminar, gelt?
Dr. Ludolf von Mannstein: Ganz ihrer Meinung, Frau Doktor Sendler! Die Pflicht ruft, wenn ich mal etwas Humor in die Debatte werfen darf. Wir kommen um die Pflichtzeit nicht herum. Wir vom Verein ›Gemeinnutz e. V.‹ stehen voll und ganz hinter der Forderung unseres Bundespräsidenten. Es sollte aber nicht beim bloßen Antichambrieren von Abgeordneten bleiben, es muß eine nationale Kampagne in der Größenordnung von ›Du bist Deutschland‹ auf die Beine gestellt werden. Das muß jetzt Schlag auf Schlag kommen, da darf nicht lange gefackelt werden. Wir als Verein stehen Gewehr bei Fuß und haben schon eine lange Liste von Wünschen, die erst durch die nationale Pflichtzeit in Erfüllung gehen können.
Frank-Walter Steinmeier: Mein Wunsch wäre, daß die soziale Pflichtzeit länger dauert als ein Praktikum, aber sechs Monate sollten es schon sein. Sie sollte in unterschiedlichen Phasen des Lebens absolviert werden können, nicht nur als Orientierungshilfe gleich nach dem Schulabschluß oder der Berufsausbildung, sondern auch später, als Auszeit im Beruf.
Dr. Ulrich Ohneigen: Dann soll man also, wenn ich den von Ihnen gewählte Euphemismus ›Auszeit im Beruf‹ ins Deutsche übersetzen darf, auch als Arbeitsloser in die Pflicht genommen werden statt das gesetzlich jedem Arbeitslosen zustehende Arbeitslosengeld in Empfang nehmen zu dürfen. Das ist dann aber staatlich erzwungener Arbeitsdienst im nationalsozialistischen Sinne.
Dr. Anneliese Sendler: Sachte, sachte, Herr Doktor Ohneigen! Immer ruhig Blut und nicht die Pferde scheu machen, nicht wahr?
Dr. Ludolf von Mannstein: Es ist unglaublich, was man sich hier von diesem dahergelaufenen, sich Soziologen schimpfenden Herrn gefallen lassen muß. Unerhört! sage ich. Unerhört!
Prof. Rolf Papperger: Wir sollten uns alle wieder beruhigen und daran denken, daß es zum Wesen eines sozialen Gemeinwesens gehört, auch unerträgliche Positionen zu tolerieren und die gegnerische Meinung ruhig anzuhören, auch wenn es schmerzen sollte.
Dr. Anneliese Sendler: Sehr schön gesagt, Herr Professor. Vielleicht wird Herr Dr. Ohneigen später, wenn er etwas älter geworden ist und die soziologischen Scheuklappen abgeworfen hat, einsehen, daß er sich hier eben vergaloppiert hat. Wir sind aber tolerant, nicht wahr, und lassen auch ganz unsinnige Meinungen zu Wort kommen.
Prof. Rolf Papperger: Darf ich vielleicht mit einem Zitat von Johann Gottlieb Fichte aushelfen? Er schrieb 1798: »Was du zufolge der Pflicht wahrnimmst, hat Realität, die einzige, die dich angeht, und die es für dich gibt; es ist die fortwährende Deutung des Pflichtgebots, der lebendige Ausdruck dessen, was du sollst, da du ja sollst. Unsere Welt ist das versinnlichte Material unserer Pflicht; dies ist das eigentlich Reelle in den Dingen, der wahre Grundstoff aller Erscheinung.«
Dr. Ludolf von Mannstein: Sehr hübsch, Respekt, ich kenne von diesem Fichte praktisch gar nichts, aber das hier zeigt doch deutlich, daß er ein echt deutscher Mann gewesen sein muß, dieser Fichte.
Dr. Anneliese Sendler: Ja, und damit geht leider unsere heutige Sendung auch schon wieder ihrem Ende entgegen. Allen Teilnehmern danke ich für ihre beherzten Beiträge. Bis zum nächsten Mal, wenn es wieder heißt ›Deutsche Demokratie jetzt!‹ Wiederschaun!
Dr. Ulrich Ohneigen (ruft in den Abspann hinein): Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!
Höllisch warm
Für die Umstellung der Erzeugung von Heiz- und Prozesswärme und Warmwasser bis spätestens zum Jahr 2045 auf erneuerbare Energien und unvermeidbare Abwärme, sind die bisher in Deutschland unternommenen Schritte und getroffenen Maßnahmen nicht ausreichend. Auch heute noch wird mehr als die Hälfte der in Deutschland verbrauchten Endenergie für die Bereitstellung von Wärme eingesetzt. Für die Raumheizung kommen nach wie vor zu einem überwiegenden Anteil Erdgas sowie Heizöl zum Einsatz. Der Anteil erneuerbarer Energien für die Raumheizung in privaten Haushalten beträgt aktuell lediglich ca. 18 Prozent. Etwa acht Prozent der Haushalte werden derzeit über Fernwärme versorgt; auch hier beträgt der Anteil erneuerbarer Energien nur etwa 20 Prozent. Die Bereitstellung von Prozesswärme erfolgt zum Großteil über Erdgas und Kohle, der Anteil erneuerbarer Energien liegt lediglich bei rund sechs Prozent. Ohne eine signifikante Reduktion des Wärmeverbrauchs und einen gleichzeitig erheblich beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien werden die Ziele des Bundes-Klima-Schutzgesetzes (KSG) in den Sektoren Gebäude, Industrie und Energiewirtschaft nicht erreicht werden. (Referentenentwurf der Bundesregierung. Gesetz für die Wärmeplanung und zur Dekarbonisierung der Wärmenetze, Mai 2023)
FRITZ GRÜNBAUM
Vom Teufel!
Die Hölle ist reizender als man es glaubt!
Bedenken Sie, bitte, vor allem nur
Die angenehm-mollige Temperatur!
[…]
Die Preise der Kohl’n sind uns dort keine Fessel, In der Früh‘ kommt der Teufel und setzt uns in’n Kessel!
[…]
Doch eins ist von allem der herrlichste Lohn:
Man hat in der Höll‘ – eine Position!
Man ist was, man stellt etwas vor ohne Zweifel,
Man hat eine Stellung, man ist – ein Teufel!
[…]
So hab‘ ich bewiesen an dieser Stelle,
Das Schönste auf Erden ist doch die Hölle:
Die Leut‘ haben Temperament dort und Charme,
Das Klima ist angenehm, milde und warm;
Die Kleidung ist praktisch, kein Schneider will Geld,
Es ist eine reizend-gemütliche Welt,
Drum seufz‘ ich im Stillen oft: »Gott befohl’n,
Möcht‘ mich nur endlich der Teufel hol’n!«
Fritz Grünbaum (1880–1941, ermordet im KZ Dachau), österr. Kabarettist, Schauspieler und Conférencier.
Unsere teure Dame
Die französischen Milliardärsfamilien Arnault, Pinault und Bettencourt stellten schon Spenden in Höhe von insgesamt 500 Millionen Euro in Aussicht. Bei einer internationalen Geberkonferenz soll ebenfalls Geld für den Wiederaufbau gesammelt werden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier rief die Bürger Deutschlands und Europas auf, den Wiederaufbau zu unterstützen. ›Frankreich ist in dieser Stunde nicht allein.‹ (Aus einem Bericht auf der ersten Seite der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹, 17.04.2019)
Wegen der Lebensmittelknappheit in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg wurde erwogen, die Wandteppiche (Gobelins) im Schloß Schönbrunn an die Siegermächte zu verkaufen. Dies ist das Gedicht (hier in Auszügen wiedergegeben), das Karl Kraus in seiner Zeitschrift ›Die Fackel‹ dazu schrieb.
KARL KRAUS
Alles, nur nicht die Gobelins!
Den Kunstschatz schützen sie, den wohlbewußten, und jeder stöhnt und reißt sich auf die Brust.
Von eines Weltkriegs sämtlichen Verlusten
war‘ dieser doch der schmerzlichste Verlust.
Denn die Kultur, sie ist ja doch das Letzte,
was bleibt uns denn, trägt man auch sie davon, all jenes Köstliche, das uns versetzte
in eine noch weit höhere Region!
So protestieren sie aus allen Ecken,
in Sorge um die höchsten Güter nur.
Sie gönnen ja dem Volke das Verrecken, man nehme ihnen nur nicht die Kultur!
[…]
Wer schätzt sie nicht, die kostbaren Gewebe, sie sind sogar im Ausland sehr beliebt,
und wichtiger als daß die Menschheit lebe, ist, daß es Sehenswürdigkeiten gibt.
[…]
Von Lebensmitteln, wenn sie aufgegessen,
hat man doch zweifelsohne einen Dreck.
Der Teppich in Schönbrunn ist unterdessen mehr haltbar und entspricht dem Lebenszweck.
Und Tag für Tag ertönt es fort im Chore:
Der Mensch, er lebt vom Brote nicht allein!
Nein, größer war fürwahr nessun dolore
und wer nicht von Kultur lebt, ist ein Schwein.
Die oben erwähnten Geldspenden dienten nicht etwa der Welthungerhilfe — im April 2019 gab ein Bericht mehrerer UN-Organisationen und der Europäischen Union bekannt, daß im vergangenen Jahr mehr als 113 Millionen Menschen auf der ganzen Welt hungern mußten. Jeder zehnte Mensch auf der Welt, 821 Millionen, ist unterernährt, 3,4 Milliarden Menschen können nur schwer ihre Grundbedürfnisse befriedigen und leben unter der Armutsgrenze — sondern dem Wiederaufbau der katholischen Kathedrale ›Notre Dame‹ in Paris, nachdem diese durch ein Feuer am 15. und 16. April 2019 teilweise zerstört wurde.
Vgl. K. Kraus: Alles, nur nicht die Gobelins! In: Die Fackel, 23. Jg., Nr. 588–594 (März 1922), 1f.; ders.: Brot und Lüge. In: Die Fackel, 21. Jg., Nr. 519/520 (November 1920), 1–32
Die Macht des Ersten
Eigentlich hat nur jedes Schöne ein einzigmal in voller Gewalt ins uns gelebt. Wenn im Theater der Vorhang aufgeht, oder wenn wir von einem Orchester die ersten Takte hören, so erleiden wir eine unbewußte Einstellung, welche sozusagen als Tendenz zur Assimilation aller folgenden Eindrücke in der Seele fortwirkt. (Theodor Lessing: Die Macht des Ersten, 1925)
Der erste Satz in einem Roman entscheidet darüber, ob man weiterliest. Das ist grausam, aber in vielen Fällen doch eine ganz zutreffende Feststellung. Es gibt allerdings Grenzen, die jeder Leser bei der Lektüre mitführt und die ihn manchmal am Weiterlesen hindern können. »Edek Zepler hatte früher immer polnische Mädchen gebumst.« So setzt der Roman ›Einfach so‹ (Just so, New York 1994) von Lily Brett ein. Es ist durchaus möglich, daß man hier stutzt und sich noch einmal die Kurzinformation zum Buch ganz vorne ansieht, um sicherzugehen, daß man nicht aus Versehen ins falsche Regal gegriffen hat. »Schwöre, daß du keine andere mehr fickst, oder es ist Schluß.« Das ist nicht der Folgesatz des Romans der relativ unbekannten Autorin, sondern der erste Satz des 1995 in New York erschienen Romans ›Sabath’s Theatre‹ von Philip Roth. Wer schon andere Bücher von diesem Autor gelesen hat, zumal seinen 1969 erschienenen, stark autobiographisch getönten Roman ›Portnoy’s Complaint‹, der wird kaum stutzen, sondern eher mit einem Wiedererkennungseffekt konfrontiert sein, ganz im Sinne von: »Er ist doch immer noch der Alte!«
Das ›Buch der Bücher‹ weiß aber auch, wie man effektvoll einsetzt: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Die Erde aber war wüst und leer, Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser.« Da will man dann doch abwarten, was anschließend noch alles geschehen mag und wann endlich die ersten Menschen auftreten, ohne die die Erde ja doch eine langweilige Angelegenheit ist, allein wegen der zu erwartenden Konflikte und vielen Kriege, mit denen nicht nur die ersten Menschen sich die Zeit vertrieben haben. Die Verlage wollen natürlich, daß man, während man in der Buchhandlung browst und dort den ersten Satz einer Neuerscheinung liest, »daß man das Buch dann eben sofort zur Kasse schleppt, weil man gar nicht anders kann.« Damit wird der erste Satz zum Aufreißer, der den Kunden sofort zur Kasse bittet. Und der hinterher vielleicht über den weiteren Verlauf der Handlung enttäuscht sein kann, weil der erste Satz nicht das versprochen hat, was er anscheinend zu versprechen schien. »Ilsebill salzte nach.« Dieser erste Satz gewann bei einer literarischen Rundfrage den ersten Preis. Hat Günther Grass, von dem der Satz stammt (aus ›Der Butt‹, 1977), damit dem Leser ›Appetit gemacht‹? Wohl schon, denn der beschriebene Vorgang ist jedem Leser und Esser und Koch so sehr vertraut, daß man förmlich beim Lesen die Handbewegung nachzuahmen scheint, die zur Abrundung des Geschmacks einer Speise nötig ist. Es gibt für angehende Romanschriftsteller Ratschläge, wie man einen ersten Roman nicht nur schreiben sollte, sondern auch, wie man ihn beginnen lassen soll und sogar, wie man ihn nicht beginnen lassen sollte. Man solle auf keinen Fall einen Roman damit beginnen, daß der Protagonist im Bett liegt. Der Satz des folgenden Autors würde damit glatt durchfallen: »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.« Marcel Proust läßt so seinen viele Bände umfassenden Roman ›Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‹ (1913–1927) beginnen. Es mag viele Leser geben, die nicht bis zum Schluß durchgehalten haben, so als sei das Lesen eine sportliche Leistung, aber wer es getan hat, wird nicht nur diesen ersten Satz, sondern die vielen ihm nachfolgenden bewundern und sich gemerkt haben. Hier liegt der Fall eines Romans vor, wo man auch später immer wieder auf bemerkenswerte Formulierungen trifft, die das Mitschreiben lohnen. Und so gibt es nicht nur gute erste Sätze, die einen Roman einleiten, sondern ebenso auch gute letzte Sätze, die das Geschehen des Romans machtvoll ausklingen lassen, so wie bei Marcel Proust: »Wenigstens würde ich, wenn mir noch Kraft genug bliebe, um mein Werk zu vollenden, in ihm die Menschen (und wenn sie daraufhin auch wahren Monstren glichen) als Wesen beschreiben, die neben dem so beschränkten Anteil an Raum, der für sie ausgespart ist, einen im Gegensatz dazu unermeßlich ausgedehnten Platz – da sie ja gleichzeitig wie Riesen, die, in die Tiefe der Jahre getaucht, ganz weit auseinanderliegende Epochen streifen, zwischen die unendlich viele Tage geschoben sind – einnehmen in der ZEIT.«
Ich brech’ die Herzen der stolzesten Frau’n, weil ich so stürmisch und so leidenschaftlich bin
Dein ist mein ganzes Herz! Wo du nicht bist, kann ich nicht sein, so, wie die Blume welkt, wenn sie nicht küßt der Sonnenschein! (Franz Lehár: ›Das Land des Lächelns‹, 1929)
Die SPD hat in Berlin ihr einhundertsechzigjähriges Bestehen als »älteste Partei Europas« gefeiert. Der 150. Geburtstag wurde auch gefeiert, was angesichts der runden Zahl (50, 100, 150, 200 usf.) auch gerechtfertigt war. Die zeitlichen Abstände für Feiern jeglicher Art werden aber immer kürzer, da man heute auch schon beim Weiterbestehen einer Currywurst-Bude ein Schild aufstellt mit dem Hinweis, daß sie schon seit fünf Jahren existiert.
Für dieses Jubiläum brauchte man ein aussagekräftiges Symbol. Die geballte, erhobene Faust hat den Nachteil, daß sie von den Kommunisten benutzt wurde, und sie würde auch heute nicht mehr passen zum unkämpferischen Pragmatismus der deutschen sozialdemokratischen Partei. Die Nelke ist zwar hübsch anzuschauen, aber riecht doch sehr nach 1. Mai und Kampftag der Arbeiterklasse (auf dem Sozialistenkongreß 1889 in Paris wurde der 1. Mai als Kampftag bestimmt), dabei haben wir heute seit 1945 den Namen ›Tag der Arbeit‹, was weniger oder eigentlich gar nicht klassenkämpferisch klingt. (Von 1933 bis 1945 hieß er noch etwas deutlicher ›Tag der nationalen Arbeit‹). Ein Foto vom Parteivorsitzenden (wer ist das eigentlich? fragt sich so mancher in der Partei) sähe doch sehr nach dem überwundenen östlichem Staats-Modell geschneidert aus, und nichts verabscheut die deutsche Sozialdemokratie mehr als Personenkult (Im Hintergrund hört man Willy!-Willy!-Rufe), also war guter Rat teuer. Schließlich kam man auf das Symbol, das die größte Zustimmung bei allen, auch den Wählern der anderen Parteien, finden würde: das Herz. 160 Jahre schlägt es nun schon, und immer auf dem rechten Fleck, unermüdlich pumpt es Lebensenergie durch den sozialdemokratischen Körper. Die Herzlinien umrahmen aber nicht die drei Buchstaben, S P D, sondern mitten im Herz steht die nüchterne Zahl: 160, mehr nicht. Das muß reichen, so wie es in den siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts der Stadt New York gereicht hat, das bis heute bestehende Symbol für Städtemarketing herauszubringen: I ❤ NY, und statt Love steht dann eben ein Herz dort, weil die Herzform als Symbol der Liebe gilt. Interessanterweise liegt der Ursprung für dieses Herzsymbol in der stilisierten Darstellung von Feigenblättern, und das schon im 3. Jahrtausend vor dem Erscheinen Christi.
Demnächst werden die Wildecker Herzbuben mit der SPD auf eine Tournee durch die deutsche Provinz gehen und dann ihren größten Hit zum Besten geben: Herzilein.
The 39 Steps
Ich habe das beste Gedächtnis der Welt, ich fühle mich übermenschlich — das sagt ein an den ›Memory World Championships‹ und der ›Memory League‹ teilnehmender US-Amerikaner, der bei beiden Wettbewerben mehrmals den ersten Platz belegt hat. Die Technik, mit der er eine unglaubliche Zahl von Fakten im Gedächtnis hat behalten können, heißt ›Memory Palace‹. Man baut sich ein mentales Gebäude, in dem man das zu Merkende mit repräsentativen visuellen Zügen versieht, und so spaziert man beim Memorieren dann einfach durch das Haus und kann alles das ablesen und aufsagen, was im Wettbewerb als Merkobjekt vorgelegen hat. Spätestens seit es Suchmaschinen gibt, erscheint dieses Unterfangen recht hilflos, so als wollte der Mensch mit seinem auf Kohlenstoff basierenden Gehirn mit einer Intelligenz auf Siliziumbasis konkurrieren. Das ist ein von vornherein hoffnungsloses Unterfangen. Die Gedächtniskünstler müssen keine besonderen Voraussetzungen mitbringen, etwa zwei Nobelpreisträger als Eltern oder dergleichen, es reicht die seit der griechischen Antike bekannte Mnemotechnik, mit der man Merkhilfen als Eselsbrücken benutzt, um so der jeweils gestellen Aufgabe spielend gerecht zu werden.
In Alfred Hitchcocks ›The 39 steps‹ (1935) tritt zu Anfang und am Ende des Spielfilms ein Mr. Memory auf, der auf Jahrmärkten und Vaudeville-Bühnen das eintrittzahlende Publikum damit verblüfft und unterhält, indem er aus dem Zuschauerraum jede ihm zugerufene Frage mit einem vollständigem Bericht beantwortet, so als läse er aus einem Lexikon den entsprechenden Eintrag vor. Eine ausländische Spionageorganisation macht sich diese Fähigkeit zunutze. Sie hat Mr. Memory dazu gebracht, geheime gestohlene Papiere für sie zu memorieren, und als die Handlung ihrem Höhepunkt zutreibt, wird der Gedächtniskünstler vom Hauptdarsteller des Films mit der Frage konfrontiert: »What are The 39 Steps?« Und da Mr. Memory unterschiedslos und unvoreingenommen alles beantwortet, was man ihn fragt, auch Dinge, die man besser nicht in Gegenwart eines neugierigen Theaterpublikums offenbaren sollte, nämlich Staatsgeheimnisse, fängt er an, aufzusagen, was sich hinter den neununddreißig Stufen verbirgt: »The 39 Steps is an organisation of spies, collecting information on behalf of the foreign office of …« Da fällt ein Schuß, und tödlich getroffen sinkt der Gedächtniskünstler auf den Bühnenboden. Ein Mitglied der Spionageorganisation hat ihn aus dem Dunkel des Zuschauerraums heraus erschossen. Im Sterben rezitiert Mr. Memory dann das Geheimnis, die technische Formel für einen lautlosen Flugzeugmotor.
Wir verfügen heute über ein vollautomatisiertes Denken auf Algorithmen-Basis. Das Internet entstammt der militärischen Sphäre und der Spionage. Es gibt autonome Waffensysteme, Killer-Roboter und Killer-Drohnen, deren Entscheidungsgrundlage für die Kriegsführung ein Algorithmus ist. Den Kontext einer Handlung können sie nicht verstehen. Dennoch versucht man, Maschinen herzustellen, die das menschliche Gehirn nachahmen und schließlich übertreffen sollen, ein Gehirn, das ohne die subcortikalen Schichten auskommt und damit nicht gestört wird von Trieben und Willensimpulsen.
Im Gedächtnissport spiegelt sich der menschliche Wunsch wider, allen überlegen sein zu wollen, auch den Maschinen, die dem Menschen bisher gute und schlechte Dienste geleistet haben. Aber das Auswendiglernen war schon während des Schulunterrichts eine sinnlose und vor allem die Kinder quälende Denksportaufgabe, ja, es war überhaupt kein Denken damit verbunden, es war mechanisches Reproduzieren, das dann mit technischen Tricks wiederholt werden konnte, für kurze Zeit, denn schon nach wenigen Tagen war das Gedicht, das man vor versammelter Mannschaft aufzusagen hatte, wieder aus dem Gedächtnis verschwunden, weil es ohne emotionale Beteiligung und Freude an der Sprache eingetrichtert worden war. Der Gewinner des ›Memory World Championship‹ erhält als Preisgeld $ 30.000. Dafür lohnt es sich dann doch, sich selbst in einen mechanischen Reproduktionsapparat zu verwandeln, oder?
Dann fliegt er noch
Die heutige Theologie ist von Profanität geprägt. In früheren Zeiten war ›Christi Himmelfahrt‹ noch von der Vorstellung getragen, daß die Ascensio Domini (Aufstieg des Herrn) durch einen Ortswechsel vonstatten ging, die Aufnahme als Gottes Sohn bei seinem Vater in den Himmel. Davon will weder die protestantische noch die katholische Theologie heute mehr etwas wissen, Jesus sei kein »Raketenmann«, und es sei auch der Vergleich mit einem Flug in den Weltraum nicht mehr zulässig. Dabei könnte man zumal die männliche jüngere Generation für Jesus interessieren, wenn man das Bild des Raketenmannes mit dem Raketenrucksack verbindet, auch Jet-Pack genannt, eine auf dem Rückstoßprinzip basierende, tragbare Antriebseinheit, mit der ein Einzelner sich frei in der Luft bewegen kann. James Bond, Agent 007 (gespielt von Sean Connery) in dem 1965 veröffentlichten Film ›Thunderball‹ tötet in der Anfangsszene des Streifens einen Agenten der Verbrecherorganisation ›Phantom‹ und kann sich mit Hilfe eines Raketenrucksacks in Sicherheit bringen. Die Geschwindigkeit betrug allerdings nur 11 bis 16 Stundenkilometer, die erreichte Höhe nur neun Meter, und die Dauer nicht mehr als zwanzig Sekunden. Mittlerweile aber hat der technische Fortschritt es ermöglicht, ein düsengetriebenes Modell zu betreiben, das hundert Stundenkilometer erreicht, eine Höhe von dreitausend Metern und eine Flugdauer von zehn Minuten. Leider bleibt damit das von Christus zu erreichende Ziel immer noch in weiter Ferne, aber wenigstens wäre das am so genannten Himmelfahrtstag für manche männlichen und vielleicht auch weibliche Christen eine sportliche Herausforderung, auf den Wegen des Herrn zu wandeln.
In seinen Lebenserinnerungen beschreibt der berühmte Philologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848–1932) die Zeit von 1848 bis 1914 und geht auch auf die Jahre zwischen 1876 und 1883 ein, in denen er als Professor in Greifswald wirkte. In einer kurzen Szene berichtet er von dem Zusammentreffen zweier seiner Kollegen: Otto Zöckler (1833–1906), ein evangelischer Theologe, der aber auch eine gründliche Kenntnis der Naturwissenschaften vorweisen konnte und versucht hatte, den Offenbarungsglauben mit der modernen Naturwissenschaft zu versöhnen. Dabei war er aber, wie Wilamowitz kurz anmerkt, »starrgläubig«, und das »trotz seiner naturwissenschaftlichen Interessen«. Im Gespräch mit dem wesentlich älteren Kollegen, dem protestantischen Theologen Johann Wilhelm Hanne (1813–1889) wurde Zöckler von Hanne gefragt, »mit welcher Schnelligkeit Christus gen Himmel gefahren sei, und wo der Himmel läge«. Zöckler, nicht faul, schleuderte dem ihn herausfordernden Hanne entgegen, Christus sei noch weit über den Sirius hinausgekommen, und das mit der Geschwindigkeit einer Kanonenkugel. Man sieht, der sowohl theologisches Wissen wie naturwissenschaftliche Technik zu verbinden suchende Geistliche war um eine ›moderne‹ Antwort nicht verlegen. Doch das half ihm nicht. Johann Wilhelm Hanne machte es wie bei einem Matchball. Mit einem Satz entschied er das Spiel für sich. Er sagte: »Dann fliegt er noch.«