Das tägliche Pensum: der Theodor Lessing-Blog

Hier wird alles glossiert, was in dieser Welt als wichtig erscheint oder manchmal auch nur so scheint. Ausgangspunkt dieser Kommentare wird, aber nicht immer, ein Zitat aus Theodor Lessings Gesamtwerk sein.

Der Name des Blogs ist dem 1930 erschienen Roman ›Fabian. Geschichte eines Moralisten‹ (ursprünglich: Der Gang vor die Hunde) von Erich Kästner entnommen. Gleich zu Anfang heißt es da: »Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.«

Es ist nicht schwer, diese längst wieder vergessenen Nachrichten durch die täglich neuen Nachrichten zu ersetzen und sich zu fragen, welchen Nutzen sie für unser tägliches Leben haben. Neben Haupt- und Staatsaktionen gibt es immer wieder die kleinen Nachrichten, die sich wie die großen wiederholen und die Banalität des menschlichen Lebens abspiegeln.

Während wir täglich unser Pensum an Nachrichten aus aller Welt absolvieren, heißt das nicht, daß hier täglich auf diese Nachrichten reagiert werden wird. In den Pausen kann man sich stattdessen auf das Lesen von Büchern konzentrieren.

Dann brach die Stimme mit einem Klageton ab

Am 12. Juni 1936 ist Karl Kraus im Alter von 62 Jahren gestorben.

Am 20. Juni 2019 ist Peter Matić im Alter von 82 Jahren gestorben.

Im Jahr 2003 las Peter Matić eine von mir eingerichtete zehnteilige Sendung (›Fackellichter‹) mit Texten (Glossen, Reden und Satiren) von Karl Kraus im Funkhaus des Norddeutschen Rundfunks in Hannover. Bis heute hat sich kein Hörbuchverlag gefunden, diese Lesung in einer Box herauszubringen.

Karl Kraus wurde am 28. April 1874 als Sohn eines Papierfabrikanten in einem kleinen böhmischen Dorf. Sein ganzes Leben verbrachte er als ökonomisch unabhängiger Schriftsteller in Wien. Die am 1. April 1899 von ihm gegründete Zeitschrift ›Die Fackel‹ erschien bis zu seinem Tode am 12. Juni 1936.

Worüber schrieb Karl Kraus?
Es war das Alltagsgerede in der Stadt Wien, die in den Zeitungen gedruckten Phrasen und Geschichten, Stimmen der Banalität und Trivialität, die er in der ›Fackel‹ abdruckte und polemisch und satirisch kommentierte. Er war kein Romancier und kein Erzähler, er war ein Schriftsteller im buchstäblichsten Sinne des Wortes. Er stellte die Schrift, das Geschriebene und Gedruckte der Zeitungen, die öffentliche Meinung in eine satirische Perspektive. Das wörtliche Zitat diente ihm als Waffe. So wurde Karl Kraus zum satirischen Dokumentaristen und Protokollanten der menschlichen Dummheiten und Gemeinheiten.
Die ›Welt im Satz‹ war sein Lebensthema. Die gedruckte Welt der Worte in Gestalt der großen liberalen Zeitung Wiens, der ›Neuen Freien Presse‹. Ihren ›Ton‹ stellte er aus, und die Umkehrung der Reihenfolge von Ereignis und Bericht. Für Kraus war diese Zeitung (und andere Blätter) die gesellschaftliche Verkörperung einer Meinungsmacht, die Kriege ideologisch vorbereiten hilft, indem sie die Vorstellungskraft der Leser zerstört.

65 Millionen Soldaten wurden in den Ersten Weltkrieg geschickt, 8 Millionen wurden getötet. Zwischen 1914 und 1918 wurden täglich durchschnittlich 6000 Menschen getötet. 21 Millionen Soldaten wurden verwundet. Über 12 Millionen Zivilisten wurden getötet durch Massaker, Krankheiten, Hunger und Seuchen. 11. 400 Hinrichtungen wurden in Österreich vollstreckt, die Opfer wurden als Verräter bezeichnet.
Für Karl Kraus waren der Verlust der kollektiven Vorstellungskraft und die neuen Kriegstechnologien die entscheidenden Auslöser des Ersten Weltkriegs. Wenn die Phantasie ausgereicht hätte, die Wirklichkeit auch nur eine Stunde der Vorgeschichte des ersten Weltkriegs zu erfassen, dann hätte es diese Wirklichkeit nicht gegeben. Daß die neue Waffentechnologie das Wesen des Krieges von Grund auf verändern würde, blieb außerhalb des militärstrategischen Vorstellungshorizonts der Generäle und Politiker. Diese Korruption des Bewußtseins führte Karl Kraus auf die langjährige Wirkung der Presse zurück, die die Phantasie mit Phrasen vom Heldentod und vom glorreichen Vaterland abgelenkt und einen Automatismus blinder Reflexe geschaffen hatte.

Einige Jahre nach Ende des Krieges bemerkt Kraus einen kollektiven Gedächtnisverlust. »Sie haben vergessen, daß sie einen Krieg angefangen haben; sie haben vergessen, daß sie einen Krieg verloren haben; und sie haben sogar vergessen, daß sie einen Krieg geführt haben. Und eben darum müssen sie es erfahren, daß sie den Krieg nicht beenden werden.«

Die Sprachkritik von Karl Kraus ist eine Kritik des Sprachgebrauchs und der Lebensform, eine Überprüfung des Vorstellungsvermögens am Beispiel der Sprache des einzelnen. Zwischen einem fehlerhaften Satzgefüge und einem fehlerhaften Weltgefüge erkennt er notwendige Beziehungen. Ein schlechter Charakter tarnt sich mit blendender Rhetorik, spricht aber nicht die Wahrheit. Ein scheinbar unglücklich formulierter Satz beschert dem Sprecher sein selbstbereitetes Unglück, denn seine Sätze zeugen wider ihn.

Sprachphantasie ist nicht ein außergewöhnliches künstlerisches Vermögen, über welches nur wenige verfügen, es ist ein allen Menschen gegebenes natürliches Potential, das darin besteht, den Sinn jedes Satzes und jeder Handlung und deren Auswirkung auf das Leben anderer zu überdenken. Vor jedem Sprechen muß die Vorstellungskraft soweit angeregt sein, daß man diese Sprachwirksamkeit an sich selbst im voraus zu erleben vermag. Der Sprachzweifel während des Sprachgebrauchs ist das lebhafte Vorstellen der Bedeutung bei jeder Äußerung. Die sprachliche Phantasie während des Sprechens besteht darin, daß man prüft, ob der Sinn der Aussage psychisch nacherlebt wurde oder nicht.

Einer seiner Bewunderer, der Schriftsteller Sigismund von Radecki, erinnert sich an das Kriegsjahr 1942: »Wir hatten die Wohnung wegen der Verdunkelung dicht verhängt und legten in gespannter Erwartung die Platte aufs Grammophon. Plötzlich war des Verstorbenen Stimme im Raum. Dann brach die Stimme mit einem Klageton ab. In demselben Augenblick erdröhnten die Luftabwehrbatterien, denn es kam ein Angriff. Auch nach seinem Tode gab es bei Karl Kraus keine Zufälle.«

Peter Matić hat Karl Kraus nicht wie Karl Kraus gelesen, sondern wie Peter Matić, wie wir ihn aus der großartigen Aufnahme von Marcel Prousts Roman ›Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‹ kennen. Wie gern hätte ich dem natürlich auch und vor allem als Theaterschauspieler bekannten Peter Matić zu seinen Lebzeiten diese FACKEL-BOX geschenkt. Vielleicht kann sich jetzt, nach seinem zu frühen Tode, ein Hörbuchverlag dazu entschließen, diese zum allergrößten Teil völlig unbekannten Glossen von Karl Kraus als Hörbuch herauszubringen.

Zusatz, 19. Juni 2022:
2021 hat der NDR ohne mein Einverständnis einzuholen und ohne im Booklet auf meine Urheberschaft hinzuweisen, eine CD durch einen Hörverlag herausgebracht.

Ich glaube an das Wasserklosett

Man liest es nicht auf der ersten Seite einer Zeitung (Papier oder online); doch müßte es nicht nur zu ›Frontpage News‹ werden, sondern jeden Tag dort zu lesen sein (bekanntlich merkt man sich erst dann eine Werbebotschaft, wenn man sie mindestens sechsmal wahrgenommen hat): Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung (fast vier Milliarden Menschen) haben keinen Zugang zu sauberen Toiletten, drei Milliarden Menschen der 7,7 Milliarden Menschen auf der Welt haben keine Möglichkeit, sich die Hände mit sauberem Wasser zu waschen. So liest man es in den kleinen Meldungen der Medien, Berichte des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (Unicef) und der Weltgersundheitsorganisation (WHO) wiedergebend.
Am 28. April 1931 schreibt Theodor Lessing in einem Brief an seine Ehefrau Ada aus Damaskus: »Ich glaube nicht an Gott, aber ich glaube an das Wasserklosett. Das ist unsere Mission, der Welt das laufende Wasser zu bringen.«
Das liegt achtundachtzig Jahre zurück. Bis 2030 will die WHO allen Menschen auf dieser Erde Zugang zu sauberem Wasser und Toiletten ermöglichen. Bis dahin sind noch elf Jahre Zeit. Wetten werden nicht angenommen.

Menschheit im Klimakterium

»Alle reden vom Wetter. Wir nicht. Fahr lieber mit der Bundesbahn.« 1966 warb die deutsche Bundesbahn mit diesem Slogan, um ein gegenüber dem privaten Autoverkehr überlegenes Verkehrsmittel anzupreisen. Heute redet man vom Klima. Aber es wird schon seit langem darüber geredet, und irgendwann erregt ein anderes Thema die öffentliche Meinung. Theodor Lessing schrieb 1930:
»An unserem Erdglobus ändert sich etwas. Es kommt eine Verschiebung des Klimas, welches vielleicht die Lebensweise, den Beruf und die Arbeit vieler Menschen ändern wird. […] Erinnern wir uns aber, daß z. B. in Texas, in Kalifornien das Abholzen der Wälder das Klima verändert und daß jedes unrichtige Verhalten der Menschen zur Natur, etwa der Kohlendunst der Riesenstädte auch mit Sicherheit die außermenschliche Natur vernichtet […]. Heute ist uns die Erde unfreundlicher und doch pressen wir weit mehr aus ihr heraus, weil wir arbeiten und denken.« Theodor Lessing: Wie wird das Wetter im Winter? In: Prager Tagblatt, 55. Jg., Nr. 287, 7.12.1930, 3f.
Solche Sätze werden, wenn man sie als wahr einstuft, als prophetisch bezeichnet, dabei sind sie nur aus genauer Beobachtung der Natur und der Analyse der Gesellschaft gewonnen worden. Wie etwa diese Beobachtung:
»Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.« Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Buch 1: Der Produktionsprozeß des Kapitals. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 23, [zuerst 1867; 1970], 529f.

Ich ging im Walde so für mich hin

Viele einmal nützliche Berufe gibt es nicht mehr: der Gerber, der Besenbinder, der Kupferstecher. Heute gibt es dagegen Berufe, bei denen man sich fragt, wem sie eigentlich nützen: der ›Coach‹ und der ›Consultant‹ gehören ganz sicher dazu; dennoch begegnet man ihnen inzwischen überall, und jetzt sogar dort, wo man sie dann doch nicht vermutet hätte: im Wald. Sie nennen sich aber nicht, was vielleicht nahe liegen würde: Waldmeister, sondern: Ecotherapeuten. Sie erzählen uns, wie man gesund bleibt, wenn man im Wald spazieren geht. Um dem Ganzen mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, erwähnen sie Studien von Wissenschaftlern, die mit komplizierten Meßmethoden herausgefunden haben, wie gesund das Gehen und das Laufen für den Menschen ist.
Zu den ausgestorbenen Berufen zählt man heute den Hungerkünstler (was nicht ganz stimmen kann, denn der ›Welthunger-Index‹ von 2018 berichtet von 821 Millionen Menschen, die auf der ganzen Welt hungern), aber ganz sicher wird einmal eine Zeit kommen, wo man die ›Ecotherapeuten‹ zu einer ausgestorbenen Spezies wird zählen können, weil die Menschen mit Hilfe des gesunden Menschenverstands darauf gekommen sind, was diese Coaches und Consultants eigentlich sind: Gaukler.
»Ich ging im Walde / So für mich hin, / Und nichts zu suchen / Das war mein Sinn.« (Goethe, 1815)

Aufgeweckt

Niedersachsens Umweltminister Olaf Lies liebt Kinder und den Lärm, den sie machen, wenn sie sich auf den Spielplätzen »austoben«. Dagegen ist nichts einzuwenden, wir waren alle einmal jung und haben gespielt, mehr oder minder laut. Doch Lies geht weiter. Er behauptet, das Austoben sei Voraussetzung und Bedingung für »aufgeweckte Kinder«. Synonyme für »aufgeweckt« sind: geistig rege, schlau oder smart. Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich, um dies zu erreichen, Bücher gelesen und über ihren Inhalt nachgedacht. Doch Lies geht weiter. Er behauptet, durch Austoben auf dem Spielplatz würde die »Grundlage« dafür gelegt, dass »junge Leute« sich später »engagieren«: in Vereinen, der Gesellschaft und »auch in der Politik«. Das ist, wie mein alter Deutschlehrer einst sagte, eine weit hergeholte Vorstellung.